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Das Buch

Der kleine Pawel wächst wohlbehütet in einem bürgerlichen Warschauer Haushalt auf. Doch als der Krieg kommt und sein Vater sich im Widerstand gegen den Nationalsozialismus engagiert, ändert sich alles. Die Familie lebt in ständiger Gefahr. Eines Nachts bringt der Vater einen schwer verwundeten englischen Kampfpiloten mit nach Hause und löst damit eine Kette folgenschwerer Ereignisse aus ... England, viele Jahre später: Pawel führt ein Leben als freier Künstler. Tief in sich trägt er die Erinnerung an die Erlebnisse seiner Kindheit – daran, wie er mit seiner Mutter in den Wald fliehen musste und dort Monate verbrachte, jenseits von allem, was er kannte, allein inmitten der Natur. Haben die Geschehnisse von damals Mutter und Sohn stark genug gemacht, um sie eine schwere Krise in der Gegenwart bestehen zu lassen?

Die Autorin

NELL LEYSHONs Romane, Theaterstücke und Hörspiele erhielten bereits namhafte Auszeichnungen. Im Eisele Verlag erschien zuletzt mit großem Erfolg bei Presse und Publikum ihr Roman Die Farbe von Milch, für den sie neben James Salter und Zeruya Shalev auf der Shortlist des Prix Femina stand. Nell Leyshon wurde in Glastonbury geboren und lebt in Dorset.

WIBKE KUHN arbeitete nach dem Studium zunächst im Verlag und machte sich dann als Übersetzerin selbstständig. Sie überträgt skandinavische, englische und italienische Romane und Sachbücher ins Deutsche (u.a. Stieg Larsson, Jonas Jonasson, Anita Brookner) und lebt in München.

Nell Leyshon

Der
Wald

Roman

Aus dem Englischen
von Wibke Kuhn

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Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de


ISBN 978-3-96161-059-4


© 2019 Nell Leyshon

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für Jan Pienkowski

Und für meine Söhne.

Oh, wie wunderbar es ist,
einen Sohn zu haben.

zwei briefe

stadt

ein löffel

ein teppich

eine fensterscheibe

ein rotes tuch

ein kissenbezug

eine porzellantasse

eine schnur

ein rotes kleid

ein blaues hemd

ein buch

ein kaltes laken

ein glassplitter

nadel und faden

ein blutfleck

eine tür

staub

wald

betula pendula

solanum tuberosum

brassica oleracea

boletus edulis

triticum aestivum

triticum aestivum

boletus edulis

brassica oleracea

solanum tuberosum

betula pendula

kleinstadt

staub

eine tür

ein blutfleck

nadel und faden

ein glassplitter

ein kaltes laken

ein buch

ein blaues hemd

ein rotes kleid

eine schnur

eine porzellantasse

ein kissenbezug

ein rotes tuch

eine fensterscheibe

ein teppich

ein löffel

zwei briefe

zwei briefe

SOFIA hört, wie sich die Klappe des Briefschlitzes öffnet und schließt, hört das Gewicht der Briefe, wie sie auf den Boden fallen.

Sie seufzt. Eigentlich soll sie auf die Mittagsbetreuerin warten, aber die kommt erst in drei Stunden. Sie schaut aus dem Fenster. Der Regen hat aufgehört, die Wolkendecke reißt allmählich auf.

Drei Stunden.

Sie weiß, was passieren wird, wenn die Frau kommt. Sie wird die Tür aufschließen und ihre Straßenschuhe ausziehen, in die Pantoffeln schlüpfen, die sie in einer Tasche in ihrer Tasche mitbringt. Sie wird die Briefe aufheben, mit ihrem jungen Körper, der sich so geschmeidig bücken kann, dann wird sie ins Hinterzimmer gehen und rufen: »Ich bin da«, als ob Sofia das nicht schon wüsste. Und dann wird sie ihr die Briefe geben.

Sofia bekommt alles mit, von der kleinen Welt ihres Stuhls aus.

Links neben ihr steht ein Tisch. Sie schiebt die Schale Porridge beiseite, die ihr die Morgenbetreuerin gemacht hat. Sie hat nur die Hälfte gegessen. Zu wenig Zucker. Was können in Sofias Alter denn ein paar Löffel Zucker noch groß schaden? Es wäre nicht mal ein Weltuntergang, wenn sie eine ganze verdammte Tüte aufreißen und aufessen würde, jedes Zuckerkristall zwischen ihren falschen Zähnen zermahlen.

Neben der Porridgeschüssel liegt die Zeitung, die auf der Seite mit dem leichten Kreuzworträtsel aufgeschlagen ist. Sie schaut es an, kann aber keine rechte Begeisterung dafür aufbringen: Ist es wirklich wichtig, welches Wort wo reinkommt? Sie faltet die Zeitung auseinander, so dass sie die Titelseite sehen und die Schlagzeilen lesen kann. Da sinkt ihr das Herz. Das ist das Dumme, wenn man zu lang lebt: diese Endlosschleife der Dummheit, der Menschen, die die Lektionen der Geschichte einfach ignorieren.

Sie weiß zu viel.

Drei Stunden.

Sie könnte das Radio einschalten, aber das würde bedeuten, dass sie jemand anders erlauben würde, die Musik für sie auszusuchen. Sie könnte Fernsehen schauen, aber lieber würde sie sich eine Stricknadel ins Auge stechen. Was für gewalttätige Gedanken sie jetzt hat als alte Frau. Sie faltet die Zeitung wieder zusammen, legt sie auf den Tisch. Dann schaut sie wieder zum Fenster.

Drei Stunden. Unerträglich.

Sie drückt den Knopf, mit dem sie ihren Stuhl nach vorne kippen kann, dann legt sie rechts und links die Hände auf die Lehnen und stemmt sich hoch, bis sie aufrecht steht. Sie streckt die Hände nach der Gehhilfe aus, ergreift sie. So. Jetzt steht sie. Sie bewegt das Gestell ein winziges Stückchen voran, macht einen Schritt vorwärts. Bewegt es voran, macht einen Schritt vorwärts. So legt sie den mühseligen Weg vom Hinterzimmer zur Wohnungstür zurück.

Die Antibiotika. Die sind schuld.

In der Vergangenheit hätten sie sie mit einem Sieb und einem Haufen Kartoffeln zum Schälen in eine Ecke gesetzt, und sobald es in ihrem Brustkorb angefangen hätte zu rasseln, hätten sie sie in ein Bett gelegt, bis sie eines Nachts aufgehört hätte zu atmen und ihr Herz aufgehört hätte zu schlagen. Nicht so heute. Heute kommen sie beim ersten Anzeichen von Husten oder Fieber mit ihren Fläschchen voller Tabletten. Die Vorstellung einer natürlichen Lebensspanne gibt es nicht mehr.

