Ashes & Embers 1
TO LOVE STORM
Ashes & Embers 1
Carian Cole
© 2019 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt
© Übersetzung Martina Campbell
© Covergestaltung Andrea Gunschera
© Originalausgabe 2014 Carian Cole
ISBN Taschenbuch: 9783864438486
ISBN eBook-mobi: 9783864438493
ISBN eBook-epub: 9783864438509
www.sieben-verlag.de
Für meine Mama, die mir beibrachte, meine Träume zu leben,
meinem Herzen zu folgen und an mich zu glauben. Ich vermisse dich
jeden Tag.
Für meinen Mann Eddie, der mich bedingungslos liebt, seit wir uns
kennen meine verrückten Ideen unterstützt, meinem unermüdlichen
Geplapper lauscht und meine Muse ist. Ich werde dich für immer
von ganzem Herzen lieben.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Die Autorin
Manchmal, wenn ich allein fahre, falle ich in eine Art Straßenkoma und stelle plötzlich fest, dass ich mich an die letzten zwanzig Kilometer überhaupt nicht erinnere. Kein verdammtes bisschen. Nicht an die Straße, Stoppschilder, oder die Lieder im Radio. Da ist nur eine komplette Leere. Dann ergreift mich kurz die Panik, ob ich vielleicht jemanden überfahren habe, ohne es zu merken.
Doch dann wäre ich sicherlich durch das Gerüttel zu mir gekommen. Oder?
Ich blinzele und umklammere das Lenkrad, als mir schlagartig bewusst wird, dass ich mich auf einer schmalen, gewundenen Bergstraße befinde, auf der Schnee liegt. Als ich vor einer Stunde zu Hause weggefahren bin, fiel kaum etwas vom Himmel.
Ich werfe einen Blick auf das Navi, das schon ewig kein Wort mehr gesagt hat. Der kleine blaue Pfeil zeigt ins Nichts, denn dort ist nichts weiter als Bäume und Schnee. Jede Menge Schnee. Mir fällt auf, dass ich in der Abenddämmerung ohne Licht fahre. Ich schalte es ein und im Scheinwerferlicht erscheint das Schneetreiben noch dichter. Ich schlucke schwer und überlege, ob das Navi nicht doch gesprochen hat und ich es in meinem Straßenkoma nur nicht gehört habe. Als ich losfuhr, hatte mir Michael versichert, dass ich mich mit dem kleinen elektronischen Gerät auf keinen Fall verfahren kann, was ich allerdings momentan bezweifele.
Ich greife nach dem Handy, um ihn anzurufen und ihm zu sagen, dass ich mich sehr wohl und sogar ziemlich gründlich verfahren habe, aber der Empfang ist zu schlecht. Seufzend werfe ich es auf den Sitz neben mir, von wo es abprallt und im Beifahrerfußraum landet. Ich beuge mich hinüber, um es aufzuheben, verreiße leicht das Steuer und der Wagen kommt ins Rutschen. Ungeschickt, wie ich nun mal bin, reiße ich das Steuer herum und trete auf die Bremse, woraufhin sich der Wagen um sich selbst dreht. Es schneit wie verrückt und ich sehe nur noch herumwirbelnde Flocken, während ich versuche, das Auto unter Kontrolle zu bekommen. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich noch auf meiner Spur bin oder mich in die richtige Richtung bewege. Das Auto und ich sind wie eine Feder im Wind, wir werden mal hier hin, mal dort hin getragen, drehen uns um uns selbst, bis ein Graben uns aufhält.
Ich stoße mir die Stirn am Lenkrad an und zwinge mich, die Augen zu öffnen und mich umzusehen. Nein, kein Unfall. Nicht wirklich. Nur ein ziemlich unspektakulärer Stopp nach all den Umdrehungen. Das Auto steht mit der Nase voran im Graben. Obwohl ich froh bin, dass der Wagen kein Totalschaden ist und mein Kopf nicht in der Windschutzscheibe steckt, steckt zumindest der Wagen mit durchdrehenden Reifen fest. Ich gebe auf und stelle den Motor ab, weil ich nicht weiß, ob er nicht etwas abbekommen hat und besser nicht weiterlaufen sollte. Im Fernsehen explodieren Autos ständig, wenn sie in den Graben fahren.
Ich greife wieder nach dem Handy und bete um Empfang, aber da ist keiner. Null Balken. Ich versuche, mich zu erinnern, ob ich an Häusern oder Tankstellen vorbeigekommen bin in meinem Koma, aber ich weiß nicht mehr, wann ich die letzten Zeichen von Zivilisation gesehen habe, was die Befürchtung verstärkt, dass ich mich kein bisschen in der Nähe des schicken Hotels befinde, in dem das Marketing-Seminar dieses Wochenende stattfindet.
Ich habe mich verirrt und sitze fest.
Mein Herz beginnt, zu rasen.
Ich stecke fest und habe keine Balken.
Okay, Evelyn, ganz ruhig bleiben. Tief durchatmen. Jetzt ist kein guter Zeitpunkt für eine Panikattacke. Reiß dich zusammen!
Ich erschrecke mich zu Tode, als jemand an mein Fenster klopft. Daher zucke ich zusammen und schreie auf.
„Hey, alles in Ordnung?“
Ein Yeti-Monster mit schwarzem Cowboyhut und schwarzem Mantel, die Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt und eine Kippe zwischen den Lippen, will in mein Auto einbrechen.
Oh mein Gott! Ein psychotischer Kidnapper-Mörder im Schneesturm!
„Hallo?“, ruft er, öffnet meine Tür und Schnee rieselt mir auf den Schoß.
Ich weiche vor ihm zurück, ramme gegen die Mittelkonsole neben mir. Was macht der Kerl hier draußen und warum will er in mein Auto? Ich betrachte ihn zögerlich und sehe, dass er ein Piercing in einer Augenbraue hat. Was bringt Leute dazu, sich seltsame Metallobjekte ins Gesicht zu rammen?
„Fassen Sie mich nicht an!“, kreische ich, als er die Hand in den Wagen streckt. Ich wünschte, ich hätte eine Knarre. Oder ein Messer. Aber ich habe nur eine Packung orange Tic-Tacs, und obwohl mir einmal eins im Hals stecken geblieben ist, glaube ich nicht, dass ich sie momentan als Waffe einsetzen kann.
„Okay, Lady, beruhigen Sie sich. Haben Sie sich den Kopf gestoßen?“
Lady? Wen nennt er hier eine Lady? Er wirkt nur wenig älter als ich, ist vielleicht Anfang dreißig. Ich dachte immer, Männer nennen nur ältere Frauen Lady.
