Der magische Dschungel von Caldera steht kurz vor seiner Zerstörung:
Nur die Schattenwandler rund um das Kapuzineräffchen Gogi können das verhindern. Der rettende Augenblick: die nächste Mondfinsternis. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen die Freunde ein uraltes Artefakt finden, mit dem sie die böse Ameisenkönigin ein für alle Mal besiegen können. Zusammen mit dem Panthermädchen Mali, der Fledermaus Lima und dem Pfeilgiftfrosch Rumi schlägt sich Gogi durch undurchdringliches und gefährliches Dickicht. Gelingt es ihnen, ihr Zuhause zu retten?
Eliot Schrefer ist ein mehrfach ausgezeichneter »New York Times«-Bestsellerautor, der unter anderem zweimal für den National Book Award nominiert war und bereits den Green Earth Book Award und den Sigurd Olson Nature Writing Award gewonnen hat. Neben dem Schreiben setzt er sich leidenschaftlich für den Erhalt des Regenwalds ein. Er lebt in New York City und ist Kinderbuchrezensent bei »USA Today«.
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Viel Spaß beim Lesen!
Für alle, die sich für die echten –
und wahrhaft magischen –
Regenwälder dieser Erde einsetzen
Nachdem ihre Feinde besiegt waren, machten sich die Schattenwandler auf den Heimweg, um sich auszuruhen.
[»In einem Jahr kehren wir zurück«, sagten sie
… sie konnten nicht wissen, dass es nicht alle schaffen würden.]
Lima, die Heilerin,
Mali, die Unsichtbare,
Rumi, der Windbringer,
Gogi, Beherrscher des Feuers
(und der Fünfte mit seiner noch unbekannten Gabe)
… gingen getrennter Wege.
… doch die ewigen Mächte Calderas benötigen kein Jahr der Ruhe.
Nach jahrhundertelangem Schlaf
war die Ameisenkönigin zurückgekehrt,
um den Regenwald seiner wahren Bestimmung zuzuführen.
[Die Fünf haben unsere Königin nicht verstanden.
Sie haben nicht begriffen, wie friedvoll Auslöschung sein kann.]
Und dabei ahnten die Fünf nicht, dass unsere Königin nicht die einzige uralte Macht war …
die durch die Magie der Sonne und des Mondes erweckt wurde.
Ein knarrender Ast, ein brechender Zweig – es nähert sich ein Eindringling.
Hoch oben im Feigenbaum hält Sorella inne und schnuppert. Ihr Nackenfell sträubt sich.
Falls ein Raubtier sie entdeckt hat, ist das Beste, was das Uakari-Affenmädchen tun kann, so reglos wie möglich zu verharren. Adler und Ozelots reagieren auf Bewegungen.
Als eine ganze Weile ohne ein weiteres Geräusch verstreicht, nimmt Sorella ihre Nahrungssuche wieder auf. Bald darauf hält sie eine Nuss in den Händen und macht sich daran, die harte Schale mit ihren Zähnen aufzubrechen. Uakaris sind die einzigen Affen, die stark genug sind, diese Nüsse zu knacken. Das heißt aber trotzdem nicht, dass es einfach für sie ist. Sie nagt und beißt mit solcher Konzentration auf der Nuss herum, dass sie alles andere um sich herum vergisst.
Wieder erklingt ein Krachen. Doch es kommt nicht von der Nussschale.
Sorella wirbelt herum, lässt ihre Nuss fallen und hangelt sich eilig in die Baumkrone hinauf, bereit, anzugreifen oder zu fliehen, wenn es sein muss. Blätter, kleine Zweige und sogar eine bemitleidenswerte Gottesanbeterin prasseln auf die Lichtung unter ihr herab, während sie sich zu ihrer vollen Größe aufrichtet und ein lautes, warnendes Kreischen ausstößt. Mit gefletschten Zähnen keift sie den Eindringling an – bis sie erkennt, um wen es sich handelt.
Es ist ein Faultier.
Ein Faultier hat es geschafft, sich an Sorella anzuschleichen! Wie peinlich. Ihr haarloses rotes Gesicht wird noch röter, als sie vom Baum springt, ihre schmerzenden Knöchel ausschüttelt und dann rasend schnell den Stamm hinaufkraxelt, um von dort aus Banu anzuknurren, der von einem Ast am benachbarten Feigenbaum hängt. »Hast du sie noch alle? Du kannst dich doch nicht einfach so anschleichen!«
Das Faultier gähnt und blickt ihr ausdruckslos entgegen. Eine Wespe krabbelt durch seine Augenbrauen. »Tut mir leid«, erwidert Banu auf die langsame, bedächtige Art, die typisch für alle Faultiere ist. Dadurch klingen sie entweder unglaublich weise oder unglaublich dumm, je nachdem, wen man fragt. »Ich habe es in meinem ganzen Leben … noch nie geschafft … mich an irgendwen anzuschleichen … Ich weiß gar nicht … ob ein Faultier das überhaupt kann … Vor allem nicht an jemanden … der so wachsam und stark ist … wie eine junge Uakari.«
Sorella schnieft trocken und lässt ihre angespannten Schultern sinken. »Du hast recht. Du hast dich nicht an mich angeschlichen. Das ist unmöglich.«
Banu nickt zufrieden.
Sorella fängt an, durchs Unterholz zu stöbern. Sie schiebt Blätter beiseite und schnüffelt darunter. »Deinetwegen habe ich allerdings eine dicke, fette Nuss fallen gelassen. Ich hatte sie fast geknackt.«
»Tut mir leid«, wiederholt Banu nickend. »Guck doch mal … da drüben … in der Palme.«
Als Banu seinen Satz beendet, hat Sorella die Palme bereits zweimal durchsucht und taucht gerade wieder zwischen deren Wedeln auf. Triumphierend reckt sie die Hand mit der Nuss darin in die Höhe. Dann sieht sie zu Banu hoch und kneift ihre durchdringenden, dunklen Augen argwöhnisch zusammen. »Und was hat ein netter Faultierjunge wie du mitten im Revier der Uakaris zu suchen?«
Er blickt sie an und blinzelt. »Ich bin auf dem Weg … zur Ruine … Als wir Auriel besiegt haben … und die Ameisenkönigin entkommen ist … haben wir alle versprochen … unseren Familien zu Hause … davon zu erzählen … und uns dann wieder am Tempel … zu versammeln … um zu berichten … was wir herausgefunden haben … Erinnerst du dich? … Oder bist du vom Baum gefallen … und hast dir den Kopf angeschlagen?« Er grinst. Ganz langsam.
»Natürlich erinnere ich mich daran«, brummt Sorella missmutig. »Aber es dauert noch drei volle Mondkreisläufe, bis das Jahr rum ist.«
Banu hebt in gespielter Resignation eine Klaue. »Wenn du so … langsam vorwärtskommst … wie ich … musst du entsprechend … früh aufbrechen. Ich habe … sechs Mondkreisläufe gebraucht … bis ich zu Hause war … und konnte mich dann … gleich wieder auf den Weg machen.«
»Echt doof«, meint Sorella.
