GEORGE PELECANOS
PRISONERS
ROMAN
Aus dem amerikanischen Englisch von Karen Witthuhn
ars vivendi
Der Verlag dankt Rowohlt für die freundliche Abdruckgenehmigung der Passage aus Charles Portis, True Grit
© 1969, 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek Bei Hamburg
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
The Man Who Came Uptown
Copyright © 2018 by Spartan Productions Inc.
This edition published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, New York, USA. All rights reserved.
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen deutschen Originalausgabe (1. Auflage Juni 2019)
© 2019 by ars vivendi verlag
GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-7472-0048-3
Für Charles Willeford und Elmore Leonard
Inhalt
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
DANKSAGUNGEN
DER AUTOR
DIE ÜBERSETZERIN
ERSTER TEIL
1
Wenn Antonius an die Fehler dachte, die sie bei dem Raubüberfall gemacht hatten, standen die Kapuzenpullis ganz weit oben auf der Liste. Vier Männer in dicken, dunklen Sweatshirts fielen bei über dreißig Grad Hitze einfach auf. Vielleicht hatte der Mann vom Geldtransporter deshalb gleich auf sie geschossen, als er aus dem Drugstore kam. Und weil sie Waffen in der Hand hielten. Tja, wären sie nicht so zugekifft gewesen, hätten sie über die Sweatshirts vielleicht noch mal nachgedacht. Und über das Wunschkennzeichen am Fluchtwagen. Das stand auch weit oben auf der Liste.
Antonius, dem die Braids auf die Schultern fielen, lehnte sich zurück und sah den privaten Ermittler an, der ihm in dem verglasten Besprechungsraum gegenübersaß. Er selbst hockte mit dem Rücken zur beigen Wand auf dem Heißen Stuhl, der Häftlingen vorbehalten war. Da er zurzeit in Isolationshaft gehalten wurde, trug er Fußfesseln. Um sie herum befanden sich weitere Glaskästen, in denen Gefangene mit ihren Anwälten, Freundinnen, Müttern oder Ehefrauen sprachen. Ein Wachmann behielt von einem Büro aus alles im Blick. Für den Fall, dass es Ärger gab, war in jedem Glaskasten neben der Tür ein Alarmknopf angebracht. Manchmal wurden die Gespräche hitzig.
»Euch muss da auf dem Parkplatz doch heiß gewesen sein«, sagte der Ermittler. Er hieß Phil Ornazian.
Antonius musterte ihn. Ein Typ mit breiten Schultern, kurzem schwarzen Haar und grau gesprenkeltem Dreitagebart. Ungefähr Anfang vierzig. Am Finger ein Ehering. Sah mit seiner Hakennase und den großen braunen Augen irgendwie arabisch aus. Antonius hatte ihn bei ihrer ersten Begegnung für einen Moslem gehalten, tatsächlich aber war Ornazian irgendeine Art Christ. Er hatte mal erwähnt, er und seine Familie gingen in eine »apostolische« Kirche. Was auch immer das war.
»Sagen Sie bloß«, erwiderte Antonius. »Im August? In Washington?«
»Die Kapuzenpullis … wessen Idee war das?«
»Wessen Idee?«
»Auf dem Überwachungsvideo steht ihr Typen in Winterklamotten auf dem Parkplatz vor dem Drugstore, und die Leute laufen in T-Shirts, Poloshirts und kurzen Hosen an euch vorbei. Ich hab mich darüber gewundert. Und würde gern wissen, wer das für eine schlaue Idee gehalten hat?«
Es war Antonius’ Busenfreund DeAndre gewesen, der darauf gedrungen hatte, dass sie mitten im Washingtoner Hochsommer schwarze Sweatshirts anzogen – die Kapuzen hochgeschlagen, um die Gesichter vor den Kameras auf dem Gebäude zu verbergen. DeAndre, der Vollidiot, der nie was hinkriegte. Der Typ würde sogar eine Geburtstagsparty bei Chuck E. Cheese’s vermasseln.
»Weiß ich nicht mehr«, sagte Antonius.