Vorsichtig legt sie Schritt für Schritt den Weg durch den Flur zurück. Das Licht fällt durch das bunte Glas: Das rote Herz glüht mitten in den grünen Blättern. Auf dem Boden liegen zwei Briefe. Sie bewegt sich auf sie zu, und als sie an der Tür ist, stellt sie die Gehhilfe ein bisschen schräg zur Seite, lässt sie mit einer Hand los und bückt sich ganz langsam. Ihre Finger streifen die Umschläge, aber sie kann sie nicht greifen. Sie versucht es noch einmal, zwingt sich, sich tiefer zu bücken, bekommt erst den einen am Rand zu fassen, danach den anderen. Sie hält sie in der linken Hand und dreht sich um, geht den Weg zurück durch den Flur, zurück zu ihrem Stuhl.

So. Das wäre geschafft, und alle werden böse auf sie sein. Egal, lass sie. Wenn sie hinfällt, fällt sie eben. Was soll sie denn sonst tun? Für immer in der sicheren Welt ihres Stuhls hocken bleiben?

Zwei Briefe.

Der erste hat ein durchsichtiges Feld, ein Fenster, durch das man ihren Namen und ihre Adresse auf dem Briefkopf lesen kann. Das Logo einer Bank, aber nicht ihrer Bank. Sie weiß, was das ist: Man bietet ihr mal wieder eine Kreditkarte an. Sie sollte einfach mal alle beantragen und dann Geld ausgeben, bis der Kreditrahmen ausgereizt ist, und dann die nächste Antibiotikabehandlung verweigern und die ganzen Schulden mit ins Grab nehmen. Das wäre denen mal eine Lehre. Obwohl, nein, wäre es wohl nicht, denn die lernen es ja doch nie. Wie gesagt, eine einzige Endlosschleife der Dummheit da draußen.

Sie legt den Brief ungeöffnet auf die Zeitung.

Der zweite Brief ist schon vielversprechender. Kräftige schwarze Handschrift, dickes weißes Papier. Ein echter Umschlag. Ein Umschlag, wie die Umschläge früher mal aussahen. Sie dreht ihn um und sieht die kleine Zeichnung neben der zugeklebten Lasche: ein langhaariger alter Mann mit einer Schere in der Hand, der sich anschickt, den Brief aufzuschneiden. Sie lächelt. Macht den Umschlag auf, wobei sie sorgfältig darauf achtet, die Zeichnung nicht zu beschädigen, und zieht eine Karte heraus.

Eine handgeschriebene Einladung. Ganz unten steht RSVP, gefolgt von den eingeklammerten Worten (Spar die die Mühe. Du kommst.)

Sie denkt an den logistischen Aufwand, den es bedeuten würde, die Einladung anzunehmen. Den Brief aufzuheben war schwierig genug, und um dort hinzugehen, bräuchte sie eine Armee, die sie auf den Schultern hinträgt, wie eine alternde Königin.

Sie liest es wieder.

(Spar die die Mühe. Du kommst.)

Sie lächelt. Ach, was soll’s. Natürlich geht sie da hin.

*

Es klopft an der Tür, als Paul gerade seine zweite Tasse starken schwarzen Kaffee trinkt und seine erste Zigarette raucht. Er stellt die Tasse ab, geht von der Küche in den Flur, zur Wohnungstür.

Der Postbote hat einen kleinen Stapel Briefe in der Hand, der größte davon ist zu groß für den Briefschlitz. Sie wechseln ein paar Sätze übers Wetter, das sehr wechselhaft ist, und die schwindende Zahl der Briefe, nachdem E-Mails jetzt so verbreitet sind. Sie verabschieden sich, und Paul macht die Tür zu.

Er trägt die Briefe in die Küche, legt sie zwischen die Überreste des gestrigen Abendessens auf den Holztisch. Er nimmt seinen Kaffee, trinkt ihn aus und drückt seine Zigarette aus. Zwei Briefe sind Werbesendungen. Eine von einem Unternehmen, das billige Versicherungen für Senioren anbietet. Bodenlose Frechheit. Wissen die denn nicht, dass er gefühlt immer noch zwölf ist? Drei richtige Briefe sind dabei. Ein Brief sieht aus wie eine Rechnung. Der nächste ist von der Bank. Der letzte, der größte, der nicht durch den Briefschlitz ging, ist ein brauner Umschlag, der auf einer Seite mit Karton verstärkt ist, damit der Inhalt nicht verknicken kann. Auf dem Adressaufkleber steht Pauls Anschrift. Eine polnische Briefmarke. Polska, steht darauf. Polska.

Auf diesen Brief hat er gewartet.

Er dreht ihn um. Er ist zugeklebt, extra mit Tesafilm. Ein Absender ist nicht angegeben. Wieder dreht er ihn um, mustert den Adressaufkleber, die Briefmarke. Eine echte Briefmarke, kein Stempel aus einer Frankiermaschine. Ein getippter Aufkleber, der nicht ganz rechteckig ist, sondern auf der rechten Seite ein bisschen breiter geraten. Die Spur menschlicher Hände. Da muss irgendjemand in einem Büro sitzen, der diese Informationsanfragen bearbeitet. Irgendjemand muss das beruflich machen.

Immer noch starrt er den Umschlag an, er hält ihn immer noch in der Hand. Er hat ihn erwartet, ja, aber nicht so bald. Nicht diese Effizienz.

Er legt ihn wieder auf den hölzernen Küchentisch. Er spricht mit sich selbst, im Stillen, versucht, seinen Herzschlag zu beruhigen:

Nichts hat sich verändert. Nichts ist anders. Der Umschlag ist gekommen, aber das ist alles. Gieß dir noch einen Kaffee ein. Steck dir noch eine Zigarette an. Geh ans Küchenfenster, schau in den Garten.

Dort steht er, bis die Zigarette aufgeraucht und der Kaffee ausgetrunken ist, dann dreht er sich um und geht wieder zum Tisch. Der Umschlag liegt immer noch dort. Mit einer schnellen Bewegung dreht er ihn um, so dass die Vorderseite unten liegt. Sein Name und seine Anschrift verschwinden.

So.

Nur weil das Ding hier in seinem Haus ist, nur weil es gekommen ist, heißt das noch lange nicht, dass er es auch aufmachen muss.

Und selbst wenn er ihn öffnet, wird das nichts ändern.

stadt

ein löffel

PAWEL nimmt den Silberlöffel und hält ihn sich vors Gesicht, als wäre es ein Handspiegel. Er sieht sich selbst darin, nur dass auf dem Löffel sein Mund oben zu sehen ist und seine Augen unten. Es sieht aus, als würde er auf dem Kopf stehen, aber er weiß, dass das nicht sein kann, denn er sitzt auf einem Stuhl, der wiederum am Esstisch steht, und seine Füße stehen fest auf dem Boden.

Er sitzt, wo seine Mutter ihn hingesetzt hat.

Er dreht den Löffel um, so dass er auf die Rückseite schaut, und jetzt ist sein Spiegelbild richtig: Jetzt ist sein Mund unter seinen Augen. Wieder dreht er den Löffel um. Er fragt sich: Ist er der einzige Mensch, der das kann, die Welt auf den Kopf stellen?

