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Der Schatten des Schwarzen Todes


13 Pestgeschichten

 

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

 

ISBN 978-3-946531-82-4 (Print Ausgabe)

ISBN 978-3-946531-83-1 (Epub)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Heerstraße 103 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Herausgeber | Redaktion: Regine D. Ritter | Jana Hoffhenke

Lektorat: Jana Hoffhenke

Umschlaggestaltung | Illustration: Detlef Klewer

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

 

Vorwort

 

Kaum etwas hat das europäische Mittelalter so stark geprägt wie die Pest! Sie war nicht nur eine Krankheit der Armen, sondern forderte Opfer quer durch alle Stände hindurch. Mitglieder von Klerus, Adel und Bürgertum starben gleichermaßen, und die soziale Ordnung geriet ins Wanken. Dies mag einer der Gründe sein, warum die Pest uns noch immer auf morbide Art und Weise fasziniert. Und die Angst vor einer Epidemie ist auch heute noch aktuell und das mit gutem Recht. Yersinia pestis existiert nach wie vor, und obwohl wir das Bakterium inzwischen mit Antibiotika effektiv bekämpfen können, fordert es bis heute Todesopfer. Die amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention zählen den Pesterreger zu dem sogenannten »Dreckigen Dutzend« – den zwölf Krankheitserregern, die am wahrscheinlichsten für einen Anschlag mit biologischen Waffen in Frage kommen.

Spätestens seit dem 14. Jahrhundert beschäftigten sich Künstler und Autoren mit der Seuche, und ihre Werke haben an Aktualität nichts verloren. Mit vielen verschiedenen Gesichtern wurde die Pest dargestellt: als Tanzpartner im Totentanz, als einer der apokalyptischen Reiter, oder als alte Frau mit wallendem Haar und Sense in der Hand. Der italienische Schriftsteller Boccaccio schilderte in seinem Werk »Il Decamerone« die Pest in Florenz so präzise, dass sein Bericht bis heute als historische Quelle verwendet wird. Andere Autoren interpretierten die Seuche freier und erzählten Gleichnisse über den vergeblichen Handel mit dem Tod, oder begegneten der Epidemie mit beißendem Galgenhumor.

Mit den 13 Geschichten dieses Buchs wollen wir all den verschiedenen Gesichtern der Pest nachspüren. Jede Autorin und jeder Autor, die hier vertreten sind, haben die Geschichte des Schwarzen Todes auf besondere Weise neu erzählt.

Wir möchten an dieser Stelle allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern unserer Pestausschreibung herzlich danken, insbesondere auch jenen, die es am Ende nicht in dieses Buch geschafft haben. Ihr alle habt mit euren Geschichten für hochklassige Unterhaltung, aber auch für Kopfschmerzen bei der Auswahl gesorgt!

 

Wir wünschen nun allen Leserinnen und Lesern viel Vergnügen!

 

Regine D. Ritter & Jana Hoffhenke

(Herausgeberinnen)  

Die Melodie des Totensammlers – Sabine Frambach

 

Es liegt an den Winden, Graf. Die Winde. Sie kommen über das Meer aus Indien; wohin diese verdorbenen Winde gelangen, sterben die Menschen. Haltet die Läden geschlossen, besonders in Richtung Süden.«

Der Graf zog die Decke, mit der er seinen alternden Leib umwickelt hatte, hoch bis zum Mund. »Sie sagen, dass der Tod kommt, zu allen Menschen, ob arm oder reich, Kinder sterben ebenso wie Greise.« Seine Finger umklammerten den Stoff. »Ich will nicht sterben.«

»Ich bin ja hier, Graf. Sagt den Mädchen, dass sie die Läden nach Süden geschlossen halten sollen. Morgen werde ich wieder nach Euch sehen.«

 

Johannes verließ den Grafen, nachdem er für seinen ärztlichen Rat den Lohn erhalten hatte. Ein guter Verdienst, wie gewöhnlich. Die Furcht zu erkranken trieb den Grafen seit Jahren dazu, wöchentlich nach ihm rufen zu lassen, obwohl er äußerst gesund war. Seit der Schwarze Tod die ersten Opfer gefordert hatte, bangte der Graf umso mehr und fragte ihn täglich um Rat. Die Münzen steckte Johannes gerne ein, wusste aber bald nicht mehr, was er dem Grafen noch empfehlen konnte. Er hatte ihm Heilsteine in Wasser unter das Bett geschoben, getrockneten Rosmarin über die Türen hängen lassen, ihm angeraten, sich warm zu halten und wegen des Raureifes keine Spaziergänge bis zur dritten Stunde nach Mitternacht zu unternehmen. Der Graf war nicht gesünder geworden, aber er war auch nicht erkrankt.