Antonius wollte nicht bockig sein. Er wusste, dass Ornazian ihm helfen sollte. Sein Verteidiger wollte DeAndre als Boss und Entscheidungsträger der Gruppe darstellen und so Antonius vor Gericht zumindest teilweise entlasten. Ornazian arbeitete für Antonius’ Anwalt Matthew Mirapaul und sollte den Dreck ausgraben, der ihm vor Gericht helfen würde. Aber Antonius würde seine Freunde nicht ans Messer liefern, obwohl DeAndre ihn und die anderen bereits verraten und reingeritten hatte. Er hielt sich an den Kodex.
»Okay«, sagte Ornazian. »Reden wir über Ihre Freundin.«
»Sherry.«
»Sie haben gesagt, Sie wären zum Zeitpunkt des Überfalls mit ihr zusammen gewesen.«
»Wir waren in meinem Wagen unterwegs. Sie hatte mich angerufen, ich sollte sie am Giant-Supermarkt an der Rhode Island Avenue im Northeast abholen, weil sie dort eine ganze Menge eingekauft hatte. Sie hat mich so gegen vierzehn Uhr angerufen, ich bin hingefahren und hab sie abgeholt, so gegen halb drei.«
»Warum war sie in einem Giant im Northeast, wenn es in Ihrer Gegend zwei Safeways gibt?«
»Sie mag den Giant.«
»Hat Sie jemand zusammen gesehen?«
»Nee. Glaube nicht. Aber, schauen Sie, wenn ich um halb drei mit ihr zusammen war, dann kann ich es nie im Leben bis drei Uhr quer durch die Stadt zur Georgia Avenue im Northwest geschafft haben, um bei dem Überfall dabei zu sein. Sie müssen sich nur die Anruflisten beschaffen, dann sehen Sie, dass sie mich um zwei angerufen hat. Das beweist, dass ich nicht dabei war.«
Ornazian sagte nichts. Natürlich bewies der Anruf nichts dergleichen. Sherry, die Freundin, hatte höchstwahrscheinlich tatsächlich wie angewiesen angerufen. Auch das war Teil des Plans gewesen. Kifferlogik, sich durch einen Anruf ein Alibi verschaffen zu wollen, gleichzeitig aber keinerlei Augenzeugen zu haben, die die Geschichte bestätigten. Denn es gab niemanden, der bezeugen konnte, dass Antonius und Sherry zur fraglichen Zeit zusammen gewesen waren.
Durch seine eigenen Ermittlungen, die der Staatsanwaltschaft und die Aufnahmen der Überwachungskameras am Parkplatz wusste Ornazian inzwischen Folgendes: Vor fast zwei Jahren hatte an einem heißen Hochsommertag ein bewaffneter Sicherheitsmann die Tageseinnahmen eines Rite-Aid-Drugstores an der oberen Georgia Avenue abgeholt und wollte das Gebäude mit den Stofftaschen in der Hand gerade wieder verlassen und zu dem gepanzerten Geldtransporter gehen, der draußen mit laufendem Motor stand.
Auf dem Parkplatz warteten vier Männer Anfang zwanzig, die sich die Kapuzen ihrer schwarzen Sweatshirts über den Kopf gezogen hatten und heftig schwitzten. Alle trugen halbautomatische Handfeuerwaffen bei sich. Der Fahrer des Geldtransporters hätte sie im Spiegel eigentlich sehen können, war aber abgelenkt, da er entgegen der Bestimmungen seines Arbeitgebers ein bei einem KFC/Taco Bell nahe der District Line erstandenes Mittagessen verzehrte.
Bei den Männern auf dem Parkplatz handelte es sich um Antonius Roberts, DeAndre Watkins, Rico Evans und Mike Young. Sie schlugen den Großteil ihrer Zeit im Keller von Antonius’ Großmutter tot, die in Manor Park ein Haus besaß, in dem auch Antonius schlief. Dort rauchten sie große Mengen Marihuana, sahen sich im Fernsehen Dokumentationen über Verschwörungstheorien an, spielten Videospiele und nahmen schlecht produzierte Rapvideos auf, manchmal kurze Clips mit Box- oder Mixed-Martial-Arts-Kämpfen, obwohl sie davon keine Ahnung hatten.