Banu zuckt mit den Schultern. »So ist das nun mal … wenn man … ein Faultier ist … Ist nicht gerade praktisch … aber ich kenne es … auch nicht anders … Willst du mich begleiten?«
Sorella schüttelt den Kopf. »Nichts für ungut, aber ich würde verrückt werden, wenn ich mich deinem Tempo anpassen müsste.«
»Ist Gogi … in der Nähe?«, fragt Banu.
»Die Kapuzineraffen leben im Norden, nicht im Westen wie wir Uakaris.«
Banu nickt. »Schade … Ich mag dieses … freundliche kleine Äffchen.«
»Seine Feuermagie ist auch ganz hilfreich«, ergänzt Sorella.
»Ich weiß jetzt … was meine Fähigkeit ist«, berichtet Banu. »Wasser. Ich kann … Wasser bewegen.«
»Klingt irgendwie, äh, langsam«, meint Sorella.
»Na ja, ich sollte … nicht länger … herumtrödeln. Hast du … noch ein paar von … diesen leckeren Nüssen … die ich als Proviant … mitnehmen könnte?«
»Geh schon mal vor. Ich bringe sie dir«, erwidert Sorella trocken. »Ich denke, ich sollte in der Lage sein, dich einzuholen.«
Als Banu zum Ende der Lichtung kommt, hat Sorella bereits vier Nüsse für ihn geknackt. Sie legt ihm die fleischigen weißen Stücke in die Hand. »Wenn du den Stoffwechsel … eines Faultiers hast«, sagt er dankbar, »reicht dir diese Menge Futter … für mehrere Tage … Danke, Sorella.«
Sorella blickt dem langsam verschwindenden Faultier nach. Sie war das wildeste und aggressivste Tier unter den Schattenwandlern, aber nachdem sie während des finalen Angriffs auf den Tempel beinahe ums Leben gekommen wäre, hat sich ihre Einstellung geändert. Es gibt Momente, in denen ein gewisser Kampfgeist durchaus angebracht ist, aber sie kann die Zeit nicht zurückdrehen, um nachträglich nett zu denen zu sein, die diese Schlacht nicht überlebt haben. Wer hätte das gedacht? Selbst ein Uakari kann Herz zeigen … jedenfalls ab und zu.
Sorella spürt ein Kribbeln im Fell an ihrem Knie. Sie streckt die Hand aus und kratzt sich. Ein Knacken, dann das Gefühl von etwas Matschigem. Es war eine Soldatenameise, aber sie hat sie erwischt, bevor das Krabbeltier seine kräftigen Beißwerkzeuge in ihrer Haut versenken konnte. Zum Glück hat sie ein dickes, drahtiges Fell.
Sie stöbert weiter durch das Buschwerk, auf der Suche nach Futter. Sie genießt das leise Pfeifen, mit dem ihr Atem zwischen ihren scharfen Zähnen hindurchstreicht. Nach und nach ändert das Licht die Farbe: Die gleißende Helligkeit der Mittagssonne weicht einem gedämpfteren Orangeton, je weiter der Nachmittag voranschreitet. Gleichzeitig werden die Ameisen immer aufdringlicher. Inzwischen strömen sie in Scharen über die federnden rötlich braunen Laubhaufen am Boden. Sorella klettert hinauf ins Blätterdach, doch auch hier oben ist alles voller Ameisenstraßen. Sie versucht, sich davon nicht beunruhigen zu lassen – vielleicht gab es irgendwo in der Umgebung einen heftigen Regenschauer, und die Ameisen suchen hier Zuflucht.
Dann hört sie ein weiteres Knacken und erstarrt.
Vielleicht war das Banu, der doch noch eine Nuss haben möchte?
Die Baumstämme um sie herum beginnen zu flimmern, doch Sorella, die angespannt nach der Quelle der Geräusche Ausschau hält, hat gerade keine Zeit, sich näher damit zu befassen.
Ein Zittern geht durch einen der riesigen Farne, und kurz darauf teilen sich die Blätter. Was auch immer da auf sie zukommt, es ist groß.
Als Erstes erblickt Sorella die Antennen, dann den glatten flachen Kopf mit den gigantischen Beißwerkzeugen, die mühelos einen Uakari aufspießen könnten.
Die Ameisenkönigin.
Sie ist groß wie ein ausgewachsener Büffel, und ihr Körper besteht aus glänzenden, undurchdringlichen Platten, die in schmalen, spitzen Gelenken münden. Auf ihrer Oberfläche spiegelt sich das rötliche Licht der Nachmittagssonne. Der braunviolette Panzer der Königin ist nahezu makellos, bis auf die starren gelben Härchen, die aus den breiten Platten sprießen.
Oben im Baum macht sich Sorella ganz klein und versucht, keinen Mucks von sich zu geben, während die Ameisenkönigin näher und näher kommt. Als das riesige Insekt hinter der Palme hervortritt, sind die Schritte seiner vielen Beine so leise wie die eines Panthers. Das einzige Geräusch, das sie erzeugen, ist das sanfte Rascheln nasser Blätter, die unter dem Gewicht des Ungeheuers zusammengedrückt werden.
Schlagartig wird Sorella klar, dass es jetzt Wichtigeres gibt, als unbemerkt zu bleiben. Sie stößt einen schrillen Schrei aus, um den Rest ihrer Truppe vor dem herannahenden Feind zu warnen. Es gibt keinen speziellen Ruf für jahrhundertealte Ameisenherrscher, deswegen nimmt sie den für Adler und Ozelots, nur viel, viel lauter. Hoffentlich hört jemand aus ihrer Familie sie.
Unten auf der Lichtung zuckt die Ameisenkönigin mit ihren Antennen. Ist sie verärgert? Oder steckt vielleicht irgendeine andere unbekannte Ameisenemotion dahinter? Dann hebt sie den Kopf, bis sie Sorella dort oben auf dem Baum direkt ansieht. Das Uakarimädchen schnappt nach Luft. Sie hat vergessen, wie entsetzlich es sich anfühlt, die Ameisenkönigin anzublicken: In ihren glänzenden schwarzen Augen liegt eine unendliche Tiefe, aber kein Gefühl.
»Bevor du noch so einen hysterischen Warnschrei ausstößt, solltest du dir vielleicht erst einmal anhören, was ich zu sagen habe«, meint die Ameisenkönigin. Sie hat eine leise und irgendwie angenehme Stimme, die weder männlich noch weiblich klingt, sondern nach etwas viel Älterem.
