Bruno Moebius
Suzanne & Michel
1 – 3
Text: Bruno Moebius
Layout: Bruno Moebius
Cover Design: Bruno Moebius
© Mediagency, 2019
Die beiden Männer stiegen den schmalen Pfad hinan, bis sie den Waldrand erreichten. Von einem Schritt zum nächsten gab es keine Bäume mehr, keine Gräser oder Kräuter. Nur felsiger Boden lag vor ihnen. Der Hang war von der Morgensonne beschienen und kleine steinerne Grate warfen lange Schatten.
Der Ältere bereute bereits, dass er mitgekommen war. Michel, wie er den Jüngeren nannte, hatte ihn gewarnt, dass es ein wenig anstrengend werden könnte, doch er hatte nur gelacht.
»Ich lebe seit mehr als fünfzig Jahren hier. Ich kenne mich aus. Sieh du nur zu, dass du mit mir Schritt halten kannst!«, hatte er am Vorabend großmäulig verkündet, als sie den Ausflug bei einem letzten Glas Wein besprochen hatten.
»Ich denke, hier machen wir Pause«, schlug der Jüngere vor und Antoine atmete auf.
»Meinetwegen können wir gleich bis zum Gipfel weitergehen«, scherzte er, zugleich hoffend, dass er sich damit kein Eigentor schoss.
»Pause. Basta!«
Michel ließ sich auf dem quer liegenden Stamm einer Buche nieder und öffnete seinen kleinen Rucksack. Er spülte mit dem ersten Schluck aus seiner Wasserflasche den Mund aus, spie das Wasser in weitem Bogen aus, dann erst trank er bedächtig. Antoine hing an seiner eigenen Flasche, als wäre er kurz vor dem Verdursten. Michel registrierte es mit Missfallen, aber er schwieg. Er war nicht hier, um den Oberlehrer zu geben. Es stand ihm nicht zu, umso weniger, als er selbst eine Zigarette aus einer Packung klopfte und sie anzündete.
»Meinst du, dass wir etwas finden werden?«, fragte Antoine nach einem befreienden Rülpsen.
»Ich finde fast immer etwas. Diese Gegend ist – wie sagt man? – eine Fundgrube. Aber nur selten lohnt es sich, etwas mitzunehmen.«
»Ich bin schon mit einem kleinen Stück zufrieden. Egal, was es ist. Zur Gesellschaft für meine Sirenia.«
Antoine spielte darauf an, dass er seit Jahren einen Stein besaß, etwa so groß wie zwei Fäuste, mit dem Abdruck eines kleinen Teils einer Seekuh, die vor zwanzig Millionen Jahren an der damaligen Meeresküste verendet sein mochte und sich in Stein verewigt hatte. Im ‚Tal der Sirenen‘ oberhalb von Castellane fand man solche Steine wie anderswo Bachkiesel.
»Wir werden sehen.« Michel blickte auf seine Uhr, drückte die Zigarette sorgfältig aus und schob den Stummel zurück in die Packung.
»Weiter geht‘s. Es ist schon halb elf. Wir müssen dort hinüber.«
Antoine sah mit einiger Erleichterung, dass sein Gefährte nicht hinauf zum Gipfel, sondern seitwärts zeigte.
Sie machten sich auf den Weg, wobei dies nur eine Redensart war, denn Weg gab es hier keinen mehr, nur noch Fels und Geröll, dazwischen Flecken mit Erde, die der Erosion früher oder später zum Opfer fallen würden wie überall oberhalb der Baumgrenze.
Wenige Minuten später hatten sie den Hang gequert, mussten nur noch einen kleinen Grat überwinden, um auf die Schattenseite zu gelangen, als sie wie auf Kommando den Schritt verhielten.
»Merde!«
Antoine brachte es auf den Punkt.
Dicht vor ihnen, nicht viel höher als da, wo sie standen, raste lautlos bis auf ein dünnes Pfeifen der Luft etwas Glänzendes so schnell vorüber, dass es bereits außer Sicht war, als Antoine sein Wort zu Ende gebracht hatte.
