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Inhalt

Die reizende Reporterin

Impressum

Über das Steam Master - Universum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Fabian Morgen

 

 

Steam Master

Die reizende Reporterin

 

Eine Novelle aus dem Steam Master - Universum

Fabian Morgen

Steam Master – Die reizende Reporterin

ISBN Print: 978-3-946376-58-3

ISBN eBooks: 978-3-946376-59-0 (ePub)

 

© 2019 Lysandra Books Verlag (Inh. Nadine Reuter),

Overbeckstraße 39, 01139 Dresden

www.lysandrabooks.de

 

Coverdesign/Umschlaggestaltung: Fabian Santner

Grafiken für Innenlayout/Stockphotos Cover: Depositphotos http://de.depositphotos.com/13694984 OlenaKucher, 10361306 mishoo, 8352564 bigldesign, 67096457 dvargg, 201649636 cherju

Lektorat/Layout/Satz: Lysandra Books Verlag

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Lysandra Books Verlags ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für die mechanische, fotografische, elektronische und sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung – auch auszugsweise – durch Film, Funk, Fernsehen, elektronische Medien und sonstige öffentliche Zugänglichmachung.

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Über das Steam Master - Universum

Wie alles begann: Im Rahmen einer Anthologie-Ausschreibung haben wir vor einiger Zeit zwölf erotische Steam­punk-Geschichten gesucht, die alle jeweils einen dominanten Master charakterisieren und um 1897 in einem Steampunk-Universum rund um den illustren Herrenzirkel der Steam Master spielen sollten. Anne Amalia Herbst als Herausgeberin kam dann die Aufgabe zu, eine Geschichte zu schreiben, die in der Person Lord Archibald Cundringhams als Anführer der Steam Master einen roten Faden um die zwölf Master webt, damit ein Zirkel mit gemeinsamen Interessen und einem Ziel entstehen konnte. Das Ergebnis war eine Anthologie, die man als Roman mit einer durchgehenden Handlung lesen kann.

Und nicht nur die Autoren waren fasziniert von dem sich nach und nach entfaltenden Universum, sondern auch die LeserInnen verlangten schnell nach mehr. Deshalb gibt es Einzelromane, die nach und nach erscheinen werden, und die Geschichten eines Teils der Master erzählen. Und nun gibt es mit dieser Novelle auch einen Einblick in die Welt der Pain Master, den Gegenspielern der Steam Master. Ursprünglich als Lückenfüller gedacht, um die Wartezeit auf den nächsten Einzelroman zu überbrücken (denn auch im Leben von Autoren passieren manchmal unvorhergesehene Dinge), wuchs der Umfang schnell auf den einer Novelle an und wir haben entschieden, die Geschichte in die Bibliografie des Steam Master-Universums aufzunehmen, auch wenn sie nicht einen der Master in den Mittelpunkt stellt. Wir wünschen viel Freude mit diesem Lückenfüller!

 

Bibliografie:

Steam Master – die Anthologie (HC: 978-3-946376-15-6)

Steam Master – Schwarzer Aether (HC: 978-3-946376-40-8)

Steam Master – Die Reizende Reporterin (Spinoff: 978-3-946376-58-3)

Kapitel 1

 

Gelangweilt blickte sich Valerie im Hotelzimmer um. Als könne irgendetwas in diesem gut eingerichteten, aber vollkommen charakterlosen Raum sie unterhalten und von ihrer derzeitigen Situation ablenken. Aber da war nichts außer den Nachwehen des Liebesspiels mit Richard, der schnarchend neben ihr lag. Er hatte sie für die ganze Nacht gebucht, doch es war noch nicht einmal Mitternacht und Valerie begann sich zu fragen, ob sie diese Tortur wirklich würde durchhalten können.

Die Fesseln waren nicht das Problem. Auch nicht die Peitschenhiebe, die Ohrfeigen, die Zähne oder die harten Stöße. Nein, die Langeweile war das Problem. Und obwohl der Raum angenehm warm war und sie den Tag über gearbeitet hatte, konnte sie keinen Schlaf finden.

Zwischen den Beinen fühlte sie feuchte Kühle und ein leichtes Pochen, während sie langsam wieder abschwoll. Handschellen fesselten ihre Beine gespreizt an das Bett und die Hände an ein auf der Kopfseite hoch aufragendes Bettgestell aus schwerem Holz. Sie konnte leichte Abschürfungen im Lack erkennen, so heftig hatte sie sich offenbar bewegt. Richard hatte versucht, die Fesselung unangenehm zu gestalten, aber es war ihm nicht gelungen. Das Bett war dafür zu klein, oder Valerie zu groß gewesen. Die roten Striemen auf ihren Brüsten und ihrem Bauch waren mehr sichtbar als spürbar. Sie war das gewohnt.

