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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
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ISBN: 978-3-958-94113-7
© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2019
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„Bedenke, dass
die menschlichen
Verhältnisse
insgesamt
unbeständig sind,
dann wirst du im
Glück nicht zu
fröhlich und im
Unglück nicht zu
traurig sein.“
Sokrates
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Epilog
Auf dem Einschulungsbild ist ein schmales kleines Mädchen mit Pferdeschwanz zu sehen, die Zuckertüte fest an sich gepresst, angezogen mit sich ringelnden großkarierten Strümpfen und einem kurzen Mäntelchen. Alles an dem Kind hätte noch ein bisschen gerade gezupft, hergerichtet werden müssen, aber weder der Vater noch der Fotograf hatten anscheinend einen Blick dafür gehabt. Anna erinnert sich nicht mehr an diesen Fototermin, aber eins weiß sie noch ganz genau. Als sie an diesem, ihrem ersten Schultag, aus der Schule nach Hause kam, stand für sie fest und sie verkündete es auch lauthals: „Ich will, wenn ich groß bin, einmal Lehrerin werden!“
Als Anna in die Schule kam, damals in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, war das keine große Sache. Für das Mädchen selber schon, aber sowohl die Familie als auch die Öffentlichkeit widmeten dem Schuleintritt längst nicht die Aufmerksamkeit, die diesem Ereignis heute zu Teil wird. So ist es auch zu erklären, dass nicht mal Annas Mutter an der Schuleinführung ihrer Tochter teilnahm, sondern wie an jedem anderen Tag zur Arbeit in die Fabrik ging, wo sie tagein tagaus Zigarren rollte. Also brachte Annas Vater sie zur Schule. Er war als Invalidenrentner sowieso zu Hause und besorgte auch den Haushalt.
Anfangs wurden die Pläne des sechsjährigen Mädchens noch belächelt, aber später nahm die ganze Familie Annas Idee durchaus ernst. Besonders Barbara, Annas Schwägerin, die Frau ihres ältesten Bruders, die Anna wie eine große Schwester liebte, bestärkte sie in ihrem Vorhaben: „Ja, mach das ruhig, studiere, werde Lehrerin, du bist dafür geeignet. Außerdem kannst du als Lehrerin überall arbeiten, egal, wo du einmal wohnst oder was für einen Beruf dein Mann haben wird.“ Barbara musste es wissen, denn sie war selbst Lehrerin und arbeitete erst auf dem Dorf, aus dem ihr Mann stammte und zog später mit ihm in eine Stadt unweit von Berlin.
Dass Anna dann wirklich studieren konnte, hatte sie in erster Linie ihrem stark ausgeprägten Berufswunsch, vor allem aber auch ihrer Mutter zu verdanken. Die unterstützte sie ohne Wenn und Aber und geriet dabei oft bis an die Grenzen der Belastbarkeit, vor allem auch in finanzieller Hinsicht, da Annas jüngerer Bruder auch noch studierte. In dieser Zeit – Mitte der sechziger Jahre – war es noch nicht allzu selbstverständlich, dass auch Mädchen vom Lande zum Studium gingen und dazu ihre heimatliche Umgebung verließen. Viele von Annas Mitschülerinnen blieben im Dorf und nahmen dort eine Lehre in den ortsansässigen Näh- und Strickereien auf oder begannen eine Ausbildung in der nahen Kreisstadt.
Für Anna fing mit dem Studium am Institut für Lehrerbildung ihr Kindheitstraum an, Wirklichkeit zu werden. Da für dieses Studium kein Abitur erforderlich war, wohl aber ein sehr gutes Abschlusszeugnis der 10. Klasse, begann Anna mit gerade mal 16 Jahren zu studieren. Anders als bei ihrem Start als Schulanfänger war diesmal ihre Mutter dabei und begleitete sie samt Federbett ins Studentenwohnheim. Ein Foto über diesen Anfang existiert nicht. Anna erinnert sich aber genau, dass der Hausmeister dieses Internates die Neuankömmlinge im angetrunkenen Zustand empfing. Annas Mutter rückte daraufhin sofort der Internatsleiterin auf die Pelle und beschwerte sich sehr energisch über den besoffenen Hausmeister. Dieser bühnenreife Auftritt prägte sich bei Annas Mitstudenten so ein, dass noch Jahre später darüber geredet wurde. Annas Kommilitonen ahnten auf jeden Fall, von wem sie ihre resolute Art geerbt hatte. Die half ihr, auch in schwierigen Zeiten nicht zu verzagen und alle Hürden des Studiums zu nehmen, machte aber auch das Zusammenleben mit ihren Mitstudenten nicht immer einfach. Trotzdem blieb Anna während der gesamten Studienzeit im Internat wohnen, denn ihr gefiel das Leben in der „WG“ und außerdem war es für 10 Mark! äußerst preisgünstig. Nach vier Jahren, mit Anfang 20, war sie bereits examinierte Grundschullehrerin oder wie es damals hieß – Unterstufenlehrerin.
