Unter Pseudonym schrieb Emmanuel Bove in den 1920er Jahren eine Reihe von Liebesromanen, die ihm bescheidene Einkünfte bescherten. Drei dieser Romane liegen mit dieser Ausgabe nun auf Deutsch vor. Wenn sie auch an die Qualität seiner großen Werke wie etwa »Mes amis« (Meine Freunde) oder »La Coalition« (Die Verbündeten) nicht heranreichen, so lassen sie phasenweise sein Talent und vor allem seinen Humor erkennen – Bove machte sich beim Verfassen dieser Trivialromane sichtlich über das ganze Genre lustig. In Ansätzen werden freilich auch Themen erkennbar (etwa die notorisch prekäre Lage einer Hauptfigur), die er in seinen seriösen Romanen bis ins Detail weiterführte. Das hier Vorliegende ist zunächst einmal herzergreifender Kitsch für die deutschsprachige Bove-Gemeinde. Schmunzeln garantiert.
1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling »Meine Freunde« hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.
Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.
Mehr zum Autor und seinem Werk unter www.emmanuelbove.de
Thomas Laux ist Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Französischen. Er lebt in Düsseldorf.
Der Liebesrausch
Drei Groschenromane
Aus dem Französischen
und mit einem Nachwort von Thomas Laux
Edition diá
Der Liebesrausch
Das Herz vergisst nicht
Dichterseele
Nachwort
Impressum
Mathilde Vaudier betrat das Rosenblum, einen der elegantesten Teesalons in der Rue de Rivoli.
Es war vier Uhr nachmittags. Auf den mit glänzenden Tüchern bedeckten Tischen standen Blumen. In einer von Grünpflanzen umsäumten Ecke spielte ein Orchester langsame Walzer, deren eigenwillige Melodien die Gemüter träge machten. Auf einer Konsole aus weißem Marmor ähnelten Kuchen in allen Farben einem Blumenbeet. Pärchen plauderten und tranken dabei dieses köstliche Getränk namens Tee.
Sowie der Oberkellner Mathilde Vaudier bemerkte, ging er zu ihr hin und führte sie ehrerbietig an einen abseits gelegenen Tisch.
Mit einem Lächeln bedankte sich das junge Mädchen und nahm Platz, noch bevor der Oberkellner sich zurückgezogen hatte.
Mathilde war schön, schön, wie man es nur mit zwanzig Jahren ist. Ihre blonden Haare, die am Rand ihres schwarzen Huts hervorlugten, hatten einen warmen, fast metallischen Glanz. Ihr dezent rot geschminkter Mund war fleischig, wenn auch klein. Und die gerade, fein geschnittene Nase besaß etwas Aristokratisches.
Obwohl Mathilde einfach gekleidet war, war sie doch von raffinierter Eleganz. Sie wusste, dass dunkle Sachen ihr gut standen. Daher verabsäumte sie es nie, sich dunkel zu kleiden. Es ließ den glanzlosen Teint ihrer Haut hervortreten, und ihre schönen Haare in Form dicker Goldzöpfe erschienen so noch schillernder.
Als der Kellner ihr die Bestellung gebracht hatte, hob sie in einer anmutsvollen Geste ihre Hand und betrachtete die kleine Platinuhr am Handgelenk.
Es war kurz nach vier.
– Er verspätet sich!, dachte sie.
Ein kleines Zucken der Enttäuschung glitt über ihre Lippen. Aber sie fing sich wieder.
– Ich sollte die Uhr vorstellen, sagte sie sich, um die Unruhe, die sich in ihrem Herzen breitzumachen begann, unter Kontrolle zu halten.
Um sich abzulenken, schaute sie um sich.
Ausländer sprachen mit lauter Stimme. Man hätte meinen können, sie legten es unbedingt darauf an, als Franzosen angesehen zu werden. Über die dicken Teppiche, die den Fußboden bedeckten, liefen Kellnerinnen ebenso leise wie blitzschnell vorbei. Der Mann an der Solo-Violine wischte sich die Stirn ab. Junge Mädchen mit geschnittenem Haar à la Ninon rauchten helle Zigaretten, und ab und zu mussten sie husten. Man konnte sich gut vorzustellen, dass Rauchen für diese jungen Damen die reine Folter war. Aber was will man machen – es ist nun mal in Mode! Ein Kuchen folgte auf den anderen. Man fragte sich, wie es alle hier noch fertigbringen würden, zu Abend zu essen. Denn bestimmt hatte nach einer derartigen Aufnahme von Schlagsahne und Zuckerzeug niemand mehr Hunger.
Mathilde besah sich das alles mit zerstreutem Blick. Sie konnte noch so sehr ein Interesse für ihre Umgebung bemühen, es gelang ihr einfach nicht. Alle, die vor ihren Augen tanzten, konnten den Gedanken an den, den sie liebte, nicht vertreiben.
Mathilde Vaudier war neunzehn Jahre alt. Sie war die Tochter des berühmten Bankiers Vaudier, bekannt geworden als einer der größten Finanziers Europas. Bis zum Alter von siebzehn hatte sie die Schulbank gedrückt, und als sie dann ihr Abitur gemacht hatte, meinten ihre Eltern, dass sie für ein junges Mädchen nun genug Wissen angesammelt hätte.
Mathilde war von sensibler und sanfter Natur. Diese Sanftheit im alltäglichen Leben schloss eine sehr große Leidenschaft und Energie indessen nicht aus, nämlich dann, wenn es darum ging, sich, wie es heißt, ins Zeug zu legen. Man hatte sie vor wenigen Jahren erleben können, wie sie sich, obwohl kränkelnd, unbedingt den Prüfungen stellen wollte und wie sie sie zur Genugtuung aller bestanden hatte und sogar Zweite geworden war.
