image

weissbooks.w

image Impressum

Artur Becker

Drang nach Osten

Roman

© Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2019

Alle Rechte vorbehalten

Konzept Design

Gottschalk+Ash Int’l

Umschlaggestaltung

Julia Borgwardt, borgwardt design

Jutta Schneider Grafik Design

unter Verwendung eines Motivs von

© shutterstock

Foto Artur Becker

© Susanne Schleyer

Satz

Publikations Atelier, Dreieich

Erste Auflage 2019

imageISBN 978-3-86337-138-8

weissbooks.com

arturbecker.de

Artur Becker
Drang nach Osten
Roman

image

image

Drang nach Osten

Für Magdalena

»Ich beklage mich, ich habe gewisse Jahre

von meinem menschlichen Leben verloren:

und lag’s nicht bloß an mir sie zu genießen?

bot mir nicht das Schicksal selbst

die ganze fertige Anlage dazu dar?«

Johann Gottfried Herder

Journal meiner Reise im Jahr 1769

»Die Abwesenheit der Schwerkraft in der Fiktion

führt auch dazu, dass das Böse interessant

und verführerisch ist, das Gute langweilig.

Denn wenn es keine Schwerkraft gäbe,

wäre das Gute selbstverständlich;

das Böse wäre unerwartet, überraschend

und würde deshalb gefallen.

Wegen der Schwerkraft ist es umgekehrt.«

Simone Weil, Cahiers – Aufzeichnungen

Band 2, Heft 5, November 1941

»Ein Land bist du, wo es keine Schande ist, zu leiden,

Da man bei dir gleich ein Glas bitteren Trank serviert,

An dessen Boden sich das Gift der Jahrhunderte sammelt.«

Czesław Miłosz, Erde

Washington D.C., 1949

Inhalt

I.
Schwerkraft
(Arthur)

Kapitel 1: Der Grizzly Peak

Kapitel 2: Ein Produkt der Hypokrisie

Kapitel 3: Der Interkontinentalflug

Kapitel 4: Das Ultimatum

Kapitel 5: TV-Nachrichten

Kapitel 6: Tachykardien

Kapitel 7: Der astronomische Himmel über der Heimat

II.
Gnade
(Irmgard)

Kapitel 1: Im Schnee des Schlossgartens

Kapitel 2: »Wiedergewonnene Gebiete«

Kapitel 3: Der fremde Mann

Kapitel 4: UNRRA

Kapitel 5: Ein klassischer Landstreicher

III.
Schwerkraft
(Arthur)

Kapitel 1: Auf dem 14. Bahnsteig

Kapitel 2: In einem Hotel in der Nähe

Kapitel 3: Bleib treu!

Kapitel 4: Malwinas Yoni

Kapitel 5: Im Westen ein Marxist

Kapitel 6: Die Baskenmütze

Kapitel 7: Plejaden und Orion

Kapitel 8: Überall und nirgendwo

IV.
Gnade
(Renata)

Kapitel 1: In Polen

Kapitel 2: Das Böse

Kapitel 3: Ein Kind des Teufels

Kapitel 4: Der Quacksalber

Kapitel 5: Unschuldige

Kapitel 6: Keine Erlösung

Kapitel 7: Wir fürchten uns alle

Kapitel 8: Wo liegt der Osten?

Kapitel 9: Genossin Renata

V.
Schwerkraft
(Arthur)

Kapitel 1: Kriegserklärung

Kapitel 2: Über Wasser laufen

Kapitel 3: Stolpersteine

Kapitel 4: Die astralen Kinder

Kapitel 5: Die Wahrheit

Kapitel 6: Das Begräbnis und die Totenfeier

Kapitel 7: Der Sachsenhain und das Labyrinth des Minotaurus

VI.
Gnade
(Ryszard)

Kapitel 1: Warten auf den Feind

Kapitel 2: Der Schulunterricht und die Belohnung

Kapitel 3: Der weite Weg nach Bartoszyce

Kapitel 4: Elas ewige Nacht

Kapitel 5: »Herr Professor, gibt es Gott?«

Kapitel 6: Wassertropfen und die Wahrheit

VII.
Schwerkraft
(Arthur)

Kapitel 1: Die violetten Abendlevkojen der Mutter

Kapitel 2: Von Barschen und Menschen

Kapitel 3: Das unverhoffte Wiedersehen mit den Zwillingen

Kapitel 4: Zwei Angler und die große weite Welt

Kapitel 5: Drang nach Osten – Drang nach Westen

Kapitel 6: Das Wiedersehen mit Malwina

Kapitel 7: Das schwarze Pferd

Kapitel 8: Ein typisch ostpreußischer Nachmittag

Kapitel 9: Die Maskerade

Kapitel 10: Der Abschied am Serwent-See

Epilog
»Schwerkraft und Gnade«

Die Schwangerschaften (Jan)

Wenn eine Frau auf einen Mann wartet (Malwina)

I. Schwerkraft

(Arthur)

Kleines armes Land, was willst du uns heute schon wieder erzählen? Terra incognita bist du uns immer noch und zwar zu jedem Abschied und zu jeder Neugeburt, obwohl wir meinen, dich so gut zu kennen! Seit Jahrhunderten! Oder willst du uns bloß deine armlangen Sterne schicken, damit sie bei uns niederkommen und uns mit ihrer nächtlichen Umarmung ein wenig ergötzen? Nein? Ach! Tu, was du für richtig hältst, kleines armes Land! Wir werden dich so und so nie vollständig kennenlernen und besitzen … Deshalb ist uns jede Gestalt, die du geboren hast – aus Lehm und Sternenstaub – willkommen und sogar unsterblich. Ein gewisser Arthur zum Beispiel! Einer deiner ermländischen Söhne! Warum eigentlich nicht Arthur? Dein Diener und Sklave?

Kapitel 1
Der Grizzly Peak

Jeder Abschied schien ihm eine Vorbereitung auf den Tod zu sein. Arthur hatte schon viele traurige Abschiede – viele kleine Tode – ganz gut überstanden, allerdings war das Gefühl, dass dieses langsame und zaghafte Sterben irgendwann nicht mehr aufzuhalten sein würde und dann zwangsweise das Ende kommen müsste, ziemlich zermürbend. Und alles, was er bis jetzt geliebt hatte, wurde ihm genommen. Er begriff erst sehr spät, dass dies in seinem Leben die Regel war. Früher hatte er gedacht, er habe manchmal ein wenig zu viel Pech gehabt, was doch nichts Außergewöhnliches sei, doch dem war nicht so.

