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Theres Roth-Hunkeler

Allein oder mit andern

Roman

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Autorin und Verlag danken für die finanzielle

Unterstützung.

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Der Verlag edition bücherlese wird vom Bundesamt für Kultur mit einer Förderprämie für die Jahre 2019–2020 unterstützt.

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© 2019 edition bücherlese, Luzern

www.buecherlese.ch

Lektorat: Regula Walser

Korrektorat: Karin Büchler

Autorinnenfoto: Ayse Yavas

Umschlagbild: birdys / photocase.de

eISBN 978-3-906907-23-9

1. Auflage 2019

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Quellen

Dank

Über den Autor

»Die Leben, die wir uns vorgestellt haben, begleiten

uns wie die, die wir tatsächlich leben, und manchmal

wird uns bewusst, wie viele Leben wir verloren haben.«

Helen Macdonald, »H wie Habicht«

»Elternschaft ist ein langer Brief, den man schreibt

und nie abschickt.«

Tilda Swinton, Schauspielerin

»Du wirst dein Leben lang mit dir selbst leben.

Du kannst eine neue Geliebte finden, du kannst

Freunde und Familie verlassen, verreisen,

eine neue Stadt und neue Orte finden, du kannst

verkaufen, was du besitzt, und dich von allem trennen,

was dir nicht passt, aber solange du lebst, wirst du

dich nie von dir selber trennen können.«

Tomas Espedal, »Gehen oder die Kunst, ein wildes, poetisches
Leben zu führen«

1

Ich schneide gerne. Wie meine Schwester. Sie heißt Alice und ist Friseuse. Schneiden ist sozusagen ihr Beruf, und dabei kommt sie Menschen nahe. Ich hingegen, Annabelle, schneide aus purer Freude. Geld kriege ich keines dafür. Collagieren ist zwar nicht einträglich, aber eine gute Stillbeschäftigung, und Schweigen ist in jeder Sprache leichter als Reden.

Hier finde ich immer wieder Federn von Möwen und anderen Wasservögeln. Haben sie noch nicht tagelang im Dreck gelegen, hebe ich sie auf und nehme sie mit. Zu Hause reinige ich sie vorsichtig und lege sie dann in einen Karton. Dort warten sie zusammen mit all dem andern Material, bis ich sie für meine Collagen verwenden kann. Wenn ich am Wasser entlangspaziere, wünsche ich mir oft, es segelte eine Feder, die ein Vogel eben im Flug verloren hätte, langsam durch die Luft, und ich könnte sie auffangen. Verlieren Vögel eigentlich Federn genau so, wie Menschen Haare verlieren?

Auch meine Lochmünzensammlung wächst. Bis jetzt sind es siebzehn Münzen, die ich alle auf eine Schnur gefädelt habe. Eine der Münzen ist norwegisch, sie lag auf einem Stuhl im Schlafzimmer, die andern sind von hier. Seit gut drei Wochen lebe ich in Kopenhagen, aber ich spreche kein Dänisch.

Oft wiederhole ich jene Spaziergänge, die ich zusammen mit Ólafur gemacht habe. Der Sommer ist nun endgültig vorbei, die Luft ist kühler, und die Winde nehmen an Stärke zu. Immer wieder denke ich an die Zeit, als es stets Tag war, Tag war es abends, Tag war es nachts, und wenn ich in aller Frühe erwachte, war es schon wieder oder immer noch Tag. Das viele Licht hat mir gutgetan, überhaupt diese Zeit, verbracht bei Ólafur, in Norwegen. Den Mai, den Juni, den Juli. Zu Beginn des Augusts sind wir zusammen hierhergereist. Ólafur kennt die Stadt gut, wir haben lange Spaziergänge gemacht, weil ich Fahrradtouren nicht mag. Man kann nicht auf den Boden blicken auf einem Fahrrad. Wir haben längst nicht alle Sehenswürdigkeiten besichtigt, das könne ich selber noch tun, wenn er nicht mehr da sei, hat Ólafur gemeint. Zuerst aber müsse ich ein Gefühl für die Stadt bekommen, für ihre Plätze und Quartiere, für ihre spezielle Lage und die Wege entlang dem Wasser und auf dem Wasser, wo man von jedem Punkt aus Ufer sehen könne, so schmal seien die Meeresarme. Nach zwei Wochen ist Ólafur abgereist, weil er wieder arbeiten muss, während ich hier meinen Weiterbildungsurlaub beziehe, den ich auf ein Jahr verlängert habe, unbezahlt natürlich, denn was sind schon vier bezahlte Monate? Die ersten Wochen davon, im frühen Frühling, habe ich am Bett von Severin verbracht, meinem jungen Neffen. Als diese schwierige Aufgabe erfüllt war, bin ich nach Norwegen gereist, wie schon oft, zu Ólafur, und jetzt perfektioniere ich mein Englisch und erfülle damit in Kopenhagen die Weiterbildungspflicht. Eigentlich sollte ich dazu in London bei einer Familie wohnen und fleißig Konversation machen, aber ich möchte kein Gast sein. So bin ich nun hier, mausbeinallein, wie Alice sagt, wenn ich mit ihr telefoniere, in einer sparsam möblierten Dreizimmerwohnung, die Ólafurs Schwester gehört. Sie ist für ihren Job vorübergehend nach New York gezogen und hat mir ihre Wohnung überlassen, laut Ólafur, ohne mit der Wimper zu zucken, ausgesprochen großherzig, finde ich, kenne ich sie doch gar nicht.

Gestern hat der Englischkurs begonnen. Der Einstufungstest liegt bereits hinter mir, der erste Unterrichtstag ist auch überstanden. Wir sind zu neunt in der Konversationsklasse, und wie erwartet sind außer mir nur junge Leute in der Gruppe, auf den ersten Blick lauter wohlgeratene Söhne und Töchter, ausgestattet mit den guten Wünschen ihrer Mütter, ganz international. Sie lernen für ihre berufliche Zukunft, sie brauchen dieses Sprachdiplom für ihre Karriere, sie schieben ein Zwischenjahr ein vor ihrem Studium, oder sie jobben ein wenig, und der Sprachkurs passt da perfekt. Das alles trifft auf mich nicht zu, und das habe ich in der Klasse auch erklärt, als wir uns einzeln vorstellen mussten. Ich bin Annabelle, habe ich gesagt, und fühle mich je nach Tagesform alt, jung oder etwas dazwischen, real bin ich fünfundfünfzig Jahre alt. Im Sprachkurs will ich mich in den Wortschatz vertiefen und in den englischen Fluss. Reden, reden. Und ich will die Zeit nutzen, um wieder zu collagieren, was ich schon seit Langem tue, aber in letzter Zeit vernachlässigt habe. Für beide Vorhaben bringe ich gute Vorkenntnisse mit. Dänisch spreche ich nicht. Davon verspreche ich mir Konzentration auf die englische Sprache, ohne jede Ablenkung. Zum Collagieren muss ich zum Glück gar nicht reden. Zu Hause bin ich Zeichnungslehrerin an einem Gymnasium. Seit ein paar Jahren nennt man das Fach Bildnerisches Gestalten. Ich habe nur noch eine Schwester, Alice. Was uns verbindet: Beide schneiden wir gerne. Wobei, Alice ist Friseuse, ich aber schneide alles aus, von dem ich denke, ich könnte es irgendwann gebrauchen: Bilder, Skizzen, Wörter, Fotos, Stoffstücke, Wollreste. Und ich sammle vieles, pflücke, hebe auf, greife, nehme. Mir stechen Dinge ins Auge, die andere übersehen. Noch was, als Kind habe ich meine Schwester Alice oft gequält, weil sie schlecht war in Rechtschreibung. Mehr gibt es, glaube ich, nicht zu sagen für den Moment.