Mathilde wartete seit zehn Minuten, als sie auf einmal einen leichten Schrei ausstieß.
Max Darnis, der Sohn des berühmten Romanciers Paul Darnis, hatte soeben den Raum betreten.
Er war ein schöner junger Mann in der Blüte seines Lebens. Er war mit einem Sportanzug bekleidet, was die einwandfreie Linie seines statuenhaften Körpers vorteilhaft unterstrich. Mehrere Jahre Studium und Meditation hatten der Frische seines Gesichts mit seinen reinen Zügen und den vor Leben und Leidenschaft funkelnden Augen nichts anhaben können.
Einen Moment lang verharrte er unentschlossen inmitten des Salons. Frauen schauten ihn bewundernd an. Der schöne junge Mann jedoch beachtete sie nicht. Mit den Augen suchte er nach derjenigen, die er liebte und mit der er ein Rendezvous hatte, an diesem Ort, wo die Liebenden unbemerkt vorübergehen, weil es deren so viele sind.
Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. Soeben hatte er das junge Mädchen erspäht, das, die Arme auf dem Tisch abgestützt, seinen Blick auf ihn geheftet hatte.
– Verzeihen Sie, Mademoiselle, ich habe mich verspätet. Ich wurde von meinem Verleger zurückgehalten. Ach, wenn Sie wüssten, wie übel ich ihm das nehme!
– Oh, keine Ursache, Monsieur! Im Gegenteil, das Warten ist köstlich, wenn man die Gewissheit hat, dass die Person, auf die man wartet, auch kommt.
Es entstand ein Schweigen. Die beiden jungen Menschen waren derartig davon berührt, zusammen zu sein, dass sie kein Wort mehr herausbekamen. Sie genossen das berauschende Gefühl, sich gegenseitig nah zu sein, und das war ihnen viel mehr wert als die schönsten Worte. Denn Liebe braucht derlei nicht, um sich bemerkbar zu machen. Die Augen genügen, um die tausend Gedanken auszudrücken, die die Seele der Liebenden durchziehen. Wenn das Herz erfasst ist, dann scheint es, als würde das ganze Wesen sich verfeinern und als würden die Gefühle, für außenstehende Menschen nicht wahrnehmbar, einem in ihrer ganzen Klarheit in die Augen springen.
– Mademoiselle Mathilde!
– Monsieur Max!
– Haben Sie mit Ihrem Vater geredet?
– Nein, ich habe mich nicht getraut.
Der junge Mann richtete seinen Blick auf die, die sein Herz erobert hatte.
– Es muss aber sein. Was wir machen, ist nicht in Ordnung. Würden Ihre Eltern von unserer Liebe erfahren, würden sie es als seltsam erachten, dass wir sie ihnen verheimlicht haben. Besser ist es, ihnen alles zu sagen. Paris ist nicht so groß, wie man denkt. Es würde reichen, eine Ihrer Freundinnen träfe uns hier, schon würde Ihr Vater Ihnen den Ausgang verbieten. Allein der Gedanke, dass wir uns nicht sehen könnten, lässt mich erschaudern.
– Sie haben recht, Monsieur Max. Heute Abend erzähle ich alles. Aber ich fürchte, dass man sich weigern wird, Sie zu empfangen. Deshalb zögere ich damit. Lieber möchte ich mir meine Illusionen behalten.
Das Orchester intonierte einen Foxtrott. Durch die Fensterscheiben des Teesalons hindurch konnte man die Menschenmasse sowie die Autos auf der Straße erkennen. Es wurde allmählich dunkel, und schon verscheuchte die Dämmerung im Westen die letzten Spuren des Lichts.
Max Darnis ergriff die Hand des jungen Mädchens. Dieses wiederum zitterte von Kopf bis Fuß.
– Max, was tun Sie da?
– Ich liebe Sie, Mathilde!
Röte überzog die Backenknochen des hübschen Mädchens.
– Sie lieben mich?
– Ja, Mathilde.
Die ausländischen Kunden tranken immer noch ihren Tee und nahmen auch Kuchen zu sich. Die Beleuchtung war noch nicht eingeschaltet, was eine Art falsches Licht in dem von Rauch und Teedämpfen geschwängerten Raum entstehen ließ.
– Max!
– Liebste!
– Wie glücklich wir sind …
– Ja, das stimmt. Jetzt müssen nur noch Ihre Eltern akzeptieren. Ach, wie würde ich leiden, wenn …
– Wenn?
– Wenn sie uns hinderten, zusammen zu sein.
– Sie würden nicht so sehr leiden wie ich.
– Mehr, als Sie denken, Mathilde. Ich weiß nicht einmal, ob ich ohne Sie leben kann. Ich liebe Sie so sehr, dass, wenn ich die Gewissheit hätte, Sie würden nicht meine Frau werden … also … ich glaube, ich würde mich umbringen.
– Mein Gott, Max! Was sagen Sie da?
– Ich sage, was ich denke.
Die beiden Verliebten erhoben sich. Es war sechs Uhr. Einige verspeisten immer noch Kuchen, und das Orchester, das sein Repertoire erschöpft hatte, spielte die ersten Stücke von vorn.
– Wenn Sie es mir erlauben, Mathilde, begleite ich Sie bis zu Ihrem Haus.
– Oh, das ist nett!
Max Darnis rief nach einem Taxi. Er öffnete die Seitentür und half dem jungen Mädchen beim Einsteigen, dann wandte er sich an den Chauffeur und gab ihm folgende Adresse:
– Avenue Marceau Nummer 17.
Im dunklen Taxi dicht nebeneinandersitzend, sprachen die beiden Verliebten kein Wort. Die Erschütterungen drückten sie manchmal aneinander. Als das Automobil an einer Reihe beleuchteter Geschäfte vorbeifuhr, erhellte flüchtiger Lichtschein das Innere des Wagens, gleich Blitzen von Magnesium.
