Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «Jesus’ Son» 1992 bei Farrar, Straus & Giroux, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2019
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«Jesus’ Son» Copyright © 1992 by Denis Johnson
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Umschlaggestaltung Alexander Fest und Cordula Schmidt
Foto The Dorothea Lange Collection
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ISBN Printausgabe 978-3-499-24524-4 (1. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-00016-2
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-00016-2
Für Bob Cornfield
When I’m rushing on my run
And I feel just like Jesus’ son …
LOU REED, «Heroin»
Ein Vertreter, der jemanden zum Mitsaufen suchte und am Lenkrad einschlief … ein Irokese, abgefüllt mit Bourbon … ein VW wie eine riesige Blase Haschischrauch, am Steuer ein Student …
… und eine Familie aus Marshalltown, die einen Mann, der in westlicher Richtung aus Bethany, Missouri, herausfuhr, frontal erwischte und ins ewige Jenseits beförderte …
… ich stand auf, durchnäßt bis auf die Knochen, denn ich hatte im strömenden Regen geschlafen, und noch nicht so richtig bei mir, und alles wegen der ersten drei der eben erwähnten Leute – dem Vertreter, dem Indianer und dem Studenten –, die mir von ihren Drogen abgegeben hatten. Ich wartete am oberen Ende der Auffahrt, ohne große Hoffnung, daß jemand halten würde. Weshalb hätte ich meinen Schlafsack zusammenrollen sollen, wo ich doch sowieso zu naß war, um mitgenommen zu werden? Ich legte ihn mir wie ein Cape um die Schultern. Platzregen harkte den Asphalt und gurgelte in den Spurrillen. Meine Gedanken rasten erbärmlich. Der Handelsvertreter hatte mich mit Pillen vollgestopft; jetzt war mir, als hätte man mir die Venen ausgeschabt. Mein Kiefer tat weh. Ich kannte jeden Regentropfen mit Namen. Ich sah alles kommen, ehe es geschah. Ich wußte, daß ein bestimmtes Oldsmobile halten würde, ehe es noch sein Tempo drosselte, und als ich drinnen die süßen Stimmen der Familie hörte, wußte ich, daß wir in dem Unwetter einen Unfall haben würden.
Es war mir egal. Sie sagten, sie könnten mich zu dem Ort bringen, wo ich hinwollte.
Der Mann und die Frau holten das kleine Mädchen zu sich nach vorn und ließen das Baby hinten bei mir und meinem triefenden Schlafsack. «Besonders schnell werden Sie mit uns aber nicht sein», sagte der Mann. «Wegen meiner Frau und den Kindern, wissen Sie.»
Euch hat die Vorsehung geschickt, dachte ich. Und knüllte den Schlafsack gegen die Tür zu meiner Linken, bettete mich drauf und verschwendete keinen Gedanken mehr daran, ob ich weiterleben oder sterben würde. Das Baby schlief ungesichert neben mir auf dem Sitz. Es war ungefähr neun Monate alt.
… Nicht lange zuvor, am Nachmittag, war ich im Luxusauto des Vertreters nach Kansas City gerauscht. Er hatte mich in Texas aufgelesen, und vom ersten Moment an hatte sich zwischen uns eine gefährliche, zynische Kumpanei entwickelt. Wir zogen uns seine Amphetamine rein, und alle naslang fuhren wir von der Interstate ab, um eine Flasche Canadian Club und einen Beutel Eiswürfel zu kaufen. An der Innenseite beider Wagentüren waren zylindrische Glashalter angebracht, und alles war weiß und ledrig. Er sagte, er werde mich nach Hause mitnehmen, zu seiner Familie; ich könne dort übernachten; er wolle bloß noch bei einer Bekannten vorbeischauen.
Unter Wolken wie großen grauen Gehirnen verließen wir den Highway und fuhren im dichten Abendverkehr nach Kansas City hinein. Wir hatten uns gefühlt, als flögen wir; jetzt fühlten wir uns wie auf Grund gelaufen. Und sobald wir langsamer wurden, war der Zauber des gemeinsamen Reisens dahin. Er hörte nicht auf, von seiner Freundin zu reden. «Ich mag das Mädchen, ich glaub sogar, ich liebe das Mädchen – aber ich hab zwei Kinder und eine Frau, das bringt Verpflichtungen mit sich. Und zu allem Überfluß liebe ich auch meine Frau. Bin ein echtes Liebestalent. Ich liebe meine Kinder. Ich liebe die ganze Sippe.» Als er kein Ende fand, fühlte ich mich links liegengelassen und wurde traurig. «Ich hab ein Boot, so ein kleines Sechs-Meter-Ding. Ich hab zwei Autos. Hinterm Haus ist noch Platz für ’nen Pool.» Er fand seine Freundin bei der Arbeit. Sie hatte einen Möbelladen, und dort verlor ich ihn aus den Augen.