Eines Nachmittags kam irgendwer auf die Idee, zum Drugstore an der Georgia zu fahren und auszuspionieren, wie dort die Abholung der Tageseinnahmen organisiert war. Das taten sie, als Death-Row-Rapper verkleidet, an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen. Die Geldtaschen wurden immer von einem pummeligen Typen abgeholt, der nicht den Eindruck machte, als würde er Widerstand leisten, und nicht wirkte, als könnte er rennen oder einen Hechtsprung hinlegen. Wenn man dem eine Knarre vor die Nase hält, sagte DeAndre, was soll der schon machen?
Der Sicherheitsmann hieß Yohance Brown und war bei Weitem nicht so unbeholfen und wehrlos, wie er aussah. Brown war Ex-Soldat und hatte zwei kampfintensive Einsätze im Irak absolviert. Zwar hatte er seit seiner Rückkehr in die Heimat an Gewicht zugelegt, aber ein hilfloses Opfer war er nicht.
Am Tag des versuchten Raubüberfalls waren die vier Komplizen in zwei Autos eingetroffen.
Als Yohance Brown den geschützten Eingangsbereich des Drugstores zwischen zwei automatischen Glasschiebetüren betrat, sah er die vermummten Räuber auf dem Parkplatz stehen, high wie Revolverhelden in einem Italowestern, die 9-mm-Pistolen an die Oberschenkel gedrückt. Als einer von ihnen die Waffe hob, ließ Brown die Geldtaschen fallen, zog seine Glock, zielte mit ruhiger Hand und eröffnete das Feuer. Die Räuber rannten zu ihren Wagen und schossen über die Schulter hinweg in Richtung Eingang. Später fand man im Drugstore ein plattgedrücktes Projektil in einem Twinkie. Wie durch ein Wunder blieben alle Kunden unverletzt.
Einer der Räuber, Mike Young, wurde von Brown im Rücken getroffen und später von Rico Evans wie ein nasser Sack vor der Notaufnahme des Washington Hospital Centers aus dem Wagen geworfen. Evans hatte den einem Anwohner von Park View für den Anlass entwendeten Hyundai gefahren. Young überlebte.
Antonius und DeAndre waren in den alten Toyota Corolla gesprungen, der DeAndres Cousine Rhonda gehörte, und dann auf der Georgia Avenue in nördlicher Richtung davongerast. Verkehrskameras zeichneten das Nummernschild des Corolla auf, auf dem »Alize« stand, der Name eines cognachaltigen, in gewissen Stadtteilen beliebten Likörs. Polizisten unterschiedlicher Hautfarben und Herkunft sahen sich später auf dem Revier im Fourth District immer wieder die Videoaufnahmen an und lachten sich schlapp über die Idioten, die mit einem Wunschnummernschild auf Raubtour gegangen waren, und noch mehr über das Wort »Alize«. Alle Verdächtigen waren inzwischen verhaftet und eingebuchtet worden. DeAndre Watkins verriet für eine verminderte Anklage umgehend seine Freunde. Er befand sich derzeit im vierten Stock der Haftanstalt, in der Spezialabteilung, die von den Insassen »Rattenbunker« genannt wurde.
»Wie geht’s Sherry?«, fragte Ornazian.
»Sie ist gerade ein bisschen sauer auf mich«, sagte Antonius. »Na ja, ich hab hier aus dem Knast dieses andere Mädchen angerufen, das ich kenne. Ich brauchte mal was Neues, Phil. Mit Sherry bin ich schon lange zusammen, das macht mich nicht mehr heiß. Sie wissen ja, wie das ist.«
»Sie hatten also Telefonsex mit einer Frau, die nicht Ihre Freundin ist.«
»Mhm.«
»Ich hab Ihnen schon mal gesagt, die Gefängnistelefone werden abgehört.«
»Ja, tja, Sie hatten recht. Die Feds haben mein Gespräch mit dem Mädchen aufgenommen und Sherry das Band vorgespielt, um sie wütend zu machen. Die wollen sie dazu bringen, gegen mich auszusagen. Dass ich beim Überfall dabei war.«
»Und?«
»Sherry war wütend wie ein tollwütiger Köter«, sagte Antonius. »Aber so ist sie eben. Die knickt nicht ein.«
Antonius war ein Mann, der Bedürfnisse hatte, vielleicht mehr als andere. Er sah gut aus und hatte Charisma, was ihm eher schadete als half. Zurzeit saß er in der Abteilung South I in Isolationshaft, als Strafe für eine sexuelle Beziehung zu einer Justizbeamtin. Die Häftlinge behaupteten, im ganzen Knast gebe es nur zwei Stellen, an denen man von Überwachungskameras unbeobachtet jemanden vögeln oder abstechen konnte. Antonius hatte gedacht, eine gefunden zu haben. Er hatte sich geirrt.