„Nein, ich hab mir nicht den Kopf gestoßen.“ Oder? Ich betaste meinen Schädel. An einer Stelle tut es ein bisschen weh und fühlt sich nass an. Ich betrachte meine Finger. Blut! „Oh mein Gott! Ich hab mir den Schädel eingeschlagen!“
„Nein, haben Sie nicht. Es ist nur eine kleine Beule.“
„Es blutet!“ Ich wühle in meiner Handtasche und finde ein gebrauchtes Taschentuch, das ich mir auf die Wunde drücke. Es wird nur leicht blutig, aber trotzdem. Der Yeti sieht mir amüsiert grinsend zu, streckt dann eine Hand aus und schiebt mir Haare aus der Stirn.
„Das ist nicht schlimm“, sagt er. „Echt nur eine kleine Beule.“
Ich weiche zurück. „Bitte fassen Sie mich nicht an und nehmen Sie den Kopf aus meinem Auto.“
Er lacht, ignoriert meine Anweisung, kniet neben dem Wagen, lehnt den Arm auf meine Tür, so als führten wir ein nettes Gespräch, statt im Graben zu hängen, während ein Schneesturm um uns tobt. Ich bin ziemlich sicher, dass der Kerl irre ist.
„Also, was machen Sie hier draußen eigentlich?“, fragt er ganz nebenbei.
„Der Wagen sitzt fest“, antworte ich und schniefe. Von der kalten Luft läuft mir die Nase.
„Ja, äh, das sehe ich. Ich meinte, wohin wollten Sie, bevor Sie im Graben gelandet sind?“
„Zum Falls Inn.“
„Zum Falls Inn?“, wiederholt er erstaunt und lacht erneut. „Süße, Sie sind nicht einmal in der Nähe davon. Das sind noch fünfzig Meilen. Ich nehme an, wenn Ihr Wagen noch fünfzig Meilen durch den Wald geschafft hätte, wären Sie irgendwann ans Ziel gekommen. Hatten Sie das vor?“
Verdammtes Navi! Ich hätte mich nie auf das Ding verlassen sollen. Meine Lage wird von Minute zu Minute beschissener. Wo zum Geier bin ich, und wie komme ich zum Seminar? Oder nach Hause. Ich kann nicht einmal meinen Boss anrufen, um zu sagen, dass ich mich verspäte, oder Michael, dass er mich abholen soll.
„… das ist nur ein paar Meilen die Straße entlang.“
Oh. Der Yeti hat weitergesprochen, während ich eine stumme Unterhaltung mit mir selbst geführt habe. „Entschuldigen Sie, was haben Sie gesagt?“
Schnee sammelt sich auf der Krempe seines Hutes. Mindestens ein Zentimeter. Das kann kein gutes Omen sein.
„Ich sagte, ich hab eine Hütte ein paar Meilen von hier. Wir können dort hingehen und den Sturm abwarten. Mein Wagen steht auf der Straße. Ich hab angehalten, als ich gesehen hab, wie Ihr Wagen gerutscht ist. Fast wären Sie in mich reingekracht.“
Oh verdammt, nein! Die alte Hütte-in-der-Wildnis-Geschichte. Ich frage mich, wie viele Geistesgestörte diese Ausrede schon benutzt haben. Das ist die Grundlage vieler Horrorfilme und Romane.
Ich schüttele den Kopf. „Eher nicht, aber danke für das Angebot.“ Ja, sei freundlich, dann geht er vielleicht, ohne dich zu ermorden und deine blutigen und vergewaltigten Überreste im Schnee auf diesem Berg zu hinterlassen.
„Also, ich kann Sie aber auch nicht einfach hierlassen. Der Sturm soll das ganze Wochenende anhalten. Mein Handy geht hier nicht, und ich nehme an, Ihres auch nicht, sonst hätten Sie es schon benutzt. Es wird ein Meter Neuschnee oder mehr erwartet. Sie könnten hier draußen erfrieren oder verhungern. Ich hab nicht vor, Ihnen etwas zu tun.“
„Ach so, mordende Psychopathen geben ihren Opfern neuerdings ihre Absichten vorher bekannt?“ Ich ahme mit der Stimme einen Irren nach. „Entschuldigen Sie, Miss, aber ich gebe Ihnen hiermit bekannt, dass ich Sie jetzt töten werde. Bitte bleiben Sie im Auto, bis wir den Tatort erreicht haben.“
Er lacht laut auf und seufzt dann. „Sie sind süß. Aber ich bin kein Psychopath. Ich bin nur der Typ, der zufällig hinter Ihnen war, als Sie die Kontrolle über Ihren Wagen verloren haben. Und ich möchte erwähnen, dass Sie froh sein sollten, dass ich hier bin. Diese Straße ist nicht sehr befahren.“
Na toll! Eine Nebenstraße auf dem Land, die kein Mensch benutzt. Der Tatort könnte wohl kaum praktischer sein. Ich bleibe standhaft und denke an den Rat, den wir alle schon als Kinder bekommen haben. Steig niemals zu einem Fremden ins Auto.
„Ich gehe nirgends mit Ihnen hin. Sie können ruhig von meiner Tür verschwinden und zu Ihrer Hütte fahren. Aber danke für das Angebot.“
Er zündet sich eine neue Zigarette an, macht ein paar Züge und antwortet dann. „Hören Sie, ich lasse Sie auf keinen Fall hier. Ich weiß nicht, ob es wegen dem Schlag auf Ihren Kopf ist, oder Sie einfach geistig nicht ganz auf der Höhe sind, oder sonst was. Aber ich lasse Sie mit Sicherheit nicht in einem Schneesturm hier, egal, wie nervtötend Sie sind. Also hören Sie auf, unvernünftig zu sein. Ein Freund von mir hat eine Autowerkstatt in der Stadt. Von der Hütte aus rufe ich ihn an. Er wird Ihren Wagen nach dem Sturm abschleppen.“
Ich weiß, dass der Yeti recht hat. Ich kann nicht einfach im Wagen bleiben und darauf warten, dass irgendjemand mich findet, oder auf dem Handy magischerweise Balken erscheinen. Ich kann entweder hierbleiben und erfrieren, oder mit ihm gehen und hoffen, dass er kein irrer Killer ist.
„Okay“, murmele ich und gebe mich geschlagen.
Er erhebt sich, wischt den Schnee von sich und schüttelt den Kopf, verteilt dabei überall Schneeflocken, nimmt die Sonnenbrille ab und entfernt den Schnee von den Gläsern. „Dann los.“
Ich blinzele ihn an und glaube, dass ich vielleicht halluziniere. Unter seinen unglaublichen grünen Smaragdaugen trägt er schwarzen Kajal.
Echt jetzt? Eyeliner?
„Entschuldigen Sie“, sage ich und verenge die Augen. „Tragen Sie etwa Eyeliner?“
Er rollt mit den Augen und zuckt mit den Schultern. „Das ist doch jetzt egal. Wir müssen los.“ Er setzt die Brille wieder auf.
Ich kann es nicht einfach so fallen lassen. „Sind Sie so eine Art Transvestit oder so?“
„Verfickt noch mal, nein.“
„Warum tragen Sie dann Eyeliner?“ Und das auch noch sehr gut, muss ich zugeben. So gut wie er habe ich den Smoky-Effekt noch nie hinbekommen.