»Was zum …«, brachte Michel heraus, als ein fernes dumpfes Geräusch ertönte, ein Knirschen, wie es vielleicht die Buche von sich gegeben hatte, sich vor Zeiten dem Sturm ergebend.
»Wir müssen Hilfe rufen«, sagte Antoine heiser. »Du hast doch dein Smartphone dabei, wie ich dich kenne.«
»Kein Empfang, glaube mir«, antwortete Michel. »Ich bin schon öfter hier gewesen. Mit etwas Glück finde ich kurz vor Le Vernet ein Netz.«
»Also laufen wir!« Antoine machte kehrt und rannte los, Michel folgte ihm.
»Pass auf! Brich dir kein Bein! Wenn ich dich tragen muss, brauchen wir noch länger«, rief er dem Älteren hinterher. So schnell hatte er ihn noch nie sich bewegen gesehen. Nun, beim Pétanque wäre das kaum vorstellbar gewesen. Michel rannte jetzt ebenfalls, sorgsam darauf achtend, wohin er seine Füße setzte.
Was hatte er da bloß gesehen? Zweifellos ein Flugzeug. Es musste ziemlich groß gewesen sein. Vielleicht eine der Mirages, die gelegentlich über die Gegend donnerten und die Leute mit ihrem Überschallknall erschreckten. Nein, das konnte nicht sein. Die waren doch nicht viel größer als die kleinen Propellermaschinen, mit denen man von Digne oder Sisteron aus Rundflüge machen konnte. Es war ein Verkehrsflugzeug gewesen, dessen war er sicher. Viel zu tief und viel zu schnell, um vielleicht eine Notlandung zu versuchen. Sie waren am Waldrand angelangt, als ein gewaltiges Fauchen sie aufschreckte und nach oben blicken ließ. Es war unverkennbar eine Mirage, die über sie hinwegfegte und auch schon wieder verschwand. Sie musste eine unglaublich enge Kurve geflogen sein, oder es war eine zweite Maschine, die keine halbe Minute später in die gleiche Richtung donnerte.
»Die sind auf der Suche«, rief Antoine und setzte sich wieder in Bewegung, den Pfad durch den Wald hinab. Zwanzig Minuten später saßen sie in Michels Geländewagen und holperten auf die Schotterstraße zu, die sie nach Le Vernet bringen würde.
*
»Guillaume aus Prads hat eben angerufen. Sie haben es auch gesehen!«
Der Mann, der eben durch die Tür des Le Moulin ins Freie stürzte, war Albert Meunier, der Bürgermeister von Le Vernet und stolzer Besitzer des Cafés. Es war das einzige gemauerte und mit Putz versehene Haus neben einer Gruppe von Natursteinhäusern, die bereits seit Jahrzehnten dem Verfall preisgegeben waren. Mühle gab es hier längst keine mehr, aber Imbisse für Touristen, die die Route Napoléon in Digne verlassen hatten und hier nach Norden wollten, und an Vormittagen wie diesem standen Bauern, Forstarbeiter und Lieferanten gern ein Weilchen beisammen, rauchten und hielten ein Schwätzchen, während sie sich mit dem einen oder anderen Pastis stärkten.
Sieben oder acht Männer standen da, den Blick nach Osten gerichtet, wo hinter den niedrigeren Vorbergen die Tête de l‘Estrop aufragte. Irgendwo zwischen Prads-Haute-Bléone und dem Estrop war das Flugzeug verschwunden, das lautlos wie eine Eule vom Süden her gekommen war, so dicht über den Bergkämmen, dass jeder der Männer wusste, dass es unweigerlich zur Katastrophe kommen würde.
»Wo ist es niedergegangen? Sollen wir hinauffahren und helfen?«, fragte einer.
»Mit deinem Truck kommst du niemals nach Prads hinauf«, sagte ein Anderer.