Er starrt sein Bild an: Leuchtend rote Lippen heben sich von der weißen Haut ab, dunkle Haare stehen ein Stück nach oben, um ihm dann in die Stirn zu fallen.

Der Löffel in seiner Hand fühlt sich zerbrechlich an: Sein Gewicht ist immer weniger geworden durch den Gebrauch, zweihundert Jahre lang wurde er am Tisch herumgereicht und von einer Generation zur nächsten. Das Silber ist dünn, als wäre es plattgehämmert worden, es hat eine ungleichmäßige Oberfläche mit Einkerbungen. Auf dem silbernen Griff sind Initialen eingraviert, doch die Buchstaben sind so verschnörkelt, dass Pawel sie nicht entziffern kann.

Er hört die Standuhr im Salon nebenan. Jede Sekunde wird gezählt. Er legt den Silberlöffel aus der Hand und mustert die Spitzenmuster, die das Licht, das durch die Vorhänge fällt, auf Wände und Boden malt.

Und dann hört er eine Stimme. Sie kommt durch die Türen, die Esszimmer und Salon trennen; sie sind hellgrün gestrichen, das Grün von frisch aufgesprossenem Weidelgras im Frühling. Sie stehen offen, die Holztüren sind ineinander gefaltet wie Flügel.

Die Stimme hat etwas von einem Vogel, eine gewisse Leichtigkeit, Musik.

»Pawel? Pawel?«, ruft sie. »Bist du fertig? Oder träumst du wieder vor dich hin?«

Pawel seufzt. »Ich bin fertig«, sagt er.

»Gut.«

Dann kommt sie in sein Blickfeld.

Sie: seine Mama, Zofia. Sie trägt ihr blaues Kleid, der Stoff fängt das Licht ein, während sie sich bewegt. Zwischen den Türen bleibt sie reglos stehen. Die Handflächen hat sie aneinandergelegt, als würde sie beten. Das blonde Haar hat sie straff aus dem Gesicht zurückgenommen, und sie hält den Kopf leicht zur Seite geneigt, als würde ihr Dutt ihn herunterziehen.

Von der Stelle, wo sie steht, sieht sie ihren Sohn auf seinem Stuhl sitzen, und sie sieht, was vor ihm auf dem Tisch steht, die blau-goldene Tasse mit der Untertasse. Daneben der dazu passende Teller und der Silberlöffel. Und auf dem Teller liegen die Reste eines Kuchens und die schwarzen Pünktchen von Mohnsamen.

»Du hast doch gesagt, du bist fertig«, sagt sie.

Pawel nickt zufrieden und energisch. »Bin ich auch.« Und das meint er so: Er meint, wenn er sagt, dass er fertig ist, ist er auch fertig. Er hat noch nicht gelernt, dass Sprache trügerisch sein kann, dass die Beziehung zwischen dem, was er sagt, und dem, was real ist, nicht immer ganz eindeutig ist. »Bin ich auch«, wiederholt er.

Sie deutet auf den Teller. »Bist du nicht«, sagt sie.

Sie schauen sich mit festem Blick an. Alles liegt in diesem Moment: ihre Autorität und sein Rebellionsversuch. Und dann schlägt Pawel die Augen nieder, er kann dem Blick nicht standhalten. Ihre Augen (so blassblau, wie ihr Kleid wäre, wenn man es einen ganzen Sommer lang an der Sonne liegen ließe, genauso blassblau wie seine Augen) sind zu stark, zu lebendig; sie sehen alles. »Tut mir leid«, sagt er, und er schaut auf den nur halb gegessenen Kuchen, den verhassten Kuchen, dessen Mohnsamen ihm zwischen den Zähnen hängen bleiben.

»Du hast noch zehn Minuten«, sagt sie.

Er nickt. Gerne würde er sie bitten, zu bleiben, sich zu ihm zu setzen, aber er tut es nicht, denn er weiß, dass seine Worte verschwendet wären. Er findet es schrecklich, allein zu essen. Früher hat er nie allein gegessen.

»Spül ihn mit dem Tee runter«, sagt sie.

»Da ist kein Zucker drin.«

»Ich weiß.«

»Haben wir Honig, Mama?«

»Du weißt, dass wir keinen haben.«

»Der Kuchen ist nicht süß.«

»Ich weiß. Aber es ist Essen.«

Sie dreht sich zum Gehen, und er schaut ihr nach, sieht, wie ihr blaues Kleid über das bemalte Holz der Türen streift. Von all ihren Kleidern ist dies sein liebstes, und wenn er sicher ist, dass seine Mama weg ist, geht er in ihr Zimmer, macht ihren Schrank auf und befühlt den Stoff, der ihm unter den Fingerspitzen durchgleitet.

Er lauscht auf die vertrauten Geräusche, während sie über den Treppenabsatz geht: den gedämpften Klang ihrer Schuhe auf dem Läufer, dann das harte Klackern von Absätzen auf den Dielen zwischen dem Ende des Teppichs und der obersten Stufe. Er hört, wie die Uhr jede Sekunde abmisst.

Er schaut auf den Kuchen. Auf das Porzellan. Außen am Teller, der Untertasse und der Tasse laufen goldene Kreise entlang. Er überlegt, wie sie aufgemalt werden, denn sie sind so makellos. Und dann hört er etwas. Ein neues Geräusch. Er blickt auf und legt den Kopf auf die Seite. Es ist der Beginn eines Musikstücks. Er ist nicht sicher, woher es kommt: Es könnte von der Straße kommen, vielleicht ist es einer von den Musikern von der Akademie, die für ein paar Münzen spielen. Es könnte aus der Nachbarwohnung kommen, sich Note für Note durch Mauerwerk und Putz drängen. Es könnte aus den Zimmern im Erdgeschoss kommen: Vielleicht hat Mama ihr Cello hervorgeholt, den Staub abgewischt und es mit nach unten genommen. Er schaut sich um. Nein: Das Cello steht an seinem angestammten Platz in der Zimmerecke.

Da hört die Musik auf. Er schaut auf seinen Kuchen und den Tee, die vor ihm auf dem Tisch stehen. Er seufzt, kratzt sich die Nase, streicht sich das Haar aus der Stirn, dann greift er schließlich zum Löffel.

Die Kante des Löffels ist scharf, wo das Silber seitlich abgenutzt ist. Er dreht ihn auf die Seite, versenkt ihn im Kuchen, sticht sich ein Stück ab – so wenig wie möglich – und hebt es an den Mund. Mit einer Hand hält er sich die Nase zu, macht den Mund auf und schiebt den Kuchen hinein. Er schmeckt das Silber des Löffels und die Mohnsamen. Schnell greift er zur Tasse und spült das Ganze mit dem ungesüßten Tee herunter. Der Kuchenklumpen ist durch seine Kehle und in den Magen gewandert. Er trinkt noch etwas Tee.