„Das gehört zu meinem Image. Können wir über diesen Kram später reden? Wir befinden uns mitten in einem verdammten Blizzard. Kein guter Zeitpunkt, um über Make-up zu plaudern.“
Wahrscheinlich gehört das zu seinem seltsamen Goth-Look, den ich bisher nur im Fernsehen in Musikvideos und Vampirfilmen gesehen habe. Vielleicht ist er ein Fan von Twilight? Guter Gott, hoffentlich nicht. Ich kann keine glitzernden Vampire mehr ertragen. Meine beste Freundin in ein riesiger Twilight-Fan und will diese Filme bei jedem Weiberabend ansehen.
Er hält mir die Hand hin, um mir aus dem Wagen zu helfen. Eine freundliche Geste, die nicht so recht zu seiner Erscheinung passen will.
„Ich kann im Schnee nicht laufen“, sage ich kleinlaut.
„Hä? Wieso nicht?“
„Wegen der Pumps.“
„Pumps? Wer zur Hölle trägt die bei so einem Wetter?“ Ratlos wirft er die Hände in die Höhe. „Ich hasse mein Leben!“, ruft er in den Schneehimmel. „Dabei wollte ich doch nur ein langweiliges Wochenende genießen. Allein.“
„Als ich losgefahren bin, hat es kaum geschneit, okay? Himmel, was wissen Sie schon über Mode?“ Ich nicke zu ihm hinüber und betrachte die ausgewaschene, zerrissene Jeans und seine Arbeitsboots, was natürlich alles viel besser ist als mein Büro-Anzug und die Pumps.
„Dann muss ich Sie wohl auch noch zu meinem Wagen tragen.“
„Mich tragen? Auf keinen Fall. Sie werden mich nicht anfassen.“ Ich überkreuze die Arme vor der Brust. Sicherlich sehe ich aus wie ein schmollendes Kind, aber es ist mir egal.
Er seufzt, bückt sich ins Auto und ehe ich protestieren kann, hebt er mich mühelos auf seine Arme.
„Schluss jetzt mit dem Mist.“
Er tritt die Tür zu und stapft mit mir den verschneiten Graben hoch. Ich habe keine Wahl und schlinge die Arme um ihn. Sogar durch seinen Mantel spüre ich seine muskulösen Schultern und Arme. Er ist ein massiver Kerl und geschätzte zwei Meter groß.
„Bitte lassen Sie mich nicht fallen“, sage ich, klammere mich an ihm fest, möglichst ohne ihn dabei anzufassen.
„Machen Sie Witze? Sie wiegen fast nichts. Essen Sie nie etwas?“
„Doch, ich esse. Aber Sie fühlen sich sehr groß an.“ Sofort möchte ich meine Worte zurücknehmen, als mir auffällt, wie das klingen muss. „Ich meine … ich fühle die Muskeln in Ihren Schultern und am Rücken.“ Hitze steigt mir in die Wangen und ich wünschte, das Universum würde mich verschlucken.
Er lacht lauthals. „Wenn Sie so weitermachen, lass ich Sie wirklich noch fallen.“
„Ich glaube, das wäre mir sogar egal. Ich will nur, dass das hier vorbei ist.“
Endlich erreichen wir die Straße und er stapft hinüber zu seinem großen, schwarzen Pick-up, der bereits von ein paar Zentimetern Schnee bedeckt ist. Die Schneefallrate ist alarmierend, selbst für mich aus New Hampshire. Als wir nahe genug sind, greife ich nach der Beifahrertür.
„Oh mein Gott!“, kreische ich. „Ein Wolf ist in Ihren Wagen eingedrungen!“ Ich wende mich von dem enormen Biest ab und verstecke mein Gesicht an seinem Hals.
„Um Himmels willen, beruhigen Sie sich! Das ist nur mein Hund. Sind sie immer so irre?“
„Er ist riesig!“, kreische ich und versuche, das enorme, haarige Ding nicht anzusehen, das uns entgegen hechelt.
Eyeliner-Yeti will mich in den Wagen setzen, aber ich schreie noch mehr und strampele mit den Beinen. „Sind Sie sicher, der beißt nicht? Er sieht mich an, als wäre ich sein Mittagessen.“
Der Mann knirscht mit den Zähnen und beginnt, zu brüllen. „Niko! Ab nach hinten!“ Der Hund beklagt sich leise jaulend. „Nach hinten! Sofort!“ Der Wolfshund gehorcht und springt auf den Rücksitz.
Yeti setzt mich auf den Beifahrersitz. „Keine Angst vor dem Hund. Er wird Ihnen nichts tun. Er ist ein großer Teddybär.“
Ich fahre mir mit den Händen durch die langen Haare, die feucht sind und vom Schnee knirschen. „Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber Sie und Ihr Hund sind etwas beängstigend.“
„Damit treten Sie mir nicht zu nahe. Und jetzt machen wir, dass wir hier wegkommen.“
Er will meine Tür zuschlagen, aber ich halte ihn am Arm fest. „Warten Sie! Meine Handtasche und mein Koffer sind noch im Auto.“
„Und?“
„Ich brauche sie. Da ist mein ganzes Zeug drin.“
„Echt? Auch Ihre Medikamente?“
Medikamente? Wovon spricht er? Hä? Ich neige fragend den Kopf zur Seite.
„Sie nehmen sicher irgendwelche Medikamente gegen die Krankheit, die Sie haben müssen. Sie wollen wirklich, dass ich den ganzen Weg zurückgehe, in den verfickten Graben steige, nur für eine Tasche voll Klamotten und noch mehr alberne Schuhe?“
„Tut mir leid, aber da ist auch mein Laptop drin, den ich für das Seminar brauche …“
„Auf keinen Fall werden Sie dieses Wochenende noch zu einem Seminar kommen. Ich sag’s ja nur.“
„Trotzdem brauch ich mein Zeug! Ich kann doch nicht einfach meine persönlichen Sachen hier mitten im Nirgendwo lassen!“
Er zündet sich noch eine Zigarette an, nimmt einen langen Zug und starrt auf den Wald. Mir wird klar, dass er gern raucht, wenn er nachdenkt.
„Na gut“, sagt er schließlich. „Bleiben Sie hier sitzen und versuchen Sie, keine Unfälle mehr zu haben, okay? Und nichts anfassen.“
Zitternd sehe ich zu, wie er den Hügel wieder hinunterrutscht, bis zu meinem Auto. Mir ist nur allzu bewusst, dass der enorme Hund hinter mir an meinen Hals hechelt. Ich möchte nicht allein in diesem Auto mit diesem Tier oder seinem Besitzer sein, oder beides. Wie konnte der Tag nur so schnell den Bach runtergehen? Ich sollte jetzt in einem gemütlichen Hotel sein, in einem schönen heißen Bad ruhen und den Zimmerservice bestellen. Und nicht in einem Blizzard hocken, mit diesem Fremden und seinem absurd großen Hund.
