«Train Dreams» wurde erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift «The Paris Review»
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg bei Reinbek, April 2019
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ISBN Printausgabe 978-3-499-23770-6 (1. Auflage 2004)
ISBN E-Book 978-3-644-40017-7
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-40017-7
Im Sommer 1917 beteiligte sich Robert Grainier an dem Versuch, einen chinesischen Arbeiter ums Leben zu bringen, der in den Lagern der Spokane International Railway im Idaho Panhandle beim Diebstahl erwischt worden war oder jedenfalls des Diebstahls bezichtigt wurde.
Drei der Eisenbahner setzten den Banditen fest und zerrten ihn den langen Damm bis zu der im Bau befindlichen Brücke zwanzig Meter über dem Moyea hinauf. Ein endloser, volltönender Singsang entströmte dem Chinesen. Er zappelte und wand sich wie ein Wiesel im Sack und schlug mit der freien Faust rückwärtig nach dem Mann aus, der ihn am Hals hinter sich herschleifte. Als dieser Trupp an Grainier vorbeikam und er sah, dass die Männer in einiger Bedrängnis waren, sprang er ihnen bei und hatte alsbald einen der bloßen Füße des Missetäters in der Hand. Der Mann ihm gegenüber, Mr. Sears von der Geschäftsleitung der Spokane International, hielt den Gefangenen freilich fast wirkungslos unter der Achsel fest und war außer dem Chinesen, den niemand verstand, der Einzige, der während der ärgsten Schinderei etwas sagte: «Hol mich der Teufel, wenn wir je oben auf diesem Haufen ankommen, Jungs!» Heißt das, wir schleppen ihn ganz da hoch?, hätte Grainier gerne gefragt, doch es schien ihm besser, seinen Atem für den Kraftakt zu sparen. Sears lachte kurz auf, das Gesicht bleich vor Erschöpfung und Entsetzen. Sie fielen allesamt in den Staub, kamen hoch und fielen wieder, während der Chinese in Zungen redete und die vier dermaßen in Angst und Schrecken versetzte, dass er nun, was immer sie ursprünglich vorgehabt haben mochten, ein toter Mann war. Es blieb nichts mehr, als ihn von der Eisenbahnbrücke zu werfen.
Jetzt waren sie auf gleicher Höhe mit den anderen, einer Gruppe von zwölf Männern, die, auf ihre Werkzeuge gestützt, in der Sonne standen und sich den Schweiß abwischten und den Fall beobachteten. Grainier hielt krampfhaft den schwieligen Fuß des Chinesen fest, verwundert über sich selbst, während der Mann, der den anderen Fuß hatte, auf einmal losließ, sich keuchend in den Dreck setzte und einen Tritt ins Auge kassierte, bevor Grainier die wild rudernde Gliedmaße zu fassen bekam. «Es war doch bloß Spaß. Bloß Spaß», sagte der am Boden sitzende Mann, und an seinen Kumpel gewandt: «He, Jel Toomis, geben wir’s auf.» – «Ich kann nicht», erwiderte nämlicher Mr. Toomis, «schließlich bin ich es, der ihn am Hals hat!», und lachte, während ein Ausdruck der Bestürzung über seine Züge huschte. «Also, ich hab ihn!», sagte Grainier und klammerte seine Arme noch fester um beide Füße des kleinen Teufels. «Ich hab den Mistkerl, ich bin euer Mann!»
Das Hinrichtungskommando war jetzt in der Mitte des letzten fertig gestellten Brückenabschnitts angelangt, gut zwanzig Meter über den Stromschnellen, und die Männer gaben sich alle Mühe, den Chinesen hinunterzustoßen. Doch der überlistete sie, indem er sich unter ständigem Gejammer an ihre Arme und Beine krallte und urplötzlich losließ, um mit einer Hand den Balken unter sich zu packen. Er kam leicht von ihnen frei, weil sie ihn ohnehin loswerden wollten, schwang sich seitlich hinunter, bis er über der Schlucht hing, und hangelte sich am Skelett des nächsten Brückenabschnitts über den Fluss. Jetzt eilte der Kumpan von Mr. Toomis herbei und trat, auf einem Balken balancierend, nach den Fingern des Kerls. Der ließ sich wie ein Zirkusartist von Balken zu Balken der kreuzlagigen Konstruktion abwärts fallen. Einige der Arbeiter johlten und applaudierten ihm, während andere riefen, man solle den Bösewicht halten, auch wenn sie nicht genau wussten, weswegen er gejagt wurde. Mr. Sears zog einen großen alten Schwarzpulver-Revolver aus dem Halfter an seinem Gürtel und gab alle vier Schuss ab, doch vergebens. Der Chinese war verschwunden.
Nach diesem Zwischenfall ging Grainier nicht direkt nach Hause, sondern machte einen Umweg von zwei Meilen, um im kleinen Laden des Eisenbahnstädtchens Meadow Creek eine Flasche Hood’s Sarsaparille-Extrakt für seine Frau Gladys und für seine kleine Tochter Kate zu kaufen. Es war heiß, als er durch den Wald und den Hügel hinauf lief, und bevor er sich die letzte Meile vornahm, machte er Halt, um im Moyea, an einer tiefen Stelle etwas stromaufwärts des Ortes, zu baden.