Sorella klettert höher. Sie tastet mit weit ausholenden Bewegungen nach möglichen Hindernissen, denn sie wagt es nicht, von den ausdruckslosen juwelenartigen Augen wegzusehen. Die Stimme der Ameisenkönigin hat etwas Hypnotisches, etwas seltsam Beruhigendes. Sie weckt in Sorella das Gefühl, dass alles, was in diesem Moment geschieht, vollkommen unbedeutend ist im Vergleich zu der langen Geschichte, die die Ameisenkönigin bereits erlebt hat. Den Jahrhunderten, die sie in Gefangenschaft der anderen Tiere des Regenwaldes erdulden musste.
Sorella spürt, wie ihr kurzer Schwanz gegen einen Ast stößt. Instinktiv steigt sie darauf und klettert höher, immer höher in die Baumkrone hinauf. Mit gefletschten Zähnen blickt sie zur Ameisenkönigin hinab, die weit unter ihr zurückgeblieben ist. Hier oben kann sie sie nicht erreichen.
Sorellas Fell fühlt sich merkwürdig knubbelig und kribbelig an. Kurz ist sie verwirrt, bis sie feststellt, dass es darin von Ameisen nur so wimmelt. Das war also dieses komische Flimmern. Die ganze Lichtung ist inzwischen voller Ameisen. Solche Mengen auf einmal hat Sorella noch nie zuvor gesehen. In Scharen krabbeln sie über ihre Königin, über den Dschungelboden – und hinauf in die Bäume.
»Ich gebe dir die Wahl«, fährt die Ameisenkönigin fort. »Es ist nicht kompliziert: Die eine Antwort hat zur Folge, dass du am Leben bleibst, die andere, dass du stirbst. Ich hoffe, du hörst aufmerksam zu.«
Eher würde ich sterben, als dir zu helfen, denkt Sorella. Das steht für sie völlig außer Frage. Alle Schattenwandler haben die Bilder gesehen, die die Zweibeiner vor Urzeiten in die Wände des Tempels geritzt haben. Darauf ist dargestellt, wie die Königin und ihre Untertanen über den Regenwald herfallen, wie sie die anderen Tiere gnadenlos abschlachten und immer mehr und mehr werden, während sie alles verschlingen, was ihnen in die Quere kommt.
»Ich werde mich zurückziehen, um meine Armee zu vergrößern«, erklärt die Ameisenkönigin mit ihrer melodischen, fremdartigen Stimme, »bis wir genug sind für die totale Eroberung. Wir brauchen Verpflegung für unsere Truppen, aber wir Ameisen waren schon immer gut darin, für Nahrung zu sorgen. Während wir uns in ganz Caldera ausgebreitet haben, haben wir Bäume und Laub kompostiert und daraus Pilzfarmen errichtet, in denen wir unser eigenes Essen produzieren und ernten. Diese Farmen gedeihen mehr oder weniger von selbst, was bedeutet, dass wir für andere Tiere keinen Bedarf mehr haben. Die allermeisten von euch werden im Zeitalter der Ameisen leider keine Rolle spielen.«
Sorella klettert weiter nach oben, bis hinauf in schwindelnde Höhen. Unterwegs zerdrückt sie so viele Ameisen, wie sie kann. »Warum erzählst du mir das?«, brüllt sie zur Königin hinab.
»Ich bin noch nicht fertig. Fast alle Tiere werden sterben. Du könntest allerdings verschont bleiben. Sofern du bereit bist, auf meine Forderungen einzugehen«, verkündet die Königin. »Ich werde einige Zeit … anderweitig beschäftigt sein. Daher benötige ich Tiere, die solange für mich arbeiten. Die Baumstämme über Bäche und Flüsse legen, damit meine Armee hinübergelangen kann. Diejenigen von euch, die in der Lage sind zu fliegen, können meine Ameisen in weiter entfernte Gegenden tragen, wo sie neue Kolonien errichten können. Ich werde nicht viele brauchen, die mir helfen, aber ein paar eben doch. Die, denen diese Ehre zuteilwird, werden fürstlich entlohnt … indem wir sie am Leben lassen.«
»Niemals«, faucht Sorella. »Wir werden euch aufhalten!«
Die Ameisenkönigin gibt ein Knirschen und Scharren von sich. Sorella erkennt schaudernd, dass das wohl ihre Art zu lachen ist. »Tut mir leid, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie ihr das schaffen wollt.«
Während Sorella auf die Ameisenkönigin hinabsieht, kratzt sie sich geistesabwesend den Pelz. Immer mehr Ameisen krabbeln auf ihr herum und dringen durch ihr Fell bis zu ihrer Haut. Sie scheuert sich an der Baumrinde, in der Hoffnung, dabei möglichst viele von ihnen zu zerquetschen. Sie sind überall, wo sie auch hinsieht. Die gesamte Lichtung schimmert und flimmert.
»Du wärst nicht die Erste, die sich mir anschließt«, ruft die Ameisenkönigin zu ihr hinauf. »Tiere, die du kennst, haben sich auf meine Seite geschlagen. Freunde von dir. Noch habe ich Platz für weitere Verbündete. Dies ist deine letzte Chance, Sorella von den Uakaris. Schließ dich mir an oder stirb.«
Sorellas ohnehin schon leuchtend rotes Gesicht nimmt einen noch kräftigeren Ton an. Sie fletscht die Zähne. Dann legt sie den Kopf in den Nacken und schickt den schrillsten Schrei zum Himmel hinauf, zu dem sie imstande ist. Diesmal ist es keine lautere Version des Adler-oder-Ozelot-Rufs. Es ist die dringlichste Warnung, die ein Uakari im Regenwald ausstoßen kann: die Warnung vor einer Sturzflut, die Aufforderung, das sichere Zuhause sofort zu verlassen. Wenn die anderen Uakaris sie hören, können sich vielleicht einige von ihnen noch retten, auch wenn für Sorella selbst keine Hoffnung mehr besteht.
»Ich werde die Uakaris und die Schattenwandler niemals im Stich lassen«, verkündet sie stolz. Sie funkelt die Ameisenkönigin wütend an. »Und wir werden dich aufhalten. Der Tag wird kommen, an dem du dich an meine Worte erinnern und erkennen wirst, dass Sorella von den Uakaris recht hatte.«
Die Ameisenkönigin klackt mit ihren scharfen Beißwerkzeugen. Das Geräusch ist so laut, dass es das nachmittägliche Zirpen der Zikaden genauso übertönt wie das Rascheln und Knistern der Tausenden von Ameisen. Ihr gewaltiger Leib pulsiert. Er ist so aufgebläht, dass es aussieht, als leide sie unter Wurmbefall. »Ich hatte befürchtet, dass dies deine Antwort sein würde. Auch wenn ich nie verstehen werde, warum sich ein Lebewesen freiwillig für den Tod entscheidet, wenn es die Wahl hat, am Leben zu bleiben.«
Wenigstens ist Banu schon unterwegs, denkt Sorella. Sie spürt, wie das Blut durch ihre Adern rauscht, während sie sich für den Kampf wappnet.