Ich klappe die Sonnenblende herunter, um im Spiegel den Köter hinter mir im Auge zu behalten. Mit hängender Zunge sieht er mich darin an. Genau wie sein Herrchen scheint er mich anzugrinsen.
Nach einer Ewigkeit sehe ich endlich Eyeliner-Yeti zum Auto zurückkommen. Schnee umwirbelt ihn. Er öffnet die Tür, wirft meine Taschen hinein und setzt sich hinters Steuer.
„Danke“, sage ich.
„Sind Sie sicher, dass Sie keinen Kaffee Latte wollen? Ich könnte schnell in dem Schneesturm für Sie zu Starbucks laufen.“
Tatsächlich habe ich voll Lust auf einen dieser schönen, heißen weißen Schoko-Lattes mit Sahne und Schokostreusel. „Es tut mir leid, okay? Lassen Sie uns bitte losfahren.“ Ich will einfach nur weg von dem Typen und ins Hotel, oder zurück nach Hause. Und jetzt will ich auch einen weißen Mokka, und zwar gestern.
Er startet den Wagen und der Motor heult auf. „Meine Hütte ist ungefähr zwei Meilen weit weg.“ Er dreht am Heizungsschalter. „Von da aus können wir den Abschleppwagen rufen, falls die Telefone funktionieren.“
„Und was, wenn sie nicht funktionieren?“
„Dann müssen Sie wohl abwarten, bis sie wieder funktionieren, oder bis der Pflug die Straße freigemacht hat, damit ich Sie in die Stadt fahren kann.“
Ich seufze laut. „Was für ein scheiß Tag.“
Er nickt zustimmend. „Kann man wohl sagen.“
Es schneit jetzt so heftig, dass man durch die Scheibe kaum etwas sieht. Ich kann mich nicht erinnern, je so einen schlimmen Sturm erlebt zu haben. Verrückterweise bin ich fast froh, dass ich liegen geblieben bin, denn ich kann mir nicht vorstellen, bei dem Schneetreiben selbst zu fahren, besonders wo es gerade noch dunkler wird.
Wir fahren langsam in unangenehmem Schweigen, als plötzlich ein Reh aus dem Wald direkt vor den Wagen springt. Ich schreie auf, Yeti weicht aus, der Wagen beginnt zu rutschen und sich zu drehen und schneller zu werden. Yeti legt den rechten Arm vor meine Brust, um mich an den Sitz zu pressen, während er versucht, den Wagen unter Kontrolle zu bringen, doch es gelingt ihm nicht. Ich schreie erneut, als der Pick-up von der Straße abhebt und in den Wald fliegt, bergab rutscht und kleine Bäume unter sich begräbt, bis er schließlich zwischen größeren Bäumen am Hang stehen bleibt.
„Fuck!“ Yeti schlägt mit beiden Händen auf das Steuer ein. „Das ist doch nicht zu fassen!“ Er sieht mich an. „Wieso sind Sie nicht angeschnallt?“
Ich weiche vor ihm zurück und presse mich an die Tür. „Es tut mir leid.“ Meine Stimme klingt jämmerlich und schwach. Mein Herz hämmert so schnell, dass ich sicher gleich in Ohnmacht falle.
Er legt die Stirn auf das Lenkrad und atmet ein paar Mal tief durch. „Entschuldigung, ich wollte Sie nicht anschreien“, sagt er schließlich ruhig und gelassen, doch ich erkenne, dass er sich dafür anstrengen muss. „Alles in Ordnung?“ Er sieht mich an und ich sehe mein Spiegelbild in seiner Sonnenbrille.
Ich nicke und traue mich nicht, etwas zu sagen. Ich möchte die Angst nicht in meiner Stimme hören.
Er greift nach hinten und streichelt seinen Hund. „Alles klar, Niko?“ Der Hund jault und leckt seine Hand ab. „Guter Junge“, sagt er sanft und streichelt dessen Kopf. „Alles wieder gut.“
Er versucht, den Motor anzulassen, aber der ist verstorben. Ich kann es nicht fassen. Echt nicht.
„W-was machen wir denn jetzt?“, frage ich voller Angst, dass wir hier draußen festsitzen.
„Tja, uns sind die Autos ausgegangen, und falls Sie nicht laufen wollen, oder auf meinem Hund nach Hause reiten, sitzen wir fest.“
Horror erhebt sich in mir wie eine Flutwelle und die mir wohlbekannte Panik übernimmt. „Was? Wie meinen Sie das? Wir müssen hier weg! Wir werden erfrieren oder verhungern, wie Sie selbst gesagt haben, und …“
„Schhh!“, ruft er, sodass ich zusammenzucke. „Beruhigen Sie sich, verdammt noch mal, ja? Offensichtlich sind beide Autos fahruntüchtig. Wir sind immer noch eine Meile, vielleicht noch mehr, von meiner Hütte entfernt, was in diesem Sturm viel zu weit zu laufen ist, besonders für Sie mit diesen Fick-mich-Schuhen.“
„Können Sie bitte aufhören, auf meinen Schuhen herumzuhacken?“
„Wie auch immer. Der Sturm wird wahrscheinlich heute Nacht oder irgendwann morgen nachlassen, also müssen wir nur hier aushalten, bis der Pflug kommt und dort mitfahren. Bis dahin haben wir Glück im Unglück, denn ich war vorher einkaufen. Ich hab genug zu essen und zu trinken dabei, solange nicht alles einfriert.“
Hierbleiben? Wie meint er das?
„Ich hab eine Decke auf dem Rücksitz, also können wir uns warmhalten. Die ist sehr schwer und dick.“
Ich schüttele mich und zittere und weiß nicht, ob wegen der Kälte oder vor Angst, oder beidem. Ich will sofort aus diesem Auto raus, fort von dem Mann und dem Hund. Ich versuche, nicht in Panik zu verfallen, auch wenn ich weiß, dass das unumgänglich sein wird, denn ich habe schon Panikattacken, seit ich ein kleines Mädchen war, wegen aller möglichen Sachen. Irgendwo im Nirgendwo der Wälder im Schnee in einem Auto festzusitzen ist definitiv das perfekte Rezept, um eine massive Attacke zu bekommen.
Er greift hinüber und legt eine Hand auf mein Bein. „Hey, das klappt schon. Machen Sie sich keine Sorgen.“
Ich schlinge die Arme um meine Mitte und nicke, sage aber nichts.
„Okay, also ich glaube, wir sollten beide auf den Rücksitz rutschen, da ist mehr Platz und wir können die Decke über uns beide legen. Das hält uns wärmer.“
„Und der Hund?“ Auf keinen Fall werde ich mich in die Nähe dieses Monsters begeben. Ich wünschte, ich hätte meinen Kater dabei. Halo ist warm, niedlich, und würde sich auf meinem Schoß zusammenrollen und mich mit seinem Schnurren einlullen.