Die Wolken blieben, bis es Nacht wurde. In der Dunkelheit merkte ich nicht, wie der Sturm sich zusammenbraute. Der Fahrer des Volkswagens, ein Universitätsmensch, ebender, der mir den Kopf mit Haschisch zudröhnte, setzte mich hinter der Stadtgrenze ab, und genau in dem Augenblick begann es zu regnen. Obwohl ich Massen von Speed genommen hatte, konnte ich mich nun nicht mehr auf den Beinen halten. Ich legte mich neben der Ausfahrt ins Gras und erwachte in einer Pfütze, die sich um mich herum gebildet hatte.
Und später, wie gesagt, schlief ich dann auf dem Rücksitz, während das Oldsmobile – und mit ihm die Familie aus Marshalltown – sich durch den aufspritzenden Regen kämpfte. Und doch träumte ich, ich könnte durch meine Augenlider sehen, und mein Puls vermerkte jede Sekunde. Die Interstate durch das westliche Missouri war damals nichts als eine zweispurige Straße, wenigstens zum größten Teil. Immer wenn ein entgegenkommender Sattelschlepper an uns vorbeifuhr, nahm uns ein Wasserschwall völlig die Sicht, und ein Getümmel von Geräuschen überzog uns, ungefähr wie in einer automatischen Waschanlage. Die Scheibenwischer flappten auf der Windschutzscheibe hin und her – zwecklos. Ich war erschöpft, und nach einer Stunde schlief ich noch tiefer.
Die ganze Zeit über hatte ich genau gewußt, was passieren würde. Doch als der Mann und die Frau mich später weckten, bestritten sie’s wütend.
«Oh – nein!»
«NEIN!»
Ich wurde so heftig gegen den Vordersitz geschleudert, daß die Lehne brach. Dann prallte ich mehrmals vor und zurück. Etwas Flüssiges flog durch das Auto und regnete auf meinen Kopf, und ich wußte sofort, das war das Blut eines Menschen. Danach saß ich wieder auf dem Rücksitz, genauso wie vorher. Ich richtete mich auf und blickte mich um. Unsere Scheinwerfer waren ausgegangen. Der Kühler zischte vor sich hin. Sonst kein Laut. Außer mir war, soweit ich es erkennen konnte, niemand bei Bewußtsein. Sobald meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich, daß das Baby neben mir auf dem Rücken lag, als wäre nichts geschehen. Seine Augen waren geöffnet, und es befühlte sich die Wangen mit den Händchen.
Sekunden später setzte sich der Fahrer, der zusammengesunken über dem Lenkrad gelegen hatte, auf und starrte uns an. Sein Gesicht war zertrümmert und schwarz vor Blut. Wenn ich ihn bloß ansah, taten mir die Zähne weh, aber als er sprach, klang es nicht so, als wäre ihm auch nur ein einziger Zahn herausgebrochen.
«Was war das denn?»
«Ein Unfall», sagte er.
«Dem Baby ist nichts passiert», sagte ich, obwohl ich gar nicht wußte, was mit dem Baby war.
Er drehte sich zu seiner Frau.
«Janice», sagte er. «Janice, Janice!»
«Hat sie was abgekriegt?»
«Sie ist tot!» sagte er und schüttelte sie grimmig.
«Nein, ist sie nicht.» Inzwischen tat auch ich so, als wäre überhaupt nichts geschehen.
Das kleine Mädchen lebte, war nur bewußtlos. Es wimmerte im Schlaf. Aber der Mann schüttelte die ganze Zeit nur seine Frau.
«Janice!» brüllte er.
Die Frau stöhnte.
«Die ist nicht tot», sagte ich, kletterte aus dem Wagen und lief weg.
«Aber sie will einfach nicht wieder aufwachen», hörte ich ihn noch sagen.