Die Tasse fühlt sich dünn an seinen Lippen an. Sie ist zerbrechlich, alt. Er weiß, woraus sie gemacht ist, denn er hat einmal gehört, wie es seine Mutter gesagt hat. Es ist Knochenporzellan. Darüber hat er lange nachgedacht, hat überlegt, aus was für Knochen das wohl genau gemacht ist, und wie sie den Knochen in eine Tasse verwandelt haben. Haben sie ihn mit einer Säge so ausgehöhlt? Oder haben sie einen Hammer benutzt? Das verwirrt ihn: Er hätte immer gedacht, dass Knochen, wenn man ihn mit einem Hammer bearbeitet, in tausend Stücke zerspringt, denn als letzten Winter der Junge aus seiner Klasse auf dem Eis stürzte, passierte mit seinem Bein genau das. Großmutter hat ihm erklärt, wie sie noch versuchten, es wieder zusammenzunageln, aber nach einer Woche wurde es grün und schwarz, und da mussten sie es ganz abschneiden.

Pawel dreht die Tasse in den kleinen Händen und überlegt: Vielleicht haben sie einen besonderen Knochen verwendet, der schon fast die richtige Form hatte. Er denkt an das Skelett in Großmutters Zimmer im Erdgeschoss, das er sich gründlich angesehen hat: Da gibt es einen Knochen, wo das obere Ende des Beins am Becken sitzt, und der ist fast tassenförmig. Oder wie wäre es mit dem Schädel? Vielleicht ist die Tasse, die er in der Hand hat, aus einem menschlichen Schädel angefertigt worden. Obwohl, der hätte dann schon sehr klein sein müssen. Vielleicht ein Kinderschädel? Oder von einem Baby? Er schaut die Tasse an. Befühlt sie mit den Händen. Es ist ein seltsamer Gedanke, sich Knochen in den Mund zu schieben. Oder Mohnsamen. Oder Silber.

Oje.

Mama kommt zurück: Er hört die Seide ihres Kleides, hört ihre Absätze auf dem Boden.

Und da ist sie auch schon, sie steht auf der Schwelle und stützt sich mit einer Hand an dem hellgrünen Türrahmen. Sie schaut den Teller an, der vor ihm steht, und hebt den Blick dann zu seinem Gesicht. Das dunkle Haar fällt ihm über die Augen, seine Lippen heben sich deutlich von seiner blassen Haut ab; im Mundwinkel hängt ihm ein Krümel, ein paar schwarze Mohnsamen auf rotem Grund. Er lächelt, aber sie schüttelt den Kopf. Erwidert das Lächeln nicht. Er wartet auf Tadel von ihr, aber sie sagt nichts. Jetzt hat sie ihre Aufmerksamkeit dem Fenster zugewandt. Hat sie irgendetwas gesehen? Ihre Miene ist undurchdringlich.

»Mama?«

»Hmmm?« Sie geht um den Tisch herum, hinter ihn, und hebt die Spitzengardine an, um hinauszuschauen.

»Was ist da?«, fragt Pawel. »Was siehst du da?«

Mama, Zofia, schüttelt den Kopf, dreht sich um und schaut Pawel an.

»Nichts.« Sie lässt die Spitzengardine fallen und klatscht in die Hände, Haut auf Haut. »Mach dir keine Sorgen«, sagt sie. »Du solltest dir Kindersorgen machen. Keine Erwachsenensorgen.«

Aber ihre Worte und ihr Gesichtsausdruck passen nicht zueinander, und das weiß Pawel. Er wittert eine Unstimmigkeit, einen Spalt. Früher hat sie das nie gemacht, und es gefällt ihm nicht. Wie alle kleinen Kinder auf der Welt hasst er Veränderungen, ganz besonders bei seiner Mutter.

Sie wiederum beobachtet ihn dabei, wie er sie beobachtet. Sie sieht den Zweifel auf seinem Gesicht, das sie so leicht lesen kann wie die Seiten der Bücher, die auf ihrem Nachttisch liegen. Und dann sieht sie, wie er auf seinen Teller hinabschaut; ihre Augen folgen der Bewegung. Sie schauen beide wieder auf und sehen sich an. In diesem Moment liegt ihre ganze Welt in diesem einen getauschten Blick. Das Ungesagte, das Begriffene. Der ungegessene Kuchen.

Er wartet. Sie will zum Sprechen ansetzen, da kommt ihr etwas in den Sinn: Ist dieses eine Stück Kuchen denn wirklich so wichtig? Wieder schaut sie zum Fenster. All das dort draußen, und sie steht hier und regt sich auf über ein Stück Kuchen. Sie hebt einen Arm, zeigt zum Salon und sagt: »Wenn du noch ein bisschen übst, kannst du den Rest des Kuchens liegen lassen.«

Bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hat, ja, bereits in dem Moment, als sie das Wort »wenn« ausgesprochen hat, springt Pawel von seinem Stuhl auf und rennt durch die ­Flügeltüren in den Salon. Er stolpert fast über den Teppichrand, richtet sich wieder auf, dann nimmt er seine Violine von ­ihrem Platz auf der Kommode. Er dreht sich um und sieht, dass seine Mama ihn beobachtet und ihre blauen Augen alles sehen. Er verlangsamt seine Bewegungen, als er ihren Blick sieht, greift zum Bogen und schiebt sich die Geige behutsam unters Kinn. Er legt die Finger auf die Saiten und atmet ein, um sich vorzubereiten. Und dann geht ihm ein Gedanke durch den Kopf: Was hat Mama noch gesagt, woraus sind die Saiten gemacht? Ah ja, das war es. Aus Katzendärmen. Pawel nimmt die Finger wieder von den Saiten. Katzendärme. Er stellt sich vor, wie sie eine Katze auf dem Rücken auf einem Tisch ausstrecken und sie aufschneiden und ihr die Därme herausnehmen. Der Bogen fällt ihm aus der Hand.

Und in dem Moment hört er es. In dem Moment hören sie es beide.

Das Geräusch hebt an, ein tiefes Grollen, das vom Ende der Straße herkommt. Eine Explosion. Sie hallt wider, wird von den Wänden der Gebäude zurückgeworfen und im Näherkommen lauter, dann scheppern die Fensterscheiben gegeneinander, das Glas klirrt in den Fensterrahmen, und es fühlt sich an, als würde sich der Boden unter ihren Füßen bewegen. Es fühlt sich an, als wäre das Ding, das dieses Geräusch hervorruft, mit ihnen im Zimmer. Pawel lässt seine Geige fallen, und sie landet scheppernd auf dem Holzboden. Sein Körper sackt in sich zusammen, die Knie werden ihm weich und geben unter ihm nach.

Zofia dreht sich gerade in dem Augenblick um, als er zu Boden fällt. Sie läuft durchs Zimmer, durch die offenen Türen zu der Stelle, wo er liegt. Sie kniet sich vor ihn, und er wirft sich auf ihren Schoß, schlingt ihr die Arme fest um die Taille, als wäre ihr Körper stark genug, ihn zu beschützen, als könnte sie seinem Zittern Einhalt gebieten. Aber das kann sie nicht, denn sie zittert nicht weniger.