Johannes konnte das Geld gut gebrauchen. Lieber kümmerte er sich allerdings um wirklich kranke Menschen, um jene, die schwach waren und durch ihn gesundeten. Nicht der Kopf, die Hände machen den Heiler, das wusste Johannes. Eben diese Hände nutzte er, ließ die Patienten zur Ader, dass der schädliche Saft aus ihnen fließe, mischte ihnen Salben und legte Verbände an. Was er nicht tat, war das Schneiden. Das überließ er den Dentisten, Wundärzten und Steinschneidern. Johannes mochte die Vorstellung nicht, in einen Menschen hinein zu schauen. Es kam ihm falsch vor; was die Natur verborgen hielt, sollte der Mensch nicht offenlegen. Er betrachtete den Menschen von außen, roch an ihrem Atem, schaute nach der Farbe ihres Wassers und verordnete die richtige Pflege.

Diese Krankheit, die aus dem Süden zu ihnen gekommen war, konnte er nicht begreifen, was er nicht begriff, konnte er nicht behandeln. Wie schnell es ging; jeden Tag hörte er von neuen Kranken. Von Toten. Die Erkrankung blieb ein dunkles Rätsel, doch helfen wollte er, wie er immer half. Fassungslos bemerkte er, wie schnell andere Menschen aus Angst ihre Pflichten vergaßen. Geistliche verweigerten die Salbung der Kranken, Heilkundige verschwanden über Nacht. Auch die Toten zu bestatten wurde schwieriger; kaum einer wollte sie einsammeln, zum Friedhof begleiten, für sie beten und sie in ein Grab legen.

Johannes, entschlossen, weiterhin seine Pflicht zu tun, suchte auf dem Weg eine Familie auf, die er schon Jahre betreute. Deren Nachbar hatte ihm Bescheid gegeben. Das jüngste Kind des Wagenbauers, Sophie, war krank. Johannes kannte das Mädchen, seit es auf der Welt war, ein freundliches Kind mit stillem Gemüt und abstehenden Haaren. Als er zur Hütte kam, stand die Tür offen. Er klopfte. Die letzten Male hatten ihn die älteren Geschwister bereits an der Tür begrüßt, ihn umringt und an seinen Händen gezogen. Johannes lauschte. Er hörte leises Weinen; gewiss die kleine Sophie. Nochmals klopfte er und rief: »Ist einer daheim?«

Da öffnete sich die Tür des Stalls, nur einen Spalt, und die Frau des Wagenbauers steckte eine Hand heraus. »Johannes, Ihr seid gekommen! Euch schickt der Himmel.«

Eilig schritt Johannes zum Stall, schaute in den Spalt und warf einen Blick auf die Mutter. »Euer Nachbar hat mich gerufen wegen Sophie. Wo ist sie?«

Einen Finger reckte die Mutter und deutete auf die Tür der Hütte. »Da drin«, hauchte sie. »Ihr Körper ist voller Beulen, sie schreit und schreit.« Plötzlich griff die Frau nach Johannes’ Arm und krallte sich daran fest wie eine Ertrinkende. »Es ist ansteckend, nicht wahr? Bin ich auch krank? Könnt Ihr es sehen?«

Johannes blickte sie an, ihr eingefallenes Gesicht, die lodernde Furcht in ihren Augen. Er schüttelte die Hand ab. »Ich sehe nicht, dass Ihr krank seid. Daher frage ich mich, warum Ihr nicht bei Eurem Kind wacht, sondern Euch im Stall versteckt.«

Ganz schmal wurde der Spalt, durch den die Frau flüsterte: »Der Vater ist fortgegangen. Hat die Beulen gesehen, nahm die Kinder mit und fuhr davon, nach Norden. Hat mich alleine gelassen.«

»Ich werde nach Sophie schauen«, antwortete Johannes und schritt zur Tür.

