Aus dem Englischen
von Dirk Höfer
Gewidmet all denen, die sich für den Schutz
der Ozeane einsetzen
Das Bedürfnis nach Kontinuität hat sich in weiten Bereichen der Wissenschaft als von wahrhaft prophetischer Kraft erwiesen. Wir sollten uns deshalb ernsthaft mit jeder Möglichkeit auseinandersetzen, die Heraufkunft des Bewusstseins in einer Weise zu erwägen, die es nicht als den Einbruch einer neuen, bis dahin nicht existenten Natur in das Universum erscheinen lässt.
William James, The Principles of Psychology, 1890
Nach hawaiianischer Auffassung ist das Drama der Schöpfung in verschiedene Stadien unterteilt … Zunächst entstehen die niedrigen Zoophyten und Korallen, auf diese folgen die Würmer und Schalentiere, wobei offenbar jede Art ihre Vorläufer in einem Existenzkampf, in dem der Stärkste überlebt, überwältigt und zerstört. Gleichzeitig mit dieser Evolution der tierischen Lebensformen beginnt sich auf dem Land und im Meer pflanzliches Leben zu etablieren – erst in Form von Algen, auf die Seetang und Binsen folgen. Art folgt auf Art, und mit dem sich ansammelnden Schleim ihres Verfalls hebt sich das Land aus dem Wasser, in welchem, einsamer Überlebender einer einstigen Welt, der Krake, dies alles betrachtend, schwimmt.
Roland Dixon, Oceanic Mythology, 1916
1. Begegnungen auf dem Stammbaum des Lebens
Zwei Begegnungen und eine Verzweigung ~ Übersicht
2. Eine Geschichte der Tiere
Anfänge ~ Zusammenleben ~ Neuronen und Nervensysteme
~ Der Garten ~ Sinne ~ Die Gabelung
3. Schabernack und Listigkeit
Im Schwammgarten ~ Die Evolution der Kopffüßer
~ Das Rätsel der Intelligenz ~ Zu Besuch in Octopolis
~ Evolution der Nerven ~ Körper und Kontrolle
~ Konvergenz und Divergenz
4. Vom weißen Rauschen zum Bewusstsein
Wie ist es … ~ Die Evolution des subjektiven Erlebens
~ Spätes Erscheinen oder Transformation ~ Der Krake
5. Farbenspiele
Die Riesensepia ~ Farben erzeugen ~ Farben sehen
~ Gesehen werden ~ Pavian und Kalmar ~ Symphonie
6. Unser Geist und andere
Von Hume zu Wygotski ~ Fleischgewordenes Wort
~ Bewusstes Erleben ~ Geschlossener Kreis
7. Komprimierte Erfahrung
Verfall ~ Leben und Tod ~ Ein Schwarm Motorräder
~ Lange und kurze Lebenserwartung ~ Gespenster
8. Octopolis
Ein Armvoll Kraken ~ Wie Octopolis entstanden ist ~ Parallelen
~ Ozeane
Danksagungen
Anmerkungen
Sachregister
An einem Frühlingsmorgen des Jahres 2009 warf Matthew Lawrence irgendwo inmitten einer blauen Meeresbucht an der Ostküste Australiens den Anker seines kleinen Boots aus und sprang über Bord. Mit einem Tauchgerät auf dem Rücken ging er unter Wasser an die Stelle, wo sein Anker lag, hob ihn auf und wartete. Die auf dem Wasser herrschende Brise erfasste das Boot, das ins Treiben geriet, und Matt folgte, den Anker in der Hand.
Die Bucht ist bekannt für ihre guten Tauchgründe, aber für gewöhnlich suchen die Taucher nur einige wenige spektakuläre Stellen auf. Angesichts der Größe der Bucht, die zudem ziemlich ruhig ist, hatte Matt, ein in der Nähe lebender Tauchenthusiast, mit einem Programm zur Unterwassererkundung begonnen. Er ließ das leere Boot über sich von der Brise forttragen, bis sich sein Luftvorrat dem Ende neigte und er dem Ankertau entlang wieder nach oben schwamm. Als er auf einem seiner Tauchgänge über ein flaches und sandiges, mit Kammmuscheln übersätes Gebiet streifte, stieß er auf etwas Ungewöhnliches. Rund um eine Art einzelnen Felsbrocken herum hatte sich ein Haufen leerer Muschelschalen – es waren Tausende – angelagert. Auf dem Muschelbett befanden sich Kraken, etwa ein Dutzend, jeder in einer flachen ausgehobenen Mulde. Matt ließ sich hinabsinken und verweilte in ihrer Nähe. Die Kraken waren so groß wie Fußbälle, manche auch etwas kleiner. Ihre Arme hatten sie unter den Körper geschlagen. Meistens waren sie braungrau, doch sie wechselten jeden Moment ihre Farbe. Sie besaßen große Augen, die denen des Menschen gar nicht so unähnlich sind, wären da nicht die dunklen horizontalen Pupillen gewesen – auf die Seite gekippte Katzenaugen.
Die Kraken beobachteten Matt und behielten sich auch gegenseitig im Auge. Ein paar begannen umherzuwandern. Sie hievten sich aus ihren Höhlen und bewegten sich schlurfend und im Schlendergang über das Muschelbett. Meistens gab es keine Reaktion von den anderen, gelegentlich aber verknäuelten sich zwei der Tiere in einem vielarmigen Ringkampf. Offenbar waren die Kraken einander weder freundlich noch feindlich gesonnen, sondern schienen in komplizierter Weise zusammenzuleben. Und als ob die Szene nicht schon eigenartig genug gewesen wäre, lagen unzählige Babyhaie, jeder etwa 15 Zentimeter lang, ruhig auf den Muscheln, während die Kraken um sie herumstrichen.
Ein paar Jahre zuvor schnorchelte ich in einer anderen bei Sydney gelegenen Bucht, einer Stelle voller Felsbrocken und Riffe. Unter einem Vorsprung sah ich, wie sich etwas bewegte, etwas überraschend Großes, und ich tauchte hinab, um es mir anzusehen. Was ich dann sah, sah aus wie ein an eine Schildkröte gehefteter Krake. Das Tier besaß einen flachen Körper, einen markanten Kopf und acht Arme, die direkt aus dem Kopf kamen. Die Arme waren beweglich und mit Saugnäpfen ausgestattet, in etwa so wie die Arme eines Kraken. Sein Rücken war von einer Art Rock gesäumt, ein paar Zentimeter breit, der sich sanft bewegte. Das Tier schien alle Farben gleichzeitig anzunehmen – rot, grau, blaugrün. Die Muster kamen und gingen in Sekundenbruchteilen. Zwischen den Farbflecken zogen sich, glühenden Stromleitungen gleich, Silberadern. Das Tier schwebte eine Handbreit über dem Meeresboden und kam dann näher, um mich anzusehen. Wie ich bereits von oben an der Wasseroberfläche vermutet hatte, war diese Kreatur groß – einen knappen Meter lang. Die Arme wanderten in alle Richtungen, die Farben kamen und gingen, und das Tier bewegte sich vor und wieder zurück.