Er klammert sich an sie, spürt die blaue Seide an seiner Wange. Er spürt den Stoff mit den Händen, es ist ihm egal, dass er Mohn an den Fingern hat. Er kann sie riechen. Der Geruch der Creme, mit der sie ihre Haut einreibt, nach Rosenblättern. Der Geruch von Zuhause. Der Geruch seiner Mama. Er will sie niemals gehen lassen.

Das Geräusch hat jetzt aufgehört, und sie löst sofort ihre Umarmung. Aber er fasst sie noch fester, wischt das Gesicht an ihrem Kleid ab, und seine Tränen sickern in den Stoff, wo sie dunkelblaue Flecken hinterlassen. »Ich hasse das«, sagt er.

»Wir hassen es alle«, sagt sie.

»Warum hören sie nicht auf damit?«

»Weil sie darum kämpfen, dass wir unser Land zurückkriegen.«

»Niemand sollte kämpfen.«

»Ich weiß, aber wenn man nicht kämpft, machen die Leute mit einem, was sie wollen.«

Sie greift seine beiden Arme und fängt an, sich aus seinem Griff zu lösen. Er klammert sich noch fester an sie, doch sie ist stärker als er. Sie schiebt ihn weg und steht auf.

Er schaut zu ihr hoch: »Wo ist Großmama?«, fragt er. Er wiederholt die Frage, und seine Stimme wird lauter, eine Oktave der Sorge. »Wo ist Großmama?«

»Es geht ihr gut«, sagt sie und senkt die Stimme, um ihn zu beruhigen.

»Ist sie da draußen?«

»Ja, aber nicht dort, wo das passiert ist.«

»Wen besucht sie?«

»Eine Familie, die sie braucht.«

»Und wo ist Tante Joanna?«

»Unten.«

»Und wo ist Papa?«

»Dem geht es gut.«

»Woher weißt du das?«

»Hör jetzt auf. Ich weiß es, weil ich alles weiß.«

»Mama«, sagt er.

»Was?« Ungeduld in ihrer Stimme. »Was?«

»Geht es wirklich allen gut?«

»Ja. Allen geht es gut.«

Er schaut ihr forschend in die Augen, hält Ausschau nach Rissen, nach der Wahrheit. Und dann zwingt sie sich zu lächeln, und er spürt, wie sich seine Stimmung wieder hebt, als wäre sie mit den Mundwinkeln seiner Mutter verbunden.

»Du musst jetzt wirklich Geige üben«, sagt sie ruhig.

»Ich kann nicht«, sagt er.

»Oh doch.«

Er streckt die Hände aus und zeigt ihr, wie sie zittern.

Sie hebt die Geige vom Teppich auf und reicht sie ihm. »Entweder, du übst jetzt, oder du musst den Kuchen essen.«

Pawel schaut sie an. Er nimmt ihr das Instrument aus der ausgestreckten Hand und hält es fest, spürt das geschwungene Holz, die straffen Saiten.

Sie reicht ihm den Bogen, dann schaut sie sich im Zimmer um. Hier drinnen sind sie nicht mehr sicher, sie werden in der Küche essen müssen. Wieder ist ihre Welt ein Stückchen zusammengeschrumpft. Sie geht ins Esszimmer, um den Tisch herum, und tritt ans Fenster, um die Spitzengardine anzuheben und auf die Straße hinunterzuschauen.

Pawel steht auf, die Geige unterm Kinn, den Bogen auf den Saiten.

»Mama«, sagt er. »Wann gehen die wieder weg aus unserem Land?«

Zofia zuckt mit den Schultern. »Wenn ich dir die Frage beantworten könnte, wäre ich eine weise Frau.«

Pawel nickt. »Warum hassen sie uns?«

Sie dreht sich um und schaut ihn an. »Weil wir nicht sie sind.«

»Die Juden hassen sie am meisten.«

»Stimmt.«

»Bin ich ein Jude?«

»Nein.«

»Was ist ein Jude?«

»Ein Jude ist eine bestimmte Sorte Mensch«, sagt sie. »Das ist alles. Wir sind alle Menschen, aber sie haben eine andere Vorstellung von Gott.«

Zofia lässt den Vorhang wieder fallen. Staub steigt auf und gesellt sich zum restlichen Staub im Zimmer: Staub vom Putz, Staub vom Haushalt, Staub von der Straße. Sie nimmt den Teller und die Tasse mit der Untertasse und geht durch die Tür in den Salon, schickt sich an, das Zimmer zu verlassen.

»Mama«, sagt Pawel. »Wo gehst du hin?«

»Joanna besuchen.«

Pawel nickt. »Mama«, sagt er dann, »wann ist das alles vorbei?«

Aber es kommt keine Antwort auf seine Frage.

»Hast du mich gehört, Mama?«

Zofia dreht sich um und zwingt sich, ihn anzulächeln. »Doch«, sagt sie. »Ich hab dich schon gehört.«

»Und, wann?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du hast gesagt, du weißt alles.«

»Bis auf das. Das ist das Einzige, was ich nicht weiß. Niemand weiß es. Keiner kann wissen, was die Zukunft bringt. Wir müssen es abwarten.«

ein teppich

ZOFIA steht auf der Schwelle zur Küche. Ihre Schwester Joanna steht an der Spüle vor dem Fenster, aus dem man auf die Backsteinmauer des Innenhofs schaut. Ihre Arme sind ganz im Wasser, sie ist völlig reglos. Ihr gelbes Kleid wird von einer weißen Kattunschürze geschützt, deren Bänder unten auf dem Rücken zu einer Schleife geknotet sind. Das dunkle Haar hat sie zu Zöpfen geflochten und am Kopf festgesteckt. Es sieht aus, als wäre der Fensterrahmen der Rahmen eines Gemäldes und Joanna das Motiv.

Zofia räuspert sich. Ihre Schwester dreht sich um und schaut sie an. Große Augen, flächige Lider. Ihre Augenbrauen sind dunkel und stark geschwungen; ihr Haar sieht in diesem dämmrigen Küchenlicht schwarz aus. Als wäre sie das Negativ zu Zofias Positiv.

Sie schauen sich an. Es ist ein fester Blick, keiner weicht dem anderen aus. Sie wissen beide, was die andere denkt, denn sie können ohne Worte miteinander sprechen. Und ihr Blick sagt Folgendes: Selbst in diesem Raum im Keller, in den Eingeweiden des Mietshauses, in dem man kein Geräusch von Automotoren oder menschlichen Stimmen hört, wo die Stadt zu einer stummen, imaginären Landschaft irgendwo dort draußen geworden ist, selbst hier hört man die Geschütze, fühlt man die Vibrationen.

Joanna senkt den Blick und schaut auf den Boden. Der Augenkontakt, der anfangs noch angenehm tröstlich war, ist plötzlich unangenehm entblößend. Angst liegt auf einmal in der Luft.