Die Ameisenkönigin winkt mit ihren Antennen und tippt die Spitzen einmal zusammen. Das Flimmern auf der Lichtung hört abrupt auf, als alle Ameisen gleichzeitig innehalten.
Sorella nimmt einen beißenden Geruch wahr. Offenbar hat die Ameisenkönigin Pheromone abgesondert, ein chemisches Signal an ihre Untertanen. Wie auf Kommando bohren sämtliche Ameisen in ihrem Pelz ihre Stachel in Sorellas Haut und setzen ihr Gift frei.
Nein, denkt sie. Ich hatte doch noch so viel vor.
Das Gift von tausend Ameisen strömt durch ihre Adern. Es lähmt ihre Arme und Beine, ihre Lunge und schließlich ihr Herz. Taumelnd stürzt sie vom Ast. Sie ist tot, bevor sie auf dem Boden aufkommt.
Was für ein wunderschöner Tag heute doch ist!
Gogi der Zwölfte reckt und streckt sich im Sonnenschein, damit sein Bauch möglichst viel von der herrlichen Wärme abbekommt. Vor ihm liegt ein ganzer Tag voll Nahrungssuche und Fellpflege, was zu den angenehmen Dingen im Leben gehört, wenn man Teil der tollsten Kapuzineraffentruppe in ganz Caldera ist. Er hat es auf Platz zwölf der Rangfolge geschafft! Und Platz elf ist so nah, dass er ihn förmlich schmecken kann. Was für ein großartiges Jahr das war!
Im Gegenlicht kann er die Umrisse seiner Kumpane ausmachen, mit denen er heute auf Futtersuche gehen wird. Sie sitzen zwischen den breiten Blättern eines Feigenbaums und kraulen einander den Pelz: Lansi und Pansi (Nummer fünfzehn und sechzehn), Urtinde (Nummer sieben) und Urtindes Baby, das noch keinen Platz in der Rangfolge hat. Natürlich erhält Urtinde als Siebte mit Abstand die meiste Zuwendung, aber ab und zu ist Gogi auch mal an der Reihe. Das Gefühl, wie kleine geschickte Affenfinger Parasiten aus seinem sonnengewärmten Pelz pflücken, während er träge vor sich hin döst, erfüllt ihn mit solcher Freude, dass es kaum auszuhalten ist. Vor einem Jahr, nach dem Tod seiner Mutter, ist er in der Rangfolge auf Platz siebzehn abgerutscht – was bedeutete, dass er zwar das Fell der anderen pflegte, aber niemand seins. Doch das ist jetzt vorbei! Er lässt seine Knöchel knacken und grinst selig zum Himmel hinauf.
»Morgen, Gogi!«, ruft eine fröhliche Stimme. Alzo, Gogis bester Freund in der Truppe, schwingt sich von Baum zu Baum. Blätter und Käfer regnen auf die anderen herab. Während er Alzo zuwinkt, klaubt Gogi eine Laubheuschrecke von seinem Arm und beißt ihr geistesabwesend den Kopf ab. Kapuzineraffen ernähren sich hauptsächlich von Früchten und Nüssen, aber hin und wieder ist gegen so einen knusprigen Snack nichts einzuwenden.
Die anderen murren über die Störung, doch Alzo lässt sich unbeirrt neben Gogi nieder und fängt an, ihm den Pelz zu kraulen. Alzo ist jünger als Gogi, hat es aber trotzdem schon auf Platz acht der Rangfolge gebracht. Obwohl Gogi sein Zuhause verlassen hat, um die Welt vor einer verräterischen Würgeschlange mit magischen Fähigkeiten zu retten, und obwohl er noch dazu über die Gabe verfügt, Feuer aus seinen Händen schießen zu lassen, hat Alzo einen höheren Rang als er. Weil er lustig ist und so ein tolles Fell hat. Manchmal ist die Welt echt ungerecht.
Es ist allerdings schwer, Alzo deswegen böse zu sein – immerhin ist er als Achter bereit, einem Zwölfer das Fell zu pflegen. Und sein albernes Grinsen macht es auch nicht leichter. »Ich wollte mal zur Dattelpalme rüber, nachsehen, ob die Früchte schon reif sind. Hast du Lust, mitzukommen?«, fragt Alzo.
Gogi war gestern erst bei der Palme und weiß daher, dass es noch ein paar Tage dauern wird, bis die Datteln reif sind. Aber die Chance auf einen Ausflug mit Alzo lässt er sich nicht entgehen. Er nickt.
Die beiden Affenjungen machen sich auf den Weg. Unterwegs bewerfen sie sich zum Spaß mit Steinchen und Stöcken, kitzeln einander und kichern und lachen die gesamte Strecke über. Als sie schließlich an der Palme ankommen, glänzen die Früchte noch genauso grün wie gestern. »Die sind noch nicht so weit«, meint Gogi.
»Schade.« Alzo leckt sich die Lippen. »So eine Dattel wäre jetzt echt was Feines.«
Gogi stellt es sich vor: wie die harte Schale aufplatzt und der saftige orangefarbene Brei auf seine Zunge trifft. Wie die knusprigen Kerne zwischen seinen Backenzähnen stecken bleiben, sodass er den ganzen Tag noch etwas davon hat. Er wischt sich den Sabber vom Kinn. »Es kann doch bestimmt nicht schaden, wenn wir eine oder zwei … Ich meine, wenn wir …«
»Ja, finde ich auch!«, stimmt Alzo eifrig zu. Er hangelt sich an der Palme hoch und schüttelt einen der Äste. Die Datteln rühren sich nicht vom Fleck – ein weiteres Anzeichen dafür, dass sie noch nicht reif sind. Alzo gibt sich jedoch nicht so schnell geschlagen: Er fängt an, den Ast mit den Zähnen zu bearbeiten. »Ich … hab’s … gleich … kannst du … mir mal … helfen?«
Ravanna der Erste wäre garantiert stinkwütend, wenn er wüsste, dass sie unreife Datteln essen. Aber wie könnte Gogi als Zwölfer einem Achten etwas abschlagen? Er folgt Alzo hinauf in die Palme. Während Alzo den Ast durchnagt, zieht Gogi daran, bis es ihnen gelingt, den gesamten Ast abzubrechen. Alzo klettert damit weiter nach oben, sodass sie vor den Blicken anderer Kapuzineraffen verborgen sind, die möglicherweise hier vorbeikommen könnten.
Nervös sehen sie sich in alle Richtungen um, bevor sie in die erste Dattel beißen. Das harte Fruchtfleisch schmeckt bitter und tut Gogi am Gaumen weh. »Ich glaube, wir haben sie zu früh gepflückt«, bemerkt er traurig.