Nun fuhr das Taxi die Champs-Elysées hinauf. Die Reifen schienen über die von so vielen Autos und Limousinen polierte Pflasterung schier zu gleiten. Man konnte in der Ferne, kaum wahrnehmbar in der zunehmenden Dämmerung, die majestätische Silhouette des Triumphbogens ausmachen, unter dem die gesalbten sterblichen Überreste des unbekannten Soldaten liegen. Durch das heruntergelassene Fenster des Taxis strich über die blassen Gesichter der beiden Liebenden der Geruch von frischen Blättern und feuchter Erde.
Der Moment war köstlich. Man vernahm die Abrollgeräusche der Autos, die die prächtige Avenue hinauf- und hinunterfuhren. Schimmer von Gold zogen am dunklen Himmelszelt entlang.
Die entzückte Mathilde schmiegte sich an den jungen Mann. Dieser atmete erfreut den Geruch ein, der ihrem vollen Kopfhaar entstieg. Lag es an der Dunkelheit, die geradezu komplizenhaft den jungen Mann dazu verleitete, diejenige, die ihr ganzes Vertrauen in ihn setzte, in die Arme zu schließen?
– Mathilde!, murmelte er hauchend, wobei er die von Kopf bis Fuß zitternde Tochter des Bankiers liebevoll und leidenschaftlich umschlungen hielt.
– Max …
Das hübsche Kind stammelte diese eine Silbe eher, als dass sie aussprach. Sie war vollkommen aufgewühlt. Sie spürte, dass alle Kräfte sie verließen … sie spürte, dass sie nicht mehr Herrin ihrer selbst war.
– Mathilde …
– Max …
Und in dem Ton der Stimmen lag eine solche Zärtlichkeit, eine solche Inbrunst, dass es nicht schwerfiel, sich über die Größe der Liebe, die die beiden Kinder vereinte, ein Urteil zu bilden.
Unversehens bog das Taxi in die Place de l’Étoile ein, und Mathilde musste sich am Arm von Max festhalten.
In einer spontanen Bewegung vereinigten sich die Lippen der beiden Liebenden für einen langen Moment.
Das Herz hatte gesprochen. Die überbordende Liebe hatte nicht zurückgehalten werden können. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Mathilde einen Mann geküsst.
Kaum hatte Mathilde sich von dem jungen Mann verabschiedet, da lief sie schon in ihr Zimmer hinauf.
Sie brauchte Einsamkeit. Sie musste allein sein, um an ihre Liebe zu denken, um an den zu denken, den sie über alles in der Welt liebte.
Eine wohltuende Erregung überkam sie und versetzte sie in einen besonderen Zustand.
Sorgsam verschloss Mathilde die Tür. Sie wollte nicht, dass jemand sie in ihren Gemächern störte. Sie wollte allein sein, um von ihrem Glück zu träumen.
Es war Viertel nach sechs. Das Abendessen sollte nicht vor halb acht stattfinden. Sie hatte also noch eine gute Stunde Zeit.
Das junge Mädchen legte sich auf einen mit einem prächtigen Tigerfell und modernen Kissen bedeckten Diwan.
Mit geschlossenen Augen genoss sie ihr Glück, und wenn sie sich hätte zuhören können, hätte sie vor Freude gesungen. Sie hörte nicht auf, an ihren Geliebten zu denken, und in ihrer ausgelassenen Freude sah sie sich schon in einem mit Orangenblüten geschmückten weißen Kleid am Arm ihres Ehemanns die Stufen einer Mairie hinabsteigen.
Doch ein Schatten sollte ihr Glück trüben. Sie kannte ihren Vater und ihre Mutter nur zu gut. Sie wusste, dass sie dieser Hochzeit nicht zustimmen würden. Sie hatte seit langem begriffen, dass ihre Mutter den Wunsch hegte, sie möge sich mit Henri Blanchard, dem korpulenten Hersteller dieser Lieferwagen in Serie, verheiraten. Man hatte dem jungen Mädchen gegenüber nie etwas davon gesagt, doch an der Art, wie Madame Vaudier von dem massigen Fabrikanten redete, war leicht abzulesen, dass die liebe Familienmutter Wert darauf legte, dass ihre Tochter eine derart gute Partie zum Mann nahm.
Monsieur Blanchard war tatsächlich reich. Vielleicht nicht so sehr wie die Vaudiers (das war auch fast nicht möglich), aber dennoch in dem Maße, dass der Bankier, der den Mammon anbetete, sich durch eine solche Verbindung nicht entehrt fühlte.
Mathilde Vaudier dachte schon lange Zeit an all diese Dinge, und als die Glocke zum Abendessen sie aus ihrer Benommenheit riss, schien es ihr, als wäre ihr Leben ein Traum und als wäre alles, was sich in ihrem Herzen abgespielt hatte, nur Frucht ihrer Phantasie gewesen.
Mathilde erhob sich, und damit die Eltern nicht sahen, dass sie in der Dunkelheit verharrt hatte, machte sie Licht und verblieb einige Minuten so, die Augen auf die Lampe gerichtet.
Dann brachte sie etwas Ordnung in ihr Äußeres.
Einige Minuten später betrat sie den großen Essensraum des Vaudier-Hauses.
Monsieur und Madame Vaudier waren bereits da, saßen sich gegenüber. Das junge Mädchen küsste seinen Vater und seine Mutter auf die Stirn und nahm ebenfalls Platz.