Die Bucht von San Francisco, in der er vier Wochen verbracht hatte, sah aus dem Fenster eines Flugzeugs so friedlich und einladend aus: Der San-Andreas-Graben war unsichtbar, und die vergangenen und zukünftigen Erdbeben kamen einem beim Anblick des blauen Pazifiks, der langen Brücke, der Wolkenkratzer und der Berge auf dem Festland gar nicht erst in den Sinn. In den hohen dünnen Lüften waren die Stimmen der Propheten verstummt. Der Grizzly Peak, von dem aus man die ganze Bucht überblicken konnte, verschwand endlich: zusammen mit den Pazifikmöwen, mit denen die Emigrantendichter hin und wieder sprachen, weil sie ihre kalifornische Einsamkeit nicht ertrugen.

Gleich nachdem das Flugzeug der Lufthansa in den strahlenden Nachmittagshimmel des ausklingenden Augusts abgehoben hatte, wurde ihm klar, dass er nach Amerika, in den eigentlichen Westen, den wahren, womöglich nie mehr zurückkehren würde. Der Abschied von seinem Onkel Stanisław hatte Arthur viel Kraft gekostet. Und der Streit mit dem alten Mann in der letzten Woche vor dem Rückflug nach Europa schien ihm jetzt völlig sinnlos gewesen zu sein. Er fragte sich nun, warum er seine Nerven nicht hatte beherrschen können. Sein Onkel war doch neunundachtzig Jahre alt und obendrein todkrank, er würde es nicht mehr lange machen …

In den hohen dünnen Lüften, während die Triebwerke einen konstanten, fast schon zum Meditieren animierenden Brummton erzeugten, ließ es sich leicht über alles, was einem nur in den Kopf kam, nachdenken, und deshalb fragte sich Arthur auch – zumal sein Onkel im Sterben lag –, ob man sich das Leben nach dem Tod genauso vorstellen musste: als einen weiten Flug in den Osten, wo dem frisch Verstorbenen am Ende des Tages und unter einem Baum Vier Edle Wahrheiten Buddhas offenbart würden?

Seltsame Kreaturen sind wir, dachte Arthur, wir bauen eine Maschine aus Aluminiumblech und Kabeln, um uns in ihr für mehr als elf Stunden einzuschließen und in einer künstlichen Umgebung über uns und unser Tun nachzudenken, in den Weiten der frostigen leeren Erdatmosphäre, in gut zehn Kilometern Höhe … Warum tun wir das?

Jedenfalls bereute Arthur den Streit mit seinem Onkel Stanisław sehr, dabei hatte das ganze Gespräch harmlos angefangen. Es war wieder einmal um Amerika und die Emigration gegangen …

Kapitel 2
Ein Produkt der Hypokrisie

Arthur war achtundvierzig Jahre alt, eins fünfundsiebzig groß und wog achtzig Kilo. Er hatte dunkelbraune Augen und wirres festes Haar. Die Schwerkraft hatte Arthur zum Autor von zwei Sachbüchern über seine polnische Heimat Ermland und Masuren gemacht, die sogar Bestseller geworden waren. Und die Schwerkraft schenkte ihm einen Doktortitel in Geschichte, einen Arbeitsplatz an der Uni Bremen, eine zwanzigjährige Tochter namens Rosalia und zwei Frauen, Anna und Malwina, die er beide liebte, was schon einem Kunststück glich.

Seine erste Liebe, die Anna hieß, war zwar gescheitert, doch er hatte sich inzwischen an diese Niederlage gewöhnt. Seine Kollegen von der Bremer Uni und anderen Hochschulen der BRD mochten ihn – er fiel in der Gruppe nicht auf, seine Artikel und Publikationen waren eher gewöhnlich und durchschnittlich, und er leistete an der Uni nur das, was notwendig war. Seine Studenten beurteilten ihn in den Rankings als einen zuverlässigen und unauffälligen Hochschullehrer, dem Charisma fehlte. Sie wussten nicht, wie sehr er das Unterrichten satthatte. Manchmal nur kam ihm zu Ohren, dass X oder Z über ihn neulich gelästert hätten, er sei unter die Populärwissenschaftler gegangen, aber sie waren nur eifersüchtig, dass es Arthur gelungen war, zwei historische Sachbücher an ein breites Publikum zu verkaufen. Mit der Behandlung von Stereotypen lasse sich immer viel Geld verdienen, spotteten sie hinter seinem Rücken.

Arthur lebte seit dreißig Jahren in Westdeutschland, er hatte einen neuen Namen angenommen und kümmerte sich nicht mehr um seine eigene Herkunft, um seine katholisch-sozialistische Jugend in Polen.

Aber als er vor einem halben Jahr erfuhr, dass sein Onkel Stanisław, der über sieben Ecken mit Arthurs polnischer Großmutter Renata verwandt war, schwer erkrankt sei, beschloss er, ein drittes Sachbuch über Masuren zu schreiben, diesmal jedoch über die Machtergreifung durch die polnischen Kommunisten in seiner ehemaligen Heimat, allerdings aus der Perspektive seiner eigenen Familie und Verwandtschaft, also ein sehr privates und persönliches Buch.

Aus diesem Grunde war er in den sommerlichen Semesterferien zu seinem Onkel geflogen, einem Zeitzeugen, der kurz nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs im ehemaligen Ostpreußen an der kommunistischen Machtübernahme beteiligt gewesen war: natürlich damals als eine neunzehnjährige Rotznase, die sich für einen Marxisten hielt.

Stanisław, ein ehemaliger Kommunist und Jungmilizionär, der die beiden letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiter der Nazis durchgestanden hatte, besaß über jene schwierige Übergangsphase Wissen aus erster Hand, und Arthur hatte von ihm auch einige traurige Geheimnisse erfahren, in einer Art Beichte …

Sein Onkel erzählte ihm eines Abends plötzlich davon, dass er ein paar junge Soldaten, die sich in den Wäldern von Ermland und Masuren versteckt und als Partisanen und Antikommunisten gegen die neuen Machthaber gekämpft hätten, gefangen genommen und gefoltert habe. Und zwei Partisanen habe er im Kampf erschossen. Doch das sei noch nicht alles. Er habe auch – was Arthur eigentlich schon seit Langem vermutete – Ryszard verraten, Arthurs polnischen Großvater aus Olsztyn, der unter Stalin ins Gefängnis gehen musste, völlig unschuldig, war er doch im Krieg Zwangsarbeiter gewesen und kein Heimatarmeesoldat. Sein Verbrechen sei gewesen, dass er als hochgebildeter Bourgeois Deutsch und Englisch gesprochen habe, und man sei davon ausgegangen, er sei kurz nach dem Ende des Krieges in der amerikanischen Besatzungszone für ihren Nachrichtendienst angeworben worden – schreckliche Zeiten damals, schüttelte Onkel Stanisław mehrmals den Kopf. Er fügte noch hinzu, er habe außerdem die Kommunisten betrogen: Er habe sich bereits 1968 als Jude ausgegeben, um den Reisepass bekommen und nach Amerika gehen zu können. Ein Offizier habe ihm gesagt, man habe ihn schon seit Längerem beobachtet und verdächtigt, dass er ein mieser Betrüger sei – ein Zionist! Der Offizier habe von Schande gesprochen, weil ihm die Partei das Studium und anschließend ein Leben in Würde ermöglicht habe.