»Na, wenn sie es nicht gesehen hätten, hätte Guillaume doch nicht angerufen, oder?«, sagte Meunier. »Er war völlig aus dem Häuschen. Die Maschine war so tief, dass sie Angst hatten, sie würde ihnen die Dächer von den Häusern abreißen.«
»Wenn ich nicht zufällig in die Richtung gesehen und geschrien hätte, hätte keiner von euch etwas bemerkt«, meldete sich der alte Ricard. »Die Maschine war so schnell, dass wir sie nur wenige Augenblicke lang gesehen haben. Wenn ihr mich fragt, haben die oben in Prads gerade einmal einen Schatten gesehen, dann war es auch schon vorbei. Die haben sich bestenfalls nachher in die Hosen geschissen.«
Er kicherte. Niemand lachte mit.
»Ich fahre hinauf.« Einer der Forstarbeiter blickte um sich. »Wer kommt mit mir?«
Fünf Männer zwängten sich in seinen Allrad-Suzuki und er fuhr los.
»Wir halten hier die Stellung«, sagte Meunier. Ricard nickte.
»Ich hänge mich ans Telefon. Mal hören, was die in Beaujeu und La Javie erzählen. Die müssten doch auch etwas gesehen haben.«
Er verschwand im Inneren des Hauses.
Ricard setzte sich und zündete mit etwas zittrigen Händen seine Pfeife an, die ausgegangen war. Ein paar halb volle Gläser standen verlassen auf dem Tisch. Welches davon war seines? Er sog an der Pfeife, dann zog er die Flasche, die Meunier nicht mitgenommen hatte, an sich und setzte sie an die Lippen.
Pastis pur. Zur Beruhigung, dachte er. Hier würde bald einiges los sein.
*
Michel brachte seinen Wagen gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Beinahe wäre er in einen verwaisten Truck geknallt, als er viel zu schnell in den kleinen Parkplatz beim Le Moulin kurvte. Antoine und er sprangen heraus, stürmten ins Lokal und prallten mit dem Wirt zusammen, der eben hinaus wollte.
»Telefon!«, brüllte Michel ganz entgegen seiner Art und rempelte Meunier zur Seite.
»Langsam, langsam!«, sagte dieser. Er wusste, wie man mit Rabauken umgehen musste, die einen über den Durst getrunken hatten und den starken Mann spielten. Er wusste aber auch, dass der Neuankömmling nicht betrunken, sondern höchst aufgeregt war. Das lief beinahe auf dasselbe hinaus.
»Geht es um den Flugzeugabsturz?«
Michel sah ihn verblüfft an.
»Sie wissen davon? Haben Sie etwa auch beobachtet, was …«
»Und ob! Und mittlerweile weiß das ganze Tal davon. Der Bürgermeister von Prads hat einen Rundruf gemacht. Die Maschine ist anscheinend ganz in ihrer Nähe heruntergekommen.«
»Wir waren oben. Nicht in Prads. Zwischen hier und Prads«, meldete sich Antoine zu Wort. »Es war … gespenstisch. Erst die riesige Maschine, lautlos. Dann die Mirages …«
»Mirages?« Meunier blickte erstaunt von einem zum anderen. Er hatte keine Mirage gesehen. Auch die Anderen nicht, so viel er wusste.
»Also, von Mirages weiß ich nichts. Aber lautlos war das Flugzeug – ich weiß gar nicht, wie wir darauf aufmerksam wurden.«
Nun waren es Michel und Antoine, die ihn erstaunt ansahen.
»Ihr könnt ja den alten Ricard fragen. Der sitzt draußen und säuft meinen Pastis leer.«
»Ich rufe Suzanne an. Das wäre doch mal eine Story für sie«, sagte Antoine. An Meunier gewandt, erklärte er mit Stolz in der Stimme: »Suzanne ist meine Tochter. Sie arbeitet für den Matin.«
»Das Telefon hängt neben der Theke. Aber machen Sie es kurz, Monsieur. Ich erwarte einen Anruf meines Schwagers. Er ist Gendarm in Digne.«
Antoine beeilte sich, ans Telefon zu kommen.