Es handelte sich um eine Riesensepia. Die Sepien oder echten Tintenfische sind Verwandte der Kraken. Noch enger verwandt sind sie mit den Kalmaren. Diese drei – Kraken, Sepien und Kalmare – sind Mitglieder der Kopffüßer oder Cephalopoden. Eine weitere bekannte Gruppe der Kopffüßer sind die Perlboote, Schalentiere, die in den Tiefen des Pazifiks vorkommen und sich in ihrer Lebensweise deutlich von den Kraken und ihren Vettern unterscheiden. Kraken, Sepien und Kalmaren ist darüber hinaus eines gemeinsam: Sie besitzen ein großes und komplexes Nervensystem.
Ich tauchte wiederholt hinab, hielt die Luft an, um das Tier zu beobachten. Schon bald war ich erschöpft, zögerte aber zugleich, davon abzulassen, da die Kreatur an mir ebenso interessiert schien, wie ich an ihr (an ihm?). Das war meine erste Erfahrung mit einem Aspekt dieser Tiere, der mich seither nicht mehr losgelassen hat – das Gefühl gegenseitigen Interesses, das man mit ihnen erleben kann. Sie betrachten einen eingehend, halten dabei für gewöhnlich Distanz, häufig jedoch nicht allzu sehr. Manchmal, wenn ich einer Riesensepia sehr nahe kam, streckte sie einen Arm aus, nur ein paar Zentimeter, um den meinen zu berühren. Gewöhnlich erfolgte bloß eine Berührung, dabei blieb es. Kraken hingegen zeigen ein stärkeres taktiles Interesse. Wenn man vor ihrer Höhle sitzt und eine Hand ausstreckt, strecken sie häufig ein oder zwei Arme aus, zunächst zur Erkundung und dann, absurd genug, um dich in ihren Unterschlupf zu ziehen. Zweifellos handelt es sich dabei meistens um den allzu ehrgeizigen Versuch, dich zu einer Mahlzeit zu machen. Kraken sind aber, wie nachgewiesen wurde, auch an Gegenständen interessiert, von denen sie ziemlich genau wissen, dass sie sie nicht fressen können.
Um solche Begegnungen zwischen Menschen und Kopffüßern zu verstehen, müssen wir an ein genau entgegengesetztes Ereignis zurückgehen, an ein Auseinandergehen, eine Verzweigung. Die Verzweigung fand lange vor diesen Begegnungen statt, gut 600 Millionen Jahre früher. Sie hatte mit im Ozean lebenden Tieren zu tun. Niemand weiß, wie diese Tiere im Detail ausgesehen haben. Vielleicht hatten sie die Gestalt kleiner, abgeflachter Würmer. Sie mögen lediglich ein paar Millimeter lang gewesen sein, vielleicht auch etwas größer. Möglicherweise schwammen sie über den Meeresboden, oder sie krochen, vielleicht auch beides. Sie mögen einfache Augen besessen haben, zumindest aber wohl lichtempfindliche Flecken auf beiden Seiten. Wenn dem so war, wird es nicht viel mehr gegeben haben, was auf Kopf und Schwanz hingewiesen hätte. Sie besaßen ein Nervensystem. Die Nerven mögen sich netzförmig über den ganzen Körper verteilt haben, vielleicht haben sie sich sogar stellenweise zu einem kleinen Gehirn verdichtet. Was diese Tiere gefressen und wie sie sich fortgepflanzt haben – all das ist unbekannt. Aber sie besaßen ein Merkmal, das aus evolutionärer Sicht von großem Interesse ist, ein Merkmal, das nur rückblickend sichtbar wird. Diese Kreaturen waren die letzten gemeinsamen Vorfahren der Säugetiere und der Kopffüßer, der Kraken und uns selbst. Sie sind die letzten gemeinsamen Vorfahren im Sinne von die jüngsten, die letzten in einer Reihe.
Die Geschichte der Tiere hat die Form eines Baums. Aus einer einzigen Wurzel entspringt, wenn wir dem Entwicklungsprozess in der Zeit folgen, eine Reihe von Abzweigungen. Eine Art spaltet sich in zwei Arten auf und diese beiden Arten spalten sich wiederum auf – falls sie zuvor nicht aussterben. Wenn sich eine Art aufspaltet und beide Seiten überleben und sich wiederholt spalten, entwickeln sich womöglich zwei oder mehr Gruppierungen von Arten, wobei sich die einzelnen Gruppen von den anderen jeweils so stark unterscheiden, dass sie mit einem Familiennamen – Säugetiere, Vögel – abgehoben werden können. Die gewaltigen Unterschiede zwischen heute lebenden Tieren – etwa zwischen Käfern und Elefanten – haben ihren Ursprung in diesen winzigen, unbedeutenden Aufspaltungen, die vor vielen Millionen Jahren eingetreten sind. Eine Verzweigung erfolgte, und es bildeten sich zwei neue Gruppen von Organismen, eine auf jeder Seite, die sich anfangs noch glichen, sich seither aber unabhängig entwickelten. Stellen Sie sich einen Baum vor, der von Weitem gesehen eine auf dem Kopf stehende dreieckige oder konische Form aufweist und in seinem Inneren äußerst unregelmäßig ist – etwa in dieser Art:
Stellen Sie sich nun vor, Sie sitzen oben auf dem Baum und schauen hinunter. Sie sitzen ganz oben, weil sie heute leben (nicht weil sie höherstehend sind) und um Sie herum befinden sich all die anderen Organismen, die es momentan auf der Welt gibt. In Ihrer Nähe befinden sich Ihre heute lebenden Cousins und Cousinen, etwa Schimpansen und Katzen. Wenn Sie in horizontaler Linie über den Baumwipfel blicken, sehen Sie, etwas weiter weg, jene Tiere, mit denen Sie entfernter verwandt sind. Der vollständige Stammbaum des Lebens enthält auch Pflanzen, Bakterien, Protozoen und anderes mehr, wir wollen uns hier aber auf die Tiere beschränken. Wenn Sie nun nach unten in Richtung Wurzel schauen, sehen Sie Ihre Vorfahren, sowohl die aus jüngerer Zeit als auch die weit zurückliegenden. Für jede paarweise Anordnung von heute lebenden Tieren (Sie und ein Vogel, Sie und ein Fisch, ein Vogel und ein Fisch) lassen sich den Baum abwärts zwei Abstammungslinien verfolgen, die an einem bestimmten Punkt bei einem gemeinsamen Vorfahren, einem Vorfahren beider Tiere, zusammentreffen. Auf diesen gemeinsamen Vorfahren wird man stoßen, wenn man ein kurzes oder auch ein längeres Stück den Baum abwärts geht. Bei Mensch und Schimpanse gelangen wir relativ schnell zu einem gemeinsamen Vorfahren, der etwa vor sechs Millionen Jahren gelebt hat. Bei sehr unterschiedlichen Paarungen – etwa Mensch und Käfer – müssen wir die Abstammungslinien viel weiter nach unten verfolgen.