»Du warst nicht der Einzige, der solche Fehler begangen hat … Und mit deinen späteren Taten hast du uns bewiesen, dass du ein rechtschaffener Mensch bist …«, hatte Arthur seinen Onkel zu beruhigen versucht.

Stanisławs Beichte hatte ihn nur für einen Moment aufgewühlt. Arthur kannte solche Geschichten zur Genüge, und ein ganzes menschliches Leben war oft nichts mehr wert, wenn es zur Abrechnung mit dem eigenen Gewissen kam. Es brachte dann nichts, an die positive Metamorphose der betroffenen Person zu erinnern: Das Böse schien mächtiger zu sein. Und es war schade, dass sich der Wanderer zwischen den Welten nicht selbst vergeben konnte. Schließlich hatte sein Onkel in Amerika eine passable Karriere hingelegt. Nach seiner Auswanderung 1971 in die USA wurde er in Berkeley Professor der Soziologie und ein Spezialist für die Sowjetunion – die Wehwehchen und Verbrechen des kommunistischen Regimes waren ihm bestens bekannt, eben meistens aus der Autopsie.

Er erzählte Arthur in diesem Zusammenhang auch davon, wie schwierig es für jüdische Physiker und Überlebende des Holocausts gewesen sei, ihre Karrieren nach dem Ende des Krieges in Amerika fortzusetzen. Man habe ihnen verboten, in Physik zu promovieren. Gegen Biologen habe man nichts einzuwenden gehabt, denn Amerika habe damals noch nicht geahnt, welches Potenzial in der Molekularbiologie stecke – die späteren Nobelpreise auf diesem Fachgebiet seien zahlreich. Amerikas Interesse habe damals lediglich dem Bau und der Weiterentwicklung von Atombomben gegolten, was ja topsecret gewesen sei. Und osteuropäische Soziologen seien willkommen gewesen: als Kenner des Erzfeindes in Moskau, doch selbst sie hätten sich warm anziehen und damit rechnen müssen, von der CIA behelligt zu werden, mochten sie auch Juden sein – man habe einfach überall nach Spionen gesucht, wie im Ostblock …

Niemand wusste von Stanisławs dunkler Vergangenheit. Arthur war der Erste, der in den masurischen Wäldern davon sowie von dem Betrug mit der Identität erfuhr. Er glaubte dem alten Mann, dessen tragische Geschichte ihm ordentlich unter die Haut gegangen war, wenn auch nur im Augenblick der unerwarteten Beichte.

Dabei hatte Arthur auf dem Grizzly Peak endlich die Ruhe gefunden, die er seit vielen Jahren schon so sehr vermisste: Seine Studenten, Doktoranden, Kollegen und Publikationen – sie hingen ihm alle zum Hals heraus. Nun hatte er mitten im Sommer eine lange Zeit der Meditation gehabt, die er so dringend für seine Konzentration und Arbeit an neuen Artikeln brauchte. Der geregelte Tagesablauf wie in einem Kloster hatte ihn gestärkt und zur Höchstleistung angetrieben. In Berkeley, wo sein Onkel als Emeritus wohnte, konnte Arthur jeden Morgen in die Universitätsbibliothek gehen und für sein neues Buch recherchieren. Am Nachmittag hatte er am Schreibtisch gearbeitet und fast alle Abende in diesen emsigen vier Wochen den Gesprächen mit seinem Onkel gewidmet.

image

Aber ein paar Tage vor Arthurs Rückflug nach Europa kam es im Einfamilienhaus des verwitweten Emeritus zu dem heftigen Streit. Es war wieder einmal einer dieser schwülen Abende gewesen: am schönen Grizzly-Peak-Boulevard, dem serpentinenartigen Weg, der zum Regionalpark auf den Hügeln von Berkeley führte, zu den Seen, Wäldern, Golfplätzen und Wanderpfaden. Arthur hatte sich an dem verhängnisvollen Abend einen Abschiedswhiskey eingeschenkt (sein Onkel durfte keinen Alkohol mehr trinken), wobei Stanisławs Neffe mit dem Einschenken nicht sparsam gewesen war: Er musste ja für seinen Onkel mittrinken. Zu Anfang ihres Gesprächs über Amerika und Emigration hatte er sich sehr zurückgehalten, zumal er die Ansichten von Stanisław kannte. Es gefiel Arthur nicht, dass er aus der polnischen Emigration von vor 1989 eine Truppe von Heiligen und Helden machte.

Der alte Mann aus Berkeley schien ihm im Sozialismus, in dem er seine polnische Jugend zugebracht hatte, stehen geblieben zu sein. Folglich war seine ganze Vorstellung von den weltumspannenden Verhältnissen in der Politik und der Ökonomie ein wenig altbacken und gestrig, obwohl er immer noch als guter Sowjetspezialist galt. Sein Name und seine soziologischen Arbeiten waren in Amerika jedem Spezialisten auf diesem Gebiet bekannt.

Irgendwann im Verlauf ihres anregenden Gesprächs und eher in einem Nebensatz hatte Arthur seinem Onkel erklärt, Amerika habe sich zu einem faschistischen Staat entwickelt, spätestens seit dem Mord an Kennedy habe man wissen müssen, wohin die Reise gehe, und nach dem 11. September 2001 sei es endgültig klar geworden, was hier eigentlich gespielt werde, denn nicht umsonst habe man nach seiner Ankunft am Flughafen von San Francisco von ihm ein Iriserkennungsfoto gemacht, wobei er sich wie ein Verbrecher gefühlt habe; Arthur hatte all dies bei einem zweiten vollen Glas Whiskey, ohne groß zu überlegen, gesagt; und er wollte Stanisław gewiss nicht provozieren. Doch für viele alte Emigranten aus Polen war der Westen mit den USA an der Spitze nicht nur eine Art Unterschlupf für Aussätzige, sondern auch das Lager der Guten, Anständigen und Aufrichtigen. Und der Kommentar seines Onkels war vernichtend gewesen: »Ich hoffe sehr, dass du nie wieder amerikanischen Boden, auf dem die bestfunktionierende Demokratie der Welt herrscht, betreten wirst!« Arthur war dann an dem Abend, was letztendlich zur Eskalation geführt hatte, derselben Meinung und versprach Stanisław hoch und heilig, dessen gelobte Wahlheimat tatsächlich nie wieder zu besuchen. Es ging um ein Versprechen, das Arthur kein großes Kopfzerbrechen bereitete, zumal er den europäischen Kontinent ohnehin ungern verließ. Er träumte lediglich noch davon – bevor er eines Tages sterben würde –, einmal Japan zu sehen, aber wer in Europa wollte das nicht?