»Ja.« Alzo verzieht das Gesicht. »Da ist mein Affenhirn wohl mal wieder mit mir durchgegangen. Meine Mutter sagt immer, es würde einige Jahre dauern, bis ich aus den Flausen rauswachse. Sieht aus, als hätte ich da noch einiges vor mir.«
Die Truppe wandert das Jahr über durch ihr weitläufiges Dschungelrevier, immer den reifen Früchten nach. Sie bleiben so lange in der Nähe eines Baumes, bis sie alle Früchte vertilgt haben, und ziehen dann weiter zum nächsten. Gogi weiß eigentlich, dass es nichts bringt, die Früchte zu pflücken, bevor sie reif sind – sie schmecken dann bitter und sind oft sogar giftig. Aber es ist so schwer, der Versuchung zu widerstehen! Gogis Affenhirn liefert ihm ein Dutzend guter Gründe, die Datteln zu essen (Die Vögel fressen sonst alles weg! Vielleicht stürzt der Baum vorher um! Was, wenn Insekten über den Baum herfallen, bevor sie selbst etwas von den Früchten abbekommen?), obwohl sie nicht mal besonders gut schmecken und in ein paar Tagen viel süßer wären.
Genau deshalb geraten Alzo und er ständig in Schwierigkeiten. Ihre Affenhirne stacheln einander irgendwie immer weiter an.
»Wir brauchen ein Codewort für den Fall, dass einer von uns sich mal wieder zu irgendwelchen Flausen hinreißen lässt«, schlägt Gogi vor. Er wirft die ungenießbare Frucht zu Boden, auch wenn das Verschwendung ist. Dann klettert er noch ein bisschen höher in den Baum hinauf, um sicherzugehen, dass ihn niemand, der in der Rangfolge über ihm steht, dabei erwischt, wie er heimlich unreife Datteln isst. »Wir könnten dann zum Beispiel ›Affenhirn!‹ rufen.«
»Tolles Codewort«, meint Alzo trocken, während er Gogi hinauf in die Baumkrone folgt.
»Okay, vielleicht fällt uns ja noch was Besseres … warte mal, was ist das?« Gogi richtet sich auf und zeigt auf etwas.
Alzo hockt sich neben ihn und fängt an, Gogi den Pelz zu kraulen, um sich und ihn zu beruhigen. »Was ist da los?«, fragt er mit zitternder Stimme.
Um sich vor den Blicken der anderen zu verstecken, sind sie viel höher hinaufgeklettert, als es Kapuzineraffen normalerweise tun. Dadurch können sie das benachbarte Tal sehen, wo die Seidenaffen zu Hause sind. Kapuzineraffen mögen Seidenaffen zwar nicht besonders, aber das heißt noch lange nicht, dass sie ihnen jemals so etwas wünschen würden.
Etwas hat sämtliche Bäume entwurzelt. Kein Taifun oder so was – das hätten die Kapuzineraffen gehört. Trotzdem sind alle Bäume umgestürzt. Wo bis vor Kurzem noch üppiges Grün war, erstreckt sich nun das eintönige Braun frisch aufgewühlter Erde, die hier und da mit weißen und moosgrünen Flecken gesprenkelt ist: Pilzen. Die gesamte Fläche glänzt, als sei sie nass – oder als würde es dort von Insekten wimmeln.
»Was ist mit dem Wald passiert?«, fragt Alzo.
Gogi hangelt sich bereits in halsbrecherischem Tempo den Baumstamm hinab. »Wir müssen die anderen warnen. Schnell, Alzo!«
Ravanna der Erste ist nicht erfreut. »Was soll das heißen, ihr wart oben auf der Dattelpalme? Die Früchte sind noch nicht reif!« Zähnefletschend beugt er sich vor und mustert Gogi und Alzo eingehend. »Ihr riecht nach unreifen Datteln. Ungezogene Affen!«
»Aber die Datteln sind vollkommen egal!«, protestiert Gogi, bevor er vor Ravannas wutverzerrter Miene zurückweicht. »Ich meine, versteh mich nicht falsch, sie sind natürlich nicht egal, aber jetzt gerade ist doch viel wichtiger, was den Seidenaffen zugestoßen ist. Das musst du dir ansehen! Ihr gesamtes Zuhause ist plattgemacht worden, und wir glauben, das waren die Ameisen! Die Seidenaffen sind alle verschwunden!«
»Mag ja sein, dass du in der Rangfolge aufgestiegen bist«, erwidert Ravanna, »aber das bedeutet noch lange nicht, dass du sprechen darfst, wann und wie es dir beliebt, Gogi der Zwölfte.«
»Vor allem nicht mit der Nummer eins«, ergänzt Alzo.
»Alzo!«, zischt Gogi. »Fall mir doch nicht noch in den Rücken!«
»Wenn es hier wieder um dein neues Ameisenkönigin-Alarmsystem geht«, fährt Ravanna fort, »lass dir gesagt sein: Ich habe es satt, mir das ständig anzuhören. Die Ameisenkönigin ist ein Mythos. Sie existiert nicht.«
»Sie ist kein Mythos!«, widerspricht Gogi empört. »Ich habe sie gesehen! Und ihr Gefolge steht kurz davor, über unsere Heimat herzufallen.«
»Sie ist sehr wohl ein Mythos«, beharrt Ravanna. »Und komm mir jetzt nicht wieder damit, wie du zusammen mit irgendwelchen gruseligen Nachtwandlern diesen ›Tempel‹ zum Einsturz gebracht hast. Ich dulde nicht, dass man mich belügt.«
»Schattenwandler fressen Affenbabys, das wissen alle«, ergänzen Lansi und Pansi im Chor.
»Tun sie nicht«, faucht Gogi. Selbst im Angesicht der drohenden Krise wandern seine Gedanken zu seinen Freunden zurück, die er vor knapp einem Jahr kennengelernt hat: die anderen Schattenwandler, die während der Sonnenfinsternis auf die Welt gekommen sind und dadurch über magische Fähigkeiten und die Gabe, bei Tag und bei Nacht wach zu sein, verfügen. Nachdem er dem Bösen in Gestalt der Ameisenkönigin und ihres Helfers Auriel, der betrügerischen Würgeschlange, gegenübergestanden hat, ist Gogi mit einem klaren Auftrag nach Hause gekommen: die Tiere in seiner Umgebung zu vereinen, ganz gleich ob Tag- oder Nachtwandler, um mit ihnen gemeinsam gegen die entfesselte Bedrohung der Ameisenkönigin zu kämpfen. Das würde es den Schattenwandlern ermöglichen, Caldera Seite an Seite zu verteidigen, wenn sie sich wieder zeigt.
Allerdings ist das nicht ganz so einfach, wie er es sich vorgestellt hat. Die Tagwandler hassen die Nachtwandler von ganzem Herzen. Und ja, vielleicht hat Gogi sich zwischendurch doch ein klitzekleines bisschen von seinen neuen Kapuzinerfreunden und den vielen leckeren Früchten ablenken lassen. Aber jetzt ist er wieder voll bei der Sache!