Ganz still war es in der Hütte, als ob das Leben ebenfalls nach Norden geflohen war. Er trat über das Stroh zur hinteren Kammer. Da lag Sophie, fiebernd, er konnte ihren Atem hören, schmatzende, rasselnde Geräusche. »Sophie, kleine Sophie, ich bin da, ich kümmere mich«, murmelte er und wusste doch, dass er nicht helfen konnte. Ein Tuch, eingetaucht im Sud der Salbeiblätter, legte er ihr auf die Stirn; sodann trat er hinaus. »Es steht schlecht um das Kind«, sagte er zu dem Gesicht hinter dem Spalt. »Lauft und holt einen Geistlichen; er soll sie salben.«

»Es wird keiner kommen«, zischte die Frau, doch sie ging los, lief so schnell, dass Johannes glaubte, sie liefe fort.

Als die Sonne schwand, kehrte sie zurück. »Es wird keiner kommen«, wiederholte sie.

Johannes nahm ein sauberes Tuch aus seinem Beutel, wischte die Hände daran ab und trat an der Frau vorbei. »Es ist ohnehin zu spät. Ich kann nichts mehr tun.«

Er wartete, bis der Karren kam. Ein Karren voller Tod, schwarz und stinkend, Körper aufeinander geworfen wie Vieh, und niemand lief mit, um zu klagen. Doch der Totensammler sah kräftig aus, zog den Karren und pfiff dabei eine Melodie, die das Herz fröhlich stimmte. Johannes’ Herz aber blieb schwer; feucht und salzig brannten seine Wangen. Er schluckte, trat zu dem Karren, die kleine Sophie eingewickelt in ein Tuch, und murmelte ein Gebet. Das Mädchen hatte niemandem ein Leid getan. Gewiss würde es auch ohne Salbung in den Himmel kommen.

Schon ratterte der Karren weiter, in Richtung des Berges, wo in den Gruben die vielen Toten verscharrt wurden. Das fröhliche Lied klang fort, bis es mit dem Totensammler in der Ferne verschwand.

Wie lange, überlegte Johannes, wird er wohl noch pfeifen?

Die meisten, die mit den Toten zu tun haben, sterben bald selber.

 

»Es liegt an den Winden!

Dämpfe, welche die Sonne verhüllen, um das Licht in Finsternis zu verwandeln. Diese Dämpfe steigen auf und ab, achtundzwanzig Tage lang, mit gewaltiger Kraft reißen sie das Meer aus dem Becken und verwandeln es in Dampf! Es wird Regen geben, meine Freunde, und der Regen wird stinken bis zum Himmel! Zum Schutz sollten wir Feuer anzünden von Rebholz und grünem Lorbeer; des Weiteren verbrenne man Wermut und Kamille in großer Menge!«

Johannes lauschte den Ausführungen des anderen Baders, der wie stets bei seiner Rede rot anlief, die Hände ausbreitete und so schnell sprach, dass sein Speichel durch die Luft flog. Seit der Tod durch die Gassen tobte, trafen sich die Heilkundigen wöchentlich und debattierten. Johannes hoffte immer, etwas Neues zu erfahren; doch bislang hielten sich die Empfehlungen an die des Pariser Gutachtens.

»Diese Feuer brennen bereits am Markt, bislang ist nicht bekannt, ob sie helfen«, entgegnete er. »Ich weiß kaum noch, was ich den Menschen raten soll.«

»Ich empfehle, kein schwimmendes oder fliegendes Geflügel zu essen, alte Ochsen, kein fettes Fleisch. Man esse Fleisch, das ein gehöriges Alter hat, warmer und trockener Natur ist, keineswegs aber reizend. Dazu Brühe, zubereitet mit gestoßenem Pfeffer und Gewürznelken. Zum Frühstück klarer Wein mit Wasser vermischt. Früchte mit Wein schaden nicht, aber ohne Wein werden sie tödlich. Und keine roten Rüben!«

»Keine roten Rüben? Woher wisst ihr das?«, fragte Johannes.