„Den schicke ich nach vorne. Er hat tonnenweise Fell und ist für die Kälte geboren, dem geht’s gut.“
Auf dem Rücksitz unter einer Decke mit dem langhaarigen Eyeliner-Yeti mit Sonnenbrille, Gesichtsmetall und Cowboyhut zu hocken, ist das Letzte, was ich will. In was für eine seltsame Hölle bin ich nur geraten?
„Okay, also Sie klettern nach hinten und ich rufe Niko nach vorn, und dann komme ich zu Ihnen nach hinten. Ich weiß, er macht Ihnen Angst, aber er tut wirklich nichts.“
Leise fluchend klettere ich nach hinten und krieche so weit wie ich kann in eine Ecke, während er den Hund nach vorn holt und dann ebenfalls nach hinten klettert. Er nimmt die dicke Decke, schüttelt sie aus und legt sie über unsere Beine.
„Es sind Hundehaare dran, aber zumindest ist sie warm und abgesehen von den Haaren sauber.“
Ich lächele ihn schwach an. „Das geht schon.“
Der Rücksitz des viertürigen Pick-ups ist Gott sei Dank sehr geräumig. Ich war schon lange nicht mehr in so einem Wagen und habe vergessen, dass er so breite Rücksitze hat. Vielleicht ist das auch nur bei den neueren Modellen so.
„Schön viel Platz hier hinten.“ Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.
Er lächelt schief und lacht unsicher auf. „Äh, ist das ein Kompliment? Danke.“
„Ich versuche nur, Konversation zu machen. Diese Situation ist unangenehm.“
„Ja, das stimmt. Aber es sieht so aus, als ob sie noch eine Weile anhält, also sollten wir uns wohl ein paar Tage lang miteinander verstehen. Vielleicht sollten wir mit den Namen anfangen. Wie heißen Sie?“
„Evelyn. Und Sie?“
„Storm.“
„Storm?“, wiederhole ich. „Machen Sie Witze?“ Diese Ironie. Sturm!
„Nein. Als meine Mom meinem Dad das Ultraschallfoto gezeigt hat, meinte er, es sieht aus wie eine düstere Sturmwolke, also nannten sie mich Storm.“
„Es muss seltsam sein, einen Namen zu haben, den man jedem erklären muss.“
„Nein, gar nicht. Ich mag meinen Namen. Immerhin ist er nicht so stinklangweilig wie Joe oder Michael.“
Das erinnert mich an Michael und ich frage mich, was er wohl tut. Wenn ich ihn nicht anrufe, wird er sich Sorgen machen. Vielleicht kommt er mich suchen und rettet mich aus dieser Hölle.
Storm beugt sich vor und zieht seinen Mantel aus. „Der wurde nass, als ich zum Auto zurückgelaufen bin. Ich ziehe ihn wohl lieber aus, anstatt hier wie ein nasser Schwamm neben Ihnen zu sitzen.“
Er legt ihn auf den Vordersitz. Dann setzt er den Hut ab und schiebt die Sonnenbrille auf seinen Kopf.
Ich bin ganz fasziniert von ihm und mein Blick wird abtrünnig von meiner eigentlichen Absicht, nämlich von ihm so weit wie möglich wegzukommen. Sein Haar ist dunkelbraun und reicht ihm bis kurz über die Schultern. Rechts sind zwei schmale Streifen hineingefärbt. Einer ist lila und der andere weiß. Er trägt einen schwarzen, grob gestrickten Pulli und hat die Ärmel hochgeschoben. Beide Arme sind voller Tattoos. Die Kunstwerke kommen oben aus dem Kragen heraus und winden sich seinen Hals entlang. So jemanden habe ich noch nie gesehen. Fasziniert starre ich ihn an wie ein exotisches Tier im Zoo. Sein Blick trifft meinen und ich wende mich schnell ab.
„Was ist?“, fragt er.
„Nichts.“
„Sie haben mich angestarrt. Wollen Sie mir etwas sagen?“
„Nein … ich hab nicht absichtlich gestarrt. Ich hab nur jemanden wie Sie noch nie aus der Nähe gesehen.“
Er grinst und hebt die Augenbrauen. „Jemanden wie mich? Ist das eine Beleidigung oder ein Kompliment?“
Ich schüttele den Kopf und winde mich etwas. „Auf jeden Fall keine Beleidigung.“
„Lassen Sie mich raten. Sie sind an Business-Typen gewöhnt, mit kurzen Haaren, netten Stoffhosen und Slipper-Schuhen.“
Ich nicke ertappt. „Ja, wahrscheinlich. Ich bin nicht an Männer mit Eyeliner und bunten Strähnen in den Haaren gewöhnt.“
Er lehnt den Kopf zurück und schließt die Augen. „Ich bin gern anders. Ich hab nicht das Bedürfnis, mich anpassen zu müssen.“
Ich will es zwar nicht zugeben, aber das bewundere ich. Michael ist jemand, der sich anpasst. Ich kann ihn kaum von seinen Freunden unterscheiden. Er trägt dasselbe, fährt dieselbe Art von Auto, hat kurzes Haar mit ein paar geplant wirren Spitzen oben. Ich nehme an, dass ich genauso bin und mich genauso anziehe wie all anderen Frauen im Büro, nach der neuesten Mode. Wenn ich allein zu Hause bin, ziehe ich sofort ein altes T-Shirt über, Yoga-Hosen und rosa Sneakers.
„Also, Evelyn, lass uns Du sagen. Zu was für einem Termin warst du unterwegs?“
„Es hat mit der Arbeit zu tun.“
„Das dachte ich mir. Was arbeitest du?“
„Ich bin im Marketing bei einer kleinen Werbeagentur. Ich sollte zu einem Seminar über Markenzeichen und Werbestrategien für kleine Firmen gehen.“
„Klingt interessant.“
„Tja, wie du schon gesagt hast, werde ich es jetzt verpassen. Mein Chef wird sauer sein. Es kostet ein Vermögen, sich anzumelden und für die Saalmiete und all das zu bezahlen.“
„Nanu, Ev, du steckst in einem Blizzard im Graben fest. Man sollte meinen, dass er das versteht.“
Hat er mir tatsächlich soeben einen Spitznamen verpasst? Ich schüttele den Kopf und denke über meine Lage nach. Ich kann Jack schon hören, wie er etwas von Geldverschwendung und meinem Mangel an Verantwortungsgefühl brüllt, besonders, weil ich die Jüngste im Büro bin, was er immer wieder betonen muss. Ihn interessieren nur Kosten und Profit.
„Mein Boss ist nicht gerade der verständnisvollste.“
„Dann soll er sich ins Knie ficken. So etwas brauchst du nicht.“
„Ja, aber ich brauch den Job. Drückst du dich immer so gewählt aus?“
„Wenn er dich zusammenstaucht, sag es mir, und ich bezahle ihm deinen Ausfall. Und ja, ich drücke mich immer so direkt aus.“
„Was? Bist du verrückt? Du kannst mir doch kein Geld geben.“
„Ja, wahrscheinlich bin ich leicht irre. Aber es ist keine große Sache für mich. Ich will nicht, dass dir so ein Arsch Stress macht wegen Geld. Das Leben ist zu kurz für diesen Scheiß.“
Ich starre ihn einen Moment nur an. Er meint es ernst. „Wieso interessiert es dich überhaupt?“
Er zuckt locker mit den Schultern. „Keine Ahnung. Warum nicht? Ich bin kein geldgieriger Mensch.“
„Hoffen wir mal, dass es nicht dazu kommt. Aber vielen Dank“, sage ich aufrichtig.