Seufzend drehte sie den Kopf einmal mehr zur Seite und musterte die Kommode mit dem großen Spiegel darüber, an dem sie vorhin noch ihre Maske aufgefrischt hatte. Wie sie jetzt wohl aussehen mochte? Er hatte sie weniger geküsst mehr wie ein Hund abgeleckt. Für viele Frauen wäre das wohl ekelhaft gewesen, aber Valerie hatte diese Handlung, wohl aufgrund ihrer Intensität, als überraschend erregend empfunden.

Gerade als ihr das Rauschen in ihrem linken Ohr, dass sie gegen ihren Oberarm presste, zu viel wurde und sie wieder an die Decke schauen wollte, bemerkte sie ein kleines Notizbuch, das auf dem lederbezogenen Stuhl lag. Über der Stuhllehne hing Richards Hose. Offenbar war das Buch herausgerutscht, als er sie dort abgelegt hatte. Fein säuberlich natürlich.

Valerie war auf einmal aufgeregter als noch während des Spiels mit Richard und ihr Herz begann heftig zu klopfen. Richard gehörte zu den Königs, einer der reichsten Familien der Stadt. Das hatte sie am Familienwappen auf den Manschettenknöpfen erkannt. Für sie war das der entscheidende Faktor gewesen, warum sie Richard auf sein Zimmer begleitet hatte. Geld.

Langsam, von der irrationalen Angst erfüllt, Richard könnte genau jetzt aufwachen, drehte sie ihren Kopf zu ihm und hielt bang die Luft an. Doch der Atem ihres Freiers ging sanft und gleichmäßig, zutiefst befriedigt. Valerie atmete vorsichtig aus und blickte dann hoch zu ihren Handgelenken, die leicht gerötet waren, aber noch nicht wund.
Na dann mal los, dachte sie und begann, ihre Hand konzentriert zusammen zu drücken. Die andere Hand hielt die Handschelle fest umklammert, während sie sich langsam aus ihr heraus zwängte. Valerie hatte diese Fähigkeit aus der Not heraus entdeckt, als ein Wachmann sie vor einigen Jahren beim Klauen erwischt hatte. Sie war damals gezwungen gewesen, eine Weile auf der Straße von der Hand in den Mund zu leben. Rasend vor Angst hatte sie versucht, sich von den Handschellen zu befreien, und siehe da, es war ihr einfacher gefallen als gedacht. Schlanke Hände und biegsame Knochen, dachte sie vergnügt, als ihre rechte Hand mit einem leichten Knackgeräusch aus der Handschelle schlüpfte. Im gleichen Moment gab sie gekonnt mit der linken Hand nach, so dass die Metallfesseln nicht an den Bettrahmen rasselten. Sie wollte jedes noch so kleine Geräusch vermeiden. Vorsichtig fädelte Valerie das Ding aus dem Bettrahmen und setzte sich ebenso langsam und vorsichtig auf. Sie spürte, wie das Bett leise knarrte und sich die Matratze etwas mehr eindellte, als das Gewicht ihres Oberkörpers sich verlagerte. Beiläufig rieb sie sich die Handgelenke und schaute noch einmal nach Richard.

Er war wahrlich kein Schönling, doch er hatte einen trainierten, kräftigen Körper und einige Narben. Sie musste zugeben, dass sie eine gewisse Schwäche für diese Art Mann hatte. Nur mit Mühe konnte sie einen Seufzer unterdrücken, während gleichzeitig ein wenig Wärme in ihren Unterleib und in ihre Wangen schoss.

Wie um sich selbst zu zügeln, wandte sie sich hastig ab und widmete ihre Aufmerksamkeit dem Notizbuch. Der Stuhl stand in Reichweite, sie musste nur, ja, ein klein wenig, noch ein Stück, vorsichtig. Da!

Das Manöver war anstrengender gewesen als erwartet. Valeries Herz pochte heftig und ihre Ohren rauschten wie- sie hatte das Meer nie gesehen, aber so stellte sie sich eine kräftige Brandung jedenfalls vor.