Das Gespräch wäre vielleicht gar nicht weiter eskaliert, doch nach dem dritten Whiskey konnte Arthur nicht mehr schweigen und antwortete seinem Onkel auf das Einreiseverbot für seinen Neffen, dass die USA in der Summe ihrer Taten ein Produkt der Hypokrisie seien: Sie würden Wasser predigen und selbst Wein saufen. Er sagte außerdem, die Scheinheiligkeit sei noch kein Verbrechen, diese gebe es auch in Europa zwischen Paris und Moskau, aber unverzeihlich sei die Überzeugung Amerikas, die letzte Bastion der menschlichen Zivilisation zu sein, denn eine Steigerung des materialistischen, eroberungslustigen und machtsüchtigen Denkens könne nur zur Selbstvernichtung führen, zum Krieg. Er könne deshalb die Begeisterung so mancher polnischen Emigranten alten Datums für den Westen und vor allem für die USA nur verabscheuen. Er wusste natürlich, dass er quasi auf die Hand spuckte, aus der er aß, war er doch selbst ein Emigrant und kein Kind mehr aus dem masurischen Wald.

Zum Schluss hatte Arthur leider einen Monolog gehalten: »Im Sozialismus musste man ein Antikommunist sein, wenn man sich damals für einen rechtschaffenen Menschen hielt, und im Kapitalismus – im Westen – gibt es nur einen Weg: Man muss sich rasch mehr oder weniger zu einem Marxisten entwickeln, wenn man nicht völlig auf den Kopf gefallen ist. Und selbst wenn man an Gott oder an Ufos glaubt, muss man im Westen früher oder später Marxist werden, wenigstens im Herzen, denn jede andere Haltung bedeutet eine Korruption der Wahrheit und führt zur Unterstützung des verhassten globalen Bankensystems. Innerhalb weniger Sekunden kann man heute Millionär werden oder alles verlieren. Es gibt auch viele andere Kuriositäten, zumal es andererseits eigentlich fast unmöglich ist, im Westen ein Linker zu sein. Ich habe in Deutschland und in Frankreich solche Frauen und Männer kennengelernt, die man als wohlhabende Marxisten bezeichnen kann. Im Prinzip ist die ganze westliche Linke, die mitregieren darf, weil sie über Parlamentssitze verfügt, genauso privilegiert wie ihre politischen Gegner, und das ist der erste Todesstoß für ihre Lehre der linken Ideologie, dass sie teure Kleider tragen, teure Autos fahren und in den Medien wie Popstars auftreten. Doch sie merken nicht einmal, dass sie eigentlich nur Nutznießer des kapitalistischen Systems sind und von ihm lediglich toleriert werden.«

»Das ist so in einer Demokratie – eine andere Meinung muss man respektieren, aber scheinbar lebst du immer noch in deinem kommunistischen Polen! Und Kinder dieses Regimes lieben Verschwörungstheorien – so wie du …«, hatte Stanisław seinem Neffen erwidert.

Arthur schämte sich jetzt für seine heftige Empörung und empfand nun die lange Rede, die er unter Alkoholeinfluss gehalten hatte, als völlig unnötig, zumal seine anschließende Reaktion schroff und zynisch ausgefallen war: »Ausgerechnet du, Onkel, willst mich belehren? Ein ehemaliger Stalinist sollte lieber seine Klappe halten …«

Und obwohl dem todkranken Stanisław nur wenige Monate zum Leben verblieben waren, wirkte sein Intellekt immer noch sehr frisch und wach, nur dass er im 20. Jahrhundert feststeckte wie ein Holzsplitter in der Ferse. Er steckte in Zeiten des Kalten Krieges, der Mondlandung und der ewigen Wiederkehr der Dämonen aus Russland fest. Überhaupt sei Russland das größere Problem Amerikas und Westeuropas als der Terror der Islamisten, was, so Arthurs Onkel, der Ukrainekonflikt und die Krimübernahme durch Moskau am besten belegen würden. Denn Russland habe eine Mission und werde immer entweder Christus oder den Kommunismus messianisch manipulieren und instrumentalisieren, um seine Machtansprüche und geistige Überlegenheit gegenüber dem Westen geltend zu machen. Arthur bekam jedes Mal das Kotzen, wenn er solche Sätze hörte.

Stanisław hatte auf den Monolog seines Neffen mehrere kurze Antworten gegeben, die von lästigen Schweige- und Röchelpausen unterbrochen wurden, als würde der alte Mann jeden Moment für immer einschlafen: »Du bist für mich eine einzige Enttäuschung. In der Tat: Ich war jung und bereue meine Entgleisungen, aber dass du meine Fehler wiederholen willst, dazu in dem Alter, da du auf die fünfzig zugehst, ist mir vollkommen unverständlich! Weißt du, es wäre mir lieber, du würdest an Gott glauben und wärst ein Katholik mit Leib und Seele geworden.« – »Du verstehst mich nicht, du verstehst die Welt nicht mehr …« Der letzte Satz hatte Arthurs Onkel zum Schweigen gebracht, und er selbst hatte beim Abschied geschwiegen.

Kapitel 3
Der Interkontinentalflug

Noch kurz vor dem Abflug hatte Arthur seine E-Mails abgerufen, und es waren wie fast jeden Tag ein paar von Malwina, seiner vier Jahre jüngeren Geliebten aus Warschau, dabei gewesen. Ihre Launen wechselten manchmal im Minutentakt, was ihrerseits zu einer Flut an Gedanken, Spekulationen und Zweifeln führte, die allesamt in brieflange E-Mails einflossen, und wenn er Malwina deshalb ärgern wollte, nannte er sie »meine dänische Stewardess« (den schönsten blonden Stewardessen war Arthur nämlich am Flughafen von Kopenhagen auf dem Weg zu einer Konferenz in Moskau begegnet). Nun hatte er mehr als elf Stunden Zeit, um während des Flugs über einiges, was ihm bisher schiefgelaufen zu sein schien, nachzudenken, in der Hoffnung, ein wenig Ordnung in sein zukünftiges Leben zu bringen. Malwina zum Beispiel: Sie warf ihm oft vor, er sei ihr bestimmt untreu, er sei »ein frauenhungriger Hund«, was im Polnischen eindeutiger klang als »ein geiler Bock« im Deutschen. Sie war eifersüchtig, obwohl sie als verheiratete Frau regelmäßig mit ihrem Mann ins Bett ging beziehungsweise gehen musste.

Arthur hatte Malwina, die obendrein genau wie er in Olsztyn geboren worden war und dort einen großen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte – wobei ihre gemeinsame Herkunft aus Ermland und Masuren sie sofort zu Komplizen machte –, vor fünf Monaten auf einer Konferenz in Heidelberg kennengelernt.