»Einer hat rote Rüben gegessen, kurz danach ist er gestorben. Ganz schnell ging es, er hustete und röchelte und glühte, bis es vorbei war. Seitdem empfehle ich, keine roten Rüben zu essen. Rote Rüben sind schädlich. Von Fischen soll man nur kleine essen, aus dem Fluss. Wer sich an diese Diät hält, bleibt gesund.«

Johannes nickte. »Habt ihr auch Kranke behandelt?«

Der Heiler schüttelte das Haupt. »Nein. Wer krank wird, hat sich nicht an die Diät gehalten.«

 

Johannes kehrte am nächsten Tag zum Grafen zurück. Auf den Straßen hörte er ein Rumpeln, das Knarren der Räder eines vollgeladenen Karrens, begleitet von grässlichem Gestank und einem fröhlichen Lied. Johannes machte kehrt, lief einige Schritte und schaute dem Karren hinterher. Es war der Totensammler, der gestern die kleine Sophie mitgenommen hatte. Die fröhlichen Töne klangen lange nach, wie eine verblichene Erinnerung an Schönheit und Glück.

Im Haus des Grafen gab Johannes in der Küche Anweisungen. »Keine roten Rüben«, befahl er, »merkt es Euch genau, nur kleine Fische, Brühe mit Nelken und Pfeffer und kein fettes Fleisch. Besser ein alter Ochse! Kein Geflügel, keine Fische aus dem Meer! In der Luft und im Wasser entsteht der Wind, und dieser Wind bringt den Tod.«

Der Graf lag wie die Tage zuvor eingewickelt in einer Decke; nach Norden standen die Läden offen, die nach Süden waren mit zwei Brettern vernagelt.

»Wie fühlt Ihr Euch?«

»Schlecht.« Der Graf starrte ihn an und hustete trocken. »Mein Leib schmerzt.« Johannes tastete ihn sanft ab, legte die Hände auf die schmerzende Stelle und lauschte. »Um den Leib gehörig offen zu halten, könntet Ihr ein Klistier bekommen.«

»Bitte, ja. Meine Frau meint, ich sollte baden gehen. Was meint Ihr, Johannes?«

Dieser schüttelte den Kopf. »Bäder sind schädlich. Ich empfehle keinem ein Bad. Aus dem Wasser und den Winden kommt diese Krankheit. Haltet Euch trocken und warm, Graf. Das Weib«, fügte Johannes hinzu, »sollte zurzeit nicht in Eurem Bette schlafen. Ihr dürft Euch nicht anstrengen und sollt wenig Kontakt zu anderen Menschen haben.«

»Außer zu Euch, Johannes«, murmelte der Graf und drehte sich gehorsam um, damit Johannes ihm das Klistier geben konnte. »Ihr kommt morgen wieder, ja?«

»Ja, ich verspreche es«, antwortete Johannes, ordnete in der Küche ein Gemisch aus Honig, Wein und Rhabarber an, füllte die Schweinsblase und führte das Knochenrohr vorsichtig ein. Langsam ließ er die Flüssigkeit in den Darm fließen. Während der Graf stöhnte und furzte, betete Johannes, gesund zu bleiben und jeden weiteren Tag helfen zu können.

 

Seine Gebete wurden erhört; Johannes selber fühlte sich kräftig und munter. Doch das Sterben um ihn herum hatte erst begonnen. Die Straßen leerten sich, die einen waren bereits verstorben, andere lagen krank und verlassen in ihren Betten. Der Rest verbarg sich vor dem Schwarzen Tod. Die Feuer auf dem Markt waren erloschen, die Luft roch nach Eiter, es regnete, doch zu kurz, um die Straßen reinzuwaschen. Johannes hörte, dass die Mutter der kleinen Sophie verstorben war, hatte im Stall gelegen und Blut gespuckt, bis sie keine Luft mehr bekam. Johannes benutzte ein Tuch, eingetaucht in einen Sud aus Kräutern, welches er sich vor das Gesicht hielt. So lief er über die Straßen, die leer und still waren. Weit entfernt hörte er ein Pfeifen; eine fröhliche Melodie, die durch die Lüfte wehte.

 

Eine Woche war es her, dass die Heiler zusammengesessen und debattiert hatten. Der, der den Verzicht der roten Rübe empfohlen hatte, war nun selber krank.

Die Übrigen saßen ratlos beieinander.