Wenn Sie, im Baum sitzend, ihre näheren und entfernteren Verwandten überblicken, richten Sie ihr Augenmerk auf eine besondere Gruppe, auf jene Tiere, die wir gewöhnlich für klug halten, also die mit den großen Gehirnen, die ein komplexes und flexibles Verhalten an den Tag legen. Neben dem Menschen werden dazu mit Sicherheit Schimpansen und Delfine, aber auch Hunde und Katzen gehören. Auf dem Baum befinden sich all diese Tiere in Ihrer Nähe. Von einem evolutionären Standpunkt aus betrachtet, sind sie Ihre näheren Verwandten. Um diese Übung richtig durchzuführen, sollten wir auch Vögel mit einschließen. Zu den wichtigsten Entwicklungen in der Tierpsychologie der letzten Jahrzehnte gehörte die Einsicht, dass auch Krähen und Papageien überaus intelligent sind. Dabei handelt es sich zwar nicht um Säugetiere, aber als Wirbeltiere stehen sie uns noch immer recht nahe, wenn auch nicht so nahe wie Schimpansen. Nun, da wir all diese Vögel und Säugetiere zusammengesammelt haben, ergibt sich die Frage, wie ihr jüngster gemeinsamer Vorfahre ausgesehen und wann er gelebt haben mag. Wenn wir also den Baum hinabblicken, dorthin, wo sich ihre Abstammungslinien vereinigen, welche Lebensform werden wir dort vorfinden?
Die Antwort: ein eidechsenähnliches Tier. Es lebte ungefähr vor 320 Millionen Jahren, kurz vor dem Zeitalter der Dinosaurier. Dieses Tier besaß eine Wirbelsäule, war von mittlerer Größe und an das Leben an Land angepasst. Seine Architektur war mit vier Gliedmaßen, einem Kopf und einem Skelett der unseren nicht unähnlich. Es wanderte umher, nutzte ähnliche Sinnesorgane wie wir und verfügte über ein gut entwickeltes Zentralnervensystem.
Nun wollen wir den gemeinsamen Vorfahren finden, der diese erste Tiergruppe, zu der wir selbst gehören, mit dem Kraken verbindet. Um auf dieses Tier zu stoßen, müssen wir die Äste viel weiter nach unten klettern. Wir entdecken es 600 Millionen Jahre vor unserer Zeit, es ist jene wurmähnliche Kreatur, die ich bereits beschrieben habe.
Der nötige Sprung zurück in der Zeit ist beinahe doppelt so groß wie der Schritt, den wir unternehmen mussten, um den gemeinsamen Vorfahren von Vögeln und Säugetieren zu finden. Der Vorfahre von Mensch und Krake lebte zu einer Zeit, als noch kein Organismus das Land betreten hatte und die größten Tiere – neben ein paar Kuriositäten, die ich im nächsten Kapitel besprechen werde – wahrscheinlich Schwämme und Quallen waren.
Nehmen wir an, wir sind auf genau dieses Tier gestoßen, sodass wir nun den Aufbruch, die Verzweigung, im Moment ihres Geschehens betrachten können. In einem trüben Ozean (auf dem Meeresboden oder in der Wassersäule) beobachten wir unzählige solcher Würmer und wie sie leben, sterben und sich fortpflanzen. Aus Gründen, die wir nicht kennen, spalten sich, herbeigeführt durch eine Häufung von zufälligen Veränderungen, einige von den übrigen ab und beginnen eine andersgeartete Lebensweise. Im Laufe der Zeit entwickeln ihre Nachfahren unterschiedliche Körper. Die beiden Seiten der Verzweigung spalten sich immer weiter auf, und schon bald blicken wir nicht nur auf zwei verschiedene Ansammlungen von Würmern, sondern auf zwei gewaltige Äste des evolutionären Stammbaums.
Von dieser im Wasser stattfindenden Spaltung führt ein Pfad zu unserem Ast auf dem Stammbaum. Er führt unter anderem zu den Wirbeltieren und innerhalb dieser zu den Säugetieren und schließlich zu den Menschen. Der zweite Pfad führt zu einem breiten Spektrum von Wirbellosen, darunter Krebse, Bienen und ihre Verwandten, verschiedene Arten von Würmern, und zu den Weichtieren, der Gruppe, zu der Kammmuscheln, Austern und Schnecken gehören. Der Ast beherbergt nicht alle Tiere, die gemeinhin zu den Wirbellosen gezählt werden, aber auf ihm sitzen mit den Spinnen, den Hundertfüßern, den Jakobsmuscheln, den Faltern die bekanntesten.
Auf diesem Ast sind, von Ausnahmen abgesehen, die meisten Tiere ziemlich klein, und sie besitzen nur ein kleines Nervensystem. Manche Insekten und Spinnentiere bilden äußerst komplexe, insbesondere soziale Verhaltensweisen aus, sie verfügen aber dennoch nur über kleine Nervensysteme. So sieht es im Allgemeinen auf diesem Ast aus, mit einer Ausnahme, den Kopffüßern. Diese stellen eine Untergruppe der Weichtiere dar; sie sind also mit den Muscheln und Schnecken verwandt, entwickelten jedoch ein großes Nervensystem und die Fähigkeit zu einem Verhalten, das sich von dem anderer Wirbelloser stark unterscheidet. Dieses komplexe Verhalten entwickelten sie auf einem evolutionären Pfad, der sich von dem unseren völlig unterscheidet. In einem Ozean von wirbellosen Tieren bilden Kopffüßer eine Insel mentaler Komplexität. Weil unser jüngster gemeinsame Vorfahr so einfach gebaut war und so weit in der Zeit zurückliegt, sind die Kopffüßer ein unabhängiges Experiment der Evolution großer Gehirne und komplexer Verhaltensweisen. Wenn wir mit den Kopffüßern als fühlenden Wesen Kontakt aufnehmen können, dann nicht aufgrund einer gemeinsamen Geschichte oder eines Verwandtschaftsverhältnisses, sondern weil die Evolution den Geist zweimal erfunden hat. Wahrscheinlich werden wir der Erfahrung, einem intelligenten Alien zu begegnen, nie näher kommen.
Zu den klassischen Problemen meines Fachs, der Philosophie, gehört das Verhältnis von Geist und Materie. Wie fügen sich Empfindung, Intelligenz und Bewusstsein in die materielle Welt? So gewaltig dieses Problem auch ist, in diesem Buch möchte ich der Lösung einen Schritt näher kommen. Ich nehme mich des Problems an, indem ich einem evolutionären Pfad folge; ich möchte wissen, wie Bewusstsein aus jenen Ausgangsmaterialien entstehen konnte, die in Lebewesen vorkommen. Vor sehr langer Zeit gehörten Tiere zu den vielen verschiedenen unregelmäßigen Zellhaufen im Meer, die damit begonnen hatten, in Verbänden zu leben. Doch einige von ihnen haben in der Folge eine besondere Lebensweise angenommen. Sie schlugen einen Weg ein, der ihnen zu Mobilität und Aktivität verhalf, ihnen Augen und Fühler wachsen ließ und ihnen Mittel verlieh, Gegenstände in ihrer Umgebung zu manipulieren. Sie entwickelten das Kriechen der Würmer, das Sirren der Stechmücken, die globalen Wanderungen der Wale. Als Teil dieser Entwicklung kam in einem nicht näher bestimmbaren Stadium die Evolution des subjektiven Erlebens hinzu. Bei einigen Tieren entstand etwas, das sie fühlen ließ, ein solches Tier zu sein. Es entstand eine Art Selbst, das erlebt, was vor sich geht.