Ornazian fuhr seinen Laptop hoch, stellte ihn auf den Tisch, suchte etwas auf YouTube, wurde fündig und schob den Computer so herum, dass Antonius den Bildschirm sehen konnte. Ein Video lief an. Es zeigte Antonius, DeAndre und ein paar ihrer Freunde, die Blunts rauchten, sich mit nackten Oberkörpern ungelenk boxten und Champagner- und Cognacflaschen sowie diverse Schusswaffen schwenkten, darunter eine AK-47. Untermalt wurde die Szene von dem drittklassigen Rap, den sie gerade improvisierten. Antonius konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Wehmütig dachte er an die Kameradschaft unter seinen Freunden und an die Freiheit zurück.
»Die Staatsanwaltschaft wird das hier vor Gericht vorspielen«, sagte Ornazian.
»Was hat das mit dem Überfall zu tun?«
»Nichts.«
»Die wollen mich nur fertigmachen.«
»Genau.«
Antonius schüttelte reumütig den Kopf. »Alle treten mir auf den Schwanz.«
Seine Chancen standen nicht gut. Er wartete seit dreiundzwanzig Monaten im Gefängnis auf seinen Prozess. Die Beweislage sprach eindeutig gegen ihn. Er musste mit zwölf Jahren Haft rechnen. Lorton, die städtische Vollzugsanstalt auf der anderen Flussseite, war vor langer Zeit geschlossen worden, also würde man ihn irgendwohin weit weg schicken.
»Wie kommen Sie mit der Isolationshaft klar?«
»Macht mir nichts aus«, sagte Antonius. »Ich hab meine eigene Zelle. Und meine Ruhe. Gibt mit niemandem Ärger oder so.«
»Kommen Sie da bald wieder raus?«
»Angeblich soll ich demnächst wieder in den normalen Vollzug verlegt werden.«
»Ich habe eine Bitte. Sind Sie in dieser Abteilung mal einem Typen namens Michael Hudson begegnet?«
Antonius überlegte. »Ich kenn einen Typen, der Hudson genannt wird. Nicht vom Quatschen, man nickt sich zu. Stiller, großer Typ, kurz geschorene Haare. Mittelbraune Haut.«
»Ist er glatt rasiert?«, fragte Ornazian, um Antonius zu testen.
»Nee, er trägt Bart. So nen Vollbart. Hab gehört, er sitzt, weil er einen Drogendealer abgezockt hat. Er wartet auf seine Verhandlung.«
»Das ist er«, sagte Ornazian. »Könnten Sie ihm eine Nachricht übermitteln, wenn Sie aus der Isolationshaft kommen?«
»Klar«, sagte Antonius. »Was soll ich ihm sagen?«
»Einfach nur: Phil Ornazian sagt, dass alles gut wird.«
»Geht klar.«
»Danke, Antonius. Tut mir leid, dass ich nicht mehr für Sie tun konnte.«
»Ist nicht Ihre Schuld. Sie haben’s versucht.«
Ornazian streckte den Arm aus. Er und Antonius stießen die Fäuste zusammen.
2
Männer in orangenen Overalls warteten ordentlich aufgereiht vor einem in den Boden geschraubten Tisch, an dem eine junge Frau saß. Auf dem Tisch lagen ein Ausleihbuch der D.C. Public Library, ein Stapel Bibliothekskarten und ein Stift. Daneben stand ein Karren mit Regalbrettern voller Bücher. Die Zellentüren des allgemeinen Vollzugs waren von einem Beamten in der verglasten Zentrale, »Goldfischglas« genannt, per Knopfdruck geöffnet worden. Die beiden anderen Wärter trieben sich in der Abteilung herum und behielten das Geschehen gelangweilt und desinteressiert im Blick. Hohe Wachsamkeit war nicht vonnöten. Wenn die Bücherfrau da war, blieb es ruhig.