Michel war irgendwie erleichtert. Man wusste also schon Bescheid. Er musste niemanden mehr alarmieren. Die Anspannung der letzten Stunde legte sich allmählich und erst jetzt fiel ihm auf, dass er seit der Verschnaufpause am Waldrand nicht mehr geraucht hatte.
Er wandte sich um und trat ins Freie. Vorhin hatte er nicht darauf geachtet, doch jetzt sah er den alten Mann, der da saß und an seiner Pfeife zog.
»Es waren Deutsche«, nuschelte Ricard, ohne die Pfeife abzusetzen, sodass ihn Michel nur mit Mühe verstehen konnte. »Ich bin ziemlich sicher. Meine Augen sind noch sehr gut.«
»Es war so schnell – ich konnte nichts erkennen«, sagte Michel. »Wir waren auch sehr nahe dran.«
»Oben im Mal Vallon? Auf der Suche nach diesen Meeresungeheuern?« Ricard kicherte.
Meunier kam durch die Tür und enthob Michel einer Antwort.
»Sie haben Hubschrauber hinaufgeschickt. Sagt mein Schwager. Und sie haben die Compagnie des Guides in Les Menuires alarmiert. Sie haben die Absturzstelle anscheinend gefunden. Irgendwo am Col de Mariaud.«
Antoine kam nun ebenfalls zum Vorschein.
»Stell dir vor, Michel – Suzanne wusste bereits von einem vermutlichen Absturz. Ist das zu fassen? Sie ist schon auf dem Weg hierher.«
»Was kann sie hier tun? Hier ist ja nichts. Die Maschine ist dort oben irgendwo. Oder was davon übrig ist.«
»Na, Augenzeugen interviewen. Von den Bergungsarbeiten berichten. Fotos machen. Was weiß ich? Was Journalisten eben so tun, wenn ein Unglück geschehen ist.«
»Ein Jammer, dass die Straße hinauf nach Prads schon unten bei La Javie abgeht und die zum Col de Mariaud weiter oben. Es kommen ja alle vom Süden oder vielleicht auch von Seyne. Hier wird niemand vorbeikommen.«
Meunier wirkte bekümmert.
»Ja, das Geschäft werden die dort oben oder unten machen«, nuschelte Ricard. »Und die hier …«, er deutete auf die halb leeren Gläser und die mittlerweile völlig leere Flasche auf dem Tisch, »… kannst du wohl auch abschreiben.«
»Der Letzte bezahlt«, knurrte Meunier, er meinte es aber nicht so. Ricard war so etwas Ähnliches wie die Fossilien in den Bergen. Immer schon hier gewesen, mit der Umgebung verwachsen. Und irgendwann würde er versteinert das Café Le Moulin bewachen, und in Neumondnächten könnte man den Tabak in seiner Pfeife glühen sehen.
*
In Castellane gab es – wie im restlichen Europa – nur ein Thema: Absturz eines mit hundertfünfzig Personen besetzten Passagierflugzeugs der Germanhoppers auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf. Überflüge waren hier stündliche Routine. Man schenkte den Flugzeugen in zehntausend und mehr Metern Höhe keine Beachtung und kaum jemandem war aufgefallen, dass die Unglücksmaschine viel tiefer geflogen sein musste, sonst hätte sie nicht ungefähr fünfunddreißig Flugkilometer weiter in weniger als zweitausend Metern Höhe aufgeschlagen.
Michel saß an einem der kleinen Tische vor dem Hotel, wo er stets frühstückte, wenn es das Wetter erlaubte. Jetzt, gegen Ende April, war es schon am Morgen warm genug, um draußen zu sitzen und das Erwachen des Städtchens zu beobachten. Noch waren kaum Touristen hier. Sie würden erst um die Pfingstfeiertage herum kommen, der große Ansturm folgte üblicherweise aber erst Anfang Juli.
»Ist es nicht schrecklich?«
Jeanne stellte die Tasse mit köstlich duftendem Espresso und ein Croissant auf einem kleinen Teller vor Michel auf den Tisch.