Habt ihr Fragen an Annabelle, hat July, unsere Lehrerin, an dieser Stelle gefragt, aber alle haben mich bloß etwas verlegen angeschaut und geschwiegen. Gut so. Ich will hier meine Ruhe haben. Bereits haben wir Homework gekriegt, ein paar Grammatikdinge. In erster Linie aber sollen wir uns Gedanken machen über unsere Ziele, die wir erreichen möchten. Wir sollen uns so vorbereiten, dass wir am nächsten Tag darüber erzählen können. Ich habe nur ein einziges Ziel, wieder mehr zu collagieren, Gedanken aber habe ich viele.

Ich schneide gerne und besitze viele verschiedene Schneidwerkzeuge. Scheren in ganz verschiedenen Größen, Messer, Messerchen, Cutter. Am liebsten schneide ich mit der feinen, etwa zehn Zentimeter großen Schere, die mir Alice vor langer Zeit geschenkt hat und die ich stets dabei habe. Dieses Instrument liegt gut in der Hand, wiegt leicht, ist scharf geschliffen, und sein Schliff nutzt sich nie ab. Alice hat dieses schöne Werkzeug in einem Fachkatalog für Friseusen bestellt. Hat sich vielleicht vorgestellt, den Pony von Kindern damit zu schneiden, aber dann hat sie mir die Schere geschenkt. Ich hatte sie besucht in ihrem Geschäft, sie hatte viel zu tun an jenem Tag, mir war langweilig, ich blätterte in alten Journalen und schnitt mit einer Nagelschere ein paar Dinge aus. Was ich schon seit ewigen Zeiten mache. Nimm die hier, sagte Alice, als sie mir über die Schultern blickte und sah, dass ich mich mit einer Nagelschere abmühte, und sie gab mir die Ponyschere, die ich schon nach den ersten paar Schnitten lobte. Du kannst sie mitnehmen, und auch dein Geschnipsel, bitte, fügte sie an, nach einem flüchtigen Blick auf meine ausgeschnittenen Trophäen, Tiere, Mäntel, Häuser, Handtaschen. Vor dem Feierabend fegte sie mit ihrem Besen, der stets voller Haare ist, die zerschnittenen Seiten, die weißen Rändchen und Rahmen zusammen, mitsamt dem dichten, dunklen Haar ihrer letzten Kundin, die eine Kurzhaarfrisur gewünscht hatte. Alice war dem Begehren nachgekommen und hatte das prächtige, schulterlange Haar voller Eifer gekürzt, es landete zusammen mit meinen Papierschnipseln im Müll.

Ich schneide gerne. Seit Jahrzehnten schon. Papiere, Karton, Stoffe. Alles. Ich suche und finde, nehme und nehme weg, wende und entwende, zerschneide, schneide gerne ab, schneide aus, zerstückle, zerreiße, komponiere, schichte, setze neu zusammen und klebe die Lagen aufeinander. Neben unterschiedlichen Papieren sammle ich auch Dinge, die Menschen verlieren, Haarspangen, Zettel, Klammern, auch Material aus der Natur, Rindenstücke, Zapfen, Blätter, kleine Zweige, Schwemmholz, so Zeug halt. Bisweilen lange ich zu, nehme ich, was mir nicht zusteht, aber meist gelingt es mir, diesen Drang zu beherrschen. Am stärksten interessieren mich Bilder und Berichte von Tieren. Ich reiße sie heraus, überall, aus Zeitungen und Magazinen und lege sie in Schachteln, schon besitze ich einen veritablen Zoo, neben all den Kartons mit dem andern Material. Manchmal schneide ich einzelne Wörter aus, seltener ganze Sätze, aber am häufigsten Tiere, obwohl mir Tiere, mit Ausnahme von Katzen, suspekt sind. Ich halte sie nicht für harmlose Wesen, ganz und gar nicht. Wer weiß denn so genau, was Tiere tun, wenn wir nicht hinschauen, wer weiß so genau, was sie tun, nachts, wenn wir schlafen? Schließlich sei ja die Nacht die Zeit der Tiere. Vor manchen, die gar nicht besonders furchterregend sind, empfinde ich so etwas wie Angst, wobei, Angst ist zu viel gesagt, eher ist es ein tiefes Unbehagen, Fröschen und Mäusen gegenüber, zum Beispiel. Spinnen hingegen lassen mich kalt, überhaupt das Gekrieche, Gekrabbel und Gesumme, aber gegen Hühner und ihr Gegacker habe ich eine Aversion. Das alles werde ich morgen der Englischklasse gegenüber bestimmt nicht offenbaren, aber ich werde sagen: Ich interessiere mich für Tiere.

2

Täglich sammeln und üben wir in der Klasse die gebräuchlichsten Wendungen in englischer Sprache. Dazu hält July uns an, eigene Listen zu führen mit jenen Wörtern, die uns selbst am wichtigsten sind. Ich habe eine Datei angelegt und sie unter «Wichtige Wörter» abgespeichert. Einstweilen sind nur Namen aufgeführt: Ólafur, Luisa, Iris, Cora, Alice, Severin, Klara, Stefan. Das ist praktisch, Namen muss ich nicht übersetzen.

Heute sollen wir im Unterricht ausgerechnet Tiere aufzählen, die uns etwas bedeuten. Das trifft sich gut, denke ich doch an meinen Papierzoo, an das Vogelbuch, das ich gerade lese, »Von seltenen Vögeln« heißt es, und mein Lieblingsteil darin ist der erste, der sich den untergegangenen Arten widmet, und überhaupt liebe ich das ganze Buch, weil es Illustrationen enthält, Zeichnungen, doppelseitige Bilder, die ich aufklappen und ohne Textverlust ausschneiden und für meine Zwecke verwenden kann. Dass jemand sich von diesem Buch trennt und es in ein Antiquariat in Kopenhagen trägt, ist für mich zwar unvorstellbar, gleichzeitig aber ein gutes Glück.

Im Unterricht meldet sich nun Rose, eine junge Deutsche aus Berlin, die auffällt durch ihre direkte Art, die sich häufig einbringt und in den Pausen oft telefoniert, meist spricht sie dabei Dänisch.

Tiere, sagt sie, sollen wir aufzählen. Was gehen mich denn Tiere an? Zum Beispiel kenne ich keine Vögel, keinen einzigen. Ich kenne auch keine Pflanzen mit Namen. Solch altmodische Dinge interessieren mich nicht. Mich interessiert nur Musik.

Vögel pfeifen, Musik machen sie nicht, sagt July und lacht. Ihr habt zwanzig Minuten für eine etwas erweiterte Tierliste. Bitte.

