Deutsche Erstausgabe
Erste Auflage 2019
© der deutschen Ausgabe
Scoventa Verlagsgesellschaft mbH
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwendung des vorliegenden Werkes, einschließlich aller Bilder und ggf. Grafiken, sowie Auszüge desselben bedürfen der vorherigen schriftlichen Genehmigung. Dies gilt auch für sämtliche Formen medialer Verwendungs- und Aufführungsmöglichkeiten.
Erstveröffentlichung im Jahr 2018 © Gianrico Carofiglio bei Edizioni Gruppo Abele unter dem Titel
Con i piedi nel fango – Conversazioni su politica e verità
Alle Rechte vorbehalten.
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
Autorenfoto: © Roberta Lovreglio
Korrektur: Claudia Wunder, www.wundertexte.de
Cover & Satz: Anja Fuchs, www.anjafuchs.com
Druck & Bindung: Pustet, Regensburg
ISBN 978-3-942073-44-8
eISBN 978-3-942073-07-3
www.scoventa.de
GESPRÄCHE ÜBER
POLITIK UND WAHRHEIT
mit Jacopo Rosatelli
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
Vorwort für die deutsche Ausgabe
I. Gespräch
ÜBER GLEICHGÜLTIGKEIT UND HASS
II. Gespräch
ÜBER LÜGE UND MANIPULATION
III. Gespräch
ÜBER DIE WAHRHEIT, EIN SUBSTANTIV IM PLURAL
IV. Gespräch
ÜBER WORTE UND GESCHICHTEN
Bibliographie
Personenverzeichnis
Die Fragen an Gianrico Carofiglio stellte
der Politikwissenschaftler, Lehrer und
Journalist Jacopo Rosatelli.
Als ehemaliger Richter, Parlamentsabgeordneter und Schriftsteller werde ich ziemlich oft gefragt, was denn diese drei Tätigkeiten gemeinsam hätten (sofern sie überhaupt etwas gemeinsam haben). Meine Antwort lautet, dass diese drei so unterschiedlichen Tätigkeiten mit Worten und Wahrheit zu tun haben. Besser gesagt: mit der Macht der Worte und der Pflicht, sie verantwortungsvoll einzusetzen, um in unterschiedlichen Zusammenhängen und Formaten die Wahrheit zu sagen.
Der Philosoph John Searle1 ist der Meinung, man könne nicht klar denken, sofern man nicht fähig ist, klar zu sprechen und zu schreiben.
Laut Searle beruhen Gesellschaften im Wesentlichen auf der Prämisse der Sprache: der Sprecher ist dem Empfänger gegenüber zu Wahrheit und Korrektheit verpflichtet. Wenn man diese Pflicht nicht erfüllt, verletzt man den Gesellschaftsvertrag einer Gemeinschaft, beziehungsweise das Vertrauen in die gemeinsame Sprache.
Die Gesellschaften, bei denen sinnentleerte Behauptungen vorherrschen, befinden sich in einem schlechten Zustand: Auf den Bedeutungsverlust des Diskurses folgt meistens eine gefährliche Delegitimierung der Institutionen. Die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Diskurs und dessen Qualität, mit dessen Fähigkeiten, Dinge und Ideen korrekt und genau zu benennen, ist somit kein intellektueller Luxus und auch keine akademische Übung. Es ist eine wesentliche Pflicht der Zivilgesellschaft und der Moral.
Vor 2500 Jahren hat das schon ein Herr namens Konfuzius begriffen. Man erzählt, eines Tages habe ihm ein junger Schüler folgende Frage gestellt: »Meister, wenn man Euch die Regierung anvertraute, was würdet Ihr als Erstes tun?« Konfuzius antwortete: »Als Erstes würde ich die Namen richtig stellen.« Der Schüler war perplex: »Die Namen richtig stellen? Es gibt so viele dringende und wichtige Dinge, die ein Regierender tun müsste, und Ihr wollt Eure Zeit mit so einem Unsinn vergeuden? Soll das ein Scherz sein?« Konfuzius erklärte: »Wenn Namen und Begriffe nicht stimmen, beziehungsweise nicht der Wirklichkeit entsprechen, hat die Sprache kein Objekt. Und wenn die Sprache kein Objekt hat, wird das Handeln schwierig, alle menschlichen Unternehmungen gehen schief und es hat keinen Sinn mehr, sie in Angriff zu nehmen. Deshalb hat ein Staatsmann allem voran die Pflicht, die Namen richtigzustellen.«
In allen der vier folgenden Gespräche geht es um die komplexe und oft flüchtige Beziehung zwischen politischem Handeln, Sprache und dem Prinzip der Wahrheit.