Die Vorstellung, dass sich ganz in der Nähe scharenweise Ameisen tummeln, behagt Gogi ganz und gar nicht. Doch er versucht, seine Angst so gut wie möglich in den Griff zu bekommen, um vor Ravanna ruhig und gelassen zu erscheinen. Aus seiner Zeit am untersten Ende der Rangfolge weiß er nur zu gut, wie schnell man Ravannas Aufmerksamkeit verliert, wenn man aufgebrachter wirkt als er. Gogi hat eine gefühlte Ewigkeit gebraucht, um zum Zwölfer aufzusteigen (Hurra!), doch ein kleiner Fehltritt kann ausreichen, um ihn wieder auf Platz siebzehn (oder noch schlimmer!) abstürzen zu lassen. »Bitte sei so gut und begleite mich hinauf in die Dattelpalme, Ravanna der Erste«, sagt Gogi beherrscht, »damit ich dir etwas zeigen kann, das dich sicher interessiert.«
Mit hochnäsiger Miene lässt sich Ravanna Gogis Bitte durch den Kopf gehen. Schließlich nickt er. »Ausnahmsweise.«
Die gesamte Truppe folgt ihnen, als Gogi und Alzo Ravanna durch den Dschungel zur Dattelpalme führen. Einer nach dem anderen klettern sie hinauf. Ravanna wird ernst, als er oben ankommt und die Zerstörung im benachbarten Tal mit eigenen Augen sieht. »Ich verstehe, warum du beunruhigt bist, Gogi der Zwölfte.«
Gogi lächelt. Alzo krault ihm den Pelz, um das wohlige Gefühl der Erleichterung mit ihm zu teilen.
Ravanna fährt fort. »Aber es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Es stimmt, die Ameisen haben den Wald dort drüben zerstört. Doch keine Ameise würde es wagen, dasselbe auch im Revier der Kapuzineraffen anzurichten. Nicht, solange Ravanna der Erste hier das Sagen hat.«
Fassungslos sieht Gogi zu, wie der Rest der Kapuzineraffen – sogar Alzo – zustimmend kreischt und schreit.
»Verzeih mir, Ravanna«, wendet Gogi ein, »aber …«
»Schluss jetzt, Gogi. Wir alle kennen deine Weltuntergangstheorien und deine seltsame Vorliebe für Nachtwandler zur Genüge.« Ravanna gähnt demonstrativ. Es wirkt, als sei er gelangweilt, doch in Wahrheit ist es eine Warnung: Er zeigt damit seine eindrucksvollen Zähne. »Egal, was du auf diesen Bildern am ›Tempel‹ gesehen haben willst, es gibt keine zweibeinigen Tiere. Und die Ameisen haben nicht vor, den Regenwald zu erobern. Das habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen, und ich lebe schon sehr viel länger als du.«
»Verzeih mir, wenn ich erneut das Wort ergreife, Ravanna der Erste, aber die Ameisen hatten bisher noch nie eine solche Königin. Woher können wir also wissen, dass …«
»Genug!« Ravannas Gähnen ist jetzt keine Warnung mehr, sondern eine offene Drohung. Seine scharfen Zähne blitzen unheilvoll auf.
Alzo zupft Gogi am Schwanz. »Komm schon, Gogi-Pogi. Hör auf Ravanna den Ersten. Lass uns verschwinden.«
Gogi würde gerne weiter versuchen, den anderen klarzumachen, wie groß die Gefahr ist, doch seine Instinkte bringen ihn dazu, unterwürfig in sich zusammenzuschrumpfen und so schnell wie möglich vom Baum zu klettern. Es gilt, Ravanna um jeden Preis zu gehorchen. So verhält sich ein Kapuzineraffe, wenn die Nummer eins ihm etwas befiehlt – daran ist nicht zu rütteln. Als Gogi den Boden erreicht hat und sich furchtsam zur Seite wegduckt, hüpfen Ravanna und die restlichen Kapuzineraffen vom Baum und stolzieren an ihm vorbei.
Schlagartig löst sich Gogis Hoffnung, seine Truppe rechtzeitig zu warnen, in Luft auf. Am liebsten würde er einen Feuerstrahl in den Himmel hinaufschießen, um Ravanna dazu zu bringen, dass er ihm zuhört. Doch das würde aussehen, als wolle er Ravanna zu einem Kampf um die Führungsrolle herausfordern, und den würde Gogi mit absoluter Sicherheit verlieren.
Und so sind Nummer acht und Nummer zwölf wieder allein. Alzo krault Gogi tröstend den Pelz. »Keine Sorge, Kumpel«, meint er, während er eine Zecke herauspult und aufisst. »Du hast dein Bestes gegeben.«
»Offensichtlich nicht!«, widerspricht Gogi. »Was will Ravanna machen, wenn die Ameisen kommen, um unser Zuhause genauso zu zerstören wie das der Seidenaffen? Die Zähne zeigen und sie mit Kacke bewerfen?«
»Genau!«, ruft Alzo. »Das wird ihnen eine Lehre sein!«
»Nein.« Gogi schüttelt den Kopf. »Wir reden hier von Ameisen. Das wird sie nicht mal interessieren.«
»Gut, und was willst du jetzt unternehmen?«, fragt Alzo.
»Was kann ich schon tun? Ich mache weiter wie geplant, kehre zu den Tempelruinen zurück und bespreche mich mit meinen Freunden. Vielleicht haben sie ja mehr Glück als ich.«
Alzo stößt einen leisen Pfiff aus. »Wenn du nicht hier bist, um deine Position zu verteidigen, könntest du deinen Platz in der Rangfolge verlieren. Was, wenn du zurückkommst und wieder nur Siebzehnter bist? Ich weiß nicht, ob wir dann noch Freunde sein können.«
»Alzo!«
»Das war ein Witz, Gogi!« Alzo zuckt mit den Schultern. »Echt jetzt: Selbst für einen Kapuzineraffen bist du ein bisschen zu sehr von der Rangfolge besessen. Ich denke fast nie darüber nach, dass ich ein Achter bin.«
»Das kannst du aber nur, weil du ein Achter bist«, wendet Gogi ein. »Ich kann es mir nicht leisten, mir darüber keine Gedanken zu machen. Aber egal. Wenn die Ameisen beschließen, den Fluss zu überqueren und über diesen Teil des Regenwaldes herzufallen, bin ich, wenn ich zurückkomme, vielleicht sogar Gogi der Erste.«
Alzo legt den Kopf schief. »Kapier ich nicht.«
»Ich werde der Erste sein, weil ich dann auch der Einzige sein werde«, erklärt Gogi mit einem bitteren Lachen.