Es war später Samstagnachmittag, und zur Vorbereitung auf den Abend planschten ein paar Eisenbahner aus Meadow Creek an dem Badeplatz. Sie gingen in voller Montur ins Wasser und setzten sich dann zum Trocknen auf die Steine, ehe der letzte Rest Tageslicht den Canyon verließ. Schuhe und Stiefel stellten sie beiseite und wateten, johlend und um sich spritzend, langsam bis zu den Schultern in die Flut. Viele der Männer, die nach ihren Waschungen fröstelnd auf den Steinen saßen, tranken Whiskey aus kleinen Flaschen. Hier und da ragten ein Arm und eine Hand mit einem schäbigen Hut aus dem Wasser, wenn einer sich den Kopf nass machte. Grainier sah niemanden, den er kannte. Er blieb für sich und behielt seine Stiefel und die Flasche Sarsaparille im Auge.
Während er durch die Dämmerung nach Hause wanderte, begegnete Grainier dem Chinesen beinahe überall. Chinese auf der Straße. Chinese im Wald. Chinese auf leisen Sohlen, die Arme wie Taue, an denen Hände baumelten. Chinese im Bach, aus dem Wasser hervortänzelnd wie eine Spinne.
Er gab Gladys die Flasche Hood’s. Sie hatte einen Katarrh und saß mit dem Baby an der Brust im Bett neben dem Holzofen. Sie hätte ohne weiteres aufstehen und die Wäsche waschen und Kartoffeln und Forelle für das Abendessen klein schneiden können, aber sie hielten es lieber so, dass sie mit einer Flasche oder zwei des süß schmeckenden Hood’s-Tonikums im Bett liegen bleiben und sich von derartigen Arbeiten ausruhen durfte, wenn ihr der Kopf wehtat und der Schnupfen sie quälte. Auch Grainiers kleine Tochter sah verschnupft aus. Ihre Augen waren ein bisschen verkrustet, und Schleimbläschen blubberten unter ihren Nasenlöchern, während sie an der Brust ihrer Mutter saugte und schnaubte. Kate war vier Monate alt und immer noch ganz kahl. Sie schien ihn nicht zu erkennen. Das bisschen Geschniefe würde ihr nicht schaden, solange sie keinen Husten bekam.
Grainier stand am Tisch in der Einzimmerhütte und machte sich Sorgen. Er war beunruhigt. Der Chinese, da war er ganz sicher, hatte sie mit machtvollen Flüchen belegt, während sie ihn den Damm hinaufzerrten, und alles mögliche Böse konnte dabei herauskommen. Zwar staunte er rückblickend über die Raserei des Nachmittags, wunderte sich über die rohe Gewalt, die ihn mit sich fortgetragen hatte, als wäre er ein Samenkorn im Wind, und doch wünschte der junge Grainier, sie hätten es geschafft, den Chinesen einfach umzubringen, bevor er seine Flüche ausstieß.
Er setzte sich auf die Bettkante.
«Danke, Bob», sagte seine Frau.
«Schmeckt dir deine Sarsaparille?»
«Ja. Danke, Bob.»
«Glaubst du, Katie kann sie rausschmecken, wenn sie bei dir trinkt?»
«Klar kann sie das.»
In vielen Nächten hörten sie den Spokane International, wenn er zwei Meilen talabwärts auf seinem Weg nach Norden durch Meadow Creek fuhr. Auch heute wachte er von dem fernen Pfeifen auf und merkte, dass er allein in ihrem Strohbett lag.
Gladys saß mit Kate auf der Ofenbank, kratzte kalte gekochte Haferflocken von den Topfrändern und ließ das Baby diesen Brei von ihren Fingerkuppen saugen.
«Was glaubst du, Gladys, wie viel weiß sie wohl? Glaubst du, sie weiß so viel wie ein Hundewelpe?»
«Ein Hundewelpe kommt allein zurecht, sobald die Hündin ihn nicht mehr säugt», sagte Gladys.
Er wartete, dass sie ihm erklären würde, was das bedeutete. Sie dachte oft schneller als er.
«Ein Menschenkind nicht», sagte sie. «Es kann nicht einfach losgehen und für sich sorgen, wenn es abgestillt ist. Ein kleiner Hund weiß mehr als ein Baby, bis das Baby Wörter lernt. Aber nicht nur zwei, drei. Ein Hund, der bei Menschen aufwächst, kennt ja auch ein paar Wörter – genauso viele wie ein Baby.»
«Wie viele denn, Gladys?»
«Du weißt schon», sagte sie, «die Wörter für seine Kunststücke und die Sachen, die man ihm befiehlt.»
«Sag mir ein paar von den Wörtern, Glad.» Es war dunkel, und er wollte ihre Stimme hören.
«Na ja, so was wie bring und komm her und sitz und Platz und bei Fuß. Für alles, was er kann, kennt er auch die Wörter.»
