Stefan Burban
Im Fadenkreuz
Die erste unangenehme Überraschung erwartete Rodney MacTavish bereits, als er aus dem Aufzug stieg. Auf der Tür seines Büros in New York City prangte ein gelber Zettel, auf dem mit aufdringlich fetten Lettern der Hinweis Letzte Mahnung geschrieben stand.
Rodney riss den Zettel mit tiefem Seufzen ab. Er machte sich nicht einmal die Mühe, die Hinweise und wenig dezent formulierten Drohungen zu überfliegen, sondern zerknüllte ihn und warf ihn achtlos in die Ecke. Das Stück Papier landete auf einen Berg mit drei weiteren ähnlich gehaltenen zuvor zugestellten und nun ebenfalls zerknüllten Mahnungen.
Die Leuchtdioden der klobigen Uhr an seinem Handgelenk blinkten in beinahe hypnotischem Rhythmus. »Gute Neuigkeiten?«, fragte die KI Ozymandias bewusst provokant.
»Letzte Mahnung«, erklärte der Lobbyoffizier der Skulls unnötigerweise. »Wir dürfen uns freuen. Sie hören jetzt endlich auf zu mahnen.«
»Ich weiß nicht, ob man das ganz so positiv betrachten kann«, erwiderte die KI pikiert. »Als Nächstes erfolgt der Zwangsräumungsbefehl.«
»Die sollen sich bloß nicht ins Höschen machen.« MacTavish rümpfte die Nase. Er gab vor, sich keine Sorgen zu machen. Doch er wusste, er konnte niemanden täuschen. Nicht seine Kameraden bei Skull, nicht die KI an seinem Handgelenk, ja noch nicht einmal sich selbst.
MacTavish öffnete die Tür zu seinem Büro, wo ihn bereits die nächste Überraschung erwartete. Ein Mann in adrettem, maßgeschneidertem Anzug lümmelte sich auf dem Sofa im Eingangsbereich herum. MacTavish erstarrte auf der Stelle. Er war sogar versucht, seinen Zustand mit erschrocken zu umschreiben. Und es war beileibe nicht leicht, den ehemaligen Geheimagenten zu erschrecken.
Seine Hand tastete wie selbstverständlich nach der Waffe unter seiner Jacke. Der Mann auf dem Sofa erhob sich geschmeidig und hob zum Zeichen seiner friedlichen Absichten beide Hände mit den Handflächen nach außen. »Bitte, bevor Sie mich abknallen, dürfte ich mich vielleicht zuerst erklären?«
»Nein, dürfen Sie nicht«, erwiderte MacTavish und zog in einer fließenden Bewegung die Neunmillimeter. »Ozzy?«, fragte er, ohne den Mann aus den Augen zu lassen.
»Er hat die Sicherheitssysteme geknackt und sich selbst hereingelassen.«
»Ohne dass du etwas davon gemerkt hast? Das ist … beachtlich.«
»In der Tat«, gab die KI zurück. Hätte MacTavish es nicht besser gewusst, er wäre sich sicher gewesen, Ozzy fühlte sich in seinem professionellen Stolz verletzt. Trotzdem klang die KI gleichzeitig irgendwie beeindruckt.
MacTavish wandte sich erneut seinem unangemeldeten Gast zu. »Bevor ich Sie als Einbrecher erschieße und anschließend die Polizei rufe, erzählen Sie mir, warum Sie sich auf diese Weise Zugang zu meinem Büro verschaffen?«
Der Mann setzte sein charmantestes Lächeln auf. Damit täuschte er MacTavish keine Sekunde. Der Kerl gehörte offenbar zu den Menschen, die mit ihrem Charme meistens ans Ziel kamen. Sie zählten zu einem äußerst gefährlichen Schlag von Individuen.
»Darf ich die Hände runternehmen?«
»Nein. Sie haben zehn Sekunden.«
»Ich habe ein Jobangebot für Sie. Besser gesagt für Skull.«
MacTavish merkte auf, ließ jedoch nicht in seiner Wachsamkeit nach. »Sie haben noch fünf Sekunden.«
»Haben Sie jemals von Morrisons Marodeuren gehört?«
MacTavish runzelte leicht die Stirn. »Wer hat das nicht? MM ist ein privater Militärdienstleister.«
»Wie die Skulls«, nickte der Mann.
