1
Im ersten Teil des 17. Jahrhunderts kannten die Franzosen die Ureinwohner Kanadas nicht als »Indianer«, sondern nach den Namen ihrer Stammesverbände und nannten sie zusammenfassend »les sauvages«. Die Eingeborenen ihrerseits bezeichneten die Franzosen als »Normannen« und die Jesuitenpatres als »Schwarzröcke«. Die von den Eingeborenen damals gepflegte unflätige Ausdrucksweise war nur rauher Humor und nie kränkend gemeint. Ich gebe zu, dass ich mir hinsichtlich der Frage, ob die Algonkin die Sprache der Irokesen verstanden, eine dichterische Freiheit herausgenommen habe.
Für Jean
Vor ein paar Jahren stieß ich in Graham Greenes Sämtlichen Essays auf seine Ausführungen über The Jesuits in North America in the Seventeenth Century, das gerühmte Werk des amerikanischen Historikers Francis Parkman (1823–1893). Greene zitiert den folgenden Absatz:
(Pater) Noël Chabanel kam später in die Mission, da er erst 1643 im Huronenland eintraf. Er verabscheute die Lebensweise der Indianer – den Rauch, das Ungeziefer, die eklige Nahrung, die Unmöglichkeit, sich zurückzuziehen. An ihren rauchenden Holzfeuern, umgeben von lärmenden Männern und Squaws mit ihren Hunden und den unablässig kreischenden Kindern konnte er sich nicht konzentrieren. Er hatte von Natur aus nicht die Gabe, ihre Sprache zu erlernen, und mühte sich fünf Jahre ohne nennenswerte Fortschritte mit ihr ab. Da flüsterte ihm der Teufel ins Ohr, er möge um Ablösung von dieser tristen, widerwärtigen Mühsal bitten und nach Frankreich zurückkehren, wo ihn eine ihm gemäße und nützliche Arbeit erwarte. Chabanel wollte davon nichts hören, und als die Versuchung ihn weiter plagte, tat er ein feierliches Gelübde, bis zu seinem Todestag in Kanada zu bleiben.
»Ein feierliches Gelübde.« Da spricht zu uns eine Stimme unmittelbar aus dem 17. Jahrhundert, die Stimme eines Gewissens, wie wir es heute wohl leider nicht mehr besitzen. Ich begann in Parkmans großem Werk zu lesen und entdeckte als seine Hauptquelle die Relations, jene langen Berichte der Jesuiten an ihre Oberen in Frankreich. Von Parkman wechselte ich über auf die Relations selbst, und in ihren bewegenden Schilderungen entdeckte ich eine unbekannte, ungeahnte Welt. Denn anders als die englischen, französischen und holländischen Händler kamen die Jesuiten nicht der Pelze und Eroberungen wegen nach Nordamerika, sondern um die Seelen derer zu retten, die sie »les sauvages« nannten – die Wilden.1
Um das zu vollbringen, mussten sie die an unflätigen Ausdrücken oft überreichen Sprachen der ›Wilden‹ lernen und ihre Religions- und Stammesbräuche studieren. Ihre Briefe, die einzigen wirklichen Berichte über die frühen Indianer Nordamerikas, machen uns mit einem Volk bekannt, das mit den »Rothäuten« aus Literatur und Folklore wenig Ähnlichkeit hat. Die Huronen, Irokesen und Algonkin waren schöne, tapfere und unvorstellbar grausame Menschen und in dieser frühen Phase noch in keiner Weise abhängig vom »Weißen Mann«, dem sie sich sogar körperlich und geistig überlegen dünkten. Sie waren kriegerisch, praktizierten rituellen Kannibalismus und unterwarfen aus religiösen Gründen ihre Feinde langen und untragbaren Martern. Dagegen war es ihnen als Eltern unerträglich, ihre ungebärdigen Kinder zu schlagen oder zurechtzuweisen. Sie waren lebensfroh und polygam und teilten mit Fremden sexuelle Freuden ebenso freigebig wie Essen und Herd. Sie verachteten die »Schwarzröcke«, weil sie Besitztümer horteten. Ebenso verachteten sie die Weißen wegen ihrer Dummheit, weil sie nicht erkannten, dass Erde und Flüsse und Tiere und alles Übrige von einem lebendigen Geist beseelt waren und Gesetzen gehorchten, die es zu achten galt.
Anhand der Werke von Anthropologen und Historikern, die vieles den frühen Jesuiten Unbekanntes über indianische Verhaltensweisen zusammengetragen haben, wurde mir doppelt bewusst, welch einzigartige und ergreifende Tragödie sich zugetragen haben muss, als der Indianerglaube an eine Welt der Nacht und die Macht der Träume mit der jesuitischen Verkündigung des Christentums und eines Paradieses nach dem Tod zusammenprallte. Dieser Roman will zeigen, wie der Glaube des jeweils einen bei dem anderen Angst, Feindseligkeit und Verzweiflung weckte, welche später zur Zerstörung und Aufgabe der Jesuitenmissionen führten und die Unterwerfung der Huronen durch die Irokesen, ihre Todfeinde, zur Folge hatten.
Während viele der in diesem Buch enthaltenen Informationen über Sitten, Glauben und Sprache der »Wilden« ebenso wie der Jesuiten aus den Relations stammen, bin ich darüber hinaus auch anderen Quellen verpflichtet: Ich danke James Hunter, dem Forschungskurator von Sainte Marie Among the Hurons, sowie Bill Byrick, Professor Bruce Trigger von der McGill University und Professor W.J. Eccles vom College of William and Mary für ihre Hilfe in allerlei Fragen.
Dank schulde ich auch dem Conseil des Arts du Canada, der mir die Möglichkeit verschaffte, Orte in Kanada aufzusuchen, an denen Zeugnisse der Geschichte und des Brauchtums der Irokesen, Algonkin und Huronen aufbewahrt werden, sowie die Örtlichkeiten früherer Irokesen- und Huronensiedlungen, vor allem das Städtchen Midland in Ontario, wo die Regierung Ontarios originalgetreue Langhäuser, ein Indianerdorf und die erste dort errichtete Jesuitenmission rekonstruieren ließ.