In der Dunkelheit spürte er die Augen seiner Tochter auf sich gerichtet wie die eines in die Enge getriebenen Tiers. Es waren bloß seine Gedanken, die ihm einen Streich spielten, und doch fuhr ihm etwas Kaltes das Rückgrat hinunter. Er zitterte und zog sich die Steppdecke bis unters Kinn.
Sein ganzes Leben lang konnte Robert Grainier sich an diesen einen Augenblick in dieser einen Nacht erinnern.
Einundvierzig Tage später sahen Grainier und die anderen Männer seines Trupps dabei zu, wie die erste Eisenbahn den vierzig Meter breiten und zwanzig Meter tiefen Luftraum auf der von ihnen gebauten Brücke überquerte. Mr. Sears stand neben dem Zug, einer einzelnen Lok, hob seinen Vierschussrevolver und gab das Startsignal. Daraufhin löste der Lokführer die Bremse und sprang von der Maschine, und die Männer feuerten sie an, während sie gemächlich über den Moyea hinweg auf die andere Seite zuckelte, wo ein zweiter Mann wartete, um an Bord zu springen und sie zum Stehen zu bringen, bevor sie entgleiste. Die Männer johlten und grölten. Grainier war traurig zumute. Er konnte sich nicht erklären, warum. Er johlte und brüllte mit. Das Bauwerk sollte «Elf-Meilen-Abkürzungs-Brücke» heißen, weil es die weite Fahrt im Bogen um die Schlucht herum und über einen angrenzenden Pass überflüssig machte und der Spokane International die Wartung von elf Meilen Schienen und Schwellen ersparte.
Was Grainier beim Bau der Elf-Meilen-Abkürzung erlebt hatte, weckte in ihm das Verlangen, bei anderen, ähnlich gewaltigen Unternehmungen dabei zu sein, wo Scharen von Männern ganze Waldstücke rodeten und Gebilde von ungekannten Ausmaßen zusammenmontierten, um gewaltige hölzerne Gerüste in die Luft unpassierbarer Abgründe hineinzuwirken, immer größer und länger und tiefer. 1920 zog er hinauf in den Nordwesten Washingtons, um bei Reparaturen an der Brücke über die Robinson-Schlucht, dem bis dahin großartigsten von allen Bauwerken dieser Art, zu helfen. Den Architekten war es gelungen, einen fünfundsechzig Meter tiefen und zweihundertsechzig Meter breiten Raum mit einer Eisenbahntrasse zu überbrücken, die eine Lokomotive und zwei mit Baumstämmen voll beladene Güterwagen zu tragen vermochte. Jetzt war die Robinson-Brücke an die dreißig Jahre alt, wacklig und besorgniserregend – niemand, nicht einmal der Lokführer, fuhr den Zug jemals selbst hinüber. Der Bremser fing die Bahn auf der anderen Seite ab.
Als die Reparaturen fertig waren, zog Grainier mit der Simpson-Gesellschaft tiefer in den Wald hinein, um beim Holzschlagen zu helfen. Ein System kurzer Knüppeldämme durchzog die gesamte Gegend. Sie dienten zu nichts anderem, als Stämme aus dem Wald zu schaffen; Aufgabe der gut vierzig Mann, denen Grainier sich angeschlossen hatte, war es, die Baumriesen mit Hilfe von je sechs Pferden in Drahtseilreichweite der Polter zu befördern.
An der Polter kauerte eine gigantische Maschine, die der Vorarbeiter als Esel bezeichnete, ein Koloss mit zwei gewaltigen Eisentrommeln. Eine davon fierte Drahtseil aus, und die andere wickelte Drahtseil auf, sodass die Stämme zur Polter gezogen wurden, während gleichzeitig die Eisenhaken zum Verlader wanderten, der sie im richtigen Moment in die Drahtschlinge am nächsten Stamm einhakte. Die Maschine war ein altes, holzbefeuertes Ungetüm, das bebte und dröhnte und ächzte und dessen unentwegt entweichende Dämpfe wie ein Wasserfall röhrten, während die Pferde drüben auf dem Knüppeldamm gewissermaßen geräuschlos mächtige Bewegungen vollführten, weil der Tumult aus Dampf und Maschinenlärm alles andere übertönte. An dem Polter kam das Holz auf Güterwaggons und gelangte dann über die wundersame, leere Tiefe der Robinson-Schlucht hinweg und den Berg hinab zu jener Trasse, die verbunden war mit sämtlichen Bahnlinien des amerikanischen Kontinents.
Inzwischen hatte Robert Grainier seinen fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Er vermisste Gladys und Kate, sein Mädelchen und sein kleines Mädelchen, doch er war zweiunddreißig Jahre lang Junggeselle gewesen, ehe er eine Frau gefunden hatte, und darum gewöhnte er sich leicht wieder an eine Einsamkeit, die ihm Halt gab, hier draußen zwischen den ungezählten Fichten.
Grainier selbst arbeitete als Verlader – nicht an dem Polter, sondern unten im Wald, wo je zwei Säger die Fichten fällten, Entaster sie mit ihren Äxten säuberten und Holzhauer sie in sechs Meter lange Schäfte zerlegten, bevor die Verlader sie mit Drahtschlingen versahen, damit sie von