Die Frau am Tisch war die mobile Bibliothekarin der Haftanstalt. Die Männer nannten sie Anna oder, wenn sie gut erzogen waren, Miss Anna. Zur Arbeit kam sie ungeschminkt und trug praktische, unauffällige Kleidung. Ihre Haut war olivfarben, ihr Haar schwarz, die Augen hellgrün. Sie war vor Kurzem dreißig geworden und hielt sich mit Schwimmen und Radfahren fit. In der Haftanstalt verwendete sie ihren Mädchennamen, Kaplan. Draußen und auf ihrem Führerschein benutzte sie den Namen ihres Mannes, der Byrne lautete.
»Wie geht’s Ihnen heute, Anna?«, fragte Donnell, ein hochgeschossener junger Mann mit schläfrigen Augen.
»Gut, Donnell. Und Ihnen?«
»Geht. Haben Sie das Lesebuch, nach dem ich gefragt hab?«
Anna suchte auf dem neben ihr stehenden Karren nach dem von Donnell gewünschten Buch und gab es ihm. Sie trug seinen Namen, den Buchtitel, seine Haft- und Zellennummern und das Rückgabedatum in das Ausleihbuch ein.
»Mit Dave Robicheaux kann es keiner aufnehmen«, sagte Donnell.
»Wie ich höre, ist er ziemlich unverwüstlich«, sagte Anna.
»Kann ich Sie was fragen?«
»Sicher.«
»Haben Sie auch Bücher, die, na ja, Frauen erklären?«
»Was meinen Sie mit erklären?«
»Ich hab da diese Freundin, ey, keine Ahnung. Ich kapier einfach nicht, was sie so denkt. Frauen können echt, so, mysteriös sein. Will sagen, können Sie mir da ein Buch empfehlen?«
»So was wie ein Handbuch?«
»Ja.«
»Vielleicht sollten Sie mal einen von einer Frau geschriebenen Roman lesen. Dann verstehen Sie besser, was im Kopf einer Frau vor sich geht.«
»Können Sie was empfehlen?«
»Ich denke drüber nach. Der Robicheaux muss nächste Woche zurückgegeben werden, wenn ich wieder da bin.«
»Was, wenn ich ihn bis dahin nicht durchhab?«
»Dann können Sie ihn um eine Woche verlängern.«
»Okay. Cool.«
Donnell ging. Der nächste Häftling trat an den Tisch.
»Lorton Legends«, sagte der Mann. Nach diesem Roman von Eyone Williams wurde oft gefragt, aber er war hinter Gittern nicht zugelassen. Er spielte im alten Gefängnis und auf den Straßen von D.C. »Ham Sie das?«
»Nein«, sagte Anna. »Haben Sie nicht letzte Woche schon danach gefragt?«
»Dachte, vielleicht ham Sie’s seitdem reinbekommen.«
Laut Anweisung durften keine Bücher mit explizit sexuellem Inhalt oder Beschreibungen von Gewalt in die Gefängnisbibliothek aufgenommen werden. Manchmal schaffte es der eine oder andere Urban-Fiction-Roman über die Hürde, manchmal nicht. Auch Bücher, die abstruse Verschwörungstheorien verbreiteten, beispielsweise Die Apokalyptischen Reiter von Milton William Cooper oder Die 48 Gesetze der Macht, waren verboten, obwohl oft nach ihnen verlangt wurde. Die Vorgaben der D.C. Public Library für ihre Gefängnisabteilung zu Sexualität und Gewalt in Büchern waren ziemlich schwammig und wurden oft nicht umgesetzt. Ein paar Serienmörderthriller und Softerotikwerke hatten den Weg hinter Gitter gefunden. Anna hatte einmal gesehen, dass eine Gruppe von Häftlingen im Aufenthaltsraum eine DVD von The Purge schaute.