Doch sie hatte es. Das Buch. Und Richard war immer noch im Land der Träume. Zärtlich fuhr sie mit ihren Fingern über den weichen Ledereinband mit dem Familienwappen der Königs als Prägung. Ach, wäre sie doch nur reich geboren worden.

Tiefes Ein- und Ausatmen ließ sie sich wieder beruhigen und sie verlor keine weitere Zeit mehr. So leise wie möglich blätterte sie durch das Buch. Es war zwar kein Kalender, aber zumindest kalendarisch geordnet, Jeder Eintrag fein säuberlich mit einer per Hand gezogenen Linie von dem vorhergehenden abgetrennt und mit Wochentag und Datum versehen.

Valeries geübtes Auge überflog die Seiten auf der Suche nach Stichworten, während ihr Gehirn heftig arbeitete.

Die Königs, die Königs, die Königs… Überseehandel, Kaffee, Seide, als Vertriebspartner das Böhm&Blöck Warenhaus, irgendeine Tochter im Irrenhaus, ein Sohn mit der Armee in Deutsch-Ostafrika…Sie hielt kurz inne und blickte zu Richard hinunter, musterte seinen muskulösen Körper und seine Narben. War er das etwa? An mehr konnte sie sich nicht erinnern, denn ihre Aufregung schien zu viele Details mit Adrenalin zu überschütten und unleserlich zu machen.

Aber auch egal, sie musste nach Verdächtigem, musste nach Auffälligem suchen. Es finden!

Treffen mit Ernst-August II. Oh, der Kronprinz des Hauses Hannover! Aha, Ausstattung für eine Geburtstagsfeier… Sonderwünsche…

Valerie stutzte. Sonderwünsche: Karina Bachmann.

Karina Bachmann, Bachmann, Bachmann, Karina.

Irgendetwas hatte in ihrem Kopf Klick gemacht.

Bachmann … Egal. Erstmal weiter.

Valerie behielt einen Finger in der betreffenden Seite und blätterte weiter durch das Heft. Mit Sorge bemerkte sie, dass ihre Hände langsam feucht wurden.

Nur keine Spuren hinterlassen! Vorsichtig wischte sie ihre Finger an der Bettdecke trocken, mit einem besorgten Seitenblick auf den immer noch friedlich schlafenden Richard.

Konferenz in Berlin, Handelsreise nach Paris, Geburtstag der Großtante, Geburtstag des jüngeren Bruders, Einladung zum Frühlingsball der Gesellschaft für Dampf & Kraft, Treffen mit…

Treffen mit… Treffen mit Sonderwünsche: Anna-Maria Köhler. Was sollte das denn?

Und dann fiel es Valerie wieder ein. Karina Bachmann, vermisst, Anna-Maria Köhler, vermisst. Wann, wann. Ja, März, April. Alles innerhalb von - wie lange?- zwei, drei Wochen? Bauerstochter auf dem Wochenmarkt verschwunden, Näherin vermisst, Mutter verzweifelt, muss drei jüngere Töchter jetzt alleine ernähren.

Wie immer krähte kein Hahn danach, wenn ein Mädchen vom Land oder eine Arbeitertochter in der Stadt vermisst wurden. Die waren doch sicher mit einem hübschen Liebhaber durchgebrannt oder vor der harten Arbeit abgehauen. Eine Bauerntochter? Die war doch bestimmt froh, dem primitiven Umfeld zu entkommen und sich in der Stadt als Tagelöhnerin zu verdingen. Oder als Hure. So wie sie selbst.

Ihr Herz pochte nun nicht mehr vor Aufregung, sondern vor Sorge. Der Schweiß auf ihrer Haut fühlte sich auf einmal furchtbar kalt an, und die Fesseln an ihren Fußgelenken wanderten wie von selbst ins Zentrum ihres Blickfeldes. Der abschätzige Blick zu Richard war nun nicht mehr so spielerisch sorgenvoll und halb begehrlich, sondern ernsthaft abwägend und auf jedes Detail achtend.

Hatte er vor, sie nach dieser Nacht auch zu einem Vermisstenfall zu machen? Aber wer schreibt den Namen von vermissten Frauen in sein Notizbuch, direkt neben den Begriff „Sonderwünsche“? Das ist ja fast wie ein Mörder, der über sich selbst in der Presse berichtet. Oder doch nicht? Valerie kannte die kalte, von stählerner Gewissheit getragene Überheblichkeit der Großbürger und Adligen nur allzu gut. Dies war nicht ihre erste Nacht im noblen Steinberger Hotel.

Raus hier. Weg hier. Schnell.