Mein Interesse gilt dem Erleben und all seinen Formen, in denen es sich entwickelte, aber in diesem Buch kommt den Kopffüßern besondere Bedeutung zu. Dies vor allem deshalb, weil sie so bemerkenswerte Geschöpfe sind. Wenn sie sprechen könnten, hätten sie uns eine Menge zu erzählen. Doch ist dies nicht der einzige Grund, warum sie durch das vorliegende Buch kraxeln und schwimmen. Die Tiere lenkten meinen Gang durch die philosophischen Probleme; ihnen durch das Meer zu folgen und herauszufinden, was sie tun, wurde zu einem wichtigen Teil meines Wegs.
Beschäftigt man sich mit dem Verstand von Tieren und den sich daraus ergebenden Fragen, geschieht es leicht, dass man zu sehr von sich selbst ausgeht. Denn wenn wir uns vom Leben und dem Erleben einfacherer Tiere ein Bild machen wollen, endet dies allzu oft damit, dass wir uns verkleinerte Versionen unserer selbst vorstellen. Durch die Kopffüßer kommen wir mit etwas ganz anderem in Berührung. Wie sieht die Welt für diese Tiere aus? Das Auge eines Kraken ähnelt dem unsrigen. Es ist wie eine Kamera gebaut und verfügt über eine verstellbare Linse, die ein scharfes Bild auf eine Netzhaut wirft. Die Augen ähneln sich, doch die Gehirne dahinter unterscheiden sich in beinahe jeder Hinsicht. Wenn wir einen andersartigen Verstand verstehen möchten, ist der Verstand – oder der Geist – der Kopffüßer so andersartig wie kein anderer.
Philosophie gehört zu den Berufen, bei denen der Körper eine denkbar geringe Rolle spielt. Sie bietet gewissermaßen ein rein geistiges Leben. Keine Ausrüstung, die man organisieren müsste, keine Arbeitsorte, keine Feldstationen. Das ist nichts Verwerfliches – das Gleiche gilt ja auch für Mathematik und Dichtkunst. Doch für das vorliegende Projekt war auch der körperliche Aspekt bedeutsam. Auf die Kopffüßer bin ich zufällig gestoßen, da ich viel Zeit im Wasser verbracht habe. Ich bin ihnen auf ihren Wegen gefolgt und begann schließlich über ihr Leben nachzudenken. Das vorliegende Buch ist stark von ihrer körperlichen Präsenz und Unberechenbarkeit beeinflusst. Ebenso stark ist es von den Tausenden praktischen Dingen geprägt, die ein Aufenthalt unter Wasser mit sich bringt – Ausrüstung, Gasflaschen, Wasserdruck und alles, was dabei zu beachten ist, die verminderte Schwerkraft im grünblauen Licht. Im Aufwand, den der Mensch betreiben muss, um mit diesen Dingen zurechtzukommen, spiegeln sich die Unterschiede zwischen dem Leben an Land und dem im Wasser; und die ursprüngliche Heimat des Geistes, oder zumindest seiner ersten vagen Ausprägungen, ist das Meer.
An den Anfang des Buchs habe ich ein Motto gestellt, das aus der Feder des Ende des neunzehnten Jahrhunderts wirkenden Philosophen und Psychologen William James stammt. James wollte verstehen, wie das Bewusstsein ins Universum kam. Er orientierte sich dabei an der Idee der Evolution, und zwar in einem erweiterten Sinn, der nicht nur die biologische, sondern auch die Evolution des Kosmos als Ganzes beinhaltete. Nach seinem Dafürhalten brauchte es eine Theorie, die auf Kontinuität und begreifbaren Übergängen basierte; nicht auf plötzlichen Ereignissen oder Sprüngen.
Wie James möchte ich verstehen, wie sich Geist und Materie zueinander verhalten, und ich denke, dass es die Geschichte der schrittweisen Entwicklung ist, die hier erzählt werden muss. Der eine oder andere wird nun einwerfen, dass wir diese Geschichte in groben Zügen bereits kennen: Gehirne entwickeln sich, immer mehr Neuronen kommen hinzu, manche Tiere werden klüger als andere, und das war es auch schon. Wer dies behauptet, sieht jedoch davon ab, sich mit den eher verzwickten Fragen zu beschäftigen: Wie waren die ersten und einfachsten Tiere beschaffen, bei denen eine Art subjektives Erleben auftrat? Welche Tiere fühlten als Erste, dass sie verletzt wurden, und welche spürten dies zum Beispiel als Schmerzen? Wie fühlt es sich an, einer dieser mit großen Gehirnen ausgestatteten Kopffüßer zu sein, oder sind diese Tiere lediglich biochemische Maschinen, deren Inneres für sie selbst dunkel bleibt? Die Welt hat zwei Seiten, die irgendwie zusammenpassen müssen, sich aber offenbar nicht auf eine Weise zusammenfügen, die wir gegenwärtig nachvollziehen können. In der einen Welt gibt es Empfindungen und andere mentale Vorgänge, die von einem Akteur gefühlt werden. Die andere ist die Welt der Biologie, der Chemie und der Physik.
Die genannten Fragen werden hier nicht völlig beantwortet werden können, doch sollten Fortschritte möglich sein, indem man die Evolution der Sinne, der Körper und des Verhaltens nachzeichnet. Denn irgendwo in diesem Prozess fand auch die Evolution des Geistes statt. Das Buch ist also ein philosophisches Buch, aber ebenso eines über Tiere und Evolution. Dass es hier um Philosophie geht, bedeutet nicht, dass das Buch in einem obskuren und unzugänglichen Bereich angesiedelt ist. Philosophie zu betreiben ist vor allem eine Sache des Zusammensetzens; man versucht, die Teile eines sehr großen Puzzles so zusammenzufügen, dass sie eine Art Sinn ergeben. Gute Philosophie ist opportunistisch. Alles, was ihr an Informationen und Instrumenten nützlich erscheint, setzt sie auch ein. Ich hoffe, dass im Verlauf dieses Buchs der Bereich der Philosophie über Schwellen betreten und wieder verlassen wird, die Sie kaum bemerken werden.