Monsieur Vaudier war ein Mann von fünfzig Jahren. Von mittlerer Körpergröße, erschien er kleiner, als er tatsächlich war, denn er war untersetzt. Er trug einen schwarzen Gehrock und ein gestärktes Hemd. Sein energisches Gesicht wurde durch einen sanften Blick gemildert. Man spürte, dass dieser Mann über ein sanftes Naturell verfügte und dass die Energie, die er vorgab, nicht den Liebkosungen seiner Tochter oder seiner Frau widerstehen konnte. Ein immer noch schwarzer Schnurrbart durchzog sein Gesicht. Sein Kopfhaar indessen war nicht mehr schwarz, sondern leicht ergraut.
Madame Vaudier, geboren als eine Joséphine du Maistre, gehörte qua ihrer Geburt der besseren Gesellschaft an. Während ihr Mann seine Stellung aus eigener Kraft errungen hatte, hatte sie weiterhin die noblen Kreise frequentiert.
Wenn sie sich zur Marquise de Rougnac begab, hütete sie sich sehr wohl, ihren Gatten mitzunehmen, denn als Demokrat war er bei all diesen Marquisen und Vicomten nicht besonders angesehen.
Madame Vaudier war, obwohl bereits siebenunddreißig Jahre alt, noch eine schöne Frau und besaß diese majestätische Schönheit, die vor hundert Jahren so zu gefallen wusste. Sie war etwas größer als ihr Mann, was diesen stets gewurmt hatte. Ihr Körper, der durch die Jahre nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war, hatte sich diese so schön anzusehende Schlankheit bewahrt. Ihr Busen, hoch und fest, zog den Blick aller anderen Männer auf sich – nicht ohne bei ihrem braven Ehemann Entrüstung hervorzurufen. Und ihr klar geschnittenes Gesicht schien die leibhaftige Inkarnation eines antiken Madonnenbilds zu sein.
Man musste Madame Vaudier gesehen haben an den Tagen, an denen sie empfing, wenn sie sich in Abendkleidung zeigte und geschmückt mit einem Collier von 500.000 Franc am Hals in die Mitte ihrer Gäste vordrang, majestätisch und verjüngt.
Vor zwanzig Jahren hatten Monsieur und Madame Vaudier geheiratet. Seit jenem Tag hatte nie ein Streit ihr gemeinsames Glück getrübt. Sie hatten nach Art eines Vorzeigepärchens gelebt. Er, immerzu zuvorkommend, liebenswert und von gleichbleibendem Humor; sie stets bereit, sich aufzuopfern oder sich zu unterwerfen.
Derartige Verbindungen sind selten! Um sie zu finden, muss man schon an die alten französischen Familien geraten, die noch unbehelligt sind vom Wahnsinn der Moderne.
Mathilde hatte sich kaum hingesetzt, als Monsieur Vaudier, stets von neugieriger Natur, sich mit einem Lächeln an seine Tochter wandte:
– Nun, Mathilde, willst du mir nicht sagen, was du den heutigen Nachmittag gemacht hast?
Das junge Mädchen konnte ein Erröten nicht vermeiden, aber da seine Eltern nicht hinsahen, blieb seine Aufregung unbemerkt.
– Komm schon, Mathilde, antworte deinem Vater … Ein Vater muss stets wissen, was sein Kind so treibt … Ist das nicht ganz normal?
Dieses Mal war das junge Mädchen in die Enge getrieben. Es galt, ruhig zu antworten, irgendetwas. Sonst hätte ein Verdacht aufkeimen können, und das wollte Mathilde nicht.
– Ich bin ganz Ohr, meine Tochter, fuhr Monsieur Vaudier fort, immer noch lächelnd.
– Ich war in den großen Kaufhäusern, versetzte Mathilde mit einer Stimme, der sie einen natürlichen Ton zu geben versuchte.
– Und was hast du gekauft?
– Nichts, Vater … Sie wissen doch, dass ich nichts kaufe, ohne zuvor zu fragen, ob es Ihnen auch recht ist.
In diesem Moment betrat ein Diener mit Gerichten den Essraum.
– Du bist also nur in den großen Kaufhäusern gewesen?
– Ja, Vater …
– Wie ist es dann möglich …
Monsieur Vaudier hielt absichtlich inne und sah seiner Tochter in die Augen.
Mathilde ahnte ein Ungemach. Aber die aufziehende Gefahr gab ihr auch Mut.
– Wie ist es dann möglich, fuhr Monsieur Vaudier mit seiner immer gleichen Stimme fort, dass man dich anderswo gesehen hat?
– Man hat mich anderswo gesehen?, stammelte das blass gewordene Mädchen.
– Ja, Mathilde.
– Das wundert mich.
– Frag deine Mutter.
– Ja, Mathilde, bemerkte Madame Vaudier. Germaine Collard war gerade hier. Sie erzählte mir, dass sie dich heute Nachmittag gesehen hat, im Rosenblum, Rue de Rivoli, so gegen fünf.
Eine Wolke verschleierte Mathildes Blick. Obwohl sitzend, schien es ihr, als falle sie zu Boden, als erkenne sie weder ihren Vater noch ihre Mutter. Ein dumpfes Rauschen wie das bei einer ans Ohr gehaltenen Muschelschale erfüllte ihren Kopf. Doch indem sie sich geradezu übermenschlich zusammenriss, gelang es ihr, ihre Schwäche zu überwinden.
Mit fester Stimme antwortete sie:
– In der Tat war ich im Rosenblum, als ich mit meinen Einkäufen fertig war.
Das junge Mädchen hatte eine letzte Hoffnung. Es konnte ja möglich sein, dass Germaine Collard Max Darnis gar nicht gesehen hatte. Aber Mathilde sollte sich von dieser letzten Hoffnung bald verabschieden müssen.
– Warst du allein?, wollte der weiterhin lächelnde Monsieur Vaudier wissen.