Mit einer Haarnadel öffnete sie die verbliebenen drei Handschellen in kürzester Zeit. Ein Trick, den sie nach ihrer unerfreulichen Bekanntschaft mit der Obrigkeit von einem hübschen Straßenjungen gelernt hatte. Für Sex hatte er ihr eine kärgliche Unterkunft, gestohlenes Essen und tatsächlich auch etwas Liebe entgegen gebracht. Aber das war natürlich kein Leben gewesen. Was wohl aus dem guten Steffen geworden war?
Valerie war frei und musste sich zwingen, sich langsam und kontrolliert zu bewegen. Zuerst begutachtete sie kurz das Notizbuch, um sicher zu gehen, dass ihre Finger die Seiten nicht aufgeweicht hatten. Aber nichts war zu sehen.
Vorsichtig schob sie das Notizbuch zurück in die Hosentasche, bevor ihr auffiel, dass sie gar nicht wusste, in welcher Tasche das Buch zuvor gewesen war. Verdammt. Sie wollte aber auch nicht den Eindruck erwecken, sie hätte es gesehen haben können.

Daher platzierte sie es sorgfältig auf dem Boden, ließ die Hose von der Rückenlehne rutschen und beobachtete zufrieden, wie sie auf dem Buch zu liegen kam. Nach einiger Überlegung drapierte sie doch noch schnell den Stoff so, dass das Buch, wenn man die Hose aufhob, ebenfalls ein Stück weit angehoben wurde, bevor es scheinbar herausrutschte.

Besser geht es nicht, dachte sie, raffte ihre Kleidung zusammen, die chaotisch auf dem Boden verteilt lag, nahm ohne zu überlegen die Geldscheine auf der Kommode an sich und schlich zur Zimmertüre. Dort blieb sie stehen und schaute besorgt auf die Klinke. Und auf das Schloss. Hatte Richard abgeschlossen? Der Schlüssel steckte nicht im Schloss. Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt.

Vorsichtig und bemüht, nicht ihre Schuhe dabei fallen zu lassen, drückte Valerie die Klinke herunter und zog, ganz sanft… Abgeschlossen. Ihr wurde in schnellem Wechsel heiß und kalt und kurz fürchtete sie, das Gleichgewicht zu verlieren.

Reiß dich zusammen, Mädchen, reiß dich zusammen. Nur kurz überlegte sie, ob es sinnvoll war, noch einmal zurück zu schleichen und den Schlüssel zu suchen. Doch sie hatte so eine Ahnung, wo er war - und das war weder die Kommode noch die Hose. Zu riskant.

Vorsichtig öffnete sie ihre Handtasche und holte einen Dietrich hervor. Ein Geschenk von Steffen zu ihrem Geburtstag, einen Tag bevor sie ihn ohne ein Wort, ohne einen Abschied, verlassen hatte.

Sie hatte sich selbst beigebracht, wie man ihn benutzte, indem sie in den Archiven der Zeitung nach Material darüber geforscht hatte. Doch sie hatte das lange nicht mehr gemacht.

Ruhig. Ganz Ruhig. Langsam führte sie das Werkzeug in das Schlüsselloch ein und konnte nicht umhin, eine gewisse Erregung dabei zu empfinden. Mensch, Mädel, reiß‘ dich zusammen. Ihr Verlangen und ihre damit einhergehende, blühende Phantasie halfen ihr zwar, sich finanziell über Wasser zu halten, aber brachten sie, ganz offensichtlich, auch oft genug in Schwierigkeiten. Während sie versuchte, den Gedanken daran zu verdrängen, dass sie gerade nicht nur die Tür sinnbildlich fickte, sondern auch Richard, gelang es ihr tatsächlich, das Schloss zu entriegeln. Nobelhotel, aha. Wäre ich doch nur früher auf diese Idee gekommen, ich hätte mir so manche Sauerei ersparen können.

Tür auf, Tür zu, Trippelschritte den Gang entlang, eine Einbuchtung hin zu den Toiletten, kurzes Innehalten und Horchen, Betreten der Damentoilette.

Noch nie zuvor hatte Valerie sich so schnell und so hastig angezogen, so dass sie dabei einen ihrer teuren, oberschenkellangen Strümpfe zerriss und erst nach zwei Fehlversuchen bemerkte, dass sie den linken Fuß in ihren rechten Schuh zu quetschen versuchte. Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigte ihr das erwartete Chaos, doch dafür war jetzt keine Zeit. Ein kühler April erlaubte ihr, den Kragen hochzuschlagen, den Schal und den Damenhut übers Gesicht zu ziehen und strammen Schrittes nach Hause zu laufen.