Alzo stößt einen noch leiseren Pfiff aus. »Wow. Jetzt hab ich’s kapiert. Der war echt finster. Aber was ich damit sagen wollte: Verwechsle die Rangfolge nicht mit echter Freundschaft, okay?«
»In Ordnung«, antwortet Gogi. »Warum kommst du nicht mit mir zu den Ruinen? Ich stelle dich meinen Freunden vor. Dann können wir uns zusammen überlegen, wie wir die Ameisenkönigin aufhalten – und unsere Truppe retten. Ravanna scheint ja fest entschlossen, die Gefahr einfach zu ignorieren.«
»Auf keinen Fall«, erwidert Alzo. »Dann sind wir doch nicht hier, wenn die Datteln reif werden! Das dürfen wir uns nicht entgehen lassen!«
Gogi schüttelt den Kopf. »Ja, das ist wirklich nicht leicht, Alzo. Aber begreifst du nicht, dass die Ameisenkönigin ein viel größeres Problem ist?«
»Nö. Kein bisschen.«
Gogi verdreht die Augen. »Kapuzineraffen.«
»Das war nur Spaß, Gogi«, versichert Alzo. »So oberflächlich bin ich nun wirklich nicht. Aber ich glaube nicht, dass ich Zeit mit Nachtwandlern verbringen könnte. Die sind megaunheimlich.«
Gogi seufzt. »Hilfst du mir dann wenigstens beim Packen?«
»Packen?«, fragt Alzo. »Was soll das sein?«
»Hast du etwa noch nie eine Tasche gepackt?«
»Was ist eine Tasche?«
»Du musst echt öfter mal rausgehen«, meint Gogi.
Zum Abschied verbringen Gogi und Alzo einen ganzen warmen Nachmittag damit, sich gegenseitig mit dem Finger in die geschlossenen Augen zu piksen. Es fühlt sich gut an, jemandem so zu vertrauen, dass man dessen Fingernägel derart nahe an die eigenen Augäpfel ranlässt. Seinen Schattenwandlerfreunden würde Gogi das wohl nur schwer erklären können. Manche Dinge sind halt bloß was für Affen.
Alzo sieht zu, wie Gogi seine Reisetasche packt. Sie besteht aus einem Gewebe aus Pflanzenfasern, an dem zwei Kordeln befestigt sind, sodass er sie sich über die Schulter hängen und vor der Brust festzurren kann. Auf diese Weise verheddert sie sich nicht in den Ästen. Als Gogi sich nach Auriels Aufruf vor etwas über einem Jahr zum ersten Mal auf den Weg zum Tempel gemacht hat, war diese Tasche das Einzige, was er mitgenommen hat.
»Die hat deiner Mutter gehört, oder?«, erkundigt sich Alzo.
Gogi nickt schweigend, damit er seine eigene tränenerstickte Stimme nicht hören muss. Gogi war noch ein Baby, als seine Mutter eines Tages nicht von der Futtersuche zurückkam. Wahrscheinlich hat eine Harpyie sie erwischt. Deswegen ist er damals ans Ende der Rangfolge gerutscht. Seine Mutter wäre bestimmt stolz auf ihn, wenn er es noch weiter nach oben schaffen würde.
Er packt einen Vorrat getrockneter Beeren in die Tasche seiner Mutter, den angespitzten Zweig, mit dem er sich vor dem Schlafengehen die Samenkörner aus den Zahnzwischenräumen pult (Mundhygiene ist ausgesprochen wichtig), dazu zwölf kleine Kiesel und ein Stück frisches, noch feuchtes Moos, mit dem er kleinere Feuer löschen kann, falls er mal wieder versehentlich etwas in Brand setzt.
Es ist schon so lange her, seit er das letzte Mal Feuer aus den Händen geschossen hat! In einer Affentruppe ist es besser, nicht aufzufallen – es sei denn, man ist ganz oben in der Rangfolge oder hat vor, es in Kürze zu sein. Unter der Herrschaft von Ravanna dem Ersten hat Gogi seine Magie bisher nur angewandt, wenn er mit Sicherheit wusste, dass er allein war. Aber schon bald kann er sie wieder öfter einsetzen!
»Was sollen die Steinchen?«, will Alzo wissen.
»Ach, das«, meint Gogi. »Ist vermutlich ein bisschen albern. Nachdem meine Mutter … nachdem sie gestorben ist, habe ich siebzehn kleine Kiesel gesammelt. Jedes Mal wenn ich einen Rang aufsteige, werfe ich einen Stein weg. Dabei stelle ich mir, glaube ich, vor, dass sie es mitbekommt und dann irgendwie stolz auf mich ist.«
»Ich wette, sie ist auch so stolz auf dich«, erwidert Alzo leise.
»Das ist lieb von dir, Alzo«, sagt Gogi. »Auf Wiedersehen, mein Freund. Du wirst mir fehlen!«
»Du mir auch, Gogi-Pogi. Ooh, guck mal, matschige Bananen!« Alzo flitzt los.
Kopfschüttelnd schleicht sich Gogi durch die Baumwipfel davon, weg von der Zerstörung, die die Ameisen hier angerichtet haben, und zurück zu den Ruinen des Tempels. Bei dem Gedanken, seine Truppe zu verlassen, wird ihm ganz flau im Magen. So etwas machen Affen eigentlich nicht. Und obwohl er drüben im verwüsteten Gebiet der Seidenaffen nur normale Ameisen gesehen hat, keine Königin, wird er das Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas von Grund auf Böses vor sich geht.
Ohne es zu merken, wird er immer langsamer. Aber wenn er sich jetzt schon derart einschüchtern und runterziehen lässt, wie soll er dann seinen Freunden helfen? Zum Glück weiß er genau, was dagegen hilft. Er setzt sich hin, lehnt sich an einen Baum und hält seine Hände vor sich, als würde er eine unsichtbare Melone tragen. Er konzentriert sich.
Zwischen seinen Handflächen flackert eine kleine Flamme auf. Jawoll, ich kann es immer noch!
Gogi lässt das Feuer größer werden. Eigentlich soll die Flamme nur ein, zwei Handbreit in die Höhe wachsen, doch stattdessen züngelt sie zur Seite weg und versengt ihm das Fell. Gogi heult auf und zieht die Hände weg. Die Flamme fällt zu Boden und erlischt. Das hätte böse enden können! Anscheinend rosten seine Fähigkeiten ein, wenn er sie eine Weile nicht benutzt. Na ja, wenigstens hat er jetzt genug Zeit zum Üben.
Mit neuem Mut drückt Gogi die Tasche seiner Mutter und die zwölf Kiesel darin an sich und eilt weiter.
Gogi hatte gedacht, er hätte sich auf dem Heimweg von den Tempelruinen sämtliche Orientierungspunkte, an denen er vorbeigekommen ist, gut eingeprägt. Jetzt stellt er allerdings fest, dass er sich kaum noch erinnern kann. Soll er den hellbraunen Fluss vor oder nach dem Wasserfall überqueren? Soll er sich durch die Wipfel der Kapokbäume hangeln oder über den riesigen umgestürzten Baumstamm dort klettern? Beide Wege führen ans selbe Ziel, allerdings fällt man auf dem einen in einen Brennnesselbusch und auf dem anderen nicht. Autsch.