Mathilde begriff, dass es unmöglich war, die Dinge abzustreiten. Die Wahrheit musste heraus.
– Nein, Vater.
– Du warst nicht allein?
– Nein. Ich war mit Monsieur Darnis zusammen.
– Darnis?
– Ja, Vater.
– Wer ist das?
– Monsieur Darnis ist der Sohn des Schriftstellers Paul Darnis.
– Und was macht dieser Sohn?
– Er schreibt ebenfalls …
– Dann gibt es also nicht nur ein Genie in der Familie. Vater und Sohn schreiben Bücher. Du hast Glück, Mathilde, große Schriftsteller zu kennen.
Monsieur Vaudier war ein Mann mit Erfahrung. Er wusste genau, dass seine Tochter nichts Schlimmes anstellen konnte. Diese Liebesaffäre, die man ihm verheimlichte, brachte ihn zum Lächeln. Er dachte gar nicht daran, seine Tochter zu rügen, vielmehr machte es ihm Spaß, sie zu necken.
Madame Vaudier wiederum folgte einer anderen Überlegung. Die Enthüllung durch Germaine Collard hatte sie erschüttert. Für eine Mutter ist es immer schmerzlich, wenn sie erfährt, dass die eigene Tochter ihr etwas verheimlicht. Aber das war noch nicht alles. Madame Vaudier hatte nämlich Pläne geschmiedet. Sie wollte unbedingt, dass ihre Tochter sich mit Monsieur Blanchard verheiratete. Sie hatte sogar schon alles vorbereitet und sich vorbehalten, ihre Tochter über genau diese Absicht zu informieren, als die subtile Enthüllung Germaines alles zunichtegemacht hatte. Madame Vaudier schätzte diesen Monsieur Blanchard gewiss sehr, und allein der Gedanke, ihre Tochter würde diesen Mann nicht heiraten, brachte sie ganz durcheinander. Deshalb hatte sie ihrem Mann alles erzählt und ihn inständig gebeten, das verirrte Mädchen auf den rechten Pfad zurückzubringen. Monsieur Vaudier aber war, obwohl er das Geld verehrte, nicht der Mann, der seine Tochter dazu zwingen würde, sich mit jemandem zu verheiraten, den sie nicht liebte. Daher hütete er sich wohlweislich, die Angelegenheit zu ernst zu nehmen. Er betete seine Tochter an, und wenn da nicht die Angst gewesen wäre, das Missfallen seiner Frau zu erregen, dann hätte er, um mit seinem Kind zu reden, noch einen ganz anderen Tonfall angestimmt.
– Ja, Mathilde, du hast Glück, große Schriftsteller zu kennen. Ich würde gern mal so einen kennenlernen. Könntest du ihn mir nicht vorstellen?
– Aber ja, Vater, ich hatte selber daran gedacht.
– Warum wartest du dann, bis ich dich darum bitte?
– Ich wollte es dir heute Abend sagen.
– Na schön, so sei es denn! Schreibe ihm, dass ich unbedingt seine Bekanntschaft machen will. Das ist vollkommen normal. Ein Vater muss wissen, was seine Tochter treibt. Bist du nicht meiner Meinung?
– Doch, Vater, das bin ich.
– Dann schreib ihm. Morgen Nachmittag bin ich verfügbar.
– Gut, Vater.
Madame Vaudier unterließ es, ihrem Mann beizupflichten. Es widerstrebte ihr, dass ein Fremder ihr Haus betrat. Sie hatte ihre Angewohnheiten, und wenn eine davon nicht respektiert wurde, dann war sie genauso verstört, als wenn sie den Zug genommen und den Fuß in ein fremdes Land gesetzt hätte.
Doch um ihren Mann nicht zu verletzen, sagte sie nichts. Sie begnügte sich nach Art einer Schullehrerin damit, die Stirn zu runzeln, um ihre Missbilligung zu zeigen.
– Also abgemacht, Mathilde?
– Ja, Vater.
– Morgen um drei Uhr in meinem Büro.
Mathilde hatte wieder Hoffnung geschöpft. Morgen würde der, den sie liebte, die Partie für sich entscheiden. Sie würde glücklich sein. Ein Lächeln huschte über ihr hübsches Gesicht.
Als Mathilde die Stufen hinaufstieg, um schlafen zu gehen, glühten ihre Wangen. Tausenderlei Gedanken schwirrten ihr im Kopf herum, in einem Maße, dass sie nicht mehr wusste, wie ihr geschah. Sie konnte sich noch so sehr bemühen, ein wenig Ordnung in den Fluss der Gedanken, die ihr Hirn überfluteten, zu bringen; sie konnte noch so sehr versuchen, sie einzudämmen – es gelang ihr nicht. Sie konnte nur noch an den denken, den sie liebte – und an ihre Eltern. Ach, wie sehr sie sich gewünscht hätte, einige Stunden älter zu sein, um zu wissen, was sich als Nächstes ereignen würde! Denn tatsächlich würde es am nächsten Tag zu heiklen Fragen kommen. Was würde Monsieur Vaudier beim Anblick von Max Darnis sagen? Was würde er sagen, und, vor allem, wie würde er entscheiden? Allein bei dem Gedanken, ihr lieber Vater könne seine Zustimmung zurücknehmen, gruselte es Mathilde.
Mit großer Freude schloss sich dieses außergewöhnliche junge Mädchen in seinen Gemächern ein. Es genoss das Glück, allein zu sein, und das köstliche Gefühl, dass die ganze Nacht über niemand es stören konnte. In der Tat ist es ein großes Glück, allein zu sein, wenn einem der Sinn danach steht …
Mathilde Vaudier entkleidete sich rasch und glitt in ihr Bett. Eine von einem rosafarbenen Stoff umhüllte elektrische Glühbirne erhellte das Zimmer nur schwach und verlieh den mit weiblichen Kleidungsteilen bedeckten Möbeln etwas Warmes und Intimes.