Und genau das tat sie auch.

 

Kapitel 2

 

„Das ist nicht dein Ernst“, sagte Bruno Kleinschmidt, ihr Chefredakteur, mit echter Ungläubigkeit.

„Mein voller Ernst, Bruno. Mein voller Ernst. Das ist eine ganz große Sache. DIE große Sache. Das geht bis ganz nach oben!“

Bruno schüttelte den Kopf, verweigerte sich ihrem Ansinnen sichtbar mit jeder Faser seines Körpers. Seine Pfeife rauchte unbenutzt vor sich hin und füllte das mit Holz getäfelte Arbeitszimmer mit dem Valerie so gleichsam vertrauten wie verhassten würzigen Geruch.

„Die Königs sind hoch angesehen, beim Adel wie bei der Stadtverwaltung. Richards Cousin ist der Mann von der Schwester des Polizeichefs.“

„Bruno, das interessiert doch niemanden. Hier geht’s um eine verdammte Entführung. Mehrere Entführungen. Was die wohl mit den Mädchen machen, was denkst du? Sie in die Küche sperren zum Kochen?“

„Es verschwinden viele Menschen. Jeden Monat. Das ist doch vollkommener Zufall“, brummte Bruno.

„Zufall? Ha. Schau dir das doch an.“ Valerie stand auf, beugte sich über den Schreibtisch, der wie eine Festungsmauer zwischen ihr und dem dicklichen Bruno stand, und breitete noch einmal die vergrößerten Fotos vor ihm aus, die er schon zwei Mal selbst durchgeschaut hatte. „Hübsche Mädchen, allesamt. Um die zwanzig, die älteste gerade mal 28.“

Valerie gehörte selbst zu dieser Altersgruppe und passte damit in das Muster, was sie für die Mission zwar geeignet machte, aber eben auch großer Gefahr aussetzen würde. Aber ihre Entschlossenheit war größer als ihre Furcht. Die letzten Tage hatte sie trotzdem nachts oft wach gelegen, hatte ihre Tür und die Alarmglocke, die sie daran befestigt hatte, kontrolliert und sich dann in den Schlaf gewälzt, in ihren Träumen verfolgt von verschlossenen Türen und von Terminen, zu denen sie erschien, aber bei denen niemand wusste, was sie da sollte.

„Bruno, ich bin investigative Journalistin. Das ist genau das, worauf ich die letzten Jahre gehofft habe. Du weißt genau, dass es wenig bringt, zur Polizei zu gehen. Oder zum Bürgermeister. Oder zum Kaiser selbst. Ich hab ja keinen Beweis, außer dem, was ich gesehen habe. Und bevor da jemand anderer ein Auge drauf werfen kann, wird das Buch doch entsorgt und alle Spuren werden verwischt. Ich könnte aber…“

„Du könntest dich von denen entführen lassen. Von dem da“, sagte Bruno und zeigte auf das Zeitungsfoto von Richard, in stolzer Kolonialuniform. Der Held, der den Platz an der Sonne verteidigt hatte und dabei mehrfach verwundet worden war. „Und dann?“

„Das hab ich dir doch schon gesagt. Ich nehme einen Aetherpeilsender mit, den kann ich in einen Gummi stecken und verschlucken. Und wenn es mir zu viel wird, aktiviere ich den Sender, Thomas von der Technik bekommt ein Signal und du gehst zur Polizei. Was ist daran so schwierig zu verstehen?“

Brunos Gesicht wurde ausdruckslos, blieb aber angespannt. Valerie hasste das, in diesem Zustand konnte sie ihn nicht lesen. Und sie hoffte, dass er endlich nachgab. Es kostete sie mehr Kraft als erwartet, ihn von ihrem Plan zu überzeugen. Von einem Plan, der sie selbst größter Gefahr aussetzen würde. Und einem Mann ausliefern, den sie quasi bestohlen hatte. Und der offenbar junge Mädchen, und manchmal junge Männer, entführte und als Sonderwunsch offerierte.
Valerie, was denkst du dir eigentlich dabei?

„Lass mich eine Nacht drüber schlafen“, hörte sie Bruno aus weiter Ferne brummen. Seine Stirn lag in Falten und sein Gesicht drückte Sorge aus. Doch sie konnte etwas glänzen sehen in seinen Augen und das bedeutete, dass er den Profit riechen konnte, den so eine Schlagzeile bringen würde. Ach was Schlagzeile! Schlagzeilen! Wochenlang! Skandal um Skandal, initial aufgedeckt von ihr, Valerie Voss, furchtlose Journalistin!