MacTavish schnaubte. »Wohl kaum wie die Skulls. Morrisons Marodeure besitzen mehr Geld, als sich Sorenson je erträumen könnte. Sie stehen ausschließlich im Dienst der Solaren Republik. MM schützt deren Interesse im Solsystem selbst – und auch außerhalb. Manchmal mit recht fragwürdigen Einsätzen. Aber das SPS konnte ihnen bisher kein Fehlverhalten nachweisen.«
»Mein Name ist Montgomery Pendergast«, stellte sich der Mann vor, »und meine Aufgabe bei MM ist dieselbe wie Ihre bei den Skulls.«
MacTavish neigte leicht den Kopf zur Seite. »Sie sind Lobbyoffizier?«
»Allerdings. Und wir hätten einen Job für die Skulls. Interessiert?«
MacTavish schnaubte erneut, doch eher um Dominanz zu demonstrieren. Tatsächlich war er mehr als nur interessiert. Und Pendergast wusste das ganz genau, wie er mit seinen nächsten Worten unter Beweis stellte.
»Wie laufen die Geschäfte seit Cascade?«
MacTavish verzog die Miene. Er bemerkte die Regung erst, als es schon zu spät war. Pendergasts Gesicht zeigte ein überhebliches Lächeln.
»So schlecht also.« Der Lobbyoffizier deutete auf das Sofa. »Was halten Sie davon, wenn wir uns setzen und wie zivilisierte Menschen darüber reden?«
MacTavish überlegte kurz und nickte dann abgehackt. Pendergast nahm wieder auf dem Sofa Platz, während sich MacTavish einen Stuhl heranzog, ihn drehte und sich verkehrt herum daraufsetzte.
Die Neunmillimeter legte er locker auf seinem Oberschenkel ab. Der Lauf deutete immer noch in die ungefähre Richtung seines Gastes. Dieser bemerkte es und schmunzelte. »Sie sind ein sehr vorsichtiger Mann.«
»Die Umstände und einige schlechte Erfahrungen zwingen mich dazu.«
Die Augen des Mannes nahmen einen leicht geistesabwesenden Ausdruck an. »Ah, ja. Der Besuch dieser zwei Black-Ops-Teams.«
MacTavishs Misstrauen war augenblicklich wieder geweckt. »Woher wissen Sie davon?«
»Morrisons Marodeure unterhalten sehr gute Beziehungen zu den Polizeidienststellen in der ganzen Solaren Republik«, erwiderte er rätselhaft.
»Was mich wieder zu Ihrem Einbruch bringt. Wie darf ich den verstehen?«
»Ich bin es nicht gewohnt zu warten, daher habe ich mir erlaubt, mich selbst einzulassen.«
»Sie hätten einen Termin vereinbaren können.«
»MM ist Diskretion äußerst wichtig. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, dass jemand von diesem Treffen erfährt.« Pendergast schürzte die Lippen. »Die Sache auf Cascade ist jetzt über ein Jahr her. Wie sieht es derzeit mit Kontrakten für Ihre Leute aus?«
»Hervorragend«, log MacTavish.
»Aber natürlich«, lachte Pendergast. »Sie haben seit Cascade keinen Auftrag mehr an Land gezogen, was niemanden wundern kann. Sie haben sich gegen Ihren Auftraggeber aufgelehnt, haben seine Anlagen – die Sie eigentlich schützen sollten – sabotiert und sich einen Privatkrieg mit einer anderen Söldnereinheit geliefert. Wie hoch war die Strafe, die das SPS Ihrer Einheit aufgebrummt hat? Zwei Millionen? Wie es heißt, ist Sorenson immer noch dabei, den Betrag abzustottern. Die Riders erhielten für ihre Taten eine Strafe von acht Millionen und einen offiziellen Verweis in ihrer Akte beim SPS. Der Betrag wurde von den Verantwortlichen der Riders noch am selben Tag beglichen. Beneidenswert, über solche finanziellen Mittel zu verfügen, nicht wahr?«
»Die Sigma Riders sind Verbrecher. Wir taten, was notwendig war, um die Bevölkerung zu schützen.«
»Inzwischen nur noch Riders«, korrigierte Pendergast.