Zu guter Letzt steht er dann aber doch vor der Höllenschlucht, dem letzten Hindernis vor dem Tempel. Hier ist er dem Panthermädchen Mali, dem Pfeilgiftfrosch Rumi und der Fledermaus Lima zum ersten Mal begegnet. Und schon ganz bald wird er sie wiedersehen! Gogi beginnt zu pfeifen.
Bevor er sich daranmacht, die Hängebrücke zu überqueren, lässt er Rauch aus seinen Händen aufsteigen. Damit hat er unterwegs herumexperimentiert. Und zwar so lange, bis er genau die richtige Menge Feuermagie aufgebracht hat, um es ordentlich qualmen zu lassen, ohne sich dabei wieder den Pelz zu versengen. Als der nach feuchtem Holz riechende Rauch seine Nase umwabert, muss er husten. Der Geruch ist beißend und äußerst unangenehm, aber immerhin kann Gogi darin nicht den geringsten Hauch von brennendem Affen erschnuppern. Hurra!
Gogi holt tief Luft. Gleich verlässt er den normalen Regenwald und betritt den Ort, an dem die Schattenwandler auf ihre größten Feinde getroffen sind.
Rumtrödeln bringt ihn jedoch auch nicht weiter. Immerhin warten seine Freunde schon auf ihn! Gogi tritt auf die Brücke. Er ist sich sicher, dass die Rauchwolke, die ihn umgibt, die Wespen fernhalten wird. Und es funktioniert tatsächlich. Die paar Wespen, die überhaupt unter der Brücke hervorkommen, trudeln langsam und orientierungslos umher und prallen unverrichteter Dinge von Gogi ab. Ausgezeichnet.
Durch den Rauch ist es allerdings schwierig, die Brücke zu erkennen. Zum Glück haben Kapuzineraffen Greifschwänze! Gogi schlingt seinen fest um die Ranken der Hängebrücke und flitzt über den reißenden Fluss, während seine Rauchwolke sich hinter ihm langsam in Luft auflöst. Als er es auf die andere Seite geschafft hat, eilt er gleich weiter zur Ruine des Tempels.
Wenig später erreicht er die Stelle, an der die Schattenwandler vor einem Jahr auseinandergegangen sind. Die hohen Bäume um ihn herum schwanken im Wind, und aus dem nahe gelegenen Dschungel steigen Nebelschwaden auf. Seine Freunde sind jedoch nirgends zu sehen. »Mali, Rumi, Lima!«, singt er leise vor sich hin. »Mali, Rumi, Lima!«
»Gogi!«
Er bleibt wie angewurzelt stehen. »Ja?«
»Du bist hier! Endlich bist du hier!«
»Rumi? Bist du das?«
Ein knallgelber Fleck kommt über den Dschungelboden angeschossen und landet mit einem Hopser in Gogis ausgestreckter Hand. »Hi, Gogi!«, quakt Rumi.
Gogi stößt einen Freudenschrei aus und tippt dem kleinen Frosch liebevoll auf den Kopf. »Wie schön, dich zu sehen, mein Freund! Kaum zu glauben, dass es schon ein Jahr her ist, oder?«
»Ich habe euch so viel zu erzählen«, platzt es aus Rumi heraus. »So viele faszinierende Entdeckungen! In den Bildern auf dem Tempel verbergen sich noch viel mehr Informationen, als wir anfangs dachten. Und als er eingestürzt ist, sind auch die Bilder im Inneren zum Vorschein gekommen. Komm, lass uns zu den Ruinen gehen. Ich wette, du kannst es kaum erwarten zu hören, was ich alles rausgefunden habe.«
»Gib mir noch einen Moment. Ich möchte erst meine Tasche absetzen und eine Kleinigkeit essen«, bittet Gogi. Früher oder später wird Rumi ihn ausführlich über alle Einzelheiten der Geschichte Calderas belehren, da besteht kein Zweifel. Aber als rangniederer Kapuzineraffe hat er so viel Häme und Spott vom Rest seiner Truppe abbekommen, dass er keine große Lust hat, jetzt gleich schon wieder mit seiner eigenen Dummheit konfrontiert zu werden. Erst recht nicht von seinem Freund. »Ist sonst schon jemand hier? Die Regenzeit beginnt bald, von daher müsste es jetzt Zeit sein.«
»Noch nicht«, antwortet Rumi. »Du bist der Erste. Und das bedeutet, du kriegst deine ganz persönliche Einzelführung! Komm, auf zu den Ruinen!«
»Ich weiß nicht so recht, Rumi«, wendet Gogi ein, während er dem Pfeilgiftfrosch folgt, der ihm voraushüpft. »Ich bin doch nur ein Affe. Du kannst deine Zeit bestimmt sinnvoller nutzen, als mir das alles zu erzählen. Ich kann nämlich nicht viel dazu beitragen. Vielleicht sollten wir lieber warten, bis Mali hier ist. Ein Panther versteht das alles garantiert viel besser als ich. Und Lima …« Gogi verstummt. Lima, die Fledermaus, hat viele wunderbare Eigenschaften: Sie ist supermutig und immer fröhlich, aber … »Und Lima kommt ja auch bald«, ergänzt er.
»Okay, klar, wir können auch warten, kein Problem, musst du nur sagen. Guck mal, ich habe uns ein kuscheliges kleines Zuhause eingerichtet«, plappert Rumi unbeirrt weiter. »Hier links, dann geradeaus. Da ist es!«
Gogi reibt sich die Hände. Der Weg war lang, und eine nette, gemütliche Erholungspause klingt perfekt.
Pfeifend trabt er Rumi hinterher, bleibt gleich darauf jedoch abrupt stehen, als er merkt, dass der kleine Frosch angehalten hat.
»Ta-da!«, macht Rumi.
Gogi sieht sich um. Sie befinden sich mitten in einer sumpfigen Schlammpfütze. Ein paar armselige Farne ragen aus dem blubbernden schwarzen Morast. »Das hier ist das ›kuschelige kleine Zuhause‹?«, erkundigt sich Gogi, wobei er sich nach Kräften bemüht, seinen Tonfall so ausdruckslos wie möglich zu halten.
»Ja. Ist es nicht wundervoll? Es gibt Schlamm zum Abkühlen, jede Menge leckere Käfer und sogar etwas Schleim, in den man seine Finger stecken kann, wenn einem danach ist.«
»Wow, danke, Rumi«, ringt sich Gogi ab. »Das sieht echt, ähm, super aus.«
»Okay, was weißt du über Ellipsen?«, fragt Rumi, während er seinen kleinen gelben Körper in den Matsch sinken lässt und mit seinen großen schwarzen Augen zu Gogi hochsieht.
»Meinst du nicht Lispeln?«
»Nein. Ich meine definitiv Ellipsen.«
Gogi kratzt sich am Hintern. »Aha. Also, wenn das so ist, dann muss ich wohl sagen, mein Wissen über … wie hast du die Dinger genannt? Ellipsen. Also. Das ist eher … begrenzt?«