Valerie musste schwer schlucken. Erst jetzt fiel ihr auf, wie trocken ihr Hals war. Bruno bemerkte das und stieß sein Glas so heftig an, dass es schwappend über den Schreibtisch zu ihr herüber rutschte. Der gute Brandy! Sie nahm das Glas dankbar und leerte es in einem Zug, so als könne der scharfe Alkohol ihre Zweifel wegbrennen. Doch der Kloß in ihrem Hals blieb, auch wenn er heftig umkämpft wurde von feuriger Erregung und strahlendem Edelmut. In Gedanken konnte sie sich schon in Hamburg oder Berlin sehen, oder als Auslandskorrespondentin in London oder New York. Nur Englisch musste sie bis dahin noch lernen.

 

Valerie schluckte schwer und betrachtete sich im Spiegel. Sie war eine schöne Frau, ohne Frage. Ihr Körper hatte die Form einer eleganten Sanduhr, mit großen, aber nicht zu großen Brüsten, weiblich breitem Becken und Beinen, die gerade lang genug waren, um die Blicke der Herren auf der Straße auf sich zu ziehen. Ihre vollen, dunkelbraunen Haare waren leicht gelockt, fielen aber auch ohne ihre Einwirkung auf angenehme Weise über die Schultern. Und die Männer vergruben nur allzu gern ihre Gesichter darin.

Sie überlegte - mal wieder - was eigentlich falsch gelaufen war in ihrem Leben. Sie hätte bereits einen Mann haben sollen, zwei, drei, vier Kinder, einen gut geölten Haushalt und ein ansonsten recht sorgenfreies Leben. Stattdessen war sie als Jugendliche aus dem Internat geflohen, in das ihre Eltern sie zwangsverfrachtet hatten, um sie zu einer guten Ehefrau erziehen zu lassen. Valerie hatte sich auf der Straße mehr schlecht als recht durchgeschlagen, war fast erfroren, fast an der Grippe gestorben, mehrfach beinahe vergewaltigt worden, beinahe … sie wollte gar nicht daran denken!

Einer ihrer Freier hatte ihr dann einen Arbeitsplatz bei der Zeitung besorgt, natürlich um sie sich sexuell gefügig zu machen. Doch sie war nicht dumm gewesen und hatte ihn abblitzen lassen, um dann mit Hilfe ihrer weiblichen Reize eine Etage nach oben in die Redaktion zu kommen, wo man ihr Talent schnell erkannte und ihre in eigenes Büro und eine Aufgabe gab, die sie mit Stolz erfüllte und die ihre tiefsitzende Überzeugung, das Richtige tun zu müssen, zur Geltung brachte.

Sie hatte dann auch einen guten Start hingelegt und ihr Talent bewiesen, hatte über schlechte Arbeitsbedingungen bei den Näherinnen berichtet, einen Skandal bei der Pferdezucht aufgedeckt und mit dazu beigetragen, dass Stadtrat Beier wegen Bestechlichkeit und einer unerhörten Häufung außerehelicher Affären seines Amtes enthoben wurde.

Und nun? Nun stand Valerie da, am Ende einer Leidensperiode von nun schon zwei Jahren - oder waren es drei? -, in denen sie nichts Großartiges zustande gebracht hatte. Ihr Alltag war erfüllt mit sinnlosen Recherchen, Aushilfstätigkeiten und einer immer erdrückenderen Fülle langweiliger Reportagen, die ihr Bruno vermehrt aufgedrückt hatte.

Aber mit dieser Sache jetzt würden sich die zwei Welten in ihr miteinander vermischen, die vorher eigentlich getrennt gewesen waren. Irgendwie. Dachte sie zumindest. Ihr Inneres, ihre heiße, feurige Seele, die es ihr ermöglicht hatte, auf der Straße zu überleben und trotz magerem Lohn bei der Zeitung nicht in die Armut abzurutschen. Und die Heldin in ihr, die sie gern sein würde, die die Welt mit Worten verbesserte.