Mathilde platzierte ein Kopfkissen hinter ihren Kopf und träumte von der Liebe und den besonderen damit verbundenen Freuden, wobei sie ihre Augen auf einen festen Punkt im Schlafzimmer fixiert hielt.
Alles im Haus war still. Bisweilen konnte man ein fahrendes Auto in der Ferne hören. Doch abgesehen von diesen äußeren Geräuschen, schliefen alle, war es ruhig.
Die Fenster des Schlafzimmers des jungen Mädchens gingen auf den Park, der hinter dem Haus lag.
Mathilde fand keinen Schlaf. Obwohl sie versuchte, an andere Dinge zu denken, gelang es ihr nicht, den Schatten desjenigen, der es verstanden hatte, ihr Herz zu erobern, von ihr fernzuhalten.
Es war ein schöner Frühlingsabend. Am schwarzen Himmel leuchteten zahllose Sterne.
Da sie es nicht mehr aushielt, stieg Mathilde aus ihrem Bett.
Gott, wie schön sie war in ihrem leichten, weiten Schleier, der um ihren feenartigen Körper wallte!
Sie ging das Fenster öffnen und atmete erfreut die Gerüche der Blumen und Knospen ein. Ein lauer Wind drang in das Zimmer und blätterte die Seiten eines aufgeschlagenen Buches um. Tausenderlei leise und mysteriöse Geräusche stiegen vom Garten hinauf.
Dann ging sie wieder ins Bett, im Kopf ein wenig klarer. Sie legte sich unter das Laken und löschte das Licht, um von ihrem Bett aus den sternenübersäten Himmel zu betrachten.
Der Mond erhellte das Zimmer nunmehr mit dieser prallen Helligkeit, die sich wie eine große Wasserfläche überallhin ergießt.
Ohne den Kopf zu bewegen, betrachtete sie den gewaltigen Himmel, und obschon Mathilde von tapferer Natur war, konnte sie nicht anders, als an die Unbedeutsamkeit des Menschen im Anblick des Unendlichen zu denken.
Plötzlich entfuhr ihr ein kleiner Schrei.
Was war passiert? Was hatte das schöne Kind wohl gehört?
Jedenfalls war sie blass wie eine Wöchnerin, und ihre schönen großen Samtaugen schienen sich auf das Fenster gerichtet zu haben.
Ihr entfuhr ein weiterer Schrei. Mathilde hatte ein leises Geräusch vernommen. Vielleicht war es ja nur ein Möbelstück, das knackte, eine sich schließende Tür, ein Ast, der im Garten herabfiel.
Aber Mathilde war nicht beruhigt. Aufsteigende Angst ließ sie nach Luft ringen. Wenn man sie jetzt sah, hätte man an ein armes, von Jägern verfolgtes Reh denken können, das am Ende seiner Kräfte nicht mehr weiterkonnte.
Doch indem sie sich mit höchster Anstrengung steif machte, gelang es ihr, diese Schwäche zu überwinden.
Sie erhob sich, und durch die Helle des Mondes konnte man erkennen, wie sie erst zur Zimmertür und dann zum Fenster ging.
Sie wollte sich gerade vorbeugen, um einen Blick in den Garten zu werfen, als sie zurückschreckte, aufgewühlt von Freude und Angst.
Max Darnis, der Sohn des berühmten Schriftstellers, war soeben über den Stützbalken des Fensters hinweggestiegen und ins Zimmer gesprungen.
Bevor das junge Mädchen noch die Zeit gehabt hätte, eine Bewegung zu machen, umarmte er sie und stotterte:
– Verzeihen Sie, Liebste … ich habe mich wie ein Verrückter verhalten … nie hätte ich das tun dürfen, was ich getan habe. Ich habe mich verhalten wie ein Narr … Aber was soll ich tun? … Ich konnte nicht mehr bleiben, ohne Sie zu sehen. Ich hatte eine Vorahnung … ich fürchtete, etwas Schlimmes sei passiert … ich wollte der Sache auf den Grund gehen … jetzt verlasse ich Sie wieder … ich bin beruhigt … Haben Sie keine Angst, ich wollte Sie nicht entführen.
Die überwältigte Mathilde wusste nicht, was antworten. Ihr Herz war zweigeteilt. Sie wollte sowohl ihre Freude darüber hinausrufen, dass sie den Mann, den sie liebte, wiedersah, als ihn auch rügen, dass er sich die Freiheit genommen hatte, nächtens das Zimmer eines Mädchens zu betreten.
Da sie nicht wusste, wie sie sich entscheiden sollte, beschloss sie, den Mund zu halten und abzuwarten, bis der entflammte Verehrer seinerseits zu einer Entscheidung kam.
Und die ließ nicht auf sich warten.
Tatsächlich hatte der junge Mann das hübsche Kind losgelassen und war bereits zum Fenster gegangen.
– Bis morgen …, sagte er mit einer Stimme, die erzitterte wie der Klagelaut einer Geige.
– Max …, rief Mathilde, die nur auf ihr Herz, ihre Liebe, ihre Leidenschaft hörte … Max, bleiben Sie. Ich muss mit Ihnen reden.
Der junge Mann war überrascht und wandte sich um. Er traute seinen Ohren nicht. Er war davon ausgegangen, dass das junge Mädchen ihn davonjagte wie einen Hund, stattdessen hielt sie ihn zurück, flehte ihn nahezu an.
– Bleiben Sie, Max. Ich muss Ihnen erzählen, was heute passiert hat.
– Es ist etwas passiert?
– Ja.