Ich überlege mir, dass wohl alle Tiere gestorben sind, die es in meiner Kindheit gab: alle Vögel, auch die Greifvögel, und ihr Futter, die Mäuse, alle Käfer, alle Würmer, alle Insekten. Auch alle Schmetterlinge. Die Hirsche, die Rehe, die Gämsen. Die Murmeltiere, die Siebenschläfer, die Maulwürfe, die Ratten. Und alle Haustiere wie Katzen, Hunde, Hühner. Die Kühe. Die Schweine. Die Pferde. Alle nicht mehr da, alle schon längst nicht mehr da. Tot. Erlegt. Geschlachtet. Zerlegt. Gegessen. Verendet. Verwest. Verreckt. Wie alt werden Tiere überhaupt? Kleine Vögel haben ein kurzes Leben, denke ich, aber die großen? Die Bäume dagegen. Ihre beruhigende Gegenwart. Hoch gewachsen und tief verwurzelt und den Winden widerstehend, sind sie anwesend. Mit den Bäumen hat sich Severin beschäftigt, als er noch lebte. Wie alt werden mehrjährige Pflanzen? Wie viele Jahre alt?

Meine Liste, von der ich nur die Tiernamen übersetze, den Rest werde ich dann irgendwie erzählen, spontan:

Wie alt werden Geier und Bergadler? Vultures, eagles

Was heißt Schabe in Englisch? Cockroach

Stimmt es, dass Fische ein Leben lang wachsen? Fish

Es gibt kein Tier, das von Natur aus Alzheimer entwickelt.

Ich bespritze Wespen gerne mit Wasser, verfolge sie einzeln und fürchte mich vor dem Schwarm. Wasps

Die spätsommerliche Aufgabe der Murmeltiere ist es, in der Sonne zu liegen und fett zu werden. Ihre Warnschreie im Ohr, gehe ich auf abschüssigen Pfaden. Zusammen mit Cora. Marmots

Wie eigentlich kommen Schnecken auf die Welt, diese Wesen, die stets ihr Haus mit sich schleppen? Sie gehören zu den Weichtieren. Gibt es auch Harttiere? Snails

Ihren Hund überließ Cora uns. Nur, niemand von uns wollte einen Hund haben. Dog

Vielleicht übernehmen am Ende endgültig die Tiere. Die Nacht jedenfalls gehört den Fledermäusen, den Eulen, den Mardern, Füchsen und Waschbären. Bats, owls, martens, foxes, raccoons

Reihum werden die Listen vorgelesen. Hunde spielen darin die Hauptrolle. Als ich ein wenig erzählt habe, fragt Tom: Sagt man dem eine Liste?

Spielt das denn eine Rolle?, antwortet Rose und wendet sich ihm zu. Ihrer Ansicht nach seien das irgendwelche Ministorys über Tiere, uninteressant. Aber, und nun dreht sie sich zu mir, wer Severin sei, wer Cora, das würde sie lieber wissen, als wie alt ein Bergadler werden könne.

Bleiben wir zuerst bei den Hunden, sagt July. Wer mag Hunde? Wer hasst sie und weshalb? Wer ist schon von einem Hund gebissen worden?

Oder gerettet, unter einer Lawine hervorgekratzt von einem Köter, sagt Rose, und alle lachen.

Wir haben einen Familienhund, meldet sich Felix, wohl der Jüngste der Gruppe, ein Niederländer, der hier bei Verwandten wohnt. Er hat rote Haare und ein paar Pickel im Gesicht und himmelblaue Augen. In zwei Jahren wird er eine Schönheit sein. Der Familienhund sei ein Schäfer, er heiße Marx und sei schon über zehn Jahre alt.

Kann ein Schäferhund ein Familienhund sein?, fragt Melanie, die einzige Dänin in der Gruppe, aber nur auf dem Papier, wie sie betont hat. Müssen Familienhunde nicht zwingend Labradore sein? Und darf ein Familienhund den Namen Marx tragen? Was ist überhaupt ein Familienhund?

Einer, der zur Familie gehört halt, sagt Felix, und wieder lachen alle. Einer, der nicht jemand Bestimmtem gehört in der Familie, sondern eben allen, präzisiert er und tut so, als habe er das Gelächter nicht gehört. Einer, den alle mögen und der auch alle mag.

Wie niedlich, sagt Rose.

Was ist überhaupt eine Familie?, fragt nun Laura, die aus einem winzigen Kaff in Südspanien stammt. Dann ist Ruhe, und alle Augen gehen zu July.

Wunderbares Thema, ist ihre Reaktion. Interessant übrigens, wie wir den Weg dahin gefunden haben, über den kleinen Umweg über die Tiere nämlich.

Ich soll also schon bald über Familie erzählen. Ein paar Sätze bloß sollen wir schreiben. Meine Familie in ein paar Sätzen. Ólafur gehört nicht zur Familie. Außer mir kennt er kein weiteres Familienmitglied. Alle wissen von ihm, aber niemand hat ihn bis jetzt zu Gesicht bekommen. Wünschen wir uns nicht alle eine andere Familie? Eine andere Wohnung, andere Möbel, einen andern Körper, ein anderes Alter, andere Kinder und einen andern Beruf? Nur, wozu? Was würde das ändern? Wichtiger sind gelegentlich ein anderer Himmel und eine andere Sprache, dazu Klänge von Musik. Jetzt wäre das richtige Licht für einen langen Brief, Vorabend und der Himmel bereits herbstgrau. Noch langsam, aber unablässig rückt der Winter näher. Die Landschaft, in der Ólafur lebt, kenne ich nur vom Sommer. Wie es dort im Winter aussieht und wie sich die dunkle Jahreszeit anfühlt, kann ich mir nicht wirklich vorstellen. Ólafur schulde ich noch eine Antwort. Wann soll ich dich besuchen, hat er gefragt in seiner letzten E-Mail.

Ich soll schon bald über Familie erzählen. Meine drei erwachsenen Töchter heißen Luisa, Iris und Cora. Ehrlich gesagt, mag ich ihre Namen nicht besonders, wobei, Luisa ist okay, Iris, na ja, aber mit Cora habe ich zu Beginn tatsächlich immer einen Hund assoziiert, und zwar einen weißen, kläffenden Spitz. Stefan, der Vater der Töchter, hat die Vornamen ausgewählt. Ich ließ ihm freie Hand, weil er aus der Wahl der Vornamen keine Farbengeschichte machen wollte, wie er sich ausdrückte. Was er ja auch mit den gewählten Vornamen nicht verhindern konnte. Luisa ist nachtblau, Iris ist giftgrün, und Cora ist weiß in meinem Kopf. Mir hätten für unsere Töchter schlichte Namen besser gefallen wie zum Beispiel Marie, Eva und Lea. Stefan aber wollte eine Luisa, eine Iris und eine Cora. Voilà.

Erwachsene Kinder sind immer unterwegs, immer auf Durchreise. Ich habe es satt, mit Luisa und Iris stets per SMS zu kommunizieren oder per Skype und Facetime. Ich mag es nicht, wenn die Töchter mich sehen beim Telefonieren, einander zuhören genügte mir. Cora hingegen würde ich gerne sehen und gerne hören, leider meldet sie sich seit längerer Zeit wieder nicht mehr bei mir.