»Danke. Ja, es ist schrecklich. All die unschuldigen Opfer«, sagte er. Jeanne setzte sich ihm gegenüber. Es war unsinnig, denn alle Welt hatte heute wohl schon gefrühstückt, aber er dachte plötzlich, es wäre pietätlos, jetzt herzhaft in ein Croissant zu beißen.
»Ich werde in Nôtre-Dame du Roc ein Licht anzünden. Für die armen Menschen in dem Flugzeug. Und aus Dankbarkeit, dass es Antoine – und natürlich auch dich – nicht erwischt hat.«
»Wir waren weit genug entfernt«, sagte Michel. »Allerdings … es hätte uns auch auf den Kopf fallen können. Oder auf die Häuser in Prads-Haute-Bléone. Oder mitten auf die Place de l‘Église.«
Jeanne bekreuzigte sich. Michel hatte sich im Lauf der Zeit daran gewöhnt. Immerhin bewohnte er das Zimmer in Ma Petite Alberge am Boulevard de la République schon seit beinahe drei Jahren. Jeanne und Antoine waren die Besitzer des Hotels. Nach und nach hatten sie sich angefreundet, und außer ihnen wusste so gut wie niemand, wo er herkam. Die meisten hielten ihn wegen seiner Aussprache für einen Schweizer oder Elsässer und Michel ließ sie in dem Glauben. In Wahrheit hieß er Michael Bergmann, war Österreicher, stammte aus der Nähe von Wien, hatte aber einige Jahre in Zürich und Genf gearbeitet.
»Suzanne ist noch oben in Seyne-les-Alpes. Sie haben dort eine Zentrale eingerichtet. Wir haben spät am Abend noch telefoniert. Sie weiß gar nicht, was sie zuerst tun soll. Es gibt so viele Augenzeugen, das glaubt man gar nicht. Jeder hat etwas gesehen. Jeder etwas anderes. Und dann die Politiker. Aus Spanien, aus Deutschland. Und unser Präsident war dort.«
»Ja, es war gestern im Fernsehen. Und hier steht es auch drinnen.« Michel schwenkte den Matin, den ihm Jeanne wie jeden Morgen auf den Frühstückstisch gelegt hatte.
Er zeigte auf die dicke Schlagzeile. Darunter stand ‚Suzanne Fresson berichtet direkt vom Unglücksort‘.
»Ja, das ist meine Suzanne«, sagte Jeanne stolz. Sie hätte es zwar lieber gesehen, wenn ihre Tochter daheimgeblieben wäre, um im Hotel und im Restaurant mitzuarbeiten, irgendwann geheiratet und mit ihrem Mann den Betrieb übernommen hätte, doch Suzanne hatte sich anders entschieden. Es sah ganz so aus, als hätte sie das Richtige getan, denn immer wieder erschienen Artikel mit ihrem Namen darunter, und jetzt sogar auf der Titelseite des Matin.
»Wo steckt denn Antoine?«
»Er ist drüben bei Martin. Er muss ja allen von seinem Erlebnis berichten. Du kennst ihn doch.«
Michel nickte. Er konnte sich gut vorstellen, wie Antoine an der Theke der Kneipe lehnte und dem Halbkreis der Rentner ausführlich schilderte, wie er um Haaresbreite dem Tode entronnen war.
»Dabei gibt es gar nicht viel zu erzählen«, sagte er. »Wir standen da, das Flugzeug raste an uns vorüber, dann war alles schon wieder vorbei.«
»Ich habe das ein wenig anders gehört.« Jeanne lächelte. »Aber egal. Ich muss jetzt in die Küche. Es ist viel zu tun bis Mittag.«
Sie überließ Michel sich selbst, seinem Frühstück und dem Matin, und er biss endlich in sein Croissant, während er die Zeitung aufschlug und zu lesen begann.