Der junge Mann erbleichte, doch sein eiserner Wille überwog.
– Mein Vater weiß alles …
– Er weiß?
– Ja.
– Umso besser, Mathilde … Er musste es ja irgendwann erfahren. Das war notwendig. Aber was hat er gesagt?
– Er will Sie sehen.
– Oh, mein Gott, das werde ich nie über mich bringen.
– Doch. Sie müssen, denn von Ihrem Vorgehen hängt unser Glück ab.
– Und wenn er sich weigert?
– Sagen Sie das nicht, Max … Haben Sie Vertrauen. Wenn Sie am Erfolg zweifeln, noch bevor Sie etwas versucht haben, sind wir verloren. Das Leben steht auf dem Spiel. Nur wer wagt, gewinnt. Aber der, der sich nicht traut, sein Glück in die Hände des Zufalls zu legen, und der stattdessen, nachdem er sich eine Stunde lang windet, endlich zu einem Entschluss kommt, der kann nur verlieren.
– Wie gut Sie reden, Mathilde!
– Ich rede, wie es meine Vernunft mir diktiert. Mir scheint, dass ich recht habe. Denn würde ich mich irren, müsste es ja in die Augen springen.
– In der Tat, meine Liebste … Nun denn, ich werde den Mut finden, mit Ihrem Vater zu reden. Ich werde ihm sagen, dass ich seine Tochter liebe und dass ich es zu verstehen weiß, sie glücklich zu machen. Ist es nicht das, was sich Ihr Herr Vater wünscht? Er wird mir Ihre Hand nicht verweigern können …
– Nein, das wird er nicht. Ich will auch nicht, dass er sich weigert. Denn ich glaube, dass es mir unmöglich sein wird, ohne Sie zu leben, mein lieber Max.
Die beiden Liebenden schlossen sich ungestüm in die Arme und küssten sich lange.
Noch immer erhellte der Mond das Schlafzimmer des jungen Mädchens, und es war nun ein fürwahr romantischer Anblick, diese beiden glühend umschlungenen Verliebten zu sehen, derweil hoch oben Myriaden von Sternen mit ihren güldenen Lichtern das Himmelsgewölbe durchdrangen. Man muss Chateaubriand gelesen haben, um die mit Erhabenheit vermengte Schönheit zu begreifen, die von dieser Liebesszene ausging.
– Max …
– Mathilde …
– Liebe ist die größte Kraft des Menschen, sie ist das edelste Gefühl!
– Ja, meine Liebste. Die Liebe ist heilig. Seit Anbeginn der Welt verdankt es sich der Liebe, dass Kinder, von ihren Müttern in den Armen gewiegt, groß werden konnten. Ach, göttliche Liebe, warum bereitest du uns so viele Leiden, wenn du uns gleichzeitig auch so viel Freude machen kannst?
– Max, nicht dass Sie mich langweilten, aber Sie müssen jetzt gehen … Wenn mein Vater uns überraschen würde …
– Das ist wahr, Sie haben recht … ich gehe jetzt … Wenn Sie bloß wüssten, wie schwer es mir fällt, Sie zu verlassen … ich bin so glücklich bei Ihnen … Minuten kommen mir wie Sekunden vor und Stunden wie Minuten, so schnell vergeht die Zeit.
– Kommen Sie, Max, jetzt seien Sie brav.
– Das bin ich doch.
– Nicht ganz.
– Was meinen Sie, geliebter Schatz?
– Ich meine, dass Sie auf der Stelle gehen müssen … man weiß nie, was passieren kann.
– Na gut, dann gehe ich … Bis morgen, meine hübsche »Mama« … Ja, ich will Sie Mama nennen. Diese Vornamen, die man sich gibt, wenn man verliebt ist, sind so reizend … Finden Sie nicht auch?
– Dann nenne ich Sie auch Mama, da Ihr Vorname nun mal Max ist.
– Oh nein … wir würden nicht mehr auseinanderzuhalten sein. Nennen Sie mich Mame, und ich nenne Sie Mama …
– Gut also, Mame.
– Dann also bis morgen, Mama.
– Ja, mein Schatz.
– Und um wie viel Uhr?
– Um drei.
Die beiden Liebenden schmiegten sich fest aneinander und küssten sich inniglich.
– Bis morgen, Mama.
– Bis morgen, Mame.
Und der junge Mann kletterte auf den Fenstersims, stieg die Leiter, die an der Hauswand lehnte, hinunter, versteckte diese dann hinter der Garage und verschwand wieder.
Am nächsten Morgen stand Mathilde zeitig auf. Ihr Gesicht wirkte etwas müde, denn sie hatte schlecht geschlafen, aber ihre leicht verschatteten Augen verliehen ihr, statt sie unattraktiv zu machen, ein Mehr an Charme, ein Mehr an Mysterium.
Tatsächlich war Mathilde erst eingeschlafen, als der Morgen bereits dämmerte. Sie hatte gehört, wie es zwei Uhr schlug, dann drei, dann vier … fünf Uhr.
Die ganze Nacht über hatte sie sich Tausende Pläne vorgelegt, tausenderlei Projekte, und nachdem sie sie für einige Minuten aufgegeben hatte und dann doch wieder zu ihnen zurückgekehrt war, erschienen sie ihr einfach nur lächerlich. Natürlich hatte sie auch an ihren lieben Max Darnis gedacht.
Wie sehr sie es bedauert hatte, ihn so schnell hinausgeworfen zu haben. Warum hatte sie ihm nicht angeraten zu bleiben? Max war doch ein Gentleman. Er wusste sich in Gegenwart einer Frau anständig zu verhalten. Niemals hätte er etwas Ungebührliches gesagt oder getan. Max Darnis war nicht nur Gentleman, sondern auch Edelmann. Da gibt es nämlich einen feinen Unterschied. Eine Frau konnte sich ihm furchtlos anvertrauen, ohne Hintergedanken, ohne Verdächtigungen.