Ich soll über Familie erzählen. Manchmal gelingt es mir, meine Familie zu vergessen. Mit dreiundzwanzig verbrachte ich ein Gastsemester in Paris. So ähnlich fühle ich mich gelegentlich hier in Kopenhagen. Ich denke zwar an die Töchter, sogar an Stefan denke ich, aber es gibt Zeiten, da blende ich sie alle aus, überspringe ich diesen Teil meiner Biografie, als wäre hier eine andere Zeit. Im Unterricht gelingt es mir am besten, gebe ich mich doch als familienlos aus. Ein wenig experimentieren, ein wenig spielen und üben, das sind ja unsere Aufgaben, und die nehme ich ernst. Überhaupt kommt mir mein Leben in Kopenhagen anders vor, obwohl, im Grunde ist es gleich, es spielt bloß vor einer andern Kulisse. Man kauft ein, kocht, isst, geht spazieren, liest, klebt, schneidet, schläft oder ist wach. Schon seltsam, bewusst aus dem vertrauten Alltag herauszutreten, nur um sich sogleich wieder einen neuen Alltag zu schaffen, ein paar hundert Kilometer weiter weg. Allerdings, hier bin ich allein und kann mich über Stunden meinen Kisten widmen. Stefan hat mir einige geschickt. Sie standen noch zu Hause, in meiner Dachwohnung, denn zuerst bin ich nur mit kleinem Gepäck gereist.

Bereits hat mich Luisa hier besucht. Wir waren zusammen im Zoo. Mir hat am besten eine alte Echse gefallen, die gerade am Fressen war und sich nicht stören ließ, als wir sie dabei beobachteten. Sie hat ihr Futter gemümmelt, wie es zahnlose Greise tun. Und sie hatte nichts an sich, das den Streichelimpuls weckt. Mich hat die Beschaffenheit ihrer Haut interessiert, das Schuppig-Mosaikartige, auch die Farben, dieser schimmernde Ton.

Mehrfach habe ich die Echse fotografiert, und ich habe Luisa fotografiert, wie sie aufmerksam das Tier beobachtete mit einem wachen und freundlichen Ausdruck auf dem Gesicht, der sich, so kommt es mir vor, wenn ich die Bilder jetzt wieder betrachte, auch auf die Echse übertragen hatte. So ist Luisa. Aufmerksam, konzentriert, freundlich. Und sie hat den richtigen Beruf gewählt. Das denke ich jetzt und denke ich immer dann, wenn sie mich massiert. Luisas begabte Hände, die genau ausmachen, wo der Nacken schmerzt, wo die Schultermuskulatur verspannt ist, ihre Hände, die noch viel mehr lesen. Luisa weiß wohl am meisten von mir. Sie ist neunundzwanzig Jahre alt, Physiotherapeutin, vor einem Jahr hat sie zusammen mit zwei Kolleginnen eine Praxis gegründet. Das Geschäft laufe schon recht gut, hat sie erzählt, hätten sie doch alle drei vorher in verschiedenen Spitälern gearbeitet und dort das Vertrauen der Ärzte gewonnen, die ihnen nun Patienten zuwiesen. Es litten ja immer mehr Menschen an Verspannungen, Verkrampfungen, Verletzungen, kein Wunder beim heutigen Stress. Auch sie drei müssten vorsichtig sein, um nicht in die gleiche Spirale zu geraten. Es sei schon jetzt verlockend, immer mehr Patienten aufzunehmen, die Behandlungstermine gedrängter zu setzen, schließlich bräuchten sie als junge Unternehmerinnen ja Geld, aber noch reizvoller sei das gute Gefühl, gefragt zu sein, schon nach einem Jahr. Nur, unsere Arbeit ist Menschenarbeit, wenn du verstehst, was ich meine, hat Luisa gesagt, als wir, erschöpft vom Betrachten der Tiere, den Zoo verließen und uns in ein Café setzten, obwohl wir noch lange nicht alle Pavillons besichtigt hatten. Mit Iris wäre das nie möglich gewesen. Sie als ausgeprägte Systematikerin hätte im Zoo zuerst die effizienteste Route festgelegt, damit wir kein Tier verpassen würden, auch nicht das letzte Reh, während Luisa und ich uns haben treiben lassen und eher überraschend plötzlich im Reptilienhaus vor der alten Echse gestanden sind und ihr zugeschaut haben, wie sie gefressen hat.

Zusammensein mit Luisa ist entspannt. Außer dem Zoobesuch haben wir nichts Besonderes unternommen, wir haben zusammen gekocht, sind spazieren gegangen, haben ein paar Shops besucht, Luisa ist frisch verliebt und hatte Lust auf neue Kleider. Über Jahre hat sie einer verflossenen Liebe nachgetrauert, und ich habe schon befürchtet, sie würde diesen Schmerz nie wirklich überwinden. Der Neue heiße Fabian und sei umwerfend, hat sie überraschend erzählt, als sie mir ein schlichtes, gepunktetes Kleid vorgeführt hat, das ihr sehr gut stand. Ich schenke dir das Kleid, habe ich gesagt und nochmals ein paar Fotos von ihr gemacht, und sie hat mir auf ihrem Handy das Bild eines Mannes gezeigt, der für mich auf den ersten Blick nichts Spezielles hat, was ich ihr natürlich nicht gesagt habe. Du wirst ihn gewiss irgendwann kennenlernen, hat sie lächelnd gesagt. Zurück in der Wohnung hat Luisa ihr neues Kleid an die Garderobe gehängt, dann hat sie sich aufs Sofa gelegt und ist sogleich eingeschlafen. Ich habe das Kleid nochmals begutachtet, habe es gewendet und mit meiner Friseusenschere, die ich immer zur Hand habe, an seiner Innenseite den Reserveknopf abgeschnitten und ihn zuhinterst in meine Schreibtischschublade gelegt. Luisa wird das bestimmt nie merken.

Anderntags beim Abschied hat sie wie beiläufig gesagt, sie habe Cora ein wenig Geld geschickt. Wir haben uns einen kurzen Blick gegeben, Iris lasse mich auch grüßen, hat Luisa noch gesagt, bevor wir uns umarmt haben.

Iris hat sich nicht von mir fotografieren lassen, als auch sie mich kurze Zeit später besuchte, völlig überraschend. Bitte keine Bilder, das sei lächerlich. Sie sei doch keine Touristin, und wem die Wohnung hier eigentlich gehöre. Leg die Kamera weg, das ist peinlich, hat sie insistiert. Sie habe keine Lust darauf, sich zerstückeln und zerschnipseln und neu zusammensetzen zu lassen. Das habe ich nicht vor, habe ich erwidert, aber Iris hat mich voller Skepsis angeschaut und mir dann geraten, endlich digital zu collagieren, das sei zeitgemäßer und effizienter als mein mühsames Gebastel. Es reiche mir schon, mich daheim in meinem Unterricht am Gymnasium fast nur noch mit digitalem Gestalten zu beschäftigen. Für meinen persönlichen Teil bliebe ich liebend gern analog, habe ich erklärt. Na gut, ich müsse es ja selbst wissen, aber digitales Collagieren enthalte bestimmt Potenzial, wenn ich bloß bereit wäre, mich darauf einzulassen, hat Iris geäußert. Genau, ich muss es ja selbst wissen, und ich weiß es auch, habe ich diese Diskussion entschieden beendet.