*
Suzanne Fresson diskutierte bis spät in die Nacht hinein in einer Bar mit ihren Kollegen von anderen Zeitungen und Nachrichtenagenturen. Sie spekulierten, wie es wohl zu dieser Katastrophe gekommen sein könnte, wobei der Fantasie kaum Grenzen gesetzt waren, denn brauchbare Fakten gab es keine. Kaum eine oder einer hatte sich darüber Gedanken gemacht, dass man sich rechtzeitig um ein Nachtquartier kümmern sollte, und um zwei Uhr war es zu spät. Suzanne hatte Glück, denn ihre Kollegin Marie Lecomte vom France Soir war schlauer als Andere gewesen und hatte sich schon am frühen Abend ein Zimmer gesichert und lud Suzanne kurzerhand ein, das Zimmer mit ihr zu teilen.
Frühstück gab es gegen neun Uhr in einer Bäckerei zwei Häuser weiter, wo schon ein paar Kollegen Croissants und Puddingschnecken in sich hineinstopften.
»Um elf Uhr gibt es eine Pressekonferenz«, wusste einer zu berichten, der aussah, als hätte er im Auto geschlafen.
»Und wo findet die statt?«, fragte Marie mit vollem Mund. Sie hatte eines der letzten Croissants ergattert. Die Bäckerei war wohl nie zuvor um diese Zeit schon so gut wie ausverkauft gewesen.
»In der Mairie«, sagte ein Anderer. »Die dient jetzt vermutlich als Hauptquartier.«
Suzanne holte ihr Smartphone hervor und schickte eine Kurznachricht mit dieser Information an ihre Redaktion, dann organisierte sie sich Kaffee in einem Pappbecher und trat hinaus auf die Straße. Es war kühl, aber die Sonne, die schon über den Berggipfeln stand, würde das Tal bald wärmen. Genau in dieser Richtung sah Suzanne ein paar Helikopter, die zum Unglücksort unterwegs waren oder von dort zurückkehrten. Die Absturzstelle war zu Fuß nur mühsam zu erreichen. Die Hubschrauber konnten dort nicht landen, das hatte sich schon am Vortag herausgestellt. Die Helfer mussten sich abseilen.
Für Journalisten gab es keine Möglichkeit, dorthin zu gelangen, außer es hatte einer gute Beziehungen und wurde bei einem der Flüge mitgenommen. Suzanne begann sich zu fragen, was sie eigentlich hier noch tun konnte. Es erschien ihr wenig sinnvoll, auf die Verlautbarungen dieser und vermutlich folgender Pressekonferenzen zu warten. Die Leute von der Agence France Presse waren ja auch hier, und was die erfuhren, konnte jede Redaktion Minuten später abrufen. Der Besuch weiterer Promis war auch nicht zu erwarten, nachdem schon die wichtigsten Vertreter der betroffenen Regierungen vor Ort gewesen waren; worauf sollte sie also noch warten?
Sie winkte durch das Schaufenster in die Bäckerei hinein und ging dann die Straße hinunter, in der sie ihren kleinen Renault geparkt hatte, stieg ein und fuhr los. Am südlichen Ortsende von Seyne kam sie an eine
Straßensperre. Sie musste den Wagen anhalten, da einer der Gendarmen mit seiner Kelle winkte.
»Bonjour, Madame«, sagte er nach einem Blick auf den Presseausweis, den sie hinter die Windschutzscheibe geklemmt hatte. »Wenn Sie Seyne verlassen, kann ich nicht garantieren, dass wir Sie später wieder einfahren lassen. Die Gegend soll angeblich völlig abgeriegelt werden.«
»Warum denn dieses?«
»Anordnung von ganz oben, sagt man. Die Angehörigen der Opfer werden eingeflogen. Vermutlich kommen sie dann von Nizza oder Marseille in Bussen.«
»Eher Nizza«, sagte Suzanne. »Ist viel näher als Marseille. Allerdings … von Marseille bis Digne gibt es die Autobahn. Sie fliegen also die Angehörigen ein? Das geht aber schnell. Man hat ja noch nicht einmal die Opfer geborgen. Oder was von ihnen übrig ist. Es soll dort oben ja alles in kleine Stücke zerfetzt sein.«
Suzanne erschauerte bei der Vorstellung.
»Waren Sie oben an der Absturzstelle?«, wollte der Gendarm wissen. Er war neugierig, aber noch mehr gefiel ihm die hübsche junge Journalistin. Den Typen vorhin hatte er ohne Weiteres passieren lassen.