»Was ham Sie denn dann für mich?«, fragte der Mann. »Bloß nichts Langweiliges.«
Anna entdeckte auf ihrem Karren etwas von Nora Roberts, eine sehr produktive Autorin, die normalerweise gut ankam, gab dem Mann das Buch und begann, die Daten ins Ausleihbuch einzutragen.
»Von der hab ich schon mal eins gelesen.« Der Mann betrachtete das Cover. »Die ist cool. Das passt.«
Er wandte sich ab, und der nächste Mann trat an den Tisch. Er war groß, trug einen Vollbart und das Haar kurz. Außer seinen Lesevorlieben wusste Anna wenig über ihn. Er sah nett aus, war schlank und sprach mit unaufdringlichem Selbstvertrauen. Sein Name war Michael Hudson.
»Mr. Hudson.«
»Was haben Sie heute für mich, Miss Anna?«
Sie gab ihm zwei Bücher, die sie gestern Nachmittag für ihn ausgesucht hatte, eine Kurzgeschichtensammlung mit dem Titel Kentucky Straight und einen Sammelband mit zwei frühen Westernromanen von Elmore Leonard.
Die Gefangenen durften zwei Bücher pro Woche ausleihen. Anna gab Michael oft dicke Bücher oder Sammelausgaben, denn er schien sehr schnell zu lesen. Seit er im letzten Jahr eingesperrt worden war, hatte er sich zu einem regelrechten Bücherwurm entwickelt. Mit Vorliebe las er Geschichten, die abseits der Ostküstenstädte spielten. Über Menschen, denen er in Washington bisher nicht begegnet war und die an Orten lebten, an denen er nie gewesen war. Nichts allzu Kompliziertes oder Abgehobenes. Er bevorzugte klar strukturierte und einfach erzählte Geschichten. Lesen machte ihm Spaß. Das war neu für Michael. Er wollte niemanden beeindrucken. Aber sein Geschmack entwickelte sich. Er lernte.
Er betrachtete die Cover und warf einen Blick auf den Klappentext von Kentucky Straight.
»Die Geschichten in dem Buch spielen hauptsächlich in den Appalachen«, sagte Anna.
»Also Bergmenschen«, sagte Michael.
»Ja. Der Autor ist dort aufgewachsen. Die Western werden Ihnen auch gefallen, glaube ich.«
»Ja, Leonard. Der Typ kann was.«
»Sie haben Beute gelesen. Einen seiner Krimis.«
»Ich erinner mich.« Michael sah ihr in die Augen. »Danke, Miss Anna.«
»Ich mache nur meinen Job.«
»Empfehlen Sie mir noch ein paar Titel. Für später.«
Als Michaels Interesse am Lesen gewachsen war, hatte er Anna gebeten, ihm Bücher zu nennen, die ihm gefallen könnten und die er später lesen wollte, entweder nach seiner Entlassung oder nach der Verlegung in ein Bundesgefängnis. Romane, die in ihrer Bibliothek nicht vorhanden oder als nicht geeignet für die Gefangenen eingestuft worden waren. Bücher, die sie für interessant für ihn hielt. Anna nannte ihm die Titel, er schrieb sie später auf und erzählte seiner Mutter davon, wenn sie zu Besuch kam. Seine Mutter war über seine neue Begeisterung für Bücher überrascht und erfreut gewesen.
»Als kalt der Regen fiel«, sagte Anna. »Von Don Carpenter. Und ein Kurzgeschichtenband namens Was sie trugen von Tim O’Brien. Der spielt in Vietnam, während des Kriegs.«
»Als kalt der Regen fiel, Carpenter«, wiederholte Michael. »Was sie trugen.«
»Tim O’Brien.«
»Merk ich mir.« Er stand da, als würde er auf etwas warten.
Der Mann hinter ihm sagte: »Scheiße, ich werd hier schon grau.«
»Sonst noch was?«, fragte Anna.