Mit einem ausgezeichneten Zeugnis in der Tasche, startete sie ihr Berufsleben an einer Schule in einem kleinen Dorf unmittelbar an der innerdeutschen Grenze, nicht weit von ihrem Heimatort entfernt. Dabei war Anna sich gar nicht bewusst, wie nah sie dieser Grenze war, wenn sie jeden Tag mit dem Schulbus zu einer ehemaligen Fabrikantenvilla fuhr, in der mehrere Klassen übergangsweise unterrichtet wurden. Die Straße, die weiter ins benachbarte Hessische führte, war zugewuchert und als Straße fast nicht mehr zu erkennen. Ein Schlagbaum verhinderte sowieso die Zufahrt, aber es gab auch niemanden, der überhaupt dort lang fuhr. Wenn Anna im Sportunterricht mit ihren Schülern Geländeläufe absolvierte, schien nichts die Idylle zu stören und von einer undurchdringlichen Grenze war nichts zu sehen…
„Anna weiß, wofür sie lernt. Sie ist für das Neue begeisterungsfähig und hat eine freudig betonte Arbeitsweise. Sie ist sehr pflicht- und verantwortungsbewußt und vermag, selbstständig Aufgaben und Probleme zu lösen. Im Jugendverband zeichnet sie sich durch besondere Aktivität aus. Sie übt einen sehr guten Einfluß auf die Klassengemeinschaft aus.“
Stempel – Schilleroberschule Roda, Roda, den 1.Juli 1967 Unterschriften:
Wernicke – Klassenleiter, Altmann – Direktor
Weitere vier Fachlehrer hatten Annas Abschlusszeugnis der 10. Klasse ebenfalls unterschrieben. Stimmte das, was auf diesem Zeugnis stand, heute auch noch? Heute, nach über zwanzig Jahren, im Jahr eins nach der „Wende“?
Zeugnisse, Abschlüsse, Bescheinigungen über Prüfungen und ähnliche wichtige Dokumente spielen eine große Rolle in dieser Zeit. Sie werden massenhaft vervielfältigt, müssen amtlich beglaubigt und vorgelegt werden. Vorgelegt den Leuten, die nun darüber entscheiden, ob man einen „ordentlichen“ Abschluss hat oder nicht, oder ob man vielleicht doch nur irgendwie „reingerutscht“ ist in den Lehrerberuf, reingerutscht und nun auf „Gnade“ hofft, weiter beschäftigt zu werden.
Jeden Tag, wenn Anna die Zeitung aufschlägt, kann sie darüber lesen, wer so alles als Lehrer tätig war und es auch noch ist, es aber bald nicht mehr sein wird.
„Überprüfungen angelaufen“, „Alle Lehrer müssen Fragebögen ausfüllen“, so lauten heute die Meldungen im Lokalblatt, das längst Herausgeber aus dem Westen hat. Ja, so ist das. Auch Anna hatte den Berg von Unterlagen, den es auszufüllen galt, entgegengenommen:
Personalbogen, Erklärung über Mitgliedschaft oder Verbindungen zu bestimmten Organisationen oder politischen Parteien, Auskunftsersuchen bei der „Gauckbehörde“, Loyalitätserklärung zu Grundgesetz und Rechtsstaat und beglaubigte Zeugniskopien.
Ja, natürlich Zeugnisse, die durften auf keinen Fall fehlen. Die Schulsekretärin, die für alle Kollegen das Kopieren dieser wichtigen Dokumente übernahm, bemerkte nur mit etwas Häme in der Stimme: „Man kann nur staunen, was bei dem einen oder anderen so auf dem Zeugnis zu lesen ist, aber ich darf ja nicht darüber sprechen,“ und ließ es auch tatsächlich mit einem tiefen Seufzer bewenden.
Aber mit ihren Zeugnissen hatte Anna keine Probleme. „Anna weiß wofür sie lernt…“
Sorgen hatte sie, Sorgen, die sie bis jetzt nicht mal dem Namen nach gekannt hatte: Georg, Annas Mann, war seit Mitte Februar auf „Null-Kurzarbeit“ und verbrachte seine Tage mehr oder weniger sinnvoll mit Haus- und Gartenarbeit. So präsentierte sich der Garten in der nahen Kleingartenanlage „Am Wildbach“ als ein echter „Kurzarbeitergarten“, nämlich etwas zu gut gepflegt.