Zofia tritt über die Schwelle und geht zur Spüle. Sanft zieht sie Joannas Hände aus dem dampfenden Wasser und sieht, dass die Haut rot und entzündet ist. Und jetzt steht sie direkt neben ihrer Schwester, sie sieht, dass ihr dunkles Haar oben zwar glattgekämmt und straff zurückgenommen scheint, sich aber doch ein paar Strähnen aus den Nadeln gelöst haben und sich wie Schlangen um ihre feuchte Stirn und den Hals ringeln. Unter den Ärmeln ihres gelben Kleides sieht man dunkle Flecken.

Joanna hebt eine wunde Hand an die Stirn und versucht sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Zofia ist ihr behilflich, schiebt die Strähnen wieder in den Zopf, befestigt die Nadeln neu.

»Ich versuch das gerade sauberzukriegen«, sagt Joanna, »nur dieser Fleck hier will einfach nicht raus.«

Im Spülbecken liegt ein weißes Stoffbündel mit einem Fleck, der wie Rost aussieht, aber keiner ist. Es ist Blut. »Ich glaube nicht, dass der rausgehen wird«, meint Zofia sanft.

»Muss er aber«, sagt Joanna.

Zofia legt ihr eine Hand auf den Arm. »Du hast genug getan.«

Doch Joanna will nicht davon ablassen: Wieder taucht sie die Arme ins brühheiße Wasser und reibt energisch Stoff gegen Stoff. Sie nimmt noch mehr Natronlauge, noch mehr Seife. Die Haut auf einer ihrer Hände reißt und springt auf. Unbemerkt tritt unter Wasser ein Blutstropfen aus und bildet kleine Schlieren und Fäden, bevor er sich auflöst.

Da taucht Zofia beide Hände in die Spüle, greift Joannas zarte Handgelenke und versucht sie herauszuziehen. »Hör auf«, sagt sie. »Du musst aufhören.«

Joanna wehrt sich. »Nein. Nein.«

Doch Zofia ist die stärkere der beiden Schwestern, und Joanna gibt nach und stolpert von der Spüle weg. Zofia führt sie zu einem harten Holzstuhl, auf dem sie zusammenbricht, als würde sie in ihr Kleid hineinsinken, mitten in die gelben Falten. Sie bleibt still sitzen und starrt in die Luft, dann fängt sie an, ihre nassen Hände immer und immer wieder an der Schürze abzuwischen, wobei der raue Kattunstoff ihre Haut noch mehr aufreißt. Blutstropfen sickern in den groben Stoff. Sie blickt auf zu Zofia.

»Wo sind eigentlich alle?«, fragt sie.

»Es geht ihnen gut«, sagt Zofia.

»Und Pawel?«, fragt sie. »Wo ist Pawel.«

»Es geht ihm gut.«

»Hast du ihn oben allein gelassen?« Zofia gibt keine Antwort, und Joanna wird lauter. »Ja, du hast ihn allein gelassen. Du hast ihn allein gelassen.«

»Es geht ihm gut«, sagt Zofia. »Er übt.«

»Du musst ihn runterholen. Er kriegt doch Angst.«

»Der wird schon kommen, wenn er möchte.«

Zofia wendet den Blick ab. Es ist einfach zu intensiv. Sie legt Joanna die Hand auf die Schulter, wo sich die Knochen anfühlen, als wären sie direkt unter der Haut. Sie fühlen sich an wie die Knochen unter dem Fell eines Kaninchens, das gleich gehäutet werden soll. Sie hat noch weiter abgenommen. Zofia nimmt die Hand weg und geht zum Ofen, wo sie die Klappe schließt. Vergeudung von Brennstoff. Sie schaut sich im Zimmer um. Die Spüle, das Fenster, der Ofen, der Tisch und Stühle, die große Anrichte, die Regale. Die silbernen Kerzenleuchter, die Silberteller, die Silberdeckel. Das blau-goldene Porzellan.

Das hier war nie ihre Welt gewesen. Das war die Welt der Köchin und der Dienstmädchen.

Sie hört das Geräusch von Füßen auf der Treppe, sie gehen hinunter, hinunter, dann hört man, wie sie halb gehen, halb rennen, über den ganzen Flur, bis er schließlich auf der Schwelle erscheint. Sie sagt nichts. Joanna schaut ihn von ihrem Stuhl an, nickt, erteilt ihm die wortlose Erlaubnis, die er braucht, um einzutreten. Er rennt zu seiner Tante, schlingt die Arme um ihren Rock und ihre Beine. Sie legt ihre Arme um ihn und schaut auf ihn hinunter.

Pawel schaut zu ihr auf, in ihre Augen. Sie sehen aus, als wären sie verschiedenfarbig, doch er weiß, dass das nicht stimmt. Er kennt die Wahrheit: Das eine Auge hat eine leicht verkleinerte Pupille: Die beiden Regenbogenhäute haben dasselbe Blassblau, dasselbe Blassblau wie die Augen seiner Mutter, dasselbe Blassblau wie seine eigenen Augen, dasselbe Blau, das das Kleid seiner Mutter, das er am liebsten mag, haben würde, wenn man es in der Sonne liegen ließe.

Zofia sieht, wie sich die beiden anschauen, wie Pawel den Stoff von Joannas Rock streichelt.

Ach, was soll’s, lass die beiden.

Sie wendet sich ab, geht wieder zum Waschbecken. Sie hebt die Emailleschüssel hoch und kippt sie, bis das heiße Wasser ganz durch den Abfluss abgelaufen ist. Sie nimmt den fleckigen Stoff aus der Schüssel und wringt ihn fest aus, erst in die eine Richtung, dann in die andere. Sie schlägt ihn kräftig aus, dann hält sie ihn in die Höhe, so dass ihre Schwester den Fleck in der Mitte sehen kann. »Der geht nie mehr raus«, sagt sie. »Der ist schon ganz eingetrocknet.«

»Weich es noch länger ein«, sagt Joanna. »Schrubb es noch länger.«

Aber das tut Zofia nicht: Sie hängt den Stoff über den hölzernen Wäscheständer, der neben dem schwarzen Ofen steht. »Das kann man trotzdem noch benutzen«, sagt sie.

Joanna spricht wieder: Ihre Stimme ist hartnäckig, sie wird lauter. »Mama hat mir gesagt, ich soll das waschen.«

»Ich weiß, dass sie das gesagt hat«, sagt Zofia. Wenn sie mit ihrer Schwester spricht, ist ihre Stimme tief und ruhig. Es ist eine ganz bewusste Entscheidung, nicht zu zeigen, was sie wirklich fühlt, alles Gefühl in einem engen Rahmen zu halten. Je mehr die Stimme ihrer Schwester in unkontrollierten Wellen auf und ab schwankt, umso tiefer und fester wird ihre eigene.