Iris hat mir ein Geschenk mitgebracht, das mich noch immer erstaunt: einen Bonsai. Sie ist nur vom Samstagabend bis zum Sonntagabend geblieben. Am Samstagabend habe ich sie zum Essen eingeladen, danach sind wir ins Kino gegangen, und am Sonntag waren wir auf ihren Vorschlag hin schon früh unterwegs und haben das Schifffahrtsmuseum im Hafen von Helsingør besucht. Denn ich würde zu wenig unternehmen, hat Iris festgestellt beim Essen, ich würde die Angebote der Stadt zu wenig nutzen. Du musst dich hier assimilieren, hat sie gesagt und mir einen ihrer merkwürdigen Blicke gegeben, du musst ein paar Bekanntschaften machen, wenn du hier wirklich noch längere Zeit bleiben willst. Das wolle ich durchaus, und die Bekanntschaften, habe ich sie beruhigt, würden sich von selbst ergeben im Sprachkurs, der ja vor Kurzem begonnen habe. Und überhaupt, du weißt doch, dass ich gerne allein bin.

Ich will nicht, dass du hier vereinsamst, Mama, hat Iris gesagt mit einer ganz andern Stimme und hat weggeblickt dabei.

Ich betrachte den Bonsai, sitze auf dem Bettsofa, auf dem Iris geschlafen hat, habe ihre Sätze im Ohr, höre ihre Stimme, sehe ihre sehr hellgrünen Augen vor mir, in denen Energie, ja Tatendrang leuchtet. Iris hat Agrarwissenschaften studiert, in Rekordzeit, und sich auf Agrarökonomie spezialisiert. Wenn ich mir zu Beginn ihres Studiums noch vorgestellt hatte, sie beschäftige sich mit Landwirtschaft, so bin ich längst eines Besseren belehrt worden, wobei, nein, das stimmt nicht. Iris hat mich nie belehrt. Sie hat selten von ihrem Studium erzählt, nur immer wieder betont, dass das, womit sie sich beschäftige, mit den Bauern nichts zu tun habe, und die Biobauern gar, deren Produkte unsere Familie, sie inklusive, zu überhöhten Preisen so gerne kauften, spielten darin überhaupt keine Rolle. Auch nicht Bündner Grauvieh, auch nicht die Schwarznasenschafe oder sonst irgendwelche Tiere, welche die ProSpezieRara vor dem Aussterben retten wolle. Es gehe in ihrem Studium um Fakten, um Zahlen, um Berechnungen, Prognosen, bestenfalls noch um Fragen der Landschaftsgestaltung. Heute ist Iris ständig unterwegs, zusammen mit Urs, ihrem Freund, einem Ökologen, vor allem im südlichen Afrika sind die beiden in mehrere Forschungsprojekte involviert. Iris hat mir erklärt, es handle sich dabei im weitesten Sinne um Entwicklungshilfe, aber um eine Form, die sich erst noch etablieren müsse. Auch sie hat zum Schluss nur kurz über Cora gesprochen, als würde sie etwas Verbotenes tun. Es gehe ihr besser, hat sie gesagt, die Therapie beginne zu greifen. Und wahrscheinlich tue es Cora gut, dass ich nicht stets erreichbar sei und mich dauernd um sie kümmerte. Vielleicht wird die Kleine doch noch selbständig, hat sie gesagt. Mir ist auf die Schnelle keine Antwort eingefallen, denn ich habe überlegt, ob die scharfsinnige Iris mit ihrer Analyse recht hat. Als ich geschwiegen habe, hat sie weitergeredet: Wir haben uns in all der Zeit vor allem um dich Sorgen gemacht. Denn Cora hat schon immer genau das getan, was sie tun wollte, alles musste nach ihrem Kopf gehen, sie hat uns manipuliert, nur hast du es oft nicht gemerkt.

Auch Stefan möchte mich in Kopenhagen besuchen. Er will mit mir über Cora sprechen, obwohl wir ausgemacht haben, dass ich mich für eine Weile aus der Geschichte heraushalten würde. Zu meiner Entlastung. Und weil Cora sich ablösen müsse von mir. Stefan ist mir nicht willkommen hier. Die Situation, wie wir uns gegenübersitzen würden in diesem dänischen Wohnzimmer, macht mich bereits in der Vorstellung verlegen. Es ist lange her, dass wir zusammen im Ausland waren, und plötzlich schießen mir Bilder durch den Kopf, Stationen unserer gemeinsamen Biografie. Wie er auf einem der breiten Küchenfenstersimse saß, in einer geräumigen Jugendstilwohnung, in der ich als Studentin in einer Dreier-WG lebte, und wie er mich in jener Küche fragte, ob ich mir vorstellen könne, mit ihm zusammenzuziehen, und wie ich meine Arbeit unterbrach, ich war eben dabei, gekochte Kartoffeln in Scheiben zu schneiden für einen Salat, wie er mich anschaute und wie ich nach einer Weile sagte: Ja, das kann ich mir vorstellen. Nach ein paar Monaten zogen meine beiden Kommilitoninnen aus, und Stefan und ich übernahmen zusammen die Wohnung, wir erzählten uns manchmal mitten in der Nacht ganze Bücher, gaben uns von Beginn weg viel Auslauf und wurden füreinander doch rasch und wie von selbst die Hauptpersonen im Leben, ohne zu fragen, ob das leicht sei oder schwer, ein Jahr später beendeten wir beide das Studium, er Anglistik, ich Kunstgeschichte, wir begannen, an zwei verschiedenen Gymnasien zu unterrichten, ich belegte Kurse an der Kunstschule, Stefan, äußerst sprachbegabt, lernte konzentriert Spanisch, es ging uns gut, einige Zeit später wurde Luisa geboren, zwei Jahre später Iris und noch einmal eineinhalb Jahre später Cora. Wir reduzierten unsere Unterrichtspensen, Stefans Eltern übernahmen die Kinder an zwei Tagen, wir bekamen eine neue Küche und ein neues Bad, der Kachelofen wurde repariert und durfte wieder in Betrieb genommen werden, früh mischten sich erste Tote ein, meine Eltern starben im Abstand von ein paar Monaten, Stefans bester Freund starb bei einem Autounfall, und in der Klasse von Iris gab es später ein Kind, das an Leukämie starb.