Ja, Mathilde hatte es bedauert, ihn so schnell rausgeworfen zu haben. Beide hätten geredet, und die langen Stunden der Nacht wären ihr kürzer vorgekommen.
Aber bei genauer Überlegung war ihre Handlungsweise die klügere gewesen. Es gibt ein Sprichwort, das lautet: »Man soll nicht mit dem Feuer spielen.«
Jenseits seiner Banalität birgt dieses Sprichwort eine tiefe Wahrheit. Und das junge Mädchen hatte das sehr wohl erkannt.
Mathilde erhob sich mit einem Satz. Jeden Morgen fiel es ihr so schwer, aufzustehen. Sie liebte es, morgens liegen zu bleiben. Die Augen an die Zimmerdecke geheftet, den Körper im Warmen, sann sie dann über das Glück nach, am Leben zu sein. Und wenn sie diesen behaglichen Ort verlassen musste, dann war das für sie wie eine Marter.
Doch an diesem Morgen war sie in einer Weise nervös, dass sie nicht lange zögerte, und sie war in der Befürchtung, im letzten Moment doch wieder schwach zu werden, mit einem einzigen Satz aus dem Bett gehüpft.
Als sie ihre Füße auf den Boden gesetzt hatte, verharrte sie einen Moment lang unentschlossen. Dann nahm sie das Badezimmer ins Visier und steuerte darauf zu.
Einige Minuten später tauchte sie wieder auf, schöner denn je. Ihre Haare und ihre Augenbrauen waren noch feucht. Ihre Lippen waren frisch und zeigten ein deutlicheres Rot als sonst.
Sowie das junge Mädchen seine Toilette beendet hatte, ging es ins Esszimmer hinunter, um zu frühstücken.
Monsieur und Madame Vaudier saßen bereits zu Tisch und warteten noch einige Minuten, bevor sie ihren Milchkaffee tranken, darauf hoffend, ihre Tochter würde nicht auf sich warten lassen.
Als sie ihre Eltern sah, spürte Mathilde so etwas wie Verlegenheit bei dem Gedanken, dass ohne das Wissen derer, die sie aufgezogen hatten, ein junger Mann in der Nacht in ihr Mädchenzimmer gekommen war.
Aber sie begriff auch, dass sie sich keine Blöße geben durfte. Und um so zu tun, als wäre nichts passiert, setzte sie ein Lächeln auf und küsste zuerst ihren Vater, dann ihre Mutter auf die Stirn.
– Hast du gut geschlafen, Mathilde?, erkundigte sich der berühmte Bankier.
– Ja, Vater, danke … und Sie?
– Sehr gut, meine Tochter … Allerdings wurde ich gegen Mitternacht geweckt von einem …
Mathilde erbleichte. Glücklicherweise befand sie sich im Gegenlicht. Niemand bekam davon etwas mit.
– Ja, ich wurde geweckt …
– Sie wurden geweckt, Vater …
– Es schien mir, als ob ich Geräusche gehört hätte, die entweder aus deinem Zimmer oder aus dem deiner Mutter kamen … Ich dachte daran, aufzustehen, aber als ich nichts mehr hörte, glaubte ich, einer Halluzination aufgesessen zu sein.
– Du bist verrückt!, versetzte Madame Vaudier, wobei sie ihren Gatten intensiv ansah.
– Nein, ich bin nicht verrückt … Ich habe sehr wohl Geräusche gehört, aber es kann sein, dass die Geräusche nichts bedeuteten und dass die Nacht sie bloß verstärkt hat und mich hat glauben lassen, dass ein Fremder im Haus war.
– Du bist ja verrückt!, wiederholte Madame Vaudier und schüttelte den Kopf als Zeichen ihres Unglaubens.
Im Gesicht des hübschen Mädchens hatte eine Veränderung stattgefunden. Zunächst blass, war es plötzlich errötet, war so rot wie Klatschmohn.
– Kommt, reden wir nicht mehr davon, fuhr Madame Vaudier fort. Lasst uns frühstücken, das ist besser.
Und die Familie Vaudier vergaß, was der Vater erzählt hatte, und plauderte fröhlich.
Als das Frühstück beendet war, wandte sich Monsieur Vaudier an seine Tochter.
– Also, es ist abgemacht, Mathilde. Um drei Uhr erwarte ich dich und deinen Verlobten, da du ihn nun mal so nennst. Ich warte auf euch. Hast du ihm wenigstens Bescheid gegeben?
– Nein, Vater, aber ich werde ihn sofort anrufen. Er ist morgens immer bei sich zu Hause, denn er schreibt lieber vor dem Mittagessen. Er sagte zu mir, dass er morgens immer einen klareren Kopf habe.
Mademoiselle Vaudier verabschiedete sich von ihren Eltern und stieg in ihre Gemächer hoch, das Herz voller Hoffnung.
Um fünf vor drei führte der Kammerdiener Max Darnis in den großen Salon, wo Mathilde, die großartige Serenade von Toselli auf dem Klavier spielend, schon auf ihn wartete.
Max Darnis trug einen schwarzen, einwandfrei geschnittenen Anzug. Er war aufgeregt, und um sich eine Haltung zu geben, drehte und wendete er ein Paar Handschuhe in seinen Händen.
Als das junge Mädchen seinen Blick hob und den jungen Mann erblickte, dessen Hals in einem viel zu hohen Kragen eingezwängt war, konnte es sich ein Lachen nicht verkneifen.
– Man möchte meinen, Monsieur Max, Sie kommen zu einem Begräbnis.
– Ein guter Eindruck gehört eben dazu.