»Ich wollte nur sagen … bis ich hierhergekommen bin, hatte ich in meinem Leben noch kein Buch gelesen. Das wissen Sie, oder? Die Freude, die ich jetzt daran habe, das ist wegen Ihnen.«
»Sie können diese Bücher lesen, weil die Bibliothek von Washington vor zwei Jahren hier drin diese Zweigstelle eröffnet hat. Aber ich freue mich, dass Sie die Chance nutzen. Ich hoffe, die da gefallen Ihnen.«
»Ich sag’s Ihnen dann.«
»Sie kommen nächste Woche zum Buchclub, ja?«
»Das wissen Sie doch«, sagte Michael.
»Dann sehen wir uns in der Kapelle.«
»Ja.«
Sie sah ihm nach, als er zu seiner Zelle ging. Er strich mit dem Daumen über den Umschlag eines der Bücher, als würde er etwas sehr Wertvolles polieren.
In der Haftanstalt gab es eine Jura-Bibliothek, welche die Gefangenen zur Vorbereitung auf ihre Verhandlungen nutzen konnten. Sie war Annas erste Arbeitsstelle im Gefängnis gewesen.
Die Jura-Bibliothek stand den Häftlingen jeder Abteilung zwei Stunden pro Woche zur Verfügung, den Insassen in Isolationshaft auf Antrag. Eine angestellte Bibliothekarin koordinierte alles, unterstützt von einem Assistenten, der Gefangener war und einen sehr begehrten, weil wenig anstrengenden Knastjob hatte. Die Insassen hatten Zugang zu Nachschlagewerken und LexisNexis-Archiven an den PCs, konnten aber nicht aufs Internet oder E-Mail-Programme zugreifen. Außerdem wurde die Jura-Bibliothek für Wahlen genutzt, zu denen nur die nicht bereits verurteilten Insassen zugelassen waren, und für schulische und akademische Prüfungen.
Die Gefängnisbücherei gehörte offiziell zur Stadtbibliothek von D.C., war aber keine normale Bücherei, denn die Gefangenen konnten nicht einfach kommen und die Regale durchstöbern. Irgendwann sollte das möglich gemacht werden, einstweilen wurden die Bücher aber auf Karren zu den Häftlingen gebracht.
Die Anstalt bestand aus fünfzehn Abteilungen. Die mobile Bibliothekarin besuchte drei pro Tag, jede einmal in der Woche. Zu den Abteilungen gehörten unter anderem die Schule, der allgemeine Vollzug, die Seniorenabteilung, psychische Auffälligkeiten, jugendliche Straftäter und Isolationshaft. Jede hatte ihre Besonderheiten und eigenen Bedürfnisse. Es gehörte zu Annas Job, diese Bedürfnisse beim Beladen ihrer Karren im Blick zu haben und aus den über dreitausend vorrätigen Titeln, die im Arbeitsraum gelagert wurden – ausschließlich Paperbacks –, die richtigen auszusuchen.
Um halb fünf war Feierabend. Anna war im Arbeitsraum und belud ihren Karren für die Seniorenabteilung, wo sie am folgenden Morgen erwartet wurde. Untergebracht waren dort vor allem Mehrfachtäter, Drogenabhängige oder Männer, die gegen ihre Bewährungsauflagen verstoßen hatten. Sie hatte ein paar der bei den Insassen beliebten Romane von Gillian Flynn und eine Handvoll frühe Stephen Kings herausgesucht. Alles von King war stark gefragt. Außerdem waren die Harry-Potter-Bände sehr populär.
Annas Assistentin Carmia, die unlängst an der University of the District of Columbia ihr Studium beendet hatte und in den Sozialsiedlungen im Southeast aufgewachsen war, stand neben ihr, blätterte jedes zurückgegebene Buch durch und suchte nach Kassibern und Schmuggelware. Aus Sicherheitsgründen durften die Bücher nicht von einem Gefangenen zum nächsten weitergegeben werden. Jedes Buch wurde überprüft und dann erst wieder ausgeliehen.