Irgendwann habe ich noch eine kleine Wohnung im Dachgeschoss des Hauses, in dem wir wohnten, dazugemietet. Ich brauchte Platz für meine Kisten. Für die Klebebilder, das Geschnipsel. Man kann daran arbeiten, auch mal über sich selbst zu sprechen, hat mir Stefan einmal in einem Geburtstagsbrief geschrieben, in einer Zeit, als ich wohl immer stiller geworden war und immer öfter Zeit oben im Dachgeschoss verbrachte. Zwar hat er es nie so deutlich gesagt, aber es war offensichtlich, dass ihm mit der Zeit mein ständiges Suchen und Sammeln und Aufbewahren und Ausschneiden und Schnipseln und Sortieren und Kleben und Stapeln auf die Nerven ging. Und hätte er gemerkt, dass ich mir bisweilen nehme, was mir ins Auge sticht, er wäre vergangen vor Scham. Aber er hat nichts bemerkt, nur mein zeitweiliges Verstummen und Verschwinden hat ihm immer mehr Mühe bereitet. Man wird sonderbar geboren, und sehr gesprächig bin ich noch nie gewesen, habe ich gesagt, wenn er sich beklagte, und das hat ihn dann doch wieder zum Lachen gebracht. Aber ein wenig konnte ich ihn verstehen. Zumal ich ihm höchst selten eine Arbeit zeigte. Eine Collage ist nie fertig, man kann immer noch etwas hinzufügen. Such dir halt auch etwas Eigenes, hätte ich sagen sollen, aber ich sagte es nicht, und das war ein Fehler. Ich habe gedacht, er hat ja sein Spanisch. Stefan wartete darauf, dass ich die Collagen öffentlich zeigen würde, als wir noch zusammenlebten. Wozu das gut sein solle, habe ich ihn gefragt. Wozu soll eine Lehrerin für Bildnerisches Gestalten das, was sie in ihrer Freizeit zusammenkleistert, auch noch ausstellen? Damit sie in der Lokalzeitung eine kleine Besprechung bekommt? Nein, damit ich stolz sein könnte auf dich, lautete seine Antwort, die mir bis heute nicht einleuchtet. Würde es etwa deinen Selbstwert erhöhen, wenn ich Erfolg hätte oder was, habe ich gefragt. Reicht es nicht so, wie es ist? Meinst du, ich wäre dann eine andere Person oder wie? Stefan hat solche Fragen nicht beantwortet, sondern nur knapp bemerkt, ich würde das, wofür so viel Zeit draufgehe, am Ende eben doch nicht richtig ernst nehmen. Du kapierst nicht, dass Collagieren für mich ein Zeitvertreib ist, habe ich erklärt, und das nicht zum ersten Mal. Dass es mir beim Nachdenken hilft. Dass es macht, dass ich funktioniere. Andere schauen aus dem Fenster oder stricken oder sticken oder backen Torten. Ich vertiefe mich in gesammeltes Material, zweckentfremde es und schaffe damit etwas Neues.

Ich soll über Familie erzählen. Ich habe zwei Schwestern, ich hatte zwei Schwestern, eine ist noch am Leben. Alice. Klara aber war jene mit den funkelnden Augen und dem biegsamen Körper. War, sage ich. Denn sie ist tot, seit zehn Jahren schon, gestorben an aller Art Karzinomen. Ich gehörte zu den Hinterbliebenen und borgte mir ihre Mäntel. Erst viel später ist mir wirklich klar geworden, dass ich ihr die Kleidungsstücke nicht mehr würde zurückgeben können. Ich habe sie alle in die Altkleidersammlung gegeben, alle unversehrt, nicht ein einziger Knopf fehlte. Es war ein regnerischer Sommer, dieser erste Sommer ohne Klara, und er war gefüllt mit Maßnahmen der Angst. Was in den Zellen dieser Schwester passiert war, konnte jederzeit auch bei uns einsetzen, bei Alice, bei mir, bei unsern Kindern. Uns fehlten die Worte, aber Angst war die vorherrschende Emotion. Angst, die Kontrolle über unsere Leben zu verlieren. Alice und ich begannen eine Art Spiel, bei all dem Ernst. Wir suchten nach Sonnencreme mit dem höchstmöglichen Lichtschutzfaktor, nach Nahrungsergänzungsprodukten, nach Tees und Kräutern, wir überboten uns darin, bei jedem Einkauf sämtliche Angaben zu jedem Produkt zu lesen, wir verzichteten auf Fleisch, auf Süßes, auf Salz. Es war ein Wettbewerb, aber wir hielten nicht durch und gaben schließlich zu, uns heimlich vollzustopfen mit Chips und Crackers und Eiscreme und Schokolade. So ist das Leben, sagte Alice, und ihre Lippen wurden zu einem Strich, und sie rauchte dazu, alle ihre Sätze unterstrich sie mit ausgeblasenem Rauch, so ist das Leben, sagte sie, Schall und Rauch und Aus und Amen.

Klara war die Älteste gewesen. Dann kam Alice, dann ich. Nach Klaras Tod verstrichen die Tage in Zeitlupe. Und die Nächte erst. Sie verwandelten uns, zu einem Rest, zu etwas Übriggebliebenem. Bis die pragmatische Klara zurückkam in mein Schlafzimmer und flüsterte: Hör auf mit dem Theater, los jetzt, zieh mal für eine Weile weg, beweg dich.

Bist du jetzt ein Geist?, wollte ich fragen, aber da war sie schon weg. Zentimeter um Zentimeter arbeitete ich mich heraus aus dem Schwesternkostüm und reiste zum ersten Mal während langen Sommerferien allein in den Norden, nach Oslo zuerst, danach mit einer Gruppe immer weiter nordwärts. Stefan kümmerte sich in dieser Zeit um unsere Töchter.

Wind und Kühle des Nordens machen den Kopf klarer, trocknen Haut und Lippen aus, reißen an den Haaren und fahren in die Knochen. In der Gruppe machten wir lange Wanderungen, oft über mehrere Tage in Nationalparks, ich sammelte auch in Norwegen, was ich finden konnte, Moose, Flechten, Polsterpflanzen, Tierhaar und Fellstücke, und suchte nach Möglichkeiten, das Zeug zu konservieren. Weil ich nicht wusste, wie, und niemand mir raten konnte, nahm ich nur die schönsten Stücke mit, den Rest fotografierte ich und legte ein dilettantisches digitales Herbarium an. Dann lernte ich Ólafur kennen. Im Informationscenter eines Nationalparks, das er bis heute leitet, kamen wir ins Gespräch. Er spricht perfekt Deutsch, hat er doch mehrere Jahre in Deutschland gearbeitet und mitgeholfen beim Aufbau einer Forstschule. Englisch spricht er ohnehin, Norwegisch ist seine Muttersprache. An Alice, die zu Hause geblieben war in ihrem Friseusengeschäft, schrieb ich lange Briefe. In Handschrift. Und in den hellen Nächten fast ohne Schlaf fertigte ich auch eine Abschrift für mich selbst an.

Liebe Alice, es gibt Berge von Sätzen für die tote Schwester. Und dahinter liegen unsere Eltern begraben, irgendwo, hinter den sieben Bergen. Am Ende des Schlafs wartet immer das Erwachen. In den frühen Morgen hinein erwachen ist das Beste, Ende Juni irgendwo, südlich Tromsö. Jetzt ist weit nach Mitternacht, hell draußen, aber bald lege ich mich schlafen, schon wieder erfüllt von Vorfreude auf den Tagesbeginn. Diese Masse an Licht, die einen umfängt, auch in den Nächten, wie eine zarte Decke. Dieses Licht hält einen, lässt einen nicht versinken, im Gegenteil, es lässt dich schweben. Es gibt im Norden den Winterschlaf und den Sommerschlaf. Den Winterschlaf kenne ich nicht, ich stelle mir vor, man taucht ein in tintige Schwärze, und es ist bestimmt schwer, wieder hochzukommen, der Körper bestimmt bloß ein kompakter Klumpen voller Sehnsucht nach dem Bett. Der Sommerschlaf hingegen ist ein einziges Ballett. Nur Licht und Luft. Nein, kein Wort über die Liebe, aber liebe Alice, wie geht es dir? Und wie geht es Severin? Ist er immer noch so fleißig im Studium? Mir geht es gut, danke, es gab Schnitzel zum Abendessen, ich muss jetzt schließen.