Sie war eine in Polen angesehene Historikerin und beschäftigte sich vor allem mit der Geschichte Deutschlands nach 1945. Sie sprach sehr gut Deutsch und tat an der Uni nur das, worauf sie Lust hatte, und da ihre Arbeiten, Artikel und Bücher sich breiter Anerkennung erfreuten, konnte sie sich mehr Extravaganzen leisten als ihre Kollegen. Ihren Fakultätsleiter behandelte sie als einen ihr untergeordneten Soldaten. Arthur vermutete sogar, dass Malwina noch einen anderen Mann liebte und ihn ab und zu traf, doch er stellte ihr nie irgendwelche Fragen – allerhöchstens nach ihren beiden Töchtern.

Aber all die Ungereimtheiten in Malwinas Leben und Liebe zu ihm störten Arthur nicht, ganz im Gegenteil, er mochte ihr Temperament sehr – ihre Unruhe und ihre Verwirrung um ihr eigenes Gefühlsleben.

Im Prinzip hatte Malwina ja recht. Er war »ein frauenhungriger Hund«. Er suchte jetzt nämlich nach einer Stewardess, die er während des ganzen Flugs beobachten wollte: Er liebte es, seinen Blick wie zur Erholung immer wieder auf die ausgewählte Dame zu richten, und nicht selten war es ihm gelungen, mit der fremden Frau einen intensiven Blickkontakt über den ganzen Flug hinweg herzustellen; er hatte natürlich seine Lieblingslektüre dabei: zwei Werke von Simone Weil, die beiden Titel Schwerkraft und Gnade und Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien.

Die französische Philosophin jüdischer Herkunft wurde 1909 in Paris geboren und hatte nur vierunddreißig Jahre gelebt; ihr schmales Werk war aber gewaltig: die mystischen Studien und Notizen zum Christentum, die kritischen Arbeiten zum Marxismus und Kapitalismus oder ihr Engagement für die Arbeiter und die Hungrigen – all das war beeindruckend, und im eigentlichen Sinne konnte man sie als die Urmutter der New-Age-Bewegung, der Emanzipation und der 68er-Revolte betrachten.

image

Schließlich fand Arthur seine Stewardess: eine junge Blondine, die bestimmt nicht älter war als dreißig. Sie gefiel ihm, ihr Gesicht besaß für ihn etwas Vulgäres, Pornografisches, was nicht nur mit den slawischen Wangenknochen und den markanten Umrissen ihrer Lippen und Augen zu tun hatte, da war noch etwas anderes, das er studieren musste. Die Stewardess sprach tatsächlich mit russischem Akzent, sie war schlank und flink und bediente auch die Sitzreihe, in der er saß. Die junge Russin (oder vielleicht eine Ukrainerin) vermittelte ihm zumindest das Gefühl der Sicherheit, dass dieser Flug ohne Zwischenfälle verlaufen würde.

Arthur interessierte sich nicht für seine Sitznachbarn. Das Essen aus den Plastikbeuteln und -behältern war wie üblich scheußlich, Henkersmahlzeit in den hohen dünnen Lüften, so kam es Arthur vor. Und er musste während jedes Fluges auch deshalb an Malwina denken, weil sie ihm einmal ganz nüchtern erklärt hatte, sie habe keine Angst vor dem Fliegen, sie könne jederzeit sterben, sollte es so weit sein, sie sei vorbereitet. Ihr Bekenntnis imponierte ihm. Er war nicht bereit; er würde es nie sein.

Wenigstens beruhigte ihn das vulgäre Gesicht der russischen Stewardess: Nein, dieses Flugzeug würde nicht abstürzen, die Augen der Russin hätten es ihm sonst gesagt. Er versuchte zu schlafen – im besten Fall für eine Stunde –, aber es funktionierte nicht. Er las ein paar Seiten aus Schwerkraft und Gnade und dachte über die gelesenen Sätze und über vieles mehr nach.

image

Obwohl er Historiker war, begeisterte er sich vor allem für theologische Schriften, in erster Linie für die Gnosis, also für die dunkle Seite des Mondes. Nicht nur, dass niemand Simone Weil las, außer vielleicht ein paar Philosophen und Dichter, es las auch niemand Thomas Merton oder Teilhard de Chardin. Das atheistische Gejammer und die Kritik an der römisch-katholischen Kirche, speziell an der vatikanischen Theologie und am Papst, waren immer groß und heftig, doch keiner der Atheisten, Agnostiker und enttäuschten Christen machte sich die Mühe, Simone Weil zu lesen. Ihre Erneuerung der Transzendenz der Lehre Jesu Christi war nämlich sehr zeitgemäß und brauchte keinen offiziellen Segen der Kirche, der so viel Misstrauen entgegengebracht wurde.

Arthur hatte gleich nach seiner Emigration in den Westen 1984 nach einer Medizin zu suchen begonnen, um seinen durch die Kommunisten und die katholischen Pfarrer vergewaltigten Intellekt zu heilen, und er fand dafür schnell Simone Weil, nachdem er sich intensiv mit modernen Mystikern beschäftigt hatte. Und während seine neuen westdeutschen Freunde in jener Zeit Fritjof Capra, Carlos Castaneda und Noam Chomsky lasen, weil sie an Krebs erkrankt waren oder gegen den Terror der kapitalistischen Konsumgesellschaft eine geistige Waffe brauchten, heilte Arthur seine katholisch-sozialistischen Wunden mit solchen Bonmots aus Schwerkraft und Gnade wie zum Beispiel: »Zwei Kräfte herrschen über das Weltall: Licht und Schwere.« Oder: »Gott ist schwach, weil er unparteiisch ist.«

Arthurs Blicke suchten von Zeit zu Zeit die Stewardess. Sie wollte ihm nicht gehorchen. Jetzt musste er an die zierliche kränkliche Simone Weil denken. Er hätte diesen kleinen zerbrechlichen und tuberkulosekranken Frauenkörper mit Leichtigkeit in seine Arme geschlossen und vor der Welt versteckt und beschützt.

Die Schwerkraft der Erde sei der Tod und die Gnade des Himmels – Jesu Christi – die Erlösung, behauptete Weil, die mehr oder weniger vom Kommunismus zum Katholizismus konvertiert war: Sie hatte sich als Mystikerin nicht einmal dazu überreden lassen, der katholischen Kirche auf dem Papier beizutreten, weil sie die Liebe Christi von den Morden durch die Inquisition, im Namen Gottes also, scharf trennte.

Und trotzdem wusste die kränkliche Philosophin auch, wie wichtig die Sprache der Erde war, die Sprache des Vergänglichen, Sterblichen und Dunklen, die jeden Menschen anzog und beherrschte: Die Schwerkraft hatte Arthur zum Beispiel zum Bestsellerautor gemacht und ihm Malwina geschenkt und seine erste große Liebe Anna, die gebürtige Danzigerin, die ihn zwar verlassen hatte, die er aber nach wie vor liebte und von der er sich noch nicht hatte scheiden lassen.