Er gähnt. „Keine Ursache.“
„Arbeitest du?“ Ich versuche, das Gespräch am Laufen zu halten. Ich möchte nicht stumm in diesem Wagen herumsitzen, denn das fühlt sich noch unangenehmer an.
„Ja, sogar Leute wie ich haben Jobs.“
Autsch.
„So hab ich das nicht gemeint. Ich meinte, was arbeitest du?“ Ich muss aufpassen, wie ich mich ausdrücke. Manchmal kommen echt dumme Sachen aus meinem Mund.
„Ich baue Motorräder nach Kundenwunsch zusammen.“
Wow. Ich war noch nie auf einem Motorrad und ich habe Angst davor, doch welche zu bauen scheint ein interessanter Job zu sein. „Das klingt cool. Ich hab noch nie auf einem gesessen.“
Er sieht mich mit großen Augen an, als hätte ich zehn Köpfe. „Was? Echt nicht?“
Ich nicke. „Ich hatte schon immer Angst davor.“
Er lächelt und es erhellt sein ganzes Gesicht. „Ich sag dir was, Evie. Im Frühling nehm ich dich mal mit auf diese Straße hier. In der Jahreszeit ist sie wunderbar. Weiter oben ist ein toller kleiner Wasserfall und dort ist es super schön und verdammt friedlich. Das wird dir gefallen.“
„Ich weiß nicht so recht …“
Er macht Frühlingspläne? Mit mir? In was bin ich hier nur reingeraten?
„Vertrau mir. Ich fahre auch ganz langsam und wir nehmen meine Lieblingsmaschine. Ich verspreche dir, es wird dir gefallen.“
Er sieht so hoffnungsvoll aus, dass ich nicht anders kann, als zuzustimmen. Und er hat mich Evie genannt.
„Ich werde darüber nachdenken. Wenn du versprichst, wirklich sehr langsam zu fahren.“
„Abgemacht.“
Ich überlege, ob dieser kleine Ausflug tatsächlich je stattfinden wird. Was, wenn der Sturm schlimmer wird und wir hier tagelang festsitzen? Was, wenn uns niemand findet und wir erfrieren oder verhungern? Wird die Versicherung für mein Auto bezahlen? Wird Michael daran denken, Halo zu füttern?
Ich fange an, zu zittern und schwer zu atmen. Meine Hand greift automatisch nach dem Türgriff. Ich schließe die Augen und versuche, die Panik mit meinem Willen zu unterdrücken. Bitte hör auf, flehe ich mich selbst an. Nicht hier, nicht jetzt, nicht bei ihm. Aber es ist zu spät. Das unkontrollierbare Beben hat schon eingesetzt.
„Hey, alles in Ordnung, Evelyn?“ Jetzt klingt er besorgt.
Ich nicke und kann meine Stimme nicht finden. Ich umklammere den Türgriff fester und kämpfe dagegen an, die Tür zu öffnen und zu fliehen. Wohin, weiß ich nicht, aber ich muss aus diesem Auto raus. Ich muss die Angst aufhalten.
Er legt eine Hand auf meine Schulter und beugt sich zu mir. „Was ist los? Ist dir übel? Du bist ganz blass. Sprich mit mir.“
Eine Welle des Schwindels spült über mich hinweg, mir wird übel und ich atme zu schnell. „Panikattacke“, wispere ich. „Ich hab das schon seit meiner Kindheit …“ Mein Herz hämmert, sodass ich es in meinen Ohren spüre und jetzt setzt dieses fiebrige Gefühl ein, das mich zum Schwitzen bringt, obwohl ich eigentlich friere. Ich bin total durcheinander.
„Oh, fuck.“ Er lehnt sich mit dem Rücken an die Tür. „Komm her.“ Er legt die Hände auf meine Schultern und zieht mich an sich, meinen Rücken an seine Brust. Er legt die Decke über uns und umschließt mich in einer festen Umarmung.
„Lehn dich einfach an mich an“, sagt er leise. „Schließ die Augen und hör auf meine Stimme.“
Meine Hände klammern sich um seine. Mein Körper schlottert und mein Verstand rast. Hunderte Ängste und schlimme Gedanken jagen mir durch den Kopf. Ich hasse das so sehr. Ich will, dass es aufhört.
Storm beginnt, zu reden, seine Stimme ist leise und sanft, fast ein Wispern. „Als ich noch klein war, habe ich viele Wochenenden bei meinen Großeltern verbracht. Sie hatten viel Land, fast alles Hügel. Es war einmal eine Farm und die alte Scheune und andere Gebäude stehen immer noch dort. Mein Opa benutzte sie als Lagerräume. Das Haus ist hübsch, aus Backstein und mit vielen Fenstern. Es ist riesig, hat eine Menge Zimmer, ein großes Esszimmer, aber super gemütlich. Meine Oma liebt das Dekorieren. Sie gehört zu den Leuten, die je nach Jahreszeit alles schmücken. Die an Weihnachten zum Beispiel diese beweglichen Rentiere aufstellen und all solchen Kram. Im Wohnzimmer gibt es einen großen offenen Kamin und früher habe ich es geliebt, im Winter davor zu schlafen. Wenn alle von uns Kindern da waren, schliefen einige von uns im Wohnzimmer auf dem Boden.“
Während des Erzählens streichelt er meine Finger sanft. Der Klang seiner Stimme und die zarte Berührung beruhigen mich tatsächlich. Ich schließe die Augen und entspanne mich an ihm.
„Oma liebt das Backen und hat uns immer diese leckeren Kekse gemacht, und heißen Kakao aus echter Schokolade und Milch mit selbstgemachter Schlagsahne. Es war einfach wunderbar. Meine Brüder, meine kleine Schwester und ich wanderten gern auf den Pfaden des Grundstücks und dabei sahen wir Wild und Füchse. Wenn es schneite, baute mein Großvater mit uns große Schneemänner. Einen Winter baute er uns sogar ein Iglu. Dann gingen wir irgendwann halb erfroren wieder ins Haus und Oma stand mit einem heißen Eintopf bereit. Es hat Spaß gemacht, so aufzuwachsen. Dort hab ich mich immer sicher gefühlt und war glücklich. Sogar jetzt noch, wenn ich es einmal schwer hab, besuche ich sie für ein paar Tage und Oma umsorgt mich, als wäre ich noch zehn Jahre alt. Und weißt du was? Es macht mir nicht einmal was aus, denn manchmal brauchen wir es alle, dass man sich um uns kümmert, stimmt’s?“
Ich nicke. Meine Atmung und die Herzfrequenz sind wieder normal.