Ich stand draußen in der Nacht. Aus irgendeinem Grund hielt ich das Baby im Arm. Bestimmt hat es noch geregnet, aber an das Wetter erinnere ich mich nicht mehr. Wir waren mit einem anderen Auto zusammengestoßen, und zwar, wie ich jetzt erkannte, auf einer zweispurigen Brücke. Wasser floß unsichtbar unter uns in der Dunkelheit.
Als ich zu dem anderen Wagen hinüberging, hörte ich plötzlich ein schepperndes, metallisches Schnarchen. Jemand war bis zur Hüfte aus der Beifahrertür geschleudert worden – die stand nämlich offen – und sah nun aus wie ein Mensch, der mit den Füßen von einem Trapez hängt. Das Auto war seitlich gerammt und so platt gedrückt worden, daß nicht mal mehr für die Beine des Mannes Platz geblieben war, von einem Fahrer oder weiteren Mitfahrern ganz zu schweigen. Ich ging schnell weiter.
Aus der Ferne kamen Scheinwerfer. Ich stellte mich an die Stirnseite der Brücke, winkte mit einem Arm, daß sie anhalten sollten, und drückte mit dem anderen das Baby an meine Schulter.
Es war ein großer Sattelschlepper; als er bremste, jaulte das Getriebe auf. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter, und ich schrie: «Wir hatten einen Unfall. Holen Sie Hilfe.»
«Ich kann hier nicht wenden», sagte er.
Er ließ mich mit dem Baby an der Beifahrerseite hinein, und wir saßen einfach da, in der Fahrerkabine, und sahen auf die Wracks im Scheinwerferlicht.
«Alle tot?» fragte er.
«Keine Ahnung, wer tot ist und wer nicht», sagte ich.
Aus einer Thermosflasche goß er Kaffee in einen Becher und schaltete alle Scheinwerfer bis auf das Standlicht aus.
«Wieviel Uhr ist es?»
«Och», sagte er, «so Viertel nach drei.»
Er verhielt sich, als wäre es völlig in Ordnung, daß wir in dieser Situation keinen Finger rührten. Ich war erleichtert, den Tränen nahe. Ich hatte geglaubt, ich müßte irgendwas tun, hatte aber gar nicht wissen wollen, was.
Als ich aus der anderen Richtung ein Auto kommen sah, fand ich dennoch, ich sollte mit den Leuten reden. «Könnten Sie das Baby nehmen?» fragte ich den Lastwagenfahrer.
«Den behältst du mal besser bei dir», sagte der Fahrer. «Ist ein Junge, oder?»
«Glaub schon, ja», sagte ich.
Der Mann, der aus dem Autowrack hing, lebte noch, als ich an ihm vorbeiging, und ich blieb stehen, inzwischen schon ein bißchen daran gewöhnt, wie übel er zugerichtet war, und vergewisserte mich, daß ich nichts für ihn tun konnte. Sein Schnarchen klang laut und grob. Bei jedem Atemzug quoll ihm Blut aus dem Mund. Lange würde er nicht mehr weiteratmen. Ich wußte das und er nicht, und darum sah ich dort den großen Jammer eines Menschenlebens auf dieser Erde. Ich meine nicht, daß wir irgendwann alle tot sind, das ist nicht der große Jammer. Ich meine, daß er mir nicht sagen konnte, was er träumte, und ich ihm nicht sagen konnte, was wirklich geschah.
Kurz darauf standen Autoschlangen auf beiden Seiten der Brücke, Scheinwerferlicht schuf um den dampfenden Schrotthaufen eine Stimmung wie bei einem nächtlichen Fußballspiel, und Kranken- und Polizeiwagen bahnten sich zögernd ihren Weg, so daß die Luft farbig zuckte. Ich sprach mit niemandem. Mein Geheimnis war, daß ich eben noch der Herr und Meister dieser Tragödie gewesen war, jetzt jedoch nichts als der gesichtslose Begaffer eines blutigen Unfalls. Irgendwann hörte ein Polizist, daß ich in einem der Autos gesessen hatte, und nahm meine Aussage auf. Ich hab alles davon vergessen, außer daß er zu mir sagte: «Machen Sie die Zigarette aus.» Als der sterbende Mann in den Krankenwagen gehievt wurde, hielten wir im Reden inne und schauten zu. Er war noch immer am Leben, träumte noch immer seine obszönen Träume. Blut floß in Rinnsalen an ihm herab. Seine Knie zitterten, sein Mund röchelte.
