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«Train Dreams» wurde erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift «The Paris Review»

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg bei Reinbek, April 2019

Copyright © 2004, 2006 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg bei Reinbek

«Train Dreams» Copyright © 2004 by Denis Johnson

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ISBN Printausgabe 978-3-499-23770-6 (1. Auflage 2004)

ISBN E-Book 978-3-644-40017-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40017-7

eins

Drei der Eisenbahner setzten den Banditen fest und zerrten ihn den langen Damm bis zu der im Bau befindlichen Brücke zwanzig Meter über dem Moyea hinauf. Ein endloser, volltönender Singsang entströmte dem Chinesen. Er zappelte und wand sich wie ein Wiesel im Sack und schlug mit der freien Faust rückwärtig nach dem Mann aus, der ihn am Hals hinter sich herschleifte. Als dieser Trupp an Grainier vorbeikam und er sah, dass die Männer in einiger Bedrängnis waren, sprang er ihnen bei und hatte alsbald einen der bloßen Füße des Missetäters in der Hand. Der Mann ihm gegenüber, Mr. Sears von der Geschäftsleitung der Spokane International, hielt den Gefangenen freilich fast wirkungslos unter der Achsel fest und war außer dem Chinesen, den niemand verstand, der Einzige, der während der ärgsten Schinderei etwas sagte: «Hol mich der Teufel, wenn wir je oben auf diesem

Jetzt waren sie auf gleicher Höhe mit den anderen, einer Gruppe von zwölf Männern, die, auf ihre Werkzeuge gestützt, in der Sonne standen und sich den Schweiß abwischten und den Fall beobachteten. Grainier hielt krampfhaft den schwieligen Fuß des Chinesen fest, verwundert über sich selbst, während der Mann, der den anderen Fuß hatte, auf einmal losließ, sich keuchend in den Dreck setzte und einen Tritt ins Auge kassierte, bevor Grainier die wild rudernde Gliedmaße zu fassen bekam. «Es war doch bloß Spaß. Bloß Spaß», sagte der am Boden sitzende Mann, und an seinen Kumpel gewandt: «He, Jel Toomis, geben wir’s auf.» – «Ich kann nicht», erwiderte nämlicher Mr. Toomis, «schließlich bin ich es, der ihn am Hals hat!», und lachte, während ein Ausdruck der Bestürzung über seine Züge huschte. «Also, ich hab ihn!», sagte Grainier und klammerte seine Arme noch fester um beide Füße des kleinen Teufels. «Ich hab den Mistkerl, ich bin euer Mann!»

Das Hinrichtungskommando war jetzt in der Mitte des

***

Nach diesem Zwischenfall ging Grainier nicht direkt nach Hause, sondern machte einen Umweg von zwei Meilen, um im kleinen Laden des Eisenbahnstädtchens Meadow Creek eine Flasche Hood’s Sarsaparille-Extrakt für seine Frau Gladys und für seine kleine Tochter Kate zu kaufen.

Es war später Samstagnachmittag, und zur Vorbereitung auf den Abend planschten ein paar Eisenbahner aus Meadow Creek an dem Badeplatz. Sie gingen in voller Montur ins Wasser und setzten sich dann zum Trocknen auf die Steine, ehe der letzte Rest Tageslicht den Canyon verließ. Schuhe und Stiefel stellten sie beiseite und wateten, johlend und um sich spritzend, langsam bis zu den Schultern in die Flut. Viele der Männer, die nach ihren Waschungen fröstelnd auf den Steinen saßen, tranken Whiskey aus kleinen Flaschen. Hier und da ragten ein Arm und eine Hand mit einem schäbigen Hut aus dem Wasser, wenn einer sich den Kopf nass machte. Grainier sah niemanden, den er kannte. Er blieb für sich und behielt seine Stiefel und die Flasche Sarsaparille im Auge.

Während er durch die Dämmerung nach Hause wanderte, begegnete Grainier dem Chinesen beinahe überall. Chinese auf der Straße. Chinese im Wald. Chinese auf leisen Sohlen, die Arme wie Taue, an denen Hände baumelten. Chinese im Bach, aus dem Wasser hervortänzelnd wie eine Spinne.