„Ihr seid keine Feinde, ihr zwei. Wir sind Verbündete.“

Mit diesen Worten griff Valerie nach dem pralinengroßen Peilgerät auf der Kommode und spülte es mit einem großen Schluck Wein hinunter. Gut, dass Bruno ihrem Plan zugestimmt hatte. Sie hätte es auch allein durchgezogen, aber mit dem Peilsender und seiner Mitwisserschaft bekam sie ein Gefühl von Sicherheit, das es für sie deutlich einfacher und ihre Sorgen erträglicher machte. Sie fühlte, wie es sich ihre Speiseröhre entlang nach unten schob, und wandte sich zum Gehen.

Auf der Fahrt zum Haus von Richard König verflog ihre anfängliche Entschlossenheit aber schnell wieder und es fiel ihr zunehmend schwer sich zu konzentrieren. Eine Mischung aus Neugier, aber auch sexueller Erregung und beklemmender Sorge breitete sich in ihr aus, und immer wieder musste Valerie sich in Erinnerung rufen, wofür sie dieses große Risiko eigentlich einging.

Es erschien ihr wie eine Folter, ruhig da sitzen und abwarten zu müssen, während die nächtlichen Lichter der Stadt an ihr vorbeizogen und Normalität vorspielten.

Als die Kutsche endlich langsamer wurde und schließlich anhielt, war das eine Erlösung für Valerie. Eine seltsame Erlösung zwar, aber dennoch eine deutlich spürbare. Mit einem Knarren erhob sich draußen der Kutscher. Das metallische Klackern seiner Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster näherte sich der Tür. Noch konnte sie zurück, noch war es nicht zu spät. Aber das war Wunschdenken.

„Meine Dame, wir haben unser Ziel erreicht.“

Der Kutscher hielt ihr die Tür auf. Valerie nahm dankbar seine Hand, um ihrer eigenen, zitternden etwas Sicherheit zu geben. Der Mann, ein gutmütig wirkender Herr um die fünfzig, ließ sich nichts anmerken. Sie gab ihm ein angemessenes Trinkgeld mit der Bitte noch zu bleiben, bis sie eingelassen worden war.

 

Doch schon die Treppe zur Haustür hinauf war wieder eine Herausforderung. Jeder Schritt kostete sie Überwindung, wie der Gang eines Verurteilten zum Galgen. Reiß dich zusammen, Valerie. Du willst das und du kannst das. Verdammt, du stehst doch sogar darauf.

Ihre zitternde Hand beruhigte sich aber nur wenig, als sie die Stufen erklommen hatte und im Schein der anbarischen Lampe, die direkt über dem Familienwappen der Königs angebracht war, stehen blieb. Der gleichmäßige Schein der strombetriebenen Lampe hatte etwas ungemein Beruhigendes. Wie von selbst senkte sich da ihr Finger zielsicher und ganz ohne zu zittern auf den vergoldeten Klingelknopf, auch hier wieder das unvermeidbare Wappen der Familie König.

„Sie wünschen?“ Ein livrierter Diener öffnete die Tür.

„Ich möchte Richard König sprechen, wenn das möglich ist. Ich schulde ihm etwas und bin hier, um diese Schuld zu begleichen.“

Der Diener zog die Augenbrauen hoch und Valerie war sich nicht sicher, ob die Verwunderung nicht gespielt war. Doch sie wusste auch um ihre Neigung, überall Gespenster zu sehen.

„Folgen Sie mir bitte, Fräulein.“

Er ließ sie ein und schloss die Tür hinter ihr. Sie hoffte, dass er ihr nervöses Zusammenzucken in diesem Moment nicht bemerkt hatte.

Valerie folgte dem Diener, der sie, obwohl sie selbst nicht gerade klein war, noch um einen ganzen Kopf überragte. Sie war überrascht, dass sie nur die klackenden Geräusche ihrer eigenen Schuhe hörte. Der Diener bewegte sich vollkommen lautlos, obwohl seine Schuhe ganz normal aussahen. Hatte er sie nach ihrem Namen gefragt? Nein? Valerie wusste es nicht mehr.

„Hier hinein, bitte. Der Herr wird sich in Kürze zu Ihnen gesellen. Wünschen Sie etwas zu trinken?“

„Wasser bitte. Nein, Rotwein. Wenn es recht ist.“
Der Diener zog wieder die Augenbrauen hoch und nickte dann freundlich. Valerie fand sich im Salon wieder. Schwere Vorhänge sperrten die Nacht aus und nur eine anbarische Stehlampe in der Ecke erfüllte den Raum mit einem warmen, gelblichen Licht. Rot bezogene Sessel und Sofas standen um einen niedrigen Tisch herum, auf dem eine Schale mit dunklen Trauben platziert war.