„Vielen Dank, Storm“, wispere ich. Die Panikattacke hat aufgehört. Ich weiß nicht, wieso er wusste, dass es funktioniert, aber das hat es. Ich musste keine Beruhigungspille nehmen oder irgendwo hinrennen, um mich zu verkriechen, oder stundenlang als Häufchen Elend kauern, wie normalerweise. Es brauchte nur die Arme dieses Mannes und seine Stimme, die mir süße Erinnerungen zuflüstert.
Ich will mich aufsetzen und wieder auf meine Seite der Sitzbank zurückkehren, aber er hält mich fest.
„Bleib hier. Ich halte dich warm.“
Da hat er recht. Mir ist viel wärmer, so an ihn gekuschelt. Mein Verstand hat Mühe, zu akzeptieren, dass es okay ist, sich in einer Notsituation an einen Fremden zu kuscheln, der etwas seltsam erscheint und beängstigend, und Eyeliner trägt, weil er eine Person darstellen will, die er mir noch nicht erklärt hat.
Eine Weile sitzen wir schweigend da. Man hört nur das leise Atmen des Hundes im Schlaf. Niko scheint von allem völlig unbeeindruckt und zufrieden damit, mit seinem Herrchen im Auto zu sein.
„Niko sieht jetzt so friedlich aus“, sage ich. „Ich hab einen Kater zu Hause.“
Storm lacht leise, als ob er sich über mich amüsiert. „Echt? Okay. Erzähl mir von deinem Kater.“
Storms Haare liegen auf meiner Schulter und mischen sich mit meinen, was sich seltsam anfühlt. Seins ist fast schwarz gegen mein kirschrotbraunes. Ich finde das leicht erotisch. Schnell schüttele ich den Gedanken ab.
„Sein Name ist Halo. Er ist schneeweiß und wurde taub geboren. Mom hat ihn mir zum achten Geburtstag geschenkt. Er ist jetzt achtzehn Jahre alt.“
„Achtzehn? Wahnsinn. Er ist alt genug, um wählen zu gehen.“
Ich kichere und nicke. „Ja. Er ist wunderbar. Obwohl er nichts hört, ist er wirklich süß. Er folgt mir durchs Haus und schläft in meinem Bett. Er hat hübsche blaue Augen. Man könnte sich darin verlieren, so blau sind sie. Wie der Himmel.“
„Ich hab noch nie eine taube Katze oder einen Hund gesehen. Ich liebe Tiere. Niko ist mein bester Freund. Er ist acht Jahre alt.“
„Ich habe Halo schon so lange, ich kann mir das Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen. Es ist schwer, daran zu denken, dass er schon so alt ist. Ich hab dauernd Angst, dass ihm etwas passiert. So wie jetzt. Ich hoffe, dass es ihm gut geht. Und dass Michael ihn füttert und ihm frisches Wasser gibt.“
„Michael?“
„Mein Freund. Wir sind schon seit der Highschool zusammen.“
„Nicht verheiratet?“
Jeder fragt das und ja, es nervt mich auch. Zwölf Jahre, und noch kein Heiratsantrag. Ich seufze. „Nein, noch nicht. Er will erst finanzielle Sicherheit schaffen, bevor er heiratet und eine Familie gründet.“
„Ich gehe keine Beziehungen mehr ein. Ich will das ganze komplizierte Drama nicht.“
„Also bleibst du Single? Ist das nicht recht einsam?“
„Single mag einsam sein, aber ich bin nicht alleine. Ich hab ’ne Menge weiblicher Freunde, mit denen ich abhänge und Partys feiere. Du weißt schon, Freunde mit gewissen Vorzügen. Wir treffen uns, vögeln eine Weile und gehen dann nach Hause.“
Ich fühle mich komplett abgestoßen und rutsche wieder auf meine Seite der Sitzbank zurück. „Meinst du nicht auch, das ist ein bisschen widerlich? Einfach so herum zu vögeln?“
Er zuckt mit den Schultern. „Nein, gar nicht. Sie wissen ja, wo wir stehen. Ich führe sie nicht an der Nase herum und mache ihnen Hoffnungen, dass daraus jemals mehr werden könnte. Wir haben Spaß, ohne den ganzen Mist. Ich reise viel. Wenn ich in der Stadt bin, rufe ich eine von ihnen an. Wir amüsieren und uns das war’s. Und ich verhüte immer, also kein Problem.“
„Es kommt mir einfach primitiv vor, Sex zu haben ohne Liebe und Verpflichtungen.“ Ich kann mir ein Leben voller bedeutungsloser One-Night-Stands nicht einmal vorstellen.
Er verdreht die Augen. „Evelyn, es gibt Sex ohne Liebe. Das gehört nicht zwangsläufig zusammen, weißt du.“
Ich sehe ihn finster an und ziehe die Decke höher über mich. „Das sollte es aber. Einfach nur zu ficken wie die Tiere, ohne Gefühle, finde ich ekelhaft.“
Er zündet sich eine Zigarette an und sein Blick ruht eine Weile auf mir. Ich glaube, ich habe ihn ein bisschen beleidigt.
„Evelyn, Liebe ist trügerisch. Nicht alle Leute, die behaupten, zu lieben, tun es tatsächlich. Ich glaube, viele verstricken sich derartig in andere Gefühle, wie geil sein, eine Beziehung haben wollen, sich erotisch angezogen fühlen und all diese Sachen, dass sie es als Liebe bezeichnen.“ Er bläst einen Rauchring durch den Wagen. „Aber Liebe? Die Art, bei der man für den anderen sterben würde? Wo man alles tut, nur um zusammen zu sein? Ich glaube, dass nicht viele Leute das erleben. Ich weiß, dass meine Eltern es tun. Und meine Großeltern hatten das. Aber ich hab es noch nie erlebt. Also ja, ich ficke einfach die Mädels, solange wir uns gegenseitig für ein paar Stunden ertragen.“ Er öffnet die Tür etwas, um die Asche hinaus zu schnippen. „Kann ich dich was fragen, Evie? Liebst du Michael? So richtig? Oder habt ihr nur eine dieser Gewohnheitsbeziehungen? Ihr seid so verdammt lange zusammen, dass du wahrscheinlich gar nicht mehr weißt, was du fühlst, und er ist praktisch wie ein Möbelstück, das du schon ewig hast. Und du hast Angst, etwas Neues anzufangen, weil es sich mit ihm nach Sicherheit anfühlt. Aber sich sicher fühlen bedeutet nicht, zu lieben.“
Bumm.
Eventuell hat er in einigen Punkten recht. Aber das werde ich jetzt nicht zugeben. Der Funke zwischen Michael und mir ist schon seit einiger Zeit verglüht, doch ist das nicht normal in einer langen Beziehung? Wir haben immer noch Spaß zusammen. Wir haben Sex. Ja, er ist oft beschäftigt und abgelenkt, aber ich weiß, dass er mich liebt und ich liebe ihn.