Joanna hält den Blick fest auf Zofia gerichtet. »Sie hat mir gesagt, ich soll es waschen. Das hat sie gesagt.«

»Ich weiß, Joanna«, sagt Zofia, »aber du weißt genauso gut wie ich, dass Blut Flecken macht. Es ist nur ein altes Laken. Es ist egal. Es ist nicht wichtig.« Zofia wendet den Blick von ihr ab und geht wieder ans Waschbecken. Sie dreht das Wasser auf, aber es kommt nichts heraus. Seit Monaten ist dort schon nichts mehr herausgekommen, aber die Gewohnheit ist hartnäckig, die Erinnerung an den Handgriff ist tief in ihren Muskeln verankert. Sie dreht den trockenen Hahn wieder zu und greift nach dem Eimer Wasser, der neben der Spüle steht, gießt ein wenig in die Emailleschüssel, schwenkt sie aus und leert das Wasser aus. Dann gießt sie noch mal ein bisschen hinein und steckt die Hände ins saubere Wasser, um sich die Seifenreste von der Haut zu spülen. Sie trocknet sich die Hände am Handtuch ab, jeden Finger wischt sie langsam ab, ihre Körpersprache ist genauso ruhig wie ihre Stimme. Sie trocknet sich zwischen allen Fingern ab, um ihren Ehering herum, den sie hin und her schiebt, damit sie die Haut darunter auch abtrocknen kann, denn jegliche Seifenreste reizen sie und hinterlassen einen roten Streifen, als hätte man das Metall des Rings so erhitzt, dass ihre Haut verbrennt.

Pawel beobachtet, wie sich seine Mama die Hände abtrocknet. Als sie fertig ist und das Handtuch wieder an seinen Haken gehängt hat, lässt er Tante Joanna los und entfernt sich ein paar Schritte von ihr. Er hat sein Buch auf dem kleinen Schrank liegen sehen – auf dem Schrank mit dem Gitter in der Tür, in dem früher mal lauter Käse vom Land lagerte, der jetzt aber leer ist – und er nimmt es, drückt es sich an die Brust und trägt es zum Tisch. Er setzt sich, legt das Buch vor sich hin. Er dreht es so hin, dass er den Buchrücken sehen kann, der ausgeblichen ist, weil er auf einem Regal direkt in der Sonne stand. Die Buchstaben sind auf den blauen Stoff geprägt, er sieht die goldenen Fragmente. Er legt beide Hände auf den Buchdeckel, als könnte er den Inhalt durch seine Handflächen lesen. Er scheint völlig versunken, ist es aber nicht: Er hört zu, schaut zu.

Seine Mama, Zofia, spricht mit ihrer Schwester. »Du musst essen. Ich weiß, dass du abnimmst.«

»Ich versuche es ja.«

»Wenn man erst mal abgenommen hat, ist es schwierig, wieder zuzunehmen.«

»Warum hast du ihn da oben allein gelassen?«

Ein ungeduldiger Unterton schleicht sich in Zofias Stimme. »Es geht ihm gut. Schau ihn doch an. Es geht ihm doch gut, oder nicht? Das siehst du doch.«

Und in diesem Augenblick schaut Pawel von seinem Buch auf, schaut seine Mama an.

»Siehst du«, sagt sie. »Es geht dir gut, stimmt’s, Pawel? Sag es Tante Joanna.«

Na los, sagen ihre Augen, sag es ihr. Und obwohl es ihm gar nicht so gut geht, denn innerlich hört er immer noch den Geschützdonner, weiß er, was seine Mama von ihm will. Er lächelt. »Ja, es geht mir gut.«

Joanna nickt. Sie schaut zur Spüle hinüber. Sie seufzt. »Ich will einfach nur, dass alles wieder so wird wie früher«, sagt sie.

»Ich weiß«, sagt Zofia. »Das wollen wir alle, aber wir können die Zeit nicht zurückdrehen.«

»Leute verschwinden.«

»Ich weiß.«

»Sie gehen weg und kommen nie wieder.«

»Es reicht jetzt. Du machst es nicht besser damit.«

Pawel hat das Buch immer noch nicht aufgeschlagen. Seine Hände ruhen auf dem Buchdeckel. Er denkt über die Worte seiner Mutter nach: Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Er denkt an die Uhr oben, mit ihren zwei Zeigern, die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegen. Er hat gesehen, wie Papa den Glasdeckel abgenommen und die Position der Zeiger korrigiert hat, wenn sie die falsche Zeit angezeigt hatten. Er kann die Zeit zurückdrehen. Aber wenn er sie zu weit zurückdrehen würde, würde sich dann alles in diesem Haus ändern? Würde alles, was bereits passiert war, wieder ungeschehen sein?

»Pawel?«, sagt Joanna.

Er schaut zu ihr hinüber. Zwei Augenpaare, die darauf warten, dass er eine Frage beantwortet, die er nicht gehört hat.

»Ich hab dich gefragt«, sagt Joanna, »ob du immer noch Angst hast.«

»Aber ich hab’s dir doch schon gesagt, er hat keine mehr«, sagt seine Mama rasch, bevor er antworten kann. »Du weißt doch, Kinder sind zäh, Joanna. Die können sogar von Bäumen fallen und tun sich nichts.« Zofia wartet ab, was für eine Wirkung ihre Worte haben. Nichts, nichts, doch dann beginnt sich Joannas Gesicht zu verändern. Der Zug um ihre Mundwinkel wird weicher, ein neues Leuchten tritt in ihre Augen, und sie zieht langsam die Mundwinkel hoch, bis sie lächelt. Und da sie lächelt, lächelt Pawel auch. Und weil die beiden lächeln, lächelt Zofia auch.

Die Familiengeschichte. Sie ist schon so oft erzählt worden, wie der Schaukelstuhl im Kinderzimmer geschaukelt worden ist, so oft, wie der Silberlöffel in der Tasse aus Knochenporzellan gerührt hat: Es ist die Geschichte, wie Joanna als Kind während eines Aufenthalts auf ihrem Landhaus vom Kirschbaum fiel. Es war der Sommer des Überflusses, als der Baum mehr Kirschen als Blätter trug, und Joannas Kleid bekam grüne Flecken von den Flechten und rote von den Früchten, aber Knochen hatte sie sich keine gebrochen.

Als Zofia weiterspricht, liegt in ihrer Stimme ein neuer Ton. Leichtigkeit. Musik. »Pawel hat deinen Kuchen ganz aufgegessen«, sagt sie zu Joanna. »Er fand ihn köstlich, hat er gesagt. Sogar ohne Zucker. Und er war dir sehr dankbar, dass du deinen letzten Mohn geopfert hast.«

Joanna schaut Pawel an. »War er wirklich gut?«, fragt sie.

Pawel zögert. Oh, der Mohn, denkt er. Zwischen den Zähnen, über den Teller verschmiert, dieser schwarze Grieß. Er weiß, was er sagen muss, er weiß es einfach. Er nickt. »Oh ja«, sagt er.