In gewisser Weise sind die Gespräche eine Tirade gegen inflationär gebrauchte Worte, sie stehen im Zeichen der notwendigen Verbindung von eindeutiger Sprache, moralischem Bewusstsein und guter Politik.
Primo Levi2 hat uns eine Lektion erteilt, die sowohl für die Politik als auch für die Literatur gilt: »Solange wir leben, haben wir Verantwortung: Wir sind verantwortlich für jedes Wort, das wir schreiben, und müssen dafür sorgen, dass es ins Schwarze trifft.«
1John Rogers Searle, geb. 1932. Professor für Philosophie an der University of California, Berkeley und gilt als Vater der Sprechakttheorie.
2Primo Levi, 1919–1987. Italienischer Schriftsteller und wichtiger Zeuge und Überlebender des Holocaust.
Lassen Sie uns von Anfang an klarstellen: Dieses Gespräch erhebt keinen Anspruch auf Systematik und das Ergebnis ist kein politischer Traktat. Höchstens eine Sammlung von Notizen, ein Brevier. Wo möchten Sie beginnen?
Bei Gramsci.3
Das ist gleich zu Beginn eine starke Ansage. Wo genau?
Bei seiner Tirade gegen die Gleichgültigen, über die denke ich schon lange nach. Mittlerweile wird sie von vielen zitiert, doch bis vor wenigen Jahren war sie völlig in Vergessenheit geraten. Ein engagierter Buchhändler hat mich auf sie aufmerksam gemacht, und seit damals habe ich bei verschiedenen Gelegenheiten über sie gesprochen oder aus ihr vorgelesen.
Warum beginnen wir ausgerechnet bei diesem Artikel?
Ich glaube, der Kampf gegen die Gleichgültigkeit sollte heutzutage jedem Nachdenken über Politik – über die politische Moral bei individuellen und kollektiven Verhaltensweisen – vorausgehen. »Ich glaube, leben bedeutet, Partei zu ergreifen«, sagt Gramsci und man muss ihm absolut rechtgeben. Allerdings müssen wir uns zuerst einmal klarwerden, was »Partei ergreifen« nun genau in dem intendierten positiven Sinn bedeuten soll. Ganz bestimmt ist damit nicht die pathologische Internethetze gemeint, die noch dazu oft im Schutz der Anonymität geschieht. Das ist nicht Partei ergreifen, sondern eine andere und toxische Form von Gleichgültigkeit. Gramscis Idee heutzutage in die Tat umzusetzen, bedeutet, sich nicht nur mit der traditionellen Gleichgültigkeit derer auseinanderzusetzen, die sich von jedem Engagement fernhalten, sondern vor allem auch mit dem neurotischen Aktivismus derer, die sich am Jahrmarkt des Hasses beteiligen. Das hat nämlich nichts mit individuellem und kollektivem politischen Handeln zu tun, das auf Kultur, Bildung und Leidenschaft beruht. Beziehungsweise mit politischem Handeln im Sinne Gramscis. Ein Ausspruch Margaret Meads4, die ich sehr schätze, bringt die Sache auf den Punkt: »Der Prophet, der nur den Untergang voraussagt, ohne tragbare Alternativen zu präsentieren, geht in die eigene Falle.«
Sehr gut.
Ja, wirklich ein schönes Zitat. Um diesem Thema gerecht zu werden, müssen wir zwischen zwei Begriffen unterscheiden, die nur dem Schein nach ähnlich sind: indignazione und sdegno (im Deutschen bedeuten beide gleichermaßen Empörung bzw. Entrüstung, Anm. d. Übers.).
Im Wörterbuch wird sdegno als Entrüstung gepaart mit Verachtung definiert. Indignazione – ich liebe auch dieses Wort – bezeichnet vielmehr das Aufbegehren gegen alles, was die eigene Würde und die anderer verletzt. Das erste bezeichnet ein unfruchtbares und toxisches Gefühl; das zweite verweist vielmehr auf die vornehme Idee, man könne sich aktiv gegen Unrecht und Kränkungen zur Wehr setzen.
Im öffentlichen Leben beobachten wir mittlerweile, wie sich Hass und Empörung systematisch entladen, wir bräuchten hingegen eine bewusste Praxis der Auflehnung gegen Unrecht und Kränkungen. Die Gegner anzubrüllen (sofern es sich überhaupt um Gegner und nicht um Sündenböcke handelt), sie zu verleumden und sich verächtlich über sie zu äußern, verursacht eine sehr intensive, aber kurze und toxische Befriedigung. Eine Befriedigung, wie sie auch Drogensüchtige verspüren.