»Nein, sie lassen keine Journalisten hinauf. Sie brauchen den Platz in den Helikoptern für die Helfer. Ist ja auch einzusehen. Ich frage mich bloß, wer die Fotos oben gemacht hat.«
In so gut wie allen in-und ausländischen Zeitungen und im Internet waren Fotos von der Absturzstelle zu sehen, es waren vielleicht vier oder fünf, und immer die gleichen.
»Die Helfer vor Ort, denke ich«, sagte der Gendarm. »Oder die Hubschrauberpiloten. Vorhin ist einer hier durchgekommen, der hat etwas von Fotos gesagt, die er schnell irgendwohin bringen muss. Ach ja, und zum nächsten Telefon wollte er dringend.«
»Eigenartig. Warum hat er nicht in Seyne telefoniert? Er kam doch wohl von dort.«
»Er kam von Norden, also kann er nur von Seyne gekommen sein. Ist ja auch egal. Hinaus darf jeder, hinein nur mit Passierschein.«
»Und das ist Befehl von oben?«
Der Gendarm nickte.
»Ist wahrscheinlich immer so bei solchen Katastrophen. Ich bin zum ersten Mal bei so etwas im Einsatz.«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte Suzanne und verschwieg, dass es auch ihr erster Einsatz bei einem solchen Ereignis war. »Wo ist denn hier das nächste Telefon?«
»In Le Vernet, nur wenige Kilometer die Straße hinunter. Wenn Sie telefonieren wollen, fahren Sie einfach daran vorbei. Nach dem Ortsende ist an der rechten Seite das Café Le Moulin, dort können Sie ungestört telefonieren und auch eine Kleinigkeit essen. Das Café gehört meinem Onkel. Sagen Sie ihm, Bastien hat Sie geschickt.«
»Danke, das werde ich tun. Darf ich jetzt durch?«
»Selbstverständlich!« Bastien bekam einen roten Kopf. Gut, dass sein Vater, mit dem er gemeinsam zum Dienst eingeteilt war, schnell nach Le Vernet gefahren war, um ihnen einen Imbiss zu holen. Er hätte ihm die Ohren lang gezogen, wenn er Privatgespräche führte und die Leute ohne Grund aufhielt. Er hob den Absperrbalken zur Seite und winkte.
Suzanne fuhr los, und als sie an dem Gendarmen vorbeirollte, rief sie aus dem Fenster:
»Ich heiße Suzanne!« Dann stieg sie aufs Gas und der Renault beschleunigte rasant.
*
Michel machte nach dem Frühstück einen Spaziergang hinauf zur Kapelle Nôtre-Dame du Roc. Er hatte nicht vor, eine Kerze anzuzünden, wie Jeanne Fresson angekündigt hatte – sie würde es ohnehin nicht tun, da sie gar keine Zeit für so etwas hatte –, sondern wie schon einige Male den Blick ins Tal zu genießen und sich dabei zu erinnern.
Vor sechs, nein vor sieben Jahren hatte er zum ersten Mal hier oben, einhundertvierundachtzig Meter über dem malerischen Ort, gestanden; mit Doris, seiner Frau.
»Das ist ein wirklich nettes Städtchen«, hatte sie gesagt, »und der Blick von hier oben …«
»Wenn wir uns einmal zur Ruhe setzen, können wir ja hierher übersiedeln«, hatte er scherzhaft erwidert, nicht ahnend, dass es beinahe so kommen würde – aber eben nur beinahe. Wenige Monate später hatte ein betrunkener Autofahrer Doris mitten aus ihrem Leben gerissen.
Die Katastrophe in den Bergen, die sich so unmittelbar vor seinen Augen ereignet hatte, hatte Michel einmal mehr daran erinnert, wie sich von einer Sekunde auf die andere alles ändern konnte.