Das Buch beschäftigt sich also mit dem Geist und seiner Evolution und möchte dies in einiger Breite und Tiefe tun. Breite soll heißen, dass über sehr unterschiedliche Tiere nachgedacht wird. Tiefe bedeutet hier zeitliche Tiefe, da das Buch die langen Zeitspannen und den Verlauf der Ereignisse in der Geschichte des Lebens umfasst.
Der Anthropologe Roland Dixon schrieb den Hawaiianern die Evolutionslegende zu, die ich als zweites Motto verwendet habe: »Zunächst entstehen die niedrigen Zoophyten und Korallen, auf diese folgen die Würmer und Schalentiere, wobei offenbar jede Art ihre Vorläufer in einem Existenzkampf, in dem der Stärkste überlebt, überwältigt und zerstört …«. Die Geschichte aufeinanderfolgender Eroberungen, die Dixon erzählt, fand so nicht wirklich statt, und der Krake ist keineswegs der »einsame Überlebende einer einstigen Welt«. Der Krake steht aber in einer besonderen Beziehung zur Geschichte des Geistes. Er ist kein Überlebender, sondern in ihm findet das, was bereits vorhanden war, zu einem zweiten Ausdruck. Der Krake ist nicht Ismael aus Moby Dick, der als einziger davongekommen ist, um seine Geschichte zu erzählen, sondern ein entfernter Verwandter, der einer ganz anderen Linie entstammt und folglich eine völlig andere Geschichte zu erzählen hat.
Die Erde ist ungefähr 4,5 Milliarden Jahre alt, und das Leben selbst begann etwa vor 3,8 Milliarden Jahren. Tiere tauchten erst viel später auf – vielleicht vor einer Milliarde Jahren, wahrscheinlich aber einige Zeit danach. Leben gab es die meiste Zeit in der Erdgeschichte, allerdings keine Tiere. Was es über lange Zeitspannen gab, war eine Welt einzelliger Organismen im Meer. Ein großer Teil des Lebens findet auch heute noch in genau dieser Form statt.
Wenn man sich von der langen Ära vor der Entstehung der Tiere ein Bild machen möchte, wird man sich zunächst die einzelligen Organismen als monadische Wesen vorstellen: Zahllose winzige Inselchen, die nichts anderes tun, als sich treiben zu lassen, irgendwie Nahrung aufzunehmen und sich zu teilen. Doch das einzellige Leben ist und war wahrscheinlich um einiges mehr ineinander verflochten, als das Bild suggerieren mag. Zahlreiche dieser Organismen leben im Verbund mit anderen, manchmal in einfacher, friedlicher Koexistenz, manchmal in echtem Zusammenwirken. Einige dieser Kollaborationen waren möglicherweise so eng, dass sie sich tatsächlich von einer einzelligen Lebensweise verabschiedeten, aber sie waren keineswegs auf eine Weise organisiert, wie es die Körper der Tiere sind.
Wenn wir uns diese Welt vor Augen führen, werden wir wohl auch annehmen, dass es, da es ja keine Tiere gibt, auch kein Verhalten und keine Sinneswahrnehmung der Welt da draußen gibt. Doch auch dies ist nicht zutreffend. Einzellige Organismen sind in der Lage, zu empfinden und zu reagieren. Vieles von dem, was sie tun, wird wohl nur in einem sehr weit gefassten Sinn als Verhalten zählen, doch sie können steuern, wie sie sich – je nachdem, was sie in ihrer Umgebung spüren – bewegen und welche chemischen Stoffe sie produzieren. Damit ein Organismus dies leisten kann, muss er einesteils rezeptiv, das heißt in der Lage sein, zu sehen, zu schmecken oder zu hören, und andernteils aktiv, also fähig sein, etwas Zweckmäßiges geschehen zu lassen. Der Organismus muss auch eine Art Verbindung, einen Bogen, zwischen diesen beiden Teilen herstellen.
Ein solches System liegt in dem bekannten und überaus gründlich untersuchten Bakterium Escherichia coli vor, das in immenser Zahl in unserem Körper und in unserer Umgebung vorkommt. E. coli hat einen Geschmacks- oder Geruchssinn; es kann chemische Stoffe in seiner Umgebung spüren und darauf reagieren, indem es sich auf vorteilhafte Konzentrationen solcher Stoffe zubewegt und von den anderen wegbewegt. Die Zellhülle von E. coli ist mit einer Reihe von Sensoren ausgestattet – Molekülansammlungen, die in der Zellmembran eine Brücke zwischen innen und außen bilden. Das ist der Input-Teil des Systems. Der Output-Teil besteht aus Flagellen, langen fadenförmigen Gebilden, mit denen die Zelle schwimmt. Ein E.-coli-Bakterium bewegt sich hauptsächlich auf zwei Arten: Es kann vorwärts schwimmen oder taumeln. Wenn es vorwärts schwimmt, bewegt es sich auf einer geraden Linie, und wenn es taumelt, ändert es, wie unschwer zu erraten, die Richtung nach dem Zufallsprinzip. Eine Zelle wechselt beständig zwischen diesen beiden Aktivitäten. Wenn sie jedoch eine Zunahme der Nährstoffkonzentration spürt, schwächen sich die Taumelbewegungen ab.
Ein Bakterium ist so klein, dass seine Sensoren allein nicht ausreichen, die Richtung anzuzeigen, aus der ein guter oder schlechter chemischer Stoff kommt. Zur Bewältigung dieses Problems, das heißt, um mit dem Raum zurande zu kommen, setzt das Bakterium auf Zeit. Die Zelle ist nicht daran interessiert, in welcher Menge ein chemischer Stoff zu einem gegebenen Zeitpunkt vorliegt, sondern ob die Konzentration steigt oder abnimmt. Wenn also die Zelle einfach deshalb geradeaus schwimmt, weil die Konzentration eines erwünschten chemischen Stoffes hoch ist, könnte sie sich, je nachdem, in welche Richtung sie weist, anstatt in ein chemisches Nirwana hinein, aus diesem hinausbewegen. Das Bakterium löst dieses Problem auf ingeniöse Weise. Spürt es die Reize seiner Welt, registriert ein Mechanismus, welche Bedingungen gerade vorliegen, und ein anderer zeichnet auf, wie die Dinge wenige Augenblicke zuvor lagen. Das Bakterium schwimmt so lange geradeaus, wie die erspürten chemischen Stoffe in höherer Konzentration vorliegen, als die, die es einen Moment zuvor gespürt hat. Ist dies nicht mehr gegeben, ist es günstiger, den Kurs zu ändern.
Bakterien stellen nur eine von zahlreichen Formen einzelligen Lebens dar, und sie sind in vieler Hinsicht einfacher gebaut als jene Zellen, die schließlich zusammenfanden, um zu Tieren zu werden. Diese Zellen, die Eukaryoten, sind größer und besitzen eine aufwendigere innere Struktur. Sie entstanden ungefähr vor 1,5 Milliarden Jahren und entstammen einem Vorgang, bei dem eine kleine bakterienartige Zelle eine andere schluckte. Häufig sind einzellige Eukaryoten mit komplexeren Fähigkeiten zu schmecken und zu schwimmen ausgestattet, und sie sind schon dabei, einen besonders wichtigen Sinn auszubilden: das Sehen.