Joanna erwidert nur ein Wort: »Schön.«

Und in der folgenden Schweigepause schaut Pawel wieder auf sein Buch. Seine Finger fahren über den Buchdeckel und schlagen ihn auf, enthüllen die zarte Welt darin. Die Umschlag­innenseite ist mit rot marmoriertem Vorsatzpapier beklebt, das am Rand ausgeblichen ist. Er blättert um, sieht die Titelseite. Er blättert noch einmal um und sieht die Titel der Geschichten und die Seitenzahlen. Er blättert noch einmal um, hält inne. Die erste Illustration.

Ihm ist nicht bewusst, dass seine Mama ihn die ganze Zeit beobachtet.

Sie sieht seinen kleinen Körper, der sich über das Buch beugt, beobachtet die Behutsamkeit, mit der er umblättert, sieht, wie sein Finger über der Illustration schwebt und sich bewegt, als würde er die Linien in der Luft nachfahren. Sie spürt, wie eine Welle der Gereiztheit in ihr aufbrandet. Es ist eine regelrecht körperliche Empfindung, die in dem heftigen Wunsch gipfelt, ihm das Buch zu entreißen, seine Hand wegzuziehen. Sie wartet, und das Gefühl verebbt wieder, sie hat gewusst, dass es verebben würde, denn ihre Gereiztheit gilt nicht wirklich ihrem Sohn, sondern seinem Vater: Die Gestik ist identisch. Genau so liest Karol auch seine Kunstbücher, so ist er, wenn er für sie unerreichbar wird. Was der Vater dem Sohn da vererbt hat, macht sie nervös. Ist das ein nachgeahmtes Verhalten? Oder ist es etwas Tieferes in ihm, das in jede Zelle seines Körpers eingeprägt ist? Ist das sein Erbe? Seine winzigen Bewegungen, die so charakteristisch sind wie ein Fingerabdruck.

Wenn sie nur weniger sehen würde, weniger merken, weniger wissen.

Trotzdem, sie sollte lieber dankbar sein statt gereizt: Zumindest etwas hat er von seinem Papa geerbt.

Sie gähnt. Die letzte halbe Stunde hat sie erschöpft. Erst oben, der Geschützdonner auf der Straße. Ihr Sohn auf dem Boden. Und dann hier unten, die roten Arme ihrer Schwester im heißen Wasser. Und wie sich ihre zerbrechlichen Knochen unter dem Kleid anfühlten. Und wie Zofia dabei immer ruhig bleiben musste. Warum muss eigentlich sie diese übermenschliche Selbstbeherrschung aufbringen? Sie würde so gerne auch weinen, schreien und zittern wie diese beiden. Würde so gerne auch getröstet und umarmt werden.

Wieder gähnt sie. Abgrundtiefe Erschöpfung. Geistig und körperlich. Was würde sie geben um einen tiefen Schlaf ohne Träume, ohne jemand, den man im Dunkeln trösten und beruhigen muss. Einfach nur die Augen schließen, wenn die Sonne untergeht, und sie dann wieder aufschlagen, wenn die Vögel anfangen zu singen – ohne zu wissen, was dazwischen gewesen sein mag.

Aber auch die Zeit zurückdrehen. In ihrem Zimmer vom Dienstmädchen geweckt zu werden, die ihr heißes Wasser und schwarzen Tee bringt, die die Vorhänge zurückzieht, damit das Licht hereinkommt, ihr die Sachen herauslegt und die Waschschüssel mit dampfendem Wasser füllt. Ganz gemächlich aufzustehen und die Treppe herunterzukommen, um festzustellen, dass ihr Sohn schon sein Frühstück bekommen hat, sein dunkles Haar gekämmt worden ist und seine Haut und seine Kleidung nach Seife duften.

Ach, wieder Herrin ihrer Zeit zu sein. Ihre eigenen Gedanken zu haben. Doch das Dienstmädchen ist verschwunden, das Kindermädchen ist verschwunden, die Köchin ist verschwunden. Alle sind sie verschwunden.

»Zofia?«

Sie landet jäh wieder in der Gegenwart, in der Küche, in der sie alle sitzen, und wendet sich der Stimme ihrer Schwester zu. »Ja?«

»Was hast du gerade gedacht?«

Wollen sie denn alle in sie hineinschauen?

Bevor sie antworten kann, spricht Pawel, der immer noch mit seinem Buch am Tisch sitzt. »Mama hat gegähnt«, sagt er. »Ich glaube, sie ist müde.«

Sie wendet sich zu ihm. »Und warum bin ich das wohl?«

Pawel schaut sie an. »Ich weiß nicht.«

»Ich glaube, gestern Nacht ist jemand in mein Zimmer gekommen und hat mich geweckt.«

»Ich weiß nicht, wer das gewesen sein könnte«, sagt Pawel.

Er weiß es sehr wohl. Er weiß genau, wer das gewesen sein könnte.

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst in mein Zimmer kommen«, sagt Joanna. »Mir macht das nichts aus.«

»Hast du gehört, was sie gesagt hat?«, fragt Zofia Pawel. Sie weiß, dass er es gehört hat, aber sie weiß auch, dass er zum Zimmer seiner Tante noch einmal eine Treppe weiter hochgehen müsste, und in seiner Phantasie spukt es auf allen Treppen. Egal, wie oft sie ihm sagt, dass er sein Bett nicht verlassen soll – sowie es dunkel ist und seine Traumwelt für ihn wirklicher wird als diese Welt, hört sie seine Tür aufgehen, hört die nackten Füße auf den Dielen.

Genug jetzt.

Zofia klatscht in die Hände und reibt sie gegeneinander. Das ist das Zeichen, dass sie jetzt einen anderen Ton anschlagen möchte. Jetzt wird gehandelt. Das ist alles, was ihr einfällt: sich mit voller Energie auf den Alltag stürzen. Auf die Routineabläufe. Schlafen, essen, Musik machen.

»Dreimal täglich eine Mahlzeit auf dem Tisch«, sagt sie. »Genau das brauchen wir.« Sie schaut ihre Schwester an, die auf ihrem Stuhl sitzen bleibt. »Joanna? Möchtest du nicht den Tisch decken?«

Doch Joanna hört gar nicht zu. Sie starrt die Wand an.

»Joanna?«, sagt Zofia.

»Schau.« Joanna deutet auf die Wand.

In der Wand ist ein Riss, und daraus sickert der Staub, er setzt sich auf dem Holzboden ab.

»Er ist überall«, sagt Joanna. Ihre Stimme ist jetzt wieder höher, will gleich abheben.

»Ich weiß«, sagt Zofia, deren Stimme tiefer wird, sobald ihre Schwester die Stimme hebt. »Aber das ist bloß Staub.«

»Staub ist das Blut des Hauses«, sagt Joanna. »Er kommt aus Wunden.«

Zofia starrt Tante Joanna an. Pawel starrt Tante Joanna an. Es ist nicht das erste Mal, dass sie sie mit einer Äußerung verblüfft, nicht das erste Mal, dass sie sie beunruhigt, ja, ihnen sogar richtig Angst einjagt, wenn etwas aus ihrer inneren Welt kurz nach außen sickert.