Mit mir war alles in Ordnung, und ich hatte überhaupt nichts mitgekriegt, aber der Polizist mußte mich trotzdem befragen und ins Krankenhaus bringen. Als wir beim Eingang zur Notaufnahme unter das Vordach fuhren, kam über Funk die Meldung, daß der Mann gestorben war.
Ich stand in einem gekachelten Gang, quetschte mich mit dem klitschnassen Schlafsack gegen die Wand, sprach mit irgendwem von der örtlichen Leichenhalle.
Der Doktor blieb kurz stehen und sagte, ich solle mich besser röntgen lassen.
«Nein.»
«Wär aber gut. Wenn sich später herausstellen sollte, daß doch irgendwas war … »
«Mit mir ist alles in Ordnung.»
Dann kam die Frau den Gang herunter. Sie war eine Pracht – sie glühte. Sie wußte noch nicht, daß ihr Mann tot war. Wir wußten es. Das gab ihr diese Macht über uns. Der Doktor bat sie in ein Zimmer mit einem Schreibtisch am Ende des Gangs, und unter der geschlossenen Tür strömte ein strahlend heller Glanz hervor, als würden dort drinnen in einem phantastischen Verfahren Diamanten zu Asche verbrannt. Was für Lungen! Sie schrie schrill auf, so wie, vermute ich mal, ein Adler aufschreit. Es war ein wunderbares Gefühl, am Leben zu sein und das zu hören! Überall habe ich seither dieses Gefühl gesucht.
«Mit mir ist alles in Ordnung» – ich kann kaum glauben, daß ich diese Worte herausbrachte. Aber ich habe Ärzte schon immer angelogen, als bestünde Gesundheit lediglich in der Fähigkeit, ihnen was vorzumachen.
Als ich ein paar Jahre später zum Entzug im General Hospital von Seattle war, versuchte ich es wieder mit dem Dreh.
«Hören Sie ungewöhnliche Geräusche oder Stimmen?» fragte der Arzt.
«Hilf uns … barmherziger Gott … tut das weh!» jammerten die Schachteln mit den Wattebäuschen.
«Eigentlich nicht», sagte ich.
«Eigentlich nicht?» sagte er. «Was soll das denn nun heißen?»
«Ich glaube, das ist alles noch ein bißchen viel für mich», sagte ich. Ein gelber Vogel flatterte mir dicht vorm Gesicht; meine Muskeln zuckten nach ihm. Jetzt wand ich mich hoch und nieder wie ein Fisch. Als ich die Lider zupreßte, schossen mir heiße Tränen aus den Augen; als ich sie wieder öffnete, lag ich auf dem Bauch.
«Wieso ist das Zimmer so weiß geworden?» sagte ich.
Eine wunderschöne Schwester betastete meine Haut. «Das hier sind bloß Vitamine», sagte sie und schob mir die Nadel ins Fleisch.
Es regnete. Riesenhafte Farne neigten sich über uns. Wald schwebte einen Hügel hinab. Ich hörte einen Bach über Steine rauschen. Und ihr, ihr lächerlichen Leutchen, ihr glaubt, ich könnte euch helfen.
Dem ersten Mann bin ich begegnet, als ich mich nach einer Party im Haus der Kriegsveteranen auf den Heimweg machte. Zwei Freunde holten mich von der Tanzfläche. Ich hatte schon vergessen, daß sie überhaupt mitgekommen waren, aber da waren sie! Wieder einmal haßte ich die beiden. Durch irgendein Versehen, irgendein tiefsitzendes Mißverständnis, das nur noch nicht ans Licht gekommen war, hatten wir drei uns zusammengetan, und nun blieben wir zusammen, gingen in Bars und redeten. In aller Regel erledigen sich solche falschen Bündnisse nach einem oder anderthalb Tagen, aber dieses hielt bereits über ein Jahr. Später wurde einer der beiden verwundet, als wir gemeinsam eine Apotheke ausraubten; wir zwei andern legten ihn blutend am Hintereingang des Krankenhauses ab; er kam ins Gefängnis, und alles, was uns verbunden hatte, war gekappt. Noch später bekamen wir ihn gegen Kaution frei, und schließlich wurde die Anklage gegen ihn in sämtlichen Punkten fallengelassen, aber wir hatten uns nun mal die Brust aufgerissen und ihm unser feiges Herz gezeigt, und nach so was kann man nicht länger befreundet sein.
An dem Abend im Haus der Kriegsveteranen hatte