Für Lebewesen spielt das Licht eine doppelte Rolle. Als solches ist es für viele eine bedeutende Ressource, eine Energiequelle. Es kann aber auch als Informationsquelle dienen, als ein Hinweis auf andere Gegebenheiten. Diese zweite uns so vertraute Verwendung ist von einem winzigen Organismus nicht ohne Weiteres zu meistern. Meistens verwenden einzellige Organismen das Licht als Solarenergie; wie die Pflanzen nehmen sie Sonnenbäder. Viele Bakterien können Licht spüren und auf sein Vorhandensein reagieren. Organismen, die so klein sind, haben aber Schwierigkeiten, die Richtung, aus der das Licht kommt, zu bestimmen oder gar ein Bild zu fokussieren, doch eine Reihe von einzelligen Eukaryoten und wohl auch ein paar besondere Bakterien verfügen über die Anfänge des Sehens. Die Eukaryoten besitzen Augenflecken, lichtempfindliche Stellen, die in Verbindung mit einem Element das einfallende Licht abschatten oder fokussiern und es informativer macht. Manche Eukaryoten suchen das Licht, andere meiden es, und manche reagieren einmal so und einmal so. Sie folgen dem Licht, wenn sie Energie tanken möchten, und meiden es, wenn ihre Energievorräte angefüllt sind. Andere gehen ins Licht, solange es nicht zu stark ist, und meiden es, wenn seine Intensität gefährlich wird. In all diesen Fällen existiert ein Kontrollsystem, das den Augenfleck mit einem Mechanismus verknüpft, der die Zelle zum Schwimmen befähigt.
Was diese winzigen Organismen an Sinnesempfindungen besitzen, zielt meist darauf ab, Nahrung zu finden und Giftstoffe zu meiden. Doch offenbar zeichnete sich bereits in den frühesten Forschungen zu E. coli ab, dass noch etwas anderes eine Rolle spielt. Die Bakterien wurden nämlich ebenso von chemischen Stoffen angezogen, die ihnen nicht als Nahrung dienten. Biologen, die diese Organismen untersuchen, tendieren mehr und mehr zu der Ansicht, dass deren Sinne auf das Vorhandensein und die Aktivitäten anderer Zellen in ihrer Umgebung und nicht nur auf Konzentrationen verwertbarer oder nicht verwertbarer Stoffe eingestellt sind. Die Rezeptoren, die sich auf der Oberfläche der Bakterienzellen befinden, reagieren auf viele Dinge, darunter auch Stoffe, die die Bakterien selbst aus vielerlei Gründen ausscheiden – mitunter einfach nur als Überschuss von Stoffwechselvorgängen. Das klingt nicht nach besonders viel, aber es öffnet eine wichtige Tür. Denn sobald chemische Stoffe gleichzeitig erspürt und produziert werden können, ergibt sich für die Zellen die Möglichkeit, sich untereinander zu koordinieren. Damit sind wir bei der Entstehung sozialen Verhaltens.
Ein Beispiel dafür ist das Quorum sensing. Wenn ein chemischer Stoff von einer bestimmten Art Bakterien sowohl produziert als auch erspürt wird, können diese Bakterien damit ermessen, wie viele Individuen der gleichen Art sich in ihrer Umgebung aufhalten. Sie können also abschätzen, ob genug Bakterien in der Nähe sind und es sich lohnt, einen chemischen Stoff zu produzieren, der seine Aufgabe nur dann erfüllt, wenn ihn ausreichend viele Zellen gleichzeitig herstellen.
Ein Fall von Quorum sensing, der schon früh entdeckt wurde, betrifft – wie für dieses Buch geschaffen – das Meer und einen Kopffüßer. Bakterien, die in einem vor Hawaii vorkommenden Zwergtintenfisch leben, erzeugen Licht mittels einer chemischen Reaktion, allerdings nur dann, wenn genug andere Bakterien vorhanden sind, die mitmachen können. Die Bakterien steuern ihre Beleuchtung, indem sie die örtliche Konzentration eines Indikator-Moleküls feststellen, das von den Artgenossen produziert wird und den einzelnen Individuen ein Gespür dafür verleiht, wie viele weitere potenzielle Lichtproduzenten in ihrer Umgebung sind. Die Bakterien fangen nicht nur an zu leuchten, sondern folgen darüber hinaus der Regel, je mehr von diesem chemischen Stoff sie spüren, umso mehr davon produzieren sie.
Wenn genug Licht produziert wird, gewinnen die Zwergtintenfische, die die Bakterien beherbergen, einen Vorteil, denn das Licht dient ihnen zur Tarnung. Die Tintenfische jagen nachts, wenn das Mondlicht den Schatten ihres Körpers auf die unter ihnen schwimmende Beute wirft. Doch ihr von innen kommendes Licht hebt den Schatten auf. Die Bakterien wiederum profitieren offenbar von der gastlichen Umgebung, die ihnen der Tintenfisch bietet.
Genau dieses aquatische Szenario sollten wir im Kopf behalten, wenn wir über die frühen Stadien in der Geschichte des Lebens nachdenken, auch wenn wir uns in der Evolutionsgeschichte an einem Punkt befinden, an dem es noch lange keine Tintenfische gab. Die Chemie des Lebens ist an das Wasser gebunden. Wir können an Land nur deshalb zurechtkommen, weil wir eine enorme Menge Salzwasser mit uns herumtragen. Und viele der in diesen frühen Stadien stattfindenden Entwicklungsschritte der Evolution, mit denen Wahrnehmung, Verhalten und Koordination in die Welt kamen, hingen von der freien Bewegung chemischer Stoffe im Meerwasser ab.
Alle Zellen, denen wir bislang begegnet sind, reagieren auf äußere Reize. Manche verfügen darüber hinaus über eine spezielle Reizempfindlichkeit gegenüber anderen Organismen, darunter auch die der eigenen Art. In dieser Kategorie wiederum weisen manche Zellen eine Empfindlichkeit gegenüber chemischen Stoffen auf, die andere Organismen nicht nur als Stoffwechselnebenprodukte erzeugen, sondern um wahrgenommen zu werden. Mit dieser letzten Kategorie – den Stoffen, die hergestellt werden, weil andere Organismen sie spüren und darauf reagieren werden – gelangen wir an die Schwelle der Signalgebung und Kommunikation.