Arthurs Umzug dauerte schon ein halbes Jahr. Er besuchte seine Exfrau in ihrer alten gemeinsamen Wohnung regelmäßig, weil sein ehemaliges Arbeitszimmer nicht vollständig ausgeräumt worden war. Kein Wunder: Nicht jeder besaß wie er circa viertausend Bücher.

Ja, er liebte Anna nach wie vor, die blonde Grundschullehrerin, sein masurisches, blauäugiges, langbeiniges Mädchen mit sanfter Stimme, in das er sich in Masuren verliebt hatte, ein Jahr vor seiner Ausreise in die BRD, als sie beide Lyzealisten gewesen waren. Und es war ihm unverständlich, wo die mehr als fünfundzwanzig Jahre ihrer gemeinsamen Ehe geblieben waren – geschweige denn ihre jugendliche Liebe aus den Sommerferien in Masuren der Achtzigerjahre.

Einen Interkontinentalflug fand Arthur immer unerträglich, mochten die Stewardessen noch so nett, die Sitze in der Economy-Class noch so bequem und die Bemühungen um Sauberkeit noch so intensiv sein – man war für den ganzen Tag ein Gefangener in einer klimatisierten Alubüchse. Und die langen Stunden wollten einfach nicht vergehen. Er hatte nun viel Zeit zum Lesen und Nachdenken: Die mehr als dreihundert Passagiere störten ihn überhaupt nicht, er sah sie gar nicht, nicht einmal seine Sitznachbarn nahm er wahr, von denen er durch eine unsichtbare Wand getrennt war, und er hatte nur Augen für seine Stewardess.

In Frankfurt am Main würde er umsteigen müssen, der Weiterflug nach Bremen bedeutete nicht, dass er endlich zu Hause ankommen würde, eigentlich schlief und arbeitete er dort nur. Es war egal, wo er in Deutschland lebte. Jede Stadt war hier für ihn namenlos, da er nur an einem Ort wirklich zu Hause sein konnte, wenn auch bloß in seiner Erinnerung und Imagination: in seiner Geburtsstadt Olsztyn, die früher so geheißen hatte, als wäre sie ein berühmtes Forschungszentrum der modernen Quantenphysik gewesen – Allenstein. »Das All ist ein Stein«, übersetzte er den ostpreußischen Namen für seine Freunde Joseph und Bernhard. Aus dieser Stadt kam immerhin auch der Architekt Erich Mendelsohn, der den sogenannten Einsteinturm in Potsdam entworfen hatte – das Observatorium des Potsdamer Leibniz-Instituts für Astrophysik.

Kapitel 4
Das Ultimatum

Im Anflug auf die holländische Atlantikküste dachte er noch über andere Dinge nach, die nicht unbedingt der Sehnsucht nach Malwina geschuldet waren, denn seine Gedanken kreisten jetzt um seine Rückkehr nach Europa. Er war froh, dass er Amerika verlassen hatte, diese letzte Bastion der menschlichen Zivilisation, der sicherlich nur noch der Untergang folgen konnte.

Der ganze Atlantik- beziehungsweise Grönlandüberflug war ruhig verlaufen. Es hatte in den elf Stunden kaum Turbulenzen gegeben. Richtig schlafen konnte Arthur trotzdem nicht, der Rotwein hatte ihm auch nicht geholfen, er war bloß von Zeit zu Zeit für einige Minuten eingenickt und in ein schwarzes Loch gefallen, um schnell aus diesem Blackout in den hohen dünnen Lüften aufzuschrecken.

Aber jetzt kam wieder Europa: Gesehen aus dem Flugzeug, schien ihm der alte Kontinent nichts weiter als eine Schusterwerkstatt aus seiner Heimatstadt Olsztyn zu sein. Für andere war dieser Kontinent vielleicht nur ein verwildertes Schlachtfeld oder ein Schweinestall in Schleswig-Holstein oder eine Arztpraxis auf dem Lande in Portugal oder ein Friedhof nördlich von Amsterdam, und in Paris oder in Berlin wurde gerade der nächste Diktator geboren, und Europa würde eines schönen Tages erneut in Flammen stehen und heulen: Diktatoren starben nie aus, genauso wie Dichter.

Arthur dachte, er hätte noch ein paar Stunden, um vielleicht doch einen tiefen Schlaf, den er dringend nötig hatte, zu finden oder seine Gedanken zu ordnen und wichtige Entscheidungen zu überdenken, aber es stellte sich heraus, dass schon bald Frankfurt am Main in Sichtweite sein würde, in siebzig Minuten. Und er kannte schon das Gefühl der Panik und der ansteckenden Geschäftigkeit, sobald man den Fuß auf den Boden des Flughafens gesetzt hatte. Dann rannte man automatisch hinter der Horde von Geschäftsleuten her, von denen jeder einen anderen Grund für dieses Rennen hatte, obwohl das Ziel das gleiche war: finanzielle Unabhängigkeit und damit die Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will. Und es war egal, ob man als Uni-Professor oder Schweißer von Flugzeugtreppen arbeitete: Jeder wollte vorn sein, jeder wollte Anerkennung und erfolgreich sein; jeder hatte etwas zu sagen, was ihm einmalig und neu vorkam, weil sich jeder in Wahrheit für außergewöhnlich hielt, mochte er auch das Gegenteil behaupten, und seine Außergewöhnlichkeit ließ sich spätestens dann nicht mehr verleugnen, wenn sich Blut im Urin zeigte und es klar wurde, dass sich seine Bestimmung erfüllen würde …

Arthur wusste, dass er nicht mehr einschlafen würde. Er konnte auch nichts mehr lesen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als über die geheimnisvolle Ordnung der Dinge in seinem Leben nachzudenken, über sein kleines Sonnensystem, wenn es auch nur noch wenig Zeit für solche Kontemplationen gab.

Erstens!