Valerie setzte sich in einen der Sessel und war erstaunt, wie tief sie darin einsank.

Kurz überlegte sie, ob der Wein wohl mit einem Schlafmittel versetzt sein würde. Ihr war klar, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt überwältigt werden würde. Das war zumindest ihre Vermutung. Wie sonst würde das ablaufen? Sie hatte sich probeweise selbst betäubt mit Mitteln aus der Apotheke und einer Anleitung aus einem medizinischen Handbuch. Es war mehr eine psychische Vorbereitung gewesen als irgendein Plan, der Betäubung widerstehen zu können.

Der Diener brachte den Wein und Valerie nahm einen großen Schluck ohne weiter nachzudenken-und behielt das Bewusstsein. Dachte sie jedenfalls, denn eine Tür öffnete sich und es war kein Traum, als Richard König den Salon betrat und auf sie zukam, so als sei ihr Besuch die normalste Sache der Welt.

„Ah, die schöne Frau Steinberger. Ich freue mich, Sie wiederzusehen.“

Valerie ignorierte die Tatsache, dass sie damals bereits beim Du angelangt waren und spielte sein Spiel mit. „Herr König, ich freue mich, dass Sie mich empfangen. Aber mein Name ist Michaela Jakob, das wissen Sie doch sicher noch.“ Dabei deutete sie ein neckisches Lächeln an, um ihren Vorwurf zu entkräften.

„Aber ja doch, natürlich erinnere ich mich. Aber ich pflege eine sehr starke Erinnerung an Orte, an denen ich Personen zum ersten Mal begegne. Entschuldigen Sie meine Anmaßung.“

Valerie hatte nicht vor, ein Versteckspiel im Versteckspiel zu spielen und kam daher gleich zur Sache. Sie änderte ihre Miene von erfreut hin zu schuldbewusst und verschämt. Sie hatte das so lange vor dem Spiegel geübt, bis sie es sich selbst abgenommen hatte. Danach hatte sie sich betrunken.

„Ach Herr König, Sie sind doch wirklich zu gütig. Dabei wissen Sie doch genau, warum ich jetzt bei Ihnen bin und welche Angelegenheit mir die letzten Tage so ein furchtbar schlechtes Gewissen bereitet hat.“

„Aber aber, meine Liebe. Wovon reden Sie denn da? Ich weiß gar nicht, welche Angelegenheit das sein soll? Offenbar habe ich mir all das ja selbst zuzuschreiben. Daher sehe ich nicht, warum Sie, meine liebe Frau Jakob, da ein schlechtes Gewissen haben sollten.“

Diese Wendung verwunderte Valerie nun doch. War das seine Absicht?

„Ich sehe Ihre Verwunderung. Trinken Sie noch einen Schluck, bitte. Es ist ein guter Jahrgang.“

Sein Diener schenkte ihm ebenfalls ein Glas ein und Richard deutete einen Prost an, bevor er ebenfalls einen Schluck nahm.

„Sehen Sie, Frau Jakob, ich bin schon lange im Geschäft und ich benutze nur Qualitätsware. Daher trifft nur mich und meinen Zulieferer die Schuld, dass die Fesseln Sie nicht dort halten konnten, wo ich Sie haben wollte.“

Valerie versuchte gar nicht erst, ihr Lächeln zu unterdrücken. Etwas an seiner Art vermittelte Zuversicht und nahm ihm viel von dem Schrecken, den sie im Lauf der letzten 14 Tage auf ihn projiziert hatte.

„Herr König, ich verstehe und ich danke Ihnen. Aber ich kann das trotzdem nicht annehmen. Ich habe unsere Vereinbarung gebrochen und mich auch noch davon geschlichen. Das war wirklich unwürdig.“

Richard König zog eine Augenbraue hoch. Valerie versuchte unvermittelt, den hochgewachsenen Diener aus dem Augenwinkel zu erspähen, doch er war nicht zu sehen.

„Unwürdig? Nun, ich würde eher die Behandlung, derer Sie sich freiwillig ausgeliefert haben, als unwürdig bezeichnen. Ein Laster, auf das ich natürlich alles andere als stolz bin und das auszuleben mich gutes Geld kostet. Doch ich muss darauf bestehen, dass es keinen Verstoß gegen unsere Abmachung und keinerlei unwürdiges Verhalten Ihrerseits gegeben hat. Im Gegenteil. Ich glaube, ich habe in Ihnen eine interessante Gegenspielerin gefunden.“