Inwiefern?
Man kann süchtig nach Hass sein, dafür gibt es in Italien jede Menge Beispiele. Wenn der Heroinsüchtige auf Entzug ist und sich den Stoff spritzt, den er dringend braucht, verspürt er kurzfristig Erleichterung, doch dann kehrt das alte Unbehagen zurück und er braucht aufs Neue Stoff. Aufgrund des Gewöhnungsfaktors muss mit der Zeit auch die Dosis erhöht werden. Beim Hass verhält es sich genau so.
Wer auf diese Weise im Netz Partei ergreift, glaubt, im Sinne der Allgemeinheit zu agieren.
Wenn man schreibt »Alles ist widerwärtig, es gibt keine Hoffnung, ich spucke euch ins Gesicht«, legt man eine asoziale und unmoralische Haltung an den Tag. Man weigert sich, Verantwortung zu übernehmen – in derselben Weise wie die, die behaupten, man könne in Italien nichts erreichen, solange man nicht von jemandem »protegiert« würde. Das ist offensichtlich falsch, erlaubt einem jedoch, die eigene Passivität zu kultivieren, entlässt einen aus der Verantwortung und nimmt einem die Pflicht des Engagements ab. Wenn ich sage »Ohne Protektion werde ich beim Aufnahmeverfahren durchfallen« und tatsächlich auch keine Protektion habe, dann werde ich entweder gar nicht antreten oder ich werde mich nicht so sehr anstrengen, wie ich eigentlich könnte und müsste. Als ich mich vor vielen Jahren um eine Richterstelle beworben habe, haben mich viele gefragt, ob ich Protektion hätte. Ich sagte nein, ich hätte keine, und die Antwort darauf lautete immer wieder: »Was erhoffst du dir dann davon?«
Doch Sie haben sich beworben und die Stelle auch bekommen.
Ja, wie fast alle Richter (und auch Staatsanwälte), die ich kenne, also Tausende: ohne Protektion und sonstige ungebührliche Hilfestellungen.
Ich gebe allerdings zu, dass ein großer Sektor des öffentlichen Dienstes und der Verwaltung ein Transparenzproblem hat, dort gibt es Grauzonen, wo nicht Leistung zählt, sondern Günstlinge bevorzugt werden und offener Nepotismus herrscht. Ein solcher Sektor ist leider die Universität. Doch die verallgemeinernde Behauptung, man könne ohne unerlaubte Abkürzungen nichts erreichen, finde ich genauso unerträglich wie die Gleichgültigkeit gegenüber politischen und gesellschaftlichen Problemen.
Eine andere Form der Gleichgültigkeit tarnt sich als Weisheit. Man könnte sie als Produkt einer legitimen Entfremdung gegenüber der Politik bezeichnen, der man nichts abgewinnen kann, die eine unverständliche Sprache spricht, einen Jargon, der mit dem Leben der Menschen nichts zu tun hat. Einer Politik, die man für überflüssig hält, weil die wichtigen Entscheidungen ohnehin von bürokratischen Institutionen oder von großen globalen Konzernen getroffen werden. Sehr oft äußert sich die Gleichgültigkeit in der Zurückhaltung bei den Wahlurnen.
Um das Thema aus diesem Blickwinkel zu betrachten, muss ich die antike Philosophie ins Spiel bringen.
Die antike Philosophie?
Ja. Der Stoizismus forderte, zwischen jenen Dingen zu unterscheiden, die man beeinflussen kann, und jenen, auf die man überhaupt keinen Einfluss hat. Demzufolge sei es ein Zeichen von Weisheit, nur das beeinflussen zu wollen, was man auch tatsächlich ändern könne. Meiner Meinung nach sollte man also nur jenen Dingen gegenüber gleichgültig sein, die sich dem eigenen Einflussbereich entziehen. Und man sollte sich unbedingt klarwerden, auf welch vielfältige, manchmal sogar unmerkliche Weise man den Lauf der Dinge beeinflussen kann.
Heutzutage empfindet man die Politik allerdings oft als etwas absolut nicht Beeinflussbares. Einfacher gesagt: Wenn Brüssel, Berlin und »der Markt« alles entscheiden, liegt es nahe, nicht aktiv zu werden, weil man fest der Überzeugung ist, es gäbe keine Alternative zum Bestehenden.