Er bereute nicht mehr, dass er den Entschluss gefasst hatte, ein historisches Buch über seine Großeltern aus Masuren zu schreiben. Vor der Reise in die USA zu seinem kranken und konservativen Onkel hatte er viele Zweifel gehegt, schließlich wollte er doch keinen Roman oder eine Autobiografie zu Papier bringen, sondern ein Werk, in dem Fakten und Ereignisse der Vergangenheit ein einigermaßen plausibles Bild der Weltgeschichte ergeben sollten: am Beispiel der Machtübernahme durch die Kommunisten in Masuren, gleich nach dem Untergang des Dritten Reiches. Doch er hatte zu Anfang diese Zweifel, weil er bis jetzt seine eigene Familie und Verwandtschaft immer aus seiner Arbeit herausgehalten hatte. Dies lag nicht nur an seiner wissenschaftlichen Einstellung, an der notwendigen Distanz, die die Wissenschaft forderte. Seine Zweifel kamen auch daher, dass er die private Geschichte niemals instrumentalisieren wollte: Das Private – das Eingeborene, wie er es nannte – war ihm ein Heiligtum. Aber nach den intensiven Gesprächen mit Onkel Stanisław und nach vielen Notizen in der Universitätsbibliothek von Berkeley war ihm klar geworden, dass eigentlich nur die individuelle, die private Geschichte zählte und dass die sogenannte Weltgeschichte grausam und unverständlich war wie ein rachesüchtiger Gott, der schweigt und nichts tut oder der zu viel redet und zu viel tut. Und Arthur hatte es außerdem satt, in fremden Schicksalen herumzuwühlen, in fremden Betten zu schlafen und intime Berichte und Zeugnisse zu studieren, weil er spürte, dass ihm nichts mehr heilig war und dass ihn alles kaltließ, mochte jemand ein noch so grausames Schicksal erlebt haben. Er hatte den Entschluss gefasst, endlich seine eigene Geschichte zu erforschen. Nach dem Besuch bei seinem Onkel war ihm nun glasklar, dass er dieses autobiografische Buch unbedingt schreiben musste: über die polnischen Großeltern Renata und Ryszard sowie über die ostpreußischen Irmgard und Jan.

Aber das war noch nicht alles.

Zweitens!

Er hatte in Berkeley genug Zeit gehabt, um über seinen Job als Hochschullehrer nachzudenken. Er war müde und mit seiner Arbeit an der Bremer Uni unzufrieden, und man nannte im Allgemeinen solch eine mit Müdigkeit gepaarte Unzufriedenheit Burn-out. Er musste sich endlich eingestehen, dass er an diesem bei Angestellten und Akademikern äußerst beliebten Syndrom litt und dass dies keine Schande war. Das Unterrichten von Studenten fiel ihm immer schwerer. Sie kamen ihm desinteressiert vor, und er stellte sich schon lange die Frage, warum er an die Erziehung von neuen Historikern nicht mehr glaubte. Er konnte diese Frage nicht beantworten. Der Sinn seiner pädagogischen Arbeit war ihm abhandengekommen. Die Studenten erschienen ihm farb- und irgendwie auch geschichtslos. Und auch die Gespräche mit seinen Kollegen fand er anstrengend und wenig befruchtend für seine eigene Arbeit, zumal sie ihn auch kaum schätzten, sondern lediglich als ungefährlich betrachteten: für ihre eigenen Karrieren. Er erkannte, dass er seinen Job an der Uni kündigen musste: Das Geld, das er mit seinen beiden Sachbüchern verdient hatte, würde für ein paar Jahre reichen; er brauchte sich zunächst keine Sorgen zu machen. Da stand etwas anderes auf dem Spiel. Er hatte den einstigen Glauben an die Weltgeschichte verloren und fühlte sich so, als gäbe es sie gar nicht mehr, als wäre sie bloß von Menschen erfunden worden: Denn das Einzige, was ihn doch am Leben hielt, war seine eigene private Geschichte, und diese konnte er wenigstens begreifen und erklären. Seine Großeltern verstand er, aber ihre Eltern? Und deren Vorfahren? Namenlose und fremde Gesichter … Arthur musste plötzlich an einen Brief von Jacob Burckhardt denken, den der Schweizer Kulturhistoriker 1874 an Nietzsche geschrieben hatte: Darin bedankte er sich für dessen neues Buch Unzeitgemäße Betrachtungen und erklärte, dass er die »Geschichte« nie um »dessentwillen« gelehrt habe, was man »pathetisch« unter »Weltgeschichte« verstehe; er habe nur »das Fach« gelehrt, »das Gerüst«, er habe »den Leuten« Grundlagen beibringen wollen. Burckhardt sprach Arthur aus dem Herzen: Er hatte auch einmal versucht, seinen Studenten etwas Elementares beizubringen, doch er fühlte sich plötzlich von der »pathetischen« und für ihn unwirklich gewordenen »Weltgeschichte« erdrückt. Und nun war für Arthur klar: Nach der Trennung von Anna musste auch die Trennung von seinem alten Job folgen.

Drittens!

Des Weiteren – er hatte das Gefühl, in den hohen Lüften auf diesem langen Flug nach Europa endlich Klarheit in seinem Kopf schaffen zu können – beschloss er, Malwina vor vollendete Tatsachen zu stellen. Er begehrte sie von Tag zu Tag mehr und hasste mittlerweile die Sehnsucht nach ihr: Wenn sie ihn wirklich liebte, sollte sie sich dazu auch bekennen und ihren Mann verlassen! Sie trafen sich seit fünf Monaten in Hotels, meist in Berlin – er hatte aber den Eindruck, schon sein halbes Leben in diesen Hotels verbracht zu haben. Zusammen mit ihr natürlich.

Also, ein Ultimatum muss dringend her, dachte er, ich will von ihr kein Entweder-oder hören, nach Ablauf einer bestimmten Zeit ist einfach Schluss, oder wir kommen endlich zusammen!

Er war glücklich und schloss die Augen und schlief endlich ein – wenigstens für ein paar Minuten.

image

Er wachte wieder auf, die Stimme des Kapitäns hatte ihn geweckt, und Arthur freute sich schon auf die Ankunft in Frankfurt am Main. Dann würden ihn Malwinas E-Mails freudig begrüßen, sie überschwemmten jeden Tag sein Postfach, er wusste dadurch praktisch immer, wie es ihr ging, er wusste sogar, wie sie angezogen war und was sie gegessen hatte, wo sie sich gerade aufhielt und was sie dachte und fühlte und tat. Alle halbe Stunde rief er ihre E-Mails ab, meistens auf seinem iPhone, und manchmal musste er Malwina beruhigen und ihr sagen, dass er sie wirklich liebe und dass er sie natürlich so schnell wie möglich wiedersehen wolle, wo und wann auch immer.

Durch diesen intensiven E-Mail-Kontakt waren sie dermaßen miteinander verwachsen, dass der trügerische Eindruck, sie würden tatsächlich in einer Wohnung zusammenleben wie ein Ehepaar, gar nicht richtig schmerzte. Sie hatten sich ihren eigenen virtuellen Raum erschaffen, der für sie aber konkrete Maße besaß. Und wenn Arthur an die vielen Briefe dachte, die er seiner Frau Anna im Kalten Krieg aus Hamburg und Bremen nach Polen geschrieben hatte, fühlte er sich plötzlich so, als käme er aus einer längst vergessenen Epoche. Es waren Hunderte von Briefen gewesen, die keinerlei Bedeutung mehr hatten, wie die Staaten, die es auch nicht mehr gab, die Volksrepubliken des sowjetischen Reiches.

Und drittens noch einmal!