Der Steinschneider trank wie immer viel Roten. Zwischen zwei Bechern meinte er: »Hilfreich könnte sein, einen Kranken aufzuschneiden und hineinzuschauen in die Tiefen.«

»Ich schnitt einen auf; die Lunge war schwarz, kaum etwas übrig. Nur schwarze Klumpen.«

Johannes schüttelte sich insgeheim bei der Vorstellung, einen Leib zu öffnen. »Was hilft uns das? Wir wissen, die Krankheit zerstört die Lunge. Doch was gegen die Krankheit hilft, wissen wir nicht.«

Der Wundarzt nickte. »Vielmehr könnte es helfen, einen zu finden, der nicht erkrankt ist, um herauszufinden, was ihn von den anderen Menschen unterscheidet.«

Johannes dachte nach. Tatsächlich sah er darin eine Möglichkeit. Einer, der nicht erkrankte, hatte vielleicht etwas zu sich genommen, ein besonderes Kraut oder eine Medizin. So, wie dieser gesunde Mensch lebte, sollten seine Patienten leben und es ihm gleich tun. Plötzlich fiel Johannes ein kräftiger Mann ein, der nicht krank war und stets sein Liedchen pfiff.

»Ich kenne einen. Zieht jeden Tag den Karren mit den Toten und ist doch selber nicht krank geworden.«

»Bringt ihn zu uns, Johannes! Wir werden ihn gemeinsam untersuchen! Er könnte das Mittel gegen dieses Leid in sich tragen.«

 

Johannes suchte in den Gassen, in Richtung der Gruben, in den verlassenen Hütten. Jeden Tag lauschte er, ob er das fröhliche Pfeifen hören konnte. Doch der Mann blieb verschwunden. Gewiss hatte auch ihn der Tod geholt! Johannes versorgte den Grafen, suchte die Kranken und die Ängstlichen auf und vergaß darüber den Auftrag. Doch am dritten Tag hörte er weit entfernt das Pfeifen. Johannes folgte den Tönen durch die Gassen, stakste über Unrat und eilte weiter, blieb nur stehen, um zu hören, in welche Richtung er laufen sollte. Endlich sah er den Karren; der Mann trug einen Toten und legte ihn zu den anderen.

»Wartet! Bitte wartet!« Johannes keuchte, während er auf den Mann zueilte, sich auf den Schenkeln abstützte und nach Luft schnappte. »Sagt mir, woher kommt Ihr? Wie heißt Ihr?«

»Mein Name? Ihr seid der erste Mensch, der meinen Namen wissen will. Der Gernold bin ich von Breisach.«

»Ihr sammelt die Toten.«

Gernold blickte auf den Karren. »Ja, das tue ich. Bekomme Geld dafür. Die Stadt zahlt gut, wenn ich die Toten wegbringe. Habt Ihr einen, den ich mitnehmen soll?«

»Nein. Sagt, seid Ihr selber krank?«

Es dauerte, bis Gernold antwortete. Zunächst blickte er auf seine Hände, tastete über seinen Hals, pustete gegen die Unterlippe. »Ich war krank, glaube ich. Etwas Fieber und kleine Geschwülste. Freitag bis Sonntag lag ich da und wartete. Dann stand ich auf.«

»Wodurch? War ein Heiler bei Euch? Oder ein Bader? Was hat er verordnet?«

»Keiner. Ich lag in einer Hütte im Fieber und glaubte, es sei das Ende, schlief und fror und schlief. Sonntag fühlte ich, dass ich noch nicht tot war, und wusste, ich hatte überlebt. Ich wusch mich und pfiff mein Lied. Gestern war der dritte Sonntag seitdem, und ich bin gesund. Nur die Knoten sind noch etwas hart. Hier«, er zeigte auf den Hals, »und hier.« Nun deutete er auf die Hüfte.

Johannes starrte ihn an. Einer, der täglich die Toten berührte, und er war nur kurz krank gewesen? Ein Wunder, und dieses Wunder galt es zu ergründen! Er musste den Mann zu den Heilern bringen. Vielleicht konnten sie mit seiner Hilfe endlich alle Menschen retten!

»Ich kann etwas tun für Euch. Eisen hilft zur Erweichung der Geschwüre. Könnt Ihr zu mir ins Spital kommen?«

»Ich kann Euch nicht bezahlen.«

»Ihr seid fleißig und behaltet ein fröhliches Gemüt inmitten der Kranken und Toten. Gerne möchte ich euch dies vergelten. Kommt heute noch zu mir ins Heiliggeistspital. Wisst Ihr, wo das ist?«

»Ja, das kenne ich.« Gernold lächelte, griff zu und zog den Karren weiter. Einige Schritte später ertönte sein fröhliches Lied.