Meine Schwester schreibt keine Briefe und selten eine Kurznachricht. Manchmal rief ich sie an aus Norwegen, was zwar teuer war, aber noch lange nicht so viel kostete, wie sie meinte und sich deswegen stets knapp fasste.

Die ausgelaugten Hände der Mutter, die über Alices schönes Haar strichen. Und der Vater, der sagte: Auch dieses Mädchen ist nicht aus Zucker. Aus uns drei Schwestern wurden eine Kauffrau, eine Friseuse, eine Zeichnungslehrerin. Wären wir Brüder gewesen, hätte unsere Mutter gesagt: Mit diesen Berufen stehen eure Aussichten gut, gemachte Männer zu werden. Aber wir waren Schwestern. Und wir hatten keinen Bruder.

Ich soll über Familie erzählen. Voilà. Meine Familie, wie sie im Buche stünde:

Zusammen mit zwei älteren Schwestern bin ich in einer ländlichen Gegend aufgewachsen. Auf einem Bauernhof mit Kühen und Schweinen und Katzen und Kaninchen. Wir verbrachten eine glückliche Kindheit und Jugendzeit. Unsere Eltern starben, als wir erwachsen waren. Wir verkauften den Hof. Vor zehn Jahren starb Klara, die Älteste von uns, an Krebs. Mit Alice, meiner Schwester, habe ich viel Kontakt. Sie ist Friseuse und hat ein eigenes Geschäft. Sie hatte einen Sohn. Severin. Ich hoffe, dass Alice mich bald besuchen wird hier in Kopenhagen.

Als ich diesen kleinen Text übersetze und dann auf unsere Lernplattform hochlade, vibriert mein Handy. Alice schreibt: Vor fünf Monaten war der traurigste Tag meines Lebens. Ich studiere so viel, noch immer.

3

Ich kämpfe mit einer handfesten Erkältung, mein Hals kratzt, die Nase läuft, und ich habe Ohrenschmerzen, wie immer, wenn ich erkältet bin. Seit ich mich erinnern kann, plagen mich immer wieder Ohrenschmerzen. Draußen tobt ein heftiger Sturm, starker Regen, kalte Winde. Nässe dringt durch die Schuhe, und an eine Frisur ist nicht zu denken, kein Regenschirm hält dem Wind stand. Ich betrete ein Café im selben Quartier, wo sich meine Sprachschule befindet, setze mich an einen Tisch und bin umgeben von jungen Leuten, Frauen und Männern mit blonden Hochsteckfrisuren, die alle sehr kunstvoll und gleichzeitig sehr improvisiert wirken. Einige sitzen an ihren Laptops und arbeiten. Auch ich will hier ein wenig lernen, heute ist erst am Nachmittag Unterricht, aber zuerst esse ich, Erkältung hin oder her, ein Smørrebrød, wundervoll gefüllt mit Avocado, Hummus und Tomaten. Junge Eltern haben ihre Babys und Kleinkinder mit ins Café gebracht, Väter trinken einen Espresso und schauen zu, wie ihre Kinder mit gutem Appetit in ihre Brote beißen. Sie beißen ins Leben, denke ich.

Im Unterricht besprechen wir die Texte über Familie. Die jungen Leute haben über Papa und Mama geschrieben, über Schwester und Bruder. Felix ist ein Einzelkind. Ein Vorteil, sagt er, ich war schnell fertig mit der Aufgabe.

Aber ihr habt doch den Familienhund, sagt Rose spöttisch. July wirft ihr einen Blick zu. Mama, Papa, Kind und Hund, stichelt Rose weiter, aber die Klasse reagiert nicht. Wir beugen uns über die Texte, July hat sie ausgedruckt. Aus ihnen geht hervor, dass einige der Klasse in Familien leben, für deren Mitglieder es keine Bezeichnungen gibt. Melanie zum Beispiel hat geschrieben: Wie nenne ich Anne, die erste Tochter der Freundin meines Vaters in Bezug zu mir selbst? Sie ist ja nicht meine Halbschwester, die gibt es auch noch, Johanna, aber Anne ist doch mehr als irgendein Mädchen, schließlich lebe ich mit ihr, seit ich drei bin. Es muss doch eine Bezeichnung geben für unser Verhältnis.

Gebrauche doch weiterhin nur ihren Namen, schlägt July vor, als wir den Text besprechen. Aber Melanie ist damit nicht wirklich zufrieden.

Es wäre an der Zeit, dass irgendeine Kommission neue Wörter erfindet für erweiterte Familienverhältnisse, wendet sie ein.

Bislang habe ich nur zugehört, über die letzte Anmerkung aber muss ich ein wenig lachen, was Melanie dazu bringt, sich direkt an mich zu wenden und in halb spöttischem Ton zu sagen: Solche Probleme hast du nicht, nein?

Warum denkst du das?, frage ich.

Melanie schweigt und schaut mich bohrend an, atmet dann tief ein und sagt, auch die Freundin ihres Vaters beantworte jede ihrer Fragen stets mit einer Gegenfrage, was sie nerve. Noch bevor ich darauf etwas entgegnen kann, weint sie plötzlich. Ich sage nichts mehr, auch July schweigt und wartet, bis sich Melanie wieder etwas gefasst hat und stockend erzählt.

Sie sei fünf gewesen und habe schon bei ihrem Vater und seiner Freundin gewohnt, als ihre Mutter gestorben sei, an einer Überdosis Schlafmittel, das habe sie erst Jahre später erfahren. Seither müsse sie jeden Tag an den Tod denken.

Es bleibt still in der Klasse, bis Tom sagt, das Thema dieser Unit sei mühsam. The family! Ob wir das nicht überspringen könnten. Ich überlege, ob jetzt der Moment gekommen sei, von Cora zu erzählen und unserer defekten Familie, ich tue es nicht, sondern unterschlage der Klasse gegenüber weiterhin meine Töchter und ihren Vater. Es werde hier nichts übersprungen, sagt July. Alle hätten schließlich in irgendeiner Form eine Familie vorzuweisen.

Du auch?, wird Rose nun direkt, worauf July nickt. Hast du Kinder?, will Rose wissen.

Bis jetzt nicht.

Bist du vielleicht schwanger? Möchtest du überhaupt mal Kinder haben?, fährt Rose fort.

Hör auf, ruft Tom, Rose, bitte! Reden wir von was anderem, von Musik meinetwegen, das interessiert dich doch. Oder von Kleidern, von Autos, von Food. Die Liste deiner sieben Lieblingsessen, wie wäre es damit, nur zum Beispiel?

Aber July bleibt souverän und sagt, es störe sie nicht, wenn Rose ihr Fragen stelle, und nein, sie sei nicht schwanger, die Kinderfrage stehe derzeit auch nicht zuvorderst in ihrem Leben. Bevor Rose ein »sondern?« einwerfen kann, gibt uns July bereits Homework für morgen bekannt, da sie zur Grammatik übergehen will. Wir sollen fünf Personen aufzählen, die uns wichtig sind, wir sollen sie kurz beschreiben, dabei aber nicht mehr als fünf Minuten pro Person einsetzen.