»Wie bitte?«
»Nach dem plötzlichen und nicht völlig unerwarteten Ableben des guten Max Sigma nennen sie sich nur noch Riders.«
»Sigma ist tot?«
Pendergast hob eine Augenbraue. »Sie wussten das noch nicht? Ja, in der Tat. Der gute Max weilt nicht mehr unter den Lebenden. Ein Streit unter Häftlingen heißt es. Ein Messer zwischen die Rippen, und das war es dann mit dem ehemals glanzvollen Leben des großen Söldneranführers.«
MacTavish schnaubte. Sigmas Tod mochte vieles gewesen sein, doch sicherlich nicht nur das Ergebnis eines Streits mit einem Mithäftling.
Pendergast fixierte MacTavish mit festem Blick. »Das bringt mich auch schon zum Grund meines Hierseins. Ihre Taten auf Cascade haben einiges Aufsehen erregt. Mein Arbeitgeber – Colonel Ben Morrison – war äußerst beeindruckt.«
»Kann ich mir lebhaft vorstellen.«
»Sie missverstehen mich. Das war nicht sarkastisch gemeint. Er sieht Ihre Taten auf Cascade nicht in negativem Licht. Wenn Morrison eines schätzt, dann Integrität. Und die haben Sorenson und seine Leute unter Beweis gestellt, als sie für die Bevölkerung von Cascade einstanden.«
»Was genau heißt das jetzt?«
Pendergast zögerte, bevor er weitersprach. »Hin und wieder beauftragt Colonel Morrison andere Söldnereinheiten als Subunternehmer für Aufträge, die zu klein und unbedeutend sind, um die Aufmerksamkeit eigener Truppen von MM wert zu sein.«
MacTavish verzog leicht das Gesicht. »Oder nicht ganz astrein«, vervollständigte er die Aussage.
Pendergasts Gesichtszüge entgleisten. Zwar nur für einen Moment, doch es genügte, um MacTavish einen kurzen Blick auf die Person zu gewähren, die sich hinter der charmanten Maske verbarg. Was er sah, gefiel ihm kein bisschen. Pendergast war jähzornig und neigte ohne Zweifel zur Gewalt. Außerdem war er ein Mann, der ein Nein nicht gut wegstecken konnte. MacTavish wurde immer unwohler zumute.
»Was wissen Sie über die Freie Republik Condor?«, fragte Pendergast, der sich wieder voll unter Kontrolle hatte. Der Mann zeigte erneut die Maske des charmanten Gesprächspartners.
MacTavish runzelte die Stirn. »Eine Sternennation, etwa drei Parsec vom Königreich entfernt. Sie besteht nur aus einem einzigen System mit nur einem einzigen bewohnten Planeten. Es handelt sich dem Namen nach um eine Demokratie unter Führung eines Präsidenten. Tatsächlich ist es eine der schlimmsten Diktaturen, die es gibt – soweit ich weiß.«
Pendergast räusperte sich. »Das ist eine unschöne, nichtsdestoweniger zutreffende Beschreibung. Staatsoberhaupt ist Präsident Gregory Saizew. Er führt Condor bereits seit gut fünfzig Jahren.«
»Und kam durch einen Militärputsch an die Macht.«
»Er lässt immerhin regelmäßig freie Wahlen durchführen.«
»Wahlen vielleicht, doch frei möchte ich mal bezweifeln. Und warum reden wir überhaupt über die FRC?«
»Sie ist der Kontrakt.«
MacTavish lehnte sich leicht zurück. Beide Augenbrauen wanderten in die Höhe. »Das kann unmöglich Ihr Ernst sein.«
»Es ist sogar mein voller Ernst. Die FRC besteht – wie Sie schon sehr richtig ausführten – aus nur einem System. Was glauben Sie, wie sich eine solche Nation – darüber hinaus auch noch eine Diktatur – über einen solchen Zeitraum halten konnte?«
MacTavish musste nicht lange überlegen. »Politik. Saizew hat einen Deal gemacht und wird geschützt.« Er legte leicht den Kopf zur Seite. »Von der Solaren Republik?«
»Und dem Vereinigten Kolonialen Königreich«, bestätigte Pendergast.
»Mit welcher Gegenleistung?«, wollte MacTavish wissen.