Arthur hatte jedenfalls beschlossen, gleich nach seiner Rückkehr nach Hause, Malwina eine wichtige E-Mail – nein, die wichtigste E-Mail aller Zeiten – zu schreiben: Er wollte ihr eine Art Ultimatum stellen. Er konnte sie so selten anrufen, wenn sie zu Hause war, weil sie dann quasi unter ständiger Bewachung stand: von ihrem Mann und ihren beiden Töchtern, oder sie hatte ihre Nachbarn oder Freundinnen zu Besuch, obschon sie all die Tratscherei, wer was wann gesagt oder getan hätte, verabscheute; außerdem lebte sie immer unter Zeitdruck, weil sie ihre Artikel und Referate wie am Fließband herstellte und meistens auf den letzten Drücker. Und Malwina hasste das Skypen, da es ihr so bieder vorkam, vor dem Monitor und der Kamera zu sitzen (das Skypen habe keine ästhetische Form, es sei profan und für die Liebe tödlich, schrieb sie ihm oft). Deshalb musste Arthur seiner Geliebten E-Mails schreiben, doch diesmal hatte er sich etwas Teuflisches ausgedacht. Er hatte es satt, ständig gegen diese verzehrende Sehnsucht zu kämpfen, ständig auf eine Antwort in seinem Postfach zu warten. Er hatte es satt, im Hotel nachts aufzuwachen und die Stunden, die ihm noch mit Malwina verblieben waren, zu zählen. Spätestens in einem Jahr sollte seine Geliebte (dieses Wort mochte Malwina auch nicht) eine klare Entscheidung treffen, sollte bei ihm leben und nur ihm gehören – und er ihr.

Und was liebte er an diesem Mädchen, was, dass er so verzweifelte und keinen einzigen Tag glücklich verbringen konnte, wenn er allein war? Er liebte Malwinas Augen: Sie waren kupferfarben und leuchteten zu jeder Tageszeit immer ganz intensiv, als würden sie von innen brennen. Er hatte weder bei einer Frau noch bei einem Mann je solche kupfernen Augen gesehen, und wenn er Malwina liebte, wurden sie ganz klein, zogen sich zusammen und öffneten sich halb, das kupferne Feuer hörte jedoch nicht auf zu brennen. Und seit fünf Monaten schon, seit ihrem ersten Treffen nach der Konferenz in Heidelberg, gab es praktisch keine freie Minute, in der er nicht an Malwina und an ihre halb geschlossenen Augen gedacht hätte, an ihre Augen aus Kupfer.

Sie hatten schon vor Arthurs Reise nach Berkeley verabredet, dass sie sich nach seiner Rückkehr aus Amerika für wenigstens zwei Tage in Berlin treffen wollten, für ein Wochenende vielleicht. Und trotz des interkontinentalen Zeitunterschieds und Malwinas Aversion gegen Computertechnik konnten sie während seines Aufenthalts in Kalifornien sogar einige Male ganz kurz skypen, allerdings nur dann, wenn Malwina wieder einmal von zu Hause aufs Land geflohen war, um in der Einsamkeit der Natur und ihres Sommerhäuschens aus Holz am Serwent-See – nur wenige Kilometer von Olsztyn entfernt – ihre nicht enden wollenden Artikel und Referate zu schreiben. Sie skypten auch nur dann, wenn sie es vor allem geschafft hatte, für einen Moment nicht daran zu denken, dass sie das Skypen ja hasste. Malwina war auf ihre adlige Herkunft aus Wilna nicht stolz, doch sie pflegte altmodische Manieren, die sie von zu Hause mitgebracht hatte: Man saß gerade am Tisch, eine Frau ging nie hinter ihrem Mann her (»Du bist kein Kameltreiber!«, sagte sie manchmal zu Arthur), das Fluchen war verboten, die Umgangssprache ebenso, und man kochte nicht zu Hause, sondern ging essen oder ließ sich die Gerichte bringen.

Malwina war eine zierliche rothaarige Frau: vierundvierzig Jahre alt, zweiundfünfzig Kilo schwer und eins achtundsechzig groß. Sie kleidete sich gern wie eine Dame aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, aber wie eine großstädtische Dame aus einer gebildeten und gut situierten Familie – eine Jeans trug sie selten, und wenn sie zu ihren Studenten ging, um ihre Seminare abzuhalten, achtete sie darauf, dass sie nicht »frivol und pornografisch«, wie sie sich ausdrückte, wirkte, was nicht bedeutete, dass sie sich dann sportlich anzog; an der Uni trug sie auch schicke Kostüme und Kleider und sie hatte absolut kein Problem damit, dass man auf sie mit den Fingern zeigte: »Die Verrückte schon wieder! Sie fühlt sich als etwas Besseres!«

Arthur kam es vor, als hätte Malwina in einer adligen Familie des 19. Jahrhunderts eine gründliche Bildung genossen und ihre Umgangsformen gelernt, und sie hasste auch Facebook und alle anderen sozialen Netzwerke, was Arthur nicht erstaunte: Malwina hasste die billige Selbstdarstellung und die oberflächliche, Nähe und Freundschaft vortäuschende Kommunikation im Netz. Sie war eben konservativ, was solche Dinge wie Liebe und Freundschaft anging, und ihr Zauberwort hieß Korrespondenz. Sie korrespondierte mit Arthur und schrieb keine E-Mails.

Das größte Phänomen dabei war Malwinas Talent, mit Arthur zu kommunizieren. Sie besuchte ihn im Traum, sie liebte ihn im Traum, und er konnte sie jedes Mal spüren, als läge sie wirklich bei ihm im Bett, mit ihrem Leib ganz eng an seinem – ja, sie war telepathisch sehr erfolgreich: Er wusste immer, wann sie ihn dringend brauchte und sprechen wollte, und dann meldete er sich sofort bei ihr, wenn ihn wieder einmal diese seltsame Vorahnung überkam; er hatte mit seiner Annahme, sie wolle ihn dringend sprechen, bisher selten falschgelegen. Malwinas Telepathie funktionierte auch in umgekehrter Richtung, denn sie spürte sofort, wenn er traurig war oder Hilfe brauchte. So eine Kommunikation – im Traum und am helllichten Tage – hatte er noch mit keiner anderen Frau erlebt, geschweige denn ausprobiert. Und wenn sie sich beide in Berlin trafen, meistens im Hotel Bleibtreu, gab es unzählige Rituale und Verhaltensregeln, die Arthur genau befolgen musste. Er nannte Malwinas liebenswürdige Macken »den Ehrenkodex einer litauischen Gräfin«, was sie dann besonders ärgerte.

Er vermisste sein Mädchen schon so sehr, dass er am liebsten nach Warschau weitergeflogen wäre. Zu Hause erwartete ihn nichts Erfreuliches: Arbeit und Einsamkeit, ora et labora, wie es sein Vater zu sagen pflegte; und Arthur überlegte seit einiger Zeit, ob er nicht zu seinem neun Jahre älteren Freund Joseph ziehen sollte, der in Bremen in einem ehemaligen Wehrmachtsbunker wohnte.