»Bist du fertig, Anna?«
»Ja.«
»Wir können zusammen rausgehen. Ich muss meine Jungs aus dem Kindergarten abholen.«
»Ich bin gleich so weit.«
Anna arbeitete schon seit einigen Jahren in der Haftanstalt, aber nicht immer in der jetzigen Position. Nach ihrem Studium am Emerson College in Boston war sie ihrem Mann nach Washington gefolgt, der als Anwalt in einer Kanzlei angestellt war, und hatte ihren Master in Bibliothekswesen an der Catholic University gemacht. Zunächst hatte sie als Anwaltsarchivarin in einer Kanzlei an der H Street gearbeitet und war vor Langeweile fast umgekommen. Als sie die Stellenanzeige der Corrections Corporation of America gesehen hatte, mit der eine Jura-Bibliothekarin für das Zentralgefängnis von D.C. gesucht wurde, hatte sie sich beworben und war zu ihrer Überraschung sofort genommen worden.
Der Job hatte sie zum ersten Mal mit der Gefängnisrealität in Kontakt gebracht. Am Anfang war das eine aufwühlende Erfahrung gewesen, vor allem die Sicherheitsmaßnahmen und die deprimierende Endgültigkeit der sich schließenden Türen, der sich im Schloss drehenden Schlüssel und der scheppernden Sicherheitsschranken waren schwer zu ertragen. Doch schnell waren diese Prozeduren und Geräusche Routine geworden, und Anna hatte gemerkt, dass sie lieber mit Gefangenen als mit Anwälten zu tun hatte. Mit den Inhaftierten gab es keine Probleme, sie wussten, dass Anna da war, um ihnen zu helfen. Manchmal fand sie es verstörend, mit einem wegen Vergewaltigung oder Pädophilie verurteilten Mann zusammenzusitzen und ihn dabei zu unterstützen, seine Berufungschancen zu recherchieren. Aber bedroht fühlte sie sich nie. Eher unterfordert. Der Job war weder besonders kreativ noch erfüllend. Anna liebte Romane und hätte sich gerne mehr um Literatur und Leseförderung gekümmert. Als dann im Frühjahr 2015 die Stadtbibliothek eine Filiale in der Haftanstalt eröffnete, hatte sie sich auf die Bibliothekarsstelle beworben und sie bekommen.
»Bist du so weit?«, fragte Carmia, eine gläubige Christin mit hübschen braunen Augen und der Statur einer kleinen Rugbyspielerin.
Anna schaltete ihr Arbeitshandy aus, sammelte die paar Habseligkeiten ein, die sie mit ins Gefängnis gebracht hatte, und legte sie in eine durchsichtige Plastikhandtasche.
»Auf geht’s.«
Auf dem Weg zum Gefängnisparkplatz begegneten Anna und Carmia Vollzugsbeamten, Besuchern, Verwaltungsangestellten und Polizisten, die ebenfalls zu ihren Autos wollten oder herumstanden, rauchten und über den Arbeitstag sprachen. Das Gefängnis lag an der 19th und D im Southeast, am östlichen Rand der Wohngegend Kingman Park. Alteingesessene Washingtoner kannten die Gegend hauptsächlich wegen des fünfundsiebzig Hektar großen Stadium-Armory Campus, der das Gefängnis, das ehemalige, jetzt zu einer riesigen Obdachlosenunterkunft umfunktionierte D.C. General Hospital und das geliebte RFK Stadium umfasste, in dem die Washington Redskins ihre ruhmreichen Zeiten erlebt hatten.
»Hab einen gesegneten Tag«, sagte Carmia und schloss ihren japanischen Wagen auf, den sie die nächsten fünf Jahre lang abbezahlen würde.
»Du auch«, sagte Anna und ging zu ihrem Auto, einem kastigen schwarz-beigen Mercury Mariner, dem inzwischen nicht mehr hergestellten Schwestermodell des Ford Escape. Es bot einen guten Überblick und erfüllte seinen Zweck als Stadtauto. Vor allem war es abbezahlt.
Ein kleiner Schwarm Möwen kam angesegelt und ließ sich auf dem Parkplatz nieder. Anna war manchmal immer noch überrascht, diese Vögel zu sehen, aber natürlich waren sie nur einen Steinwurf vom Anacostia River und nicht weit vom Potomac und der Chesapeake Bay entfernt.
Sie stieg in ihren Wagen und holte ihr Portemonnaie und das Privathandy aus dem Handschuhfach. Dann löste sie ihre Haarspange, ließ das Fenster auf der Fahrerseite herunter und genoss einen Moment lang die frische Luft und das Kreischen der Möwen.