Storm grinst mich an, während ich innerlich meine Beziehung verteidige. „Jetzt denkst du darüber nach, ob ich recht habe. Ist es wahre Liebe oder einfach nur bequem?“
„Du bist ein Arsch. Ich liebe Michael und er liebt mich. Wir sind seit zwölf Jahren zusammen. Nur weil du nicht in der Lage bist, zu lieben und zu umsorgen, heißt das nicht, dass jeder dieses Problem hat. Du tust mir leid. Du wirst dein Leben einsam verbringen und dir am Ende noch eine Krankheit einfangen.“
„Wie beweist er dir denn, dass er dich liebt? Ich bin nur neugierig, wie ihr Leute auf der anderen Seite lebt.“ Er öffnet die Tür erneut, lässt eine Woge eiskalte Luft herein, wirft die Kippe hinaus und wendet sich wieder mir zu.
Ehrlich gesagt fällt mir dazu nichts ein. Wie eine Irre krame ich in meinen Erinnerungen herum. „Er hat mir ein Navi für diesen Trip gekauft, damit ich mich nicht verirre“, werfe ich schließlich ein.
Storm kann sich nicht mehr halten vor Lachen. Er beugt sich vor und hält sich den Bauch. Ich schieße mit meinem Blick imaginäre Pfeile auf ihn ab.
„Echt jetzt? Er hat dir ein Vierzig-Dollar-Navi geschenkt, das ganz offensichtlich scheiße ist, denn du hast dich trotzdem verirrt. Und du glaubst, jemandem so ein Gerät zu kaufen ist Liebe?“
„Er sorgt sich um mich. Er weiß, dass ich Angst davor habe, mich zu verirren.“
„Heilige Scheiße. Es tut mir leid. Ich will dich nicht auslachen, aber das ist einfach zu witzig. Wenn er sich so um dich sorgt, wieso hat er dich dann nicht selbst hergefahren?“
Okay. Also, ich habe Michael tatsächlich gefragt, ob er mich ins Hotel fährt und Sonntag wieder abholt. Er hatte sonst nichts vor, außer vor dem Fernseher zu sitzen. Er meinte, dazu hätte er keine Lust, fuhr in den nächsten Elektronikladen und kaufte das Navigationsgerät. Ich hasse Fahren und habe Angst, mich zu verfahren, im Auto eine Panikattacke zu bekommen, aber er wischte das einfach vom Tisch und sagte, ich sei albern.
Ich fühle mich überführt. „Er hatte keinen Bock“, gebe ich zu. „Er wollte lieber fernsehen.“
„Kann sein, dass ich ein Arsch bin, aber ich weiß eins: Wenn ich jemanden liebe, dann fahre ich ihn die popelige Stunde zu einem Seminar. Wenn es keine Liebe ist und ich die Person nicht besonders mag, bin ich wie Michael, setz mich vor den Fernseher und vergesse die ganze Sache.“
„Er ist erschöpft. Er arbeitet viel. Dagegen ist nichts zu sagen.“ Ich höre die Abwehrhaltung in meiner Stimme selbst.
Storm nickt langsam. „Okay, verstehe. Das macht natürlich Sinn.“
Der Kerl ist ein Idiot. Er hat kein Recht, über mich oder meine Beziehung zu urteilen. Menschen bleiben keine zwölf Jahre zusammen, wenn sie sich nicht lieben. Das versteht er nur nicht, weil er es nie erlebt hat. Ich habe Mitleid mit ihm. Seine längste Beziehung ist die zu seinem Hund.
„Vielleicht sollten wir versuchen, etwas Schlaf zu bekommen.“
Sein Vorschlag klingt gut. Schlafen bedeutet, keine Kommentare und Beurteilungen mehr von ihm abzubekommen.
„Gute Idee“, stimme ich zu, lehne den Kopf ans Fenster, wende den Blick von ihm ab, damit ich nicht mehr sehen muss, wie er mich mustert. Wir ziehen uns die jeweiligen Enden der Decke über und ignorieren uns gegenseitig. Die Kälte ist beißend, doch die dicke Decke hält unsere Körperwärme darunter gefangen. Hoffentlich erfriere ich nicht im Schlaf.
Als ich aufwache, bin ich einen Moment orientierungslos, bis die Erinnerungen wieder zurückkehren. Vorsichtig hebe ich den Kopf. Mein Hals ist steif vom Lehnen an dem kalten Fenster. Ich reibe mir das schmerzende Genick und sehe zu Storm hinüber. Er liegt ausgebreitet da und sein Fuß ruht auf meinem Schoß.
Was zum Geier?
Ich schiebe sein Bein von mir und er wacht auf. „Nimm den Fuß runter.“
Man erkennt sofort, dass er kein Morgenmensch ist. Verschlafen sieht er sich um.
„Hä? Was ist los?“ Er setzt sich auf und sieht mich an. „Was machst du?“
„Dein Fuß lag auf mir.“
„Na und?“
„Ich bin keine Fußablage!“
„Himmel noch mal, Evelyn. Wir sind auf wenig Platz zusammengepfercht und ich bin eins neunzig groß. Verzeih bitte, dass ich mich etwas ausgestreckt hab.“
„Okay, aber nicht auf mir.“
Ich drehe den Kopf und versuche, die Muskeln zu lockern. „Das hier stinkt mir. Mein Genick bringt mich um.“
„Meins auch. Es stinkt noch mehr, neben einer Zicke aufzuwachen.“ Er streckt die Arme aus und schlägt dabei haarscharf an meinem Gesicht vorbei. „Mir tut alles weh.“
Niko ist ebenfalls wach und sieht uns an. Er wimmert und läuft auf der vorderen Sitzbank herum. Dann starrt er Storm erwartungsvoll an.
„Er hat Hunger und muss raus. Ich gehe ein Stück mit ihm. Hinten im Wagen ist eine Schaufel. Ich werde den Pick-up vom Schnee befreien. Wir können uns nicht von einem Meter Schnee begraben lassen.“
Ich nicke und stelle fest, dass ich auch mal raus muss. Das ist gar nicht gut. Da draußen muss mehr als ein Meter Schnee liegen und ich trage immer noch diese nutzlosen Schuhe. „Äh, Storm? Ich muss auch mal aufs Klo.“ Das ist alles so furchtbar peinlich. Ich möchte auf der Stelle unsichtbar werden.
„Tja, verdammt. Das ist ein Problem.“ Er fährt sich mit der Hand durchs Haar und kaut an seiner Unterlippe. „Okay, machen wir es so. Ich geh mit Niko raus und schaufele den Schnee vom Auto. Dann schippe ich eine Stelle flach, auf der du stehen kannst. Ich werde dich noch mal tragen müssen.“
„Das ist wirklich alles nicht zu fassen.“
„Mehr können wir nicht machen. Unsere Optionen sind wirklich ziemlich limitiert. Ich hab Papiertücher im Handschuhfach.“