Johannes blickte ihm hinterher. War es richtig? Der Mann tat seine Arbeit, er kümmerte sich um die Toten und blieb fröhlich dabei. Durften sie ihn davon abhalten, seine Pflicht zu tun? Andererseits, wenn dieser eine helfen konnte, hundert andere zu retten, konnte das falsch sein? Sicher nicht. Gewiss genügte es, ihn genau zu untersuchen, um dem Geheimnis seiner Gesundheit auf die Spur zu kommen. Gernold sollte dafür einige schöne Münzen bekommen. Vielleicht, dachte Johannes, konnte er mit Gernolds Hilfe den Schwarzen Tod besiegen. Endlich musste er keine sinnlosen Ratschläge mehr geben, musste nicht vorschreiben, feinen Theriak zu nutzen oder sich nicht der Sonne auszusetzen, zumindest nicht, wenn man fett war. Johannes war es leid, so zu tun, als ob er ein Mittel gegen den Tod wüsste, zu sagen, der Schlaf am Tage sei nachteilig und viel Bewegung schädlich. Endlich würde er wirklich helfen können.

 

Gernold saß auf einem Hocker, der Leib entblößt, nur ein Tuch lag über seinen Lenden. Er wackelte mit einem Bein, rückte nach links und nach rechts, seufzte und trommelte mit den Fingern auf seine Schenkel. Offenbar war er langes Sitzen nicht gewöhnt. Um ihn herum lauerten die Heiler. Der Steinschneider hatte ihn abgetastet, der Wundarzt die Geschwüre betrachtet, Johannes hatte sein Wasser gerochen und am Atem geschnuppert. Gernolds Fröhlichkeit war von ihm gewichen, kein Pfeifen mehr, kein Lachen. Einmal hatte er gefragt, ob er nun zurück zu seinem Karren gehen könnte.

»In der Tat ein medizinisches Wunder.« Offenbar gefiel dem Heiler, der auf dem Markt seine Essenzen verkaufte, was er sah. »Wie ist das nur möglich?«

»Keine Beulen zu sehen, nur diese Geschwüre. Kein Husten. Er ist gesund«, murmelte der Steinschneider.

»Sagt, habt Ihr etwas gegessen oder getrunken? Was nehmt Ihr zu Euch? Wie schlaft Ihr? Meidet Ihr das Wasser?«

Gernold blinzelte, stützte sich auf die Beine und wiederholte: »Ich esse, was da ist, ich schlafe in einer verlassenen Hütte. Und wenn ich an einem Badehaus bin, bade ich.«

Er schaute zu Johannes. »Kann ich gehen?«, fragte er nochmals, dringender, mit aufgerissenen Augen, aus denen die letzte Fröhlichkeit gewichen war.

»Meine Herren! Dieser Mann widersteht der Krankheit! Er, ein Fels, der sich gegen die Winde stellt, ein Turm, der dem schädlichen Regen trotzt.« Der Wundarzt umkreiste Gernold, die Hände auf dem Rücken gefaltet, den Kopf geiernd vorgestreckt. »Irgendwo in ihm liegt das Mittel, um uns alle zu retten!«

»Wir müssen es nur extrahieren!«, rief der Heiler händereibend. »Aus seinen Säften ist das Gegenmittel zu gewinnen!«

Plötzlich griffen sie zu, sie alle, als hätten sie sich abgesprochen. Johannes sah, wie sie Gernold wie in einer endlosen Umarmung hielten. Als er aufspringen wollte, drückten die Heiler ihn auf den Hocker zurück. Gernold brüllte; Johannes musste an ein Schwein denken kurz vor der Schlachtbank.

»Der Hammer, rasch!«, rief der Steinschneider.

Johannes stand auf. Kaum spürte er seine Beine, sie waren weich, während er vorwärts taumelte. »Was tut Ihr da?«, murmelte er. Gernolds flehende Blicke brannten auf Johannes’ Haut. »Lasst ihn los!«, rief er und glaubte, die eigene Stimme nicht hören zu können. Wenn etwas Schreckliches geschah, wie konnte er da so still sein?