Wir erreichen aber nicht nur eine, sondern gleich zwei Schwellen. Wir haben gesehen, wie in einer Welt aquatischen, einzelligen Lebens Individuen ihre Umgebung spüren und ihren Artgenossen Signale mitteilen können. Zugleich verfolgen wir den Übergang von einzelligem Leben zu vielzelligem Leben. Im Zuge dieses Übergangs wird das Signalisieren und das Spüren, womit sich die Einzelorganismen untereinander verbanden, zur Grundlage neuer Interaktionen, die innerhalb der neu entstehenden Lebensformen stattfinden. Aus der zwischen Organismen erfolgenden Wahrnehmung und Signalgebung entsteht die Wahrnehmung und Signalgebung innerhalb eines Organismus. Das Vermögen der Zelle, die äußere Umgebung zu spüren, wird zu einem Mittel, wahrzunehmen, was andere Zellen im gleichen Organismus vorhaben und was sie womöglich mitzuteilen haben. Die Umwelt einer Zelle besteht weitgehend aus anderen Zellen, und die Lebensfähigkeit des neuen, größeren Organismus hängt von der Koordination zwischen diesen Teilen ab.
Tiere sind Vielzeller. Wir enthalten viele Zellen, die gemeinsam handeln. Die Evolution der Tiere setzte ein, als einige Zellen ihre Individualität unterdrückten und Teil großer Gemeinschaftsunternehmen wurden. Der Übergang zu vielzelligen Lebensformen erfolgte mehrmals und führte zu Tieren, zu Pflanzen und andere Male zu Pilzen, verschiedenen Tangen und weniger ins Auge fallenden Organismen. Der Ursprung der Tiere resultierte sehr wahrscheinlich nicht aus einer Begegnung einzelner Zellen, die auf irgendeine Weise zusammengetrieben wurden. Eher scheint es, dass Tiere aus einer Zelle entstanden, deren Tochterzellen sich während der Zellteilung nicht vollständig trennten. Wenn sich ein einzelliger Organismus teilt, gehen die Tochterzellen für gewöhnlich, jedoch nicht immer, ihren eigenen Weg. Man führe sich einen Zellhaufen vor Augen, entstanden aus einer Zellteilung, deren Teilungsresultate zusammenbleiben, wobei dieser Vorgang sich mehrere Male wiederholt. Die Zellen der im Meer umhertreibenden Klumpen fraßen wahrscheinlich Bakterien.
Die folgenden Stadien der Entwicklungsgeschichte sind unklar. Es liegen konkurrierende Szenarien vor, die auf unterschiedlichen Befunden aufbauen. Dem mehrheitlich favorisierten Szenario zufolge gaben einige Zellhaufen ihr schwebendes Dasein auf und siedelten sich am Meeresboden an. Dort begannen sie mit der Nahrungsaufnahme, indem sie Wasser filterten, das durch Kanäle in ihren Körpern strömte. Damit nahm die Evolution der Schwämme ihren Anfang.
Ein Schwamm? Man kann sich wohl kaum einen weniger plausiblen Ahnen aussuchen: Schwämme bewegen sich nicht fort. Das lässt auf eine Sackgasse schließen. Doch nur der adulte Schwamm ist sesshaft. Bei seinen Larven ist das anders. Sie sind oft Schwimmlarven, die nach einem Ansiedlungsplatz suchen und dann zu einem adulten Schwamm auswachsen. Schwammlarven besitzen kein Gehirn, sie verfügen aber auf ihrem Körper über Sensoren, mit denen sie ihre Welt erschnüffeln. Vielleicht entschieden sich einige dieser Larven, das Schwimmen beizubehalten und nicht sesshaft zu werden. Sie blieben mobil, erlangten im Wasser schwebend ihre Geschlechtsreife und begannen eine neue Lebensweise. Diese Larven, die ihre sesshaften Verwandten auf dem Meeresboden zurückließen, wurden die Mütter aller anderen Tiere.
Das soeben beschriebene Szenario verdankt sich der Ansicht, dass Schwämme unsere am weitesten entfernten lebenden Verwandten sind. Entfernt meint hier nicht alt; heute lebende Schwämme sind ebenso sehr Ergebnis einer langen Evolution wie wir selbst. Doch auch wenn Schwämme sich sehr früh abzweigten, dachte man, sie hätten einige Hinweise zu bieten, wie die frühesten Tiere beschaffen waren. Jüngste Untersuchungen legen jedoch nahe, dass die Schwämme gar nicht die uns am entferntesten verwandten Tiere sind. Dieser Titel geht womöglich an die Rippenquallen über.
Eine Rippenqualle oder Ctenophore hat das Aussehen einer sehr zarten Qualle. Sie hat die Gestalt einer fast durchsichtigen Kugel mit farbigen Bändern, die in haarähnlichen Strängen, den Rippen, ihren Körper entlanglaufen. Rippenquallen wurden oft als Cousinen der Quallen angesehen, die ins Auge fallenden Ähnlichkeiten dürften allerdings irreführend sein; Rippenquallen haben sich womöglich schon vor den Schwämmen von der zu anderen Tieren führenden Linie abgespalten. Sollte dies zutreffen, heißt das nicht, dass unser Urahn so wie eine heutige Rippenqualle ausgesehen hat. Doch das Rippenquallen-Szenario veranlasst zu einem anderen Bild der frühen Evolutionsstadien. Wir setzen zwar wieder bei einem Zellklumpen an, stellen uns dann aber vor, dass besagter Klumpen sich zu einer hauchdünnen, kugelähnlichen Form faltet und, in der Wassersäule schwebend, in einem einfachen Rhythmus schwimmt. An diesem Punkt – bei einer schwebenden, geisterhaften Mutter und nicht bei einer sich windenden Schwammlarve, die sich weigerte sesshaft zu werden – nimmt die Evolution der Tiere demnach ihren Anfang.
Wenn vielzellige Organismen entstehen, beginnen die Zellen, die einst eigenständige Organismen waren, als Teil größerer Einheiten zu arbeiten. Soll der neue Organismus mehr als nur ein Klumpen aneinandergeklebter Zellen sein, braucht es Koordination. Weiter oben habe ich die Wahrnehmungs- und Aktionsformen beschrieben, die einzelliges Leben aufweist. In vielzelligen Organismen werden diese Systeme der Wahrnehmung und des Verhaltens komplizierter. Zudem beruht schon allein die Existenz dieser neuen Einheiten – der Tierkörper – auf der Fähigkeit, wahrzunehmen und zu agieren. Wahrnehmung und Signalübermittlung zwischen Organismen führen zur Wahrnehmung und Signalübermittlung innerhalb der Organismen. Die Fähigkeiten von Zellen, die einst als vollständige Organismen lebten, sich zu »verhalten«, werden zur Grundlage der Koordination innerhalb der neuen Vielzeller.
Bei den Tieren kommen dieser Koordination verschiedene Aufgaben zu. Eine davon ist auch in anderen vielzelligen Organismen, etwa den Pflanzen, zu beobachten: Signalübermittlung zwischen den Zellen wird eingesetzt, um den Organismus aufzubauen, ihn überhaupt erst entstehen zu lassen. Eine andere Aufgabe findet in einem schnelleren zeitlichen Maßstab statt und ist insbesondere für tierisches Leben charakteristisch. Bei nahezu allen Tieren – es gibt nur wenige Ausnahmen – werden die chemischen Wechselwirkungen zwischen bestimmten Zellen zur Grundlage eines kleineren oder größeren Nervensystems. Und bei manchen dieser Tiere wurde eine örtlich verdichtete Anzahl dieser Zellen, die einen chemoelektrischen Sturm umfunktionierter Signalübermittlung entfachten, zu einem Gehirn.