»Die Solare Republik unterhält eine Militärbasis auf einem der Planeten des Systems und kann auf diese Weise die Nachbarschaft im Auge behalten. Die Beziehungen zum Königreich dürften … nun ja, etwas komplizierter sein. Condor stand während des Bürgerkriegs aufseiten der Königstreuen. Was Condor für die Krone getan hat, das weiß ich nicht. Und ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht sonderlich.«
MacTavish glaubte dem Mann kein Wort. Er kannte diesen Menschenschlag. Die wussten immer mehr, als sie zugaben. Sie waren jedoch auch verschlossen, und sie zu bedrängen, war meistens nicht von Erfolg gekrönt. Daher beschloss der ehemalige Agent, es dabei auf sich bewenden zu lassen. Stattdessen kam er auf einen Punkt zurück, der ihn an den Ausführungen seines Gegenübers besonders störte.
»Warum brauchen Sie uns, um den Kontrakt zu erfüllen? MM hat Waffen, Schiffe, Männer und eine Menge Geld.«
Pendergast lächelte schmal. »Etwas ist uns noch weit wichtiger als Integrität. Und das ist Reputation. Vor allem unsere eigene.«
MacTavish stieß ein bellendes Lachen aus. »Ich verstehe. Morrison will mit Condor nichts zu tun haben. Also schickt man uns. Eine Söldnereinheit, die keinen guten Ruf genießt, pleite ist und darüber hinaus auch noch verzweifelt. Wir sind für Morrison die perfekten Opfer. Er glaubt, wir stellen keine Fragen und können uns im Moment so etwas wie Moral nicht leisten.«
Pendergast nickte. »Ich will Sie nicht anlügen. Genauso ist es.«
»Und der Kontrakt?«
»Sieht lediglich Garnisonsdienst vor. Nichts weiter.«
»Garnisonsdienst ist ein weit gefächerter Begriff. Das kann bei einer Nation wie Condor viel bedeuten.«
»Ich verstehe Ihr Misstrauen, aber hören Sie sich erst einmal den Deal an, den Morrison Ihnen anbietet. Sie erhalten sechzig Prozent des vereinbarten Honorars. Allein das wären fast vierzig Millionen Solare Dollar. Außerdem bezahlt Morrison das, was von Ihrer Strafe beim Schiedsgericht Privater Sicherheitsdienste noch übrig ist. Über wie viele Schiffe verfügen die Skulls derzeit? Drei, die Cascade überlebt haben und noch vier schwer beschädigte ehemalige Riders-Schiffe, die sie nach der Schlacht bergen durften? Morrison gewährt ihnen Zugriff auf seine nicht unerheblichen Flotteneinheiten. Er überlässt ihnen für die Zeit des Kontrakts dreißig seiner Schiffe. Nach Beendigung des Kontrakts erlaubt er Ihnen, diese Schiffe für einen geringen Restwert käuflich zu erwerben. Ihr Honorar wird locker doppelt und dreifach dafür ausreichen. Außerdem erhalten Sie einen Vorschuss, der es Sorenson erlaubt, die Schiffe mit erfahrenen Besatzungen zu bemannen. Die Skulls wären auf einen Schlag aus dem Schneider. Mit nur einem gut bezahlten Deal. Ganz davon zu schweigen, dass es ihrer Reputation nicht schaden wird, einen Großauftrag an Land gezogen zu haben. Nach dem Auslaufen des Kontrakts werden potente Klienten Schlange stehen.«
»Klingt gut«, meinte MacTavish. »Zu gut, um wahr zu sein.«
Pendergast leckte sich über die Lippen. »Wir können jetzt noch ewig das Für und Wider meines Angebots diskutieren, doch wir beide wissen, dass Sie es am Ende annehmen werden. Die Skulls haben keine andere Wahl. Ich lege Ihnen nahe, besprechen Sie das erst einmal mit Sorenson. Er weilt zurzeit auf der Erde, wie ich hörte. Auf der Suche nach einer neuen Geldquelle. Ich biete Ihnen diese Quelle auf dem Silbertablett.«
»Fünfundvierzig«, brachte MacTavish unvermittelt hervor.
»Wie bitte?« Pendergast runzelte die Stirn.
»Wir wollen für den Einsatz fünfundvierzig Schiffe von Morrison.«
Pendergasts Augenbrauen wanderten in die Höhe. »Sie feilschen bei einem so guten Deal? Wirklich?«
MacTavish lächelte. »Das ist mein Job.«
Der Mann dachte einen Augenblick darüber nach und nickte schließlich. »Einverstanden.«
MacTavish ließ sich eine Überraschung nicht anmerken. Er hatte nicht erwartet, dass sein Gast darauf eingehen würde. Zumindest nicht so schnell.