Wenn sie mittags aus der Schule kam, empfing sie Georg mit dem Mittagessen, verwöhnte sie mit Nachtisch und nervte sie mit Redseligkeit: „Erzähl doch mal! Wie war dein Tag? Was gibt es Neues? Weißt du schon, wie es mit deiner Schule weitergeht?“ Aber Anna war es einfach nicht gewöhnt, unmittelbar nach anstrengendem Unterricht zu erzählen, auf Fragen zu antworten, überhaupt damit konfrontiert zu werden, dass jemand zu Hause war, der auf sie wartete. Bis jetzt war sie auch nie in diese Verlegenheit gekommen, da Georg ja auf Arbeit war und frühestens am späten Nachmittag nach Hause kam.
Anna hatte ein schlechtes Gewissen ihrem Mann gegenüber: Er erwartete sie schon ungeduldig, gespannt auf Neuigkeiten, ihm fiel die Decke auf den Kopf.
Und sie? Sie fühlte sich erschöpft und wollte erst mal ihre Ruhe. Einfach nur gewöhnungsbedürftig diese Situation!
Aber eigentlich wollte sich weder Anna noch Georg an diese Situation gewöhnen, nein, man wollte sie so schnell wie möglich beenden, sie hinter sich lassen wie eine schwere Krankheit. „Ist doch wunderbar, wenn dich dein Mann mit dem Mittagessen empfängt…“, meinte eine von Annas Kolleginnen, “…ich an deiner Stelle, würde mich freuen.“ Ja doch, ich freu‘ mich ja, dachte Anna gequält, aber doch nicht tagaus, tagein, ein Mann braucht seine Arbeit! Punkt!
Also Bewerbungen schreiben, zu Vorstellungsgesprächen fahren und am Ende mehr und mehr den Mut verlieren. So erging es Georg. Hier war auch für Anna das eigentliche Feld, das beackert werden musste. Georg brauchte ihren Zuspruch: „Nur Mut, du packst das schon! Du hast eine solide Ausbildung als Werkzeugmacher (braucht heute kein Mensch mehr!), dein Abschluss als Diplomingenieur für Maschinenbau ist auch hieb- und stichfest (Ingenieure gibt’s hier wie Sand am Meer!) und überhaupt: Wer Arbeit sucht, der findet auch welche!“ (Wie sie dieses Schlagwort hasste!)
Sicher, die Familie musste noch nicht am Hungertuch nagen: Annas Lehrergehalt lief weiter und Georgs Kurzarbeitergeld wurde auch gezahlt, sogar ein paar Prozent mehr als allgemein üblich, da die IG Metall für ihren Bereich diese Mehrprozente erkämpft hatte. Aber selbst im trauten Familienkreis, der natürlich nicht (noch nicht!) von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit betroffen war, gab es die unerschütterliche Meinung, dass man „denen“ – Arbeitslosen, Kurzarbeitern und ähnlichen Spezis – doch das Geld in den Rachen werfe und das für nichts und wieder nichts.
Da konnte einem schon die Galle hochkommen, aber Anna hatte bei diesen unerquicklichen Diskussionen tapfer geschluckt und nicht wie sonst das Widerwort gehalten. War sie es leid oder hatten sie alle guten Geister verlassen?
Schade, dass die schönste Zeit der „Wende“ so schnell vorbei gegangen war:
Der Herbst 89! Die Zeit, als man im Dialog stand, die Zeit, als alles möglich schien die Zeit, die Geschichte machte oder in der Geschichte gemacht wurde.
Immer wenn sie darüber nachdachte, fiel Anna dabei die große Demonstration am 4. November in Berlin ein, die größte Demonstration überhaupt, die es jemals in der DDR gegeben hatte.
Friedlich, mit viel Witz, mit Geist und Herz waren die Leute auf der Straße.
„Keine Gewalt!“ Diese Losung stand über allen anderen. Und es regierte tatsächlich Gewaltlosigkeit. Die Redner auf der Tribüne des Alexanderplatzes übertrafen sich gegenseitig. Jeder legte das Herzblut in seine Worte, aber auch jede noch so winzige Falschheit wurde vom Publikum registriert und entsprechend kommentiert. Also wechselten sich tosender Beifall und laute Pfiffe ab, gab es lauthals Zustimmung, aber auch genauso entschiedene Ablehnung. Zu Hause bei Anna und Georg lief pausenlos der Fernseher, die ganze Familie war gefangen von diesem Ereignis. Selbst die beiden halbwüchsigen Söhne schauten mit wachsender Begeisterung zu, auch wenn sie viele der Redner, die bei dieser Demo auftraten, nicht kannten: Stefan Heym, Christa Wolf, Johanna Schall, Jan Josef Liefers, Markus Wolf, Günter Schabowski, Bärbel Bohley, Friedrich Schorlemmer, Christoph Hein und, und, und.
Unterschiedlicher konnte die Rednerliste wohl nicht sein: Der Bürgerrechtler neben dem Politbüromitglied, der