Ich bin schon zu lange im Geschäft, um nicht wahrzunehmen, wie July unterrichtet. Mir ist klar, dass sie den Lehrakt sehr bewusst gestaltet. Bestimmt setzt sie viel Zeit für die Vorbereitung ein, ist aber auch in der Lage, vom Geplanten abzuweichen und auf die Klasse einzugehen. Geschickt schafft sie immer wieder Gesprächssituationen, aus denen sie Schreibanlässe ableitet. Wir sollen reden, wir sollen schreiben. Ich bin im Reden nicht schnell genug, weil ich mir meine Sätze zuerst zurechtlege. Und schreibe ich, übersetze ich bloß alles. Die Lernenden da abzuholen, wo sie stehen, dieses Dogma hat July verinnerlicht und führt es uns täglich vor. Wie alt sie wohl sein mag? Vierunddreißig? Siebenunddreißig? Weil sie unsere Lehrerin ist, tendiere ich dazu, sie älter zu machen. Und July tut nichts dazu, jünger zu wirken. Sie erscheint stets in dunklen Jeans, Bluse, passendem Cardigan und Sneakers, sie kommt mit dem Fahrrad zur Schule, an kühleren Tagen hat sie bisher feine, rote Lederhandschuhe getragen, die sie, nur ich weiß das, seit Kurzem vermisst und bestimmt überall sucht. Ihr schulterlanges braunes Haar trägt sie mal offen, mal zusammengebunden, ihre braunen Augen sind mit Kajal umrahmt, die Wimpern getuscht. Das alles wirkt aber beiläufig, so, als würde sie nicht viel Zeit für Äußerlichkeiten aufwenden. Und sie behandelt uns alle mit gleichbleibender Freundlichkeit.

Selbst die Grammatikregeln doziert July nicht bloß, sondern legt uns zum Beispiel verschiedene Übersichtstabellen zu den grammatikalischen Zeiten vor, als Orientierungshilfen, unterfüttert die Theorie aber sogleich mit Texten, die wir gemeinsam lesen. Past continuous fasziniert mich als Begriff und ich stelle es mir als etwas vor, das überall hineinlappt. Wie eine Hand, die ständig hineinlangt in das, was ich gerade tue. In meinem Kopf übersetze ich das Wort ziemlich unsachgemäß als andauernde Vergangenheit, wohl zum absoluten Entsetzen Stefans. Wüsste er das, würde er sagen, du hast überhaupt nichts kapiert. Hör auf, Begriffe zu übersetzen, die man nicht übersetzen kann. So lernst du nie Englisch. Und tatsächlich habe ich mich nie leicht getan mit dieser Sprache. Stefans Gebiet, Sperrzone, die zu betreten ich mich weigerte. In seiner Gegenwart ließ ich kein englisches Wort verlauten aus Angst, mich damit zu blamieren, es falsch auszusprechen oder falsch anzuwenden. Und das, obwohl ich im Rahmen der obligatorischen Weiterbildung regelmäßig Englischkurse besucht hatte. Erst als ich immer wieder in den Norden fuhr, bemerkte ich, dass ich die Sprache ganz passabel spreche.

July gewichtet Lese- und Textverständnis hoch. Und wir müssen stets Listen erstellen, ihre Passion dafür ist nicht zu überbieten. Die Lieblingssongs, die Lieblingsfilme, die Lieblingstiere, die Lieblingsbeschäftigungen. Und was ist, wenn ich das alles nicht habe?, frage ich.

Sie weiß immer eine Antwort. Mach das Gegenteil, sagt sie. Schreib auf, was du hasst.

Fabienne, eine junge Französin, sagt sogleich: Das will ich auch. Auflisten, was ich hasse.

Oder wen, wirft Laura ein.

Wir sitzen im Kreis, immer. Kürzlich hat July erzählt von einer Ausstellung in New York, die sie gesehen habe und in der es ausschließlich um Listen gegangen sei, total beeindruckend. Was man merke, hat Fabienne augenrollend eingeworfen.

July hat uns den Ausstellungskatalog gezeigt. Von Künstlern erzählt, die auf unterschiedliche Weise mit Listen arbeiteten, und mich dabei angeschaut, was mir unangenehm war. Wenn sie mich für eine Künstlerin hält, hat sie sich geschnitten. Ich bin Zeichnungslehrerin. I teach art, habe ich gesagt bei der Vorstellungsrunde, was viel zu hoch gegriffen ist, aber mir ist kein anderer Ausdruck eingefallen. Die Dreizehnjährigen, die ich unterrichte, interessieren sich nicht besonders für Kunst. Noch am ehesten interessieren sie sich für Techniken und Materialien. Und natürlich für Tools.

Meine fünf Menschen, an die ich immer denke, heißen Luisa, Iris, Cora, Ólafur, Alice, Severin, Klara, Stefan. Ich müsste drei Namen streichen, was ich aber nicht tun will. Zwei Namen sind bereits ohne irgendein Zutun gestrichen worden. Ordne ich die Namen nach Alter, heißt die Reihe Ólafur, Alice, Klara, Stefan, Severin, Luisa, Iris, Cora.

Am häufigsten denke ich an Cora, sehe ihre wildflackernden Augen vor mir. Sie ist wie von Nebeln eingehüllt, bewegt sich wie hinter Glas. Jemand muss ihr aus diesem Gewaber heraushelfen. Ich bin die falsche Person dafür, das hat sich gezeigt. Aber auch wenn ich den Stab weitergegeben habe, denke ich zu oft an sie. Seit mehr als vier Jahren sorge ich mich um diese Tochter. Es sind schwere Sorgen, und Cora ist bereits über fünfundzwanzig Jahre alt.

Schlaf, wenn er gelingt, ist ein Fluchtort. Im Traum befinde ich mich in der Eisenbahn. Mir gegenüber sitzt Cora, sie schaut aus dem Fenster. Sie wünsche sich ein Kind, nichts anderes wünsche sie sich sehnlicher als ein Kind, hat sie gesagt. Warum wünschst ausgerechnet du dir ein Kind?, habe ich gefragt. Sie hat mir einen hasserfüllten Blick gegeben, nun starrt sie aus dem Fenster. Das ist nur ein Atemholen, ich kenne Cora. Sie ist die Letzte, die um Antworten verlegen ist. Sie wird sich nicht zurückhalten, auch nicht in der Ruhezone, wo wir uns befinden, sie wird immer lauter werden, sie wird schreien, gegen die Abteiltür poltern, sie wird vielleicht handgreiflich werden, alles ist möglich.

Ich erwache. Ich bin müde. Was schuldet man einem Kind? Man schulde ihm das Glück, habe ich vor Kurzem einem Trailer entnommen. Der Satz ist durch meinen Körper gefahren wie ein Hexenschuss. Die Dunkelheit ist es nicht, die bedrohlich ist. Es wird ja wieder Tag. Dennoch stehe ich auf, erledige mein Homework und lade es hoch:

Die Liste der fünf Personen, mit denen ich mich immer wieder beschäftige:

Mutter. Frühling. Sommer. Herbst. Winter.

Es folgt die Beschreibung:

Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder, den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter. Der Frühling bringt Blumen, der Sommer den Klee, der Herbst, der bringt Trauben, der Winter den Schnee.

Für die Übersetzung muss ich das Wort »Klee« nachschauen.

Once upon a time there was a mother she had four children, spring, summer, autumn and winter. Spring brings flowers, summer brings clover. It is autumn that brings grapes, winter brings the snow.

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