***

Er gab Gladys die Flasche Hood’s. Sie hatte einen Katarrh und saß mit dem Baby an der Brust im Bett neben dem

Grainier stand am Tisch in der Einzimmerhütte und machte sich Sorgen. Er war beunruhigt. Der Chinese, da war er ganz sicher, hatte sie mit machtvollen Flüchen belegt, während sie ihn den Damm hinaufzerrten, und alles mögliche Böse konnte dabei herauskommen. Zwar staunte er rückblickend über die Raserei des Nachmittags, wunderte sich über die rohe Gewalt, die ihn mit sich fortgetragen hatte, als wäre er ein Samenkorn im Wind, und doch wünschte der junge Grainier, sie hätten es geschafft, den Chinesen einfach umzubringen, bevor er seine Flüche ausstieß.

Er setzte sich auf die Bettkante.

«Danke, Bob», sagte seine Frau.

«Schmeckt dir deine Sarsaparille?»

«Ja. Danke, Bob.»

«Klar kann sie das.»

***

In vielen Nächten hörten sie den Spokane International, wenn er zwei Meilen talabwärts auf seinem Weg nach Norden durch Meadow Creek fuhr. Auch heute wachte er von dem fernen Pfeifen auf und merkte, dass er allein in ihrem Strohbett lag.

Gladys saß mit Kate auf der Ofenbank, kratzte kalte gekochte Haferflocken von den Topfrändern und ließ das Baby diesen Brei von ihren Fingerkuppen saugen.

«Was glaubst du, Gladys, wie viel weiß sie wohl? Glaubst du, sie weiß so viel wie ein Hundewelpe?»

«Ein Hundewelpe kommt allein zurecht, sobald die Hündin ihn nicht mehr säugt», sagte Gladys.

Er wartete, dass sie ihm erklären würde, was das bedeutete. Sie dachte oft schneller als er.

«Ein Menschenkind nicht», sagte sie. «Es kann nicht einfach losgehen und für sich sorgen, wenn es abgestillt ist. Ein kleiner Hund weiß mehr als ein Baby, bis das Baby Wörter lernt. Aber nicht nur zwei, drei. Ein Hund, der bei Menschen aufwächst, kennt ja auch ein paar Wörter – genauso viele wie ein Baby.»

«Wie viele denn, Gladys?»

«Du weißt schon», sagte sie, «die Wörter für seine Kunststücke und die Sachen, die man ihm befiehlt.»

«Na ja, so was wie bring und komm her und sitz und Platz und bei Fuß. Für alles, was er kann, kennt er auch die Wörter.»

In der Dunkelheit spürte er die Augen seiner Tochter auf sich gerichtet wie die eines in die Enge getriebenen Tiers. Es waren bloß seine Gedanken, die ihm einen Streich spielten, und doch fuhr ihm etwas Kaltes das Rückgrat hinunter. Er zitterte und zog sich die Steppdecke bis unters Kinn.

Sein ganzes Leben lang konnte Robert Grainier sich an diesen einen Augenblick in dieser einen Nacht erinnern.

zwei

***

Als die Reparaturen fertig waren, zog Grainier mit der Simpson-Gesellschaft tiefer in den Wald hinein, um beim Holzschlagen zu helfen. Ein System kurzer Knüppeldämme durchzog die gesamte Gegend. Sie dienten zu nichts anderem, als Stämme aus dem Wald zu schaffen; Aufgabe der gut vierzig Mann, denen Grainier sich angeschlossen hatte, war es, die Baumriesen mit Hilfe von je sechs Pferden in Drahtseilreichweite der Polter zu befördern.

An der Polter kauerte eine gigantische Maschine, die der

Inzwischen hatte Robert Grainier seinen fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Er vermisste Gladys und Kate, sein Mädelchen und sein kleines Mädelchen, doch er war zweiunddreißig Jahre lang Junggeselle gewesen, ehe er eine Frau gefunden hatte, und darum gewöhnte er sich leicht wieder an eine Einsamkeit, die ihm Halt gab, hier draußen zwischen den ungezählten Fichten.

Grainier selbst arbeitete als Verlader – nicht an dem Polter, sondern unten im Wald, wo je zwei Säger die Fichten fällten, Entaster sie mit ihren Äxten säuberten und Holzhauer sie in sechs Meter lange Schäfte zerlegten, bevor die Verlader sie mit Drahtschlingen versahen, damit sie von