Der Hammer krachte auf Gernolds Kopf. Er sackte in sich zusammen wie ein leerer Getreidesack.

»Lasst ihn los«, flüsterte Johannes und wusste zugleich, es war zu spät.

»Er trägt das Wunder der Heilung in sich!«, schnarrte der Wundarzt. Sie zerrten den Körper auf den Tisch, banden die Arme und die Beine fest und schoben ein Stück Holz zwischen die Zähne. Sodann begann der Steinschneider sein Werk. Mit dem Messer öffnete er den Leib. »Seht, seine Lunge ist nicht schwarz, das Herz schlägt noch!« Er brach das Brustbein. Blut quoll hervor, viel Blut. Unter den Händen des Steinschneiders erschlaffte Gernolds Körper. Schaudernd stand Johannes da, ein tauber Geschmack im Mund.

»Nichts«, murmelte der Heiler, »keine Verfärbung, kein Befall. Er ist vollkommen gesund.«

»Seine Lunge verabreiche man den Lungenkranken, sein Blut denen mit eiternden Beulen. Auf diese Weise wird seine Gesundheit auf die Patienten übergehen.«

Mit einem Lappen wischte der Bader das Blut von der Erde und drückte den Lappen in einem Eimer aus. Mit schnellen Schnitten entnahm der Wundarzt die Lunge und schnitt sie in vier Teile. »Jedem sein Teil«, sagte er und schaute in die Runde. »Endlich haben wir ein Mittel in unseren Händen, endlich werden wir die Kranken erlösen können! Woher das Wundermittel stammt, darüber wollen wir schweigen.«

 

Johannes suchte am nächsten Tag den Grafen auf. Das Mädchen wirkte blass, als es die Tür öffnete. »Er wartet bereits auf Euch«, flüsterte sie. »Sagt, dass er sich schlecht fühlt. Eben begann er, seltsam zu reden über Tiere, die um sein Bett schleichen.«

Johannes nickte und eilte in die Kammer des Grafen. Als er eintrat, roch er es bereits; die Luft voller Schweiß und Eiter, tropfende Dunkelheit über dem Bett. Schon glaubte Johannes, eine schwarze Gestalt zu sehen, die gekommen war, um den Toten einzusammeln. Er trat ans Bett. »Hier bin ich«, murmelte er, überwand sich und griff nach der Hand. Der Graf glühte. Johannes zog die Ampulle hervor. Gernold, der fröhliche Mann, sollte nicht umsonst gestorben sein. »Ich habe ein Wundermittel, Graf. Nun kann ich den Schwarzen Tod besiegen.« Er öffnete den Mund des Kranken. Fast dreißig Tropfen ließ er auf die Zunge fließen. »Gleich werdet Ihr Euch besser fühlen.«

 

Der Graf starb in derselben Nacht.

Am frühen Morgen trat Johannes zurück auf die Straße. Die Sonne kam hervor, trotzte der Dunkelheit und versprach neue Hoffnung, wie jeden Tag. Dieses Mal hatte Johannes keine Münze bekommen. Langsam ging er durch die Gassen, lauschend auf das Wispern der tödlichen Winde. Nichts, wirklich nichts half gegen diese Krankheit. Einzig sollte der Mensch fröhlich sein. Wie ein Mensch denkt und fühlt, so wird auch sein Gemüt sein, so wird er krank sein oder gesund, dachte Johannes und pfiff ein Lied, eine fröhliche Melodie, die den Tod verscheuchte.

 

 

Über die Autorin

Sabine Frambach, geboren 1975 unstandesgemäß in einem Krankenhaus statt in einer Burg. Studium der Sozialpädagogik in Nijmegen (nahe der Burgruine Falkhof) und der Erwachsenenbildung in Kaiserslautern (bei Burg Hohenecken). Die dreizehnte Fee verfluchte sie dazu, täglich Schokolade zu essen. Derzeit schläft die Autorin in einer Hütte in Mönchengladbach (ein Fußmarsch vom Wasserschloss Rheydt entfernt). Zur Arbeit fährt sie über die Wupper. Die Autorin schreibt bevorzugt Phantastik und historische Kurzgeschichten; einige ihrer Texte sind bereits ausgezeichnet worden.

Weitere Infos unter: www.kein-weg.de