Ein Nervensystem besteht aus vielen Teilen, am signifikantesten jedoch sind die ungewöhnlich geformten, als Neuronen bezeichneten Zellen. Ihre langen Stränge und ausgetüftelten Verästelungen bilden ein Labyrinth, das sich durch Kopf und Körper zieht. Die Aktivität der Neuronen hängt von zwei Dingen ab. Zum einen von ihrer elektrischen Erregbarkeit, die sich insbesondere im Aktionspotenzial zeigt, einem elektrischen Zucken, das wie in einer Kettenreaktion eine Zelle entlangläuft. Zum anderen von chemischer Sensorik und Signalübermittlung. Ein Neuron entlässt einen winzigen chemischen Sprühnebel in die Lücke oder den sogenannten Spalt zwischen ihm und einem anderen Neuron. Werden diese chemischen Stoffe auf der gegenüberliegenden Seite registriert, lösen sie in der anliegenden Zelle ein Aktionspotenzial aus (in manchen Fällen unterdrücken sie es auch). Diese chemische Einwirkung ist das nach innen verlagerte Überbleibsel der alten, einst zwischen den Organismen herrschenden Signalübermittlung. Auch das Aktionspotenzial kam bereits in den Zellen vor, bevor sich die Tiere entwickelten, und besteht auch heute noch unabhängig von ihnen. Tatsächlich wurde im neunzehnten Jahrhundert das erste Aktionspotenzial auf Veranlassung Charles Darwins in einer Pflanze gemessen, in der Venusfliegenfalle. Sogar in einigen Einzellern kommen Aktionspotenziale vor.
Bei der normalen Signalübermittlung von Zelle zu Zelle spielen die Nervenzellen keine Rolle, sie ermöglichen indes eine besondere Art der Signalübertragung. Nervensysteme sind vor allem schnell. Pflanzen agieren, von der Venusfliegenfalle abgesehen, auf einer weit langsameren Zeitskala. Durch seine langen, dünnen Fortsätze ist das Neuron in der Lage, im Gehirn oder im Körper Entfernungen zu überbrücken und auf entferntere Zellen einzuwirken; die Einwirkung ist also zielgerichtet. Die Evolution hat die Signalübermittlung von Zelle zu Zelle von einer Aktivität, bei der die Zellen ihre Signale für alle aussenden, die nah genug sind und gewissermaßen zuhören, in etwas ganz anderes umgeformt: in ein organisiertes Netzwerk. Mit dem Ergebnis, dass in einem Netzwerk wie dem unseren ein beständiges elektrisches Getöse herrscht, eine Symphonie winziger zellulärer Aufwallungen, die über die Lücken hinweg, an denen die Zellen in Kontakt treten, von chemischen Sprühnebeln veranlasst werden.
Dieser innere Tumult ist zudem eine teure Angelegenheit. Betrieb und Instandhaltung der Neuronen kosten eine Menge Energie. Die elektrischen Zuckungen entsprechen einem fortwährenden, hundert Mal in der Sekunde erfolgenden Laden und Entladen einer Batterie. In einem tierischen Organismus wie dem unseren wird ein Großteil, in unserem Fall fast ein Viertel, der über die Nahrung aufgenommen Energie allein dazu verwendet, das Gehirn auch nur betriebsbereit zu halten. Ein Nervensystem ist eine äußerst kostspielige Maschine. Der Geschichte dieser Maschine, der Frage also, wann sie sich entwickelt hat und wie, wende ich mich in Kürze zu. Zunächst möchte ich jedoch etwas Zeit auf die allgemeine Frage nach dem Warum aufwenden.
Warum lohnt es sich, ein komplexes Gehirn oder allgemein ein Nervensystem zu besitzen? Wozu ist es da? So wie ich es sehe, wird das Denken über diese Fragen von zwei Vorstellungen geleitet. Sie werden in der Forschung sichtbar, und ebenso durchdringen sie die Philosophie. Ihre Wurzeln liegen tief. Der ersten Sicht zufolge liegt die ursprüngliche und grundlegende Funktion des Nervensystems darin, Wahrnehmung und Handeln miteinander zu verbinden. Gehirne steuern das Handeln, und die einzige Art, das Handeln in sinnvoller Weise zu steuern, liegt darin, das, was zu tun ist, mit dem, was gesehen, ertastet und geschmeckt wird, zu verknüpfen. Die Sinne verfolgen, was sich in der Umgebung abspielt, und die Nervensysteme ziehen diese Information heran, um herauszufinden, was zu tun ist. Ich nenne dies die sensomotorische Sicht eines Nervensystems und seiner Funktion.
Zwischen den Sinnen auf der einen Seite und den effektorischen Mechanismen auf der anderen Seite muss es also etwas geben, das die Lücke überbrückt, etwas, das die durch die Sinne gewonnene Information verwendet. Dieses Grundlayout kommt sogar in Bakterien vor, wie wir an E. coli gesehen haben. Tiere indes besitzen komplexere Sinnesorgane, führen komplexere Handlungen aus und besitzen einen komplexeren, Sinne und Handlungen verknüpfenden Mechanismus. Der sensomotorischen Sicht zufolge bestand die Hauptaufgabe des Nervensystems in dieser Mittlerrolle – sie war entscheidend am Anfang, sie ist es jetzt und war es in jedem Stadium seiner Entwicklung.
Diese erste Sichtweise ist so intuitiv, dass sie anscheinend keinen Raum für Alternativen übrig lässt. Es gibt aber eine andere Vorstellung, die leicht aus dem Blick geraten kann. Dass wir auf Ereignisse, die außerhalb von uns stattfinden, reagieren und unser Handeln dementsprechend modifizieren müssen, ist klar, aber es muss darüber hinaus noch etwas anderes geschehen, etwas, das unter bestimmten Umständen grundlegender ist und weit schwieriger zu bewerkstelligen. Das Handeln selbst muss erzeugt werden. Was also befähigt uns überhaupt, zu handeln?
Weiter oben habe ich gesagt: Man nimmt wahr, was vor sich geht, und als Reaktion darauf tut man etwas. Aber etwas zu tun, wenn man aus vielen Zellen besteht, ist keine triviale Angelegenheit, nichts, was man einfach so voraussetzen kann. Es verlangt eine gehörige Menge an Koordination zwischen den einzelnen Teilen. Keine große Sache, wenn man ein Bakterium ist, doch bei einem größeren Organismus verhält es sich anders. Dann ist man mit der Aufgabe konfrontiert, aus den zahllosen winzigen Outputs – den winzigen Kontraktionen, Verrenkungen und Zuckungen – der einzelnen Teile eine kohärente, vom Gesamtorganismus ausgehende Handlung zu generieren. Eine Vielzahl an Mikro-Handlungen muss zu einer Makro-Handlung umgeformt werden.