Dieser erhob sich und schlenderte zur Tür. MacTavish achtete darauf, dass seine Neunmillimeter stets in Richtung des Mannes deutete. Er traute dem Kerl immer noch kein bisschen.
Pendergast öffnete die Tür. »Denken Sie darüber nach. Aber nicht zu lange. Ich erwarte Ihre Antwort vor Ende des Monats.« Er legte großspurig eine Visitenkarte auf den kleinen Beistelltisch links der Eingangstür.
Pendergast wandte sich noch kurz um. »Ich habe mir erlaubt, die ausstehende Miete für Ihr Büro heute Morgen zu begleichen. Außerdem noch für die nächsten sechs Monate. Sehen Sie es als kleinen, nicht zurückzuzahlenden Bonus im Vertrauen auf zukünftige, fruchtbare Geschäftsbeziehungen.«
MacTavish war wie vom Donner gerührt. Pendergast wartete gar nicht erst auf eine Antwort. Er verließ das Büro und zog die Tür geräuschlos hinter sich ins Schloss.
»Sie wissen aber schon, wer das war?«, meinte Ozzy nachdenklich.
MacTavish stutzte. »Nein. Wer?«
»Sie sollten mal öfters Zeitung lesen. Pendergast ist Gouverneur der Präfektur Eurasien und somit einer der aussichtsreichsten Kandidaten für das Amt des Präsidenten, sobald die nächsten Wahlen abgehalten werden. Pendergast ist, kurz gesagt, einer der einflussreichsten Politiker der Solaren Republik.«
MacTavish runzelte die Stirn. Die Präfektur Eurasien setzte sich aus den Kontinenten Europa und Asien zusammen. Als Gouverneur gebot Pendergast somit über die größte Landmasse auf dem Heimatplaneten der Menschheit, was ihm tatsächlich enormen Einfluss verschaffte.
»Warum tritt so jemand als Handlanger einer Söldnereinheit auf?«, fragte MacTavish mehr zu sich selbst.
»Jeder Politiker von Rang in der Solaren Republik ist praktisch auch Lobbyist«, belehrte Ozzy ihn. »Das Solsystem ist eigentlich nur dem Namen nach eine Demokratie. Sie wird im Prinzip von Konzernen und Firmen regiert. Man kann hier gar nicht aufsteigen, ohne Kontakte zu den profitabelsten Firmen zu unterhalten.«
»Du meinst, die Aufgabe, uns anzusprechen, wurde ihm aufs Auge gedrückt?«
»Ich würde es nicht ausschließen.«
MacTavish schnaubte amüsiert. »Armes Schwein! Na wenigstens bezahlt er unsere Miete für ein paar Monate.«
»Dann bleibt uns wohl vorläufig ein Umzug erspart«, meinte Ozymandias heiter. »Was halten Sie von der Sache, Boss?«
MacTavish atmete hörbar auf. »Nicht viel. Aber er hat recht. Ich glaube nicht, dass wir eine große Wahl haben. Verbinde mich sofort mit Sorensons Büro. Er wird davon umgehend erfahren wollen.«
Tucker Dawson, CEO von Dawson Interstellar Mining, rieb sich die schmerzende Stelle rund um seine linke Augenhöhle. Sie entzündete sich immer noch von Zeit zu Zeit.
Der Industrieelle öffnete eine Schublade seines Schreibtisches, holte eine Tube hervor und strich etwas Salbe darauf. Er war froh, allein zu sein. Der Vorgang an sich hatte immer etwas Entwürdigendes an sich. Mal ganz davon abgesehen, dass er wie ein Idiot aussah, wenn er mit dem Gesicht voller Salbe herumlief.
Dawson stand auf und ging zu dem großen Fenster, das fast die ganze Rückseite seines Büros ausmachte. Von hier aus hatte er einen fantastischen Blick über Chicago. Er fühlte sich hier mächtiger noch als der mächtigste König.
Herrscher kamen und gingen, doch was immer blieb, waren Konzerne. Sie lenkten eigentlich die Geschicke von Nationen und Königreichen. Bei der Solaren Republik war das nicht anders. Den meisten Menschen war dies gar nicht klar.
Die Konzerne lenkten die Regierungen und der Zirkel lenkte die Konzerne. Seine Stimmung verdüsterte sich schlagartig. Seine Hand tastete unbewusst zu seinem linken Auge.
Es war ihm ausgestochen worden, von Zeus’ Lieblingsauftragskiller höchstpersönlich. Der Schmerz war noch nicht mal das Schlimmste gewesen. Scham und Erniedrigung hatten tief in Dawsons Fleisch geschnitten – und seine Seele. Tiefer, als es das Messer des Assassinen je gekonnt hätte.
Die besten Ärzte der Solaren Republik hatten ihm ein Implantat angepasst. Es saß nun dort, wo sein natürliches linkes Auge gewesen war. In vielerlei Hinsicht war das Implantat sogar besser als das Auge, das er verloren hatte. Doch das spielte kaum eine Rolle. Man hatte ihm etwas Wichtiges genommen. Seine Hände verkrampften sich, ballten sich an den Seiten zu Fäusten.
Dabei war der Verlust des Auges noch nicht einmal die Strafe für die Sache auf Cascade. Jedenfalls nicht im eigentlichen Sinn. Es war die Strafe dafür, dass Dexter Blackburn im Verlauf der Kämpfe beinahe getötet worden war.
Zeus war ob dieser Tatsache überaus wütend gewesen. Er habe noch Pläne mit dem Mann, hatte er gesagt. Dexter Blackburn müsse unbedingt am Leben bleiben, hatte er gesagt. Wer Blackburn etwas antue, werde umgehend und in adäquater Weise bestraft werden, hatte er gesagt.
Bei der ersten Nachbesprechung hatte Zeus ihn noch davonkommen lassen und hatte ihm das Gefühl gegeben, es wurde ihm verziehen. Der Mann besaß eine grausame Ader.
Erst Wochen später hatte Zeus Dawson von Angel abholen und in sein privates Domizil bringen lassen. Er hatte keine Ahnung, wo das gewesen sein mochte. Nur, dass es auf der Erde war, in diesem Punkt war er sich sicher. Der Flug hatte nicht allzu lange gedauert. Zeus hatte erst einen ewig langen Monolog gehalten über Pflichterfüllung, den Nutzen einer Befehlskette und unbedingten Gehorsam. Und dann hatte er seinem Assassinen Angel befohlen, Dawson dies klarzumachen.
Der in eine Maske gehüllte Assassine hatte wortlos sein Messer gezogen und sich an die Arbeit gemacht. Ohne Zögern, ohne Reue, ohne Bedauern – und Dawson hatte sich die ganze Zeit die Seele aus dem Leib geschrien.
Mit Unbehagen erinnerte er sich daran, wie er vor Zeus auf dem Boden herumgerutscht war, das Gesicht voller Blut. Es tropfte auf den Boden und bildete dort eine Lache. Er hatte sich vielmals entschuldigt. Seine Stimme hatte sich vor Entschuldigungen beinahe überschlagen.
Dawson richtete sich auf. Nein, das Wort Entschuldigung traf es nicht ganz genau. Er hatte um sein Leben gewinselt. Dieser Umstand erfüllte ihn mit so unglaublich großer Scham, dass er seither an fast nichts anderes denken konnte.
Doch trotz all der Erniedrigung und des Schmerzes arbeitete Dawsons Verstand ungebrochen. Zeus konnte den Industrieellen nicht täuschen. Er hegte den Verdacht, dass Zeus irgendein privates Interesse an Blackburn verfolgte. Irgendetwas verband die zwei und Zeus wollte nicht, dass jemand davon erfuhr.
Dawson hatte keine Ahnung, wer Zeus war. Es gab niemanden, der das wusste. Doch wenn Zeus Blackburn am Leben sehen wollte, war das für Dawson Grund genug, ihn tot sehen zu wollen. Zeus hatte ihm etwas Wichtiges genommen und Dawson würde diesen Gefallen erwidern.
Dawson hob stolz den Kopf und betrachtete nachdenklich die Skyline von Chicago. Ja, Blackburn würde sterben. Doch es musste raffiniert über die Bühne gehen. Nicht der kleinste Verdacht durfte auf ihn hinweisen, ansonsten würde er das nächste Mal wesentlich mehr verlieren als nur ein Auge.
Dawson rümpfte die Nase. Ein Plan reifte in seinem Geist. Er war riskant, aber durchführbar. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Und vielleicht, würde er am Ende sogar Zeus’ Platz einnehmen. Das wäre ein angenehmer Nebeneffekt in seinem Racheplan. Seine Zähne blitzten weiß auf, als sich sein Mund zu einem leisen Kichern öffnete.