Er zündete eine Zigarette an, dann lehnte er sich an die Brüstung und blickte hinunter auf Castellane, die Dächer der Häuser, die Place de l‘Église, den Boulevard de la République, und er konnte sogar Ma Petite Alberge sehen, das kleine Hotel, in dem er wohnte. Er war sicher, dass Doris, ganz gleich, wo sie jetzt sein mochte, damit einverstanden war, dass er ohne sie hierher gezogen war. Was sollte er noch in Wien, Zürich oder Genf? Wozu wie ein Hamster im Rad weiterlaufen?
Der Verkauf des großzügigen Hauses am Wiener Stadtrand hatte mehr als erwartet eingebracht, hinzu kamen die Folgeprovisionen aus Geschäften, die er eingefädelt hatte, und – last, not least, auch wenn es ihm Unbehagen bereitete –, hätte schon die Auszahlung der Lebensversicherung, die er und Doris auf Gegenseitigkeit abgeschlossen hatten, für einige sorglose Jahre gereicht.
Er hatte während seiner Zeit in der Schweiz begonnen, sich für Fossilien zu interessieren, und seit er in Castellane wohnte, hatte er schon einige Touren unternommen und schöne Stücke mitgebracht, die jetzt sein Zimmer schmückten. Wenn der Platz zu eng wurde, konnte er seine Funde dem Museum in Castellane, dem Musée Sirènes et Fossiles stiften, falls die sie haben wollten.
Da die Touristensaison noch nicht begonnen hatte, war Le Roc, wie der Felsen, auf dem die Kapelle stand, schlicht benannt war, so gut wie menschenleer. Michel hatte sein iPad mitgebracht, um ungestört im Internet zu stöbern. Hier hatte er hervorragenden Empfang und niemand würde ihn darüber ausfragen wollen, was er am Vortag beobachtet hätte. Davon, dass mittlerweile ganz Castellane darüber Bescheid wusste, dass er mit Antoine gemeinsam dort oben gewesen war, konnte er ausgehen.
Er steckte sich eine neue Zigarette an und schaltete das iPad ein.
*
Suzanne Fresson bremste scharf, als das Café Le Moulin nach einer Kurve auftauchte. Sie stellte den Motor ab und stieg aus. An einem der zwei kleinen Tische vor dem Lokal saß ein alter Mann und zwei andere standen bei ihm. Suzanne trat zu ihnen.
»Bonjour, Messieurs«, sagte sie. »Ich möchte gern telefonieren. Und eine Limonade hätte ich gerne.«
»Telefon ist drinnen«, sagte der Bärtige, Albert Meunier, der Wirt und zugleich Bürgermeister von Le Vernet. »Hängt neben der Theke.«
»Sind Sie nicht eine von den Reportern?«, wollte der dritte Mann wissen.
»Ja, ich arbeite für den Matin. Warum?«
»Weil … kann ich Sie mal unter vier Augen sprechen?«
»Ja, warum auch nicht?«
Der Mann zog sie am Arm zur Seite, während Meunier im Haus verschwand, um die Limonade zu bringen.
»Worum geht es denn?«, wollte Suzanne wissen.
»Es ist so: Ich habe Fotos. Von oben. Ich möchte sie verkaufen.«
»Ach! Ich fürchte, da werde ich nicht viel für Sie tun können. Ich habe keinen Etat für so etwas. Und es gibt ja schon Fotos. Die AFP verbreitet sie. Agence France Presse, verstehen Sie? Das müssten schon außergewöhnliche Aufnahmen sein, damit Ihnen eine Zeitung Geld dafür gibt.«
»Sie sind bestimmt außergewöhnlich. Sie müssen nämlich wissen, dass alle Helfer ihre Mobiltelefone bei den Gendarmen abgeben mussten. Wenn Fotos darauf waren, wurden sie gelöscht. Und als ich gesehen habe, wie das läuft, habe ich schnell meine Speicherkarte herausgedrückt. Keine Fotos im Telefon, compris?«
Nun wurde Suzanne neugierig.
»Und wo ist diese Speicherkarte jetzt?«
»Sie sagten doch, Sie hätten keinen Etat.« Er grinste schlau. »Aber vielleicht wissen Sie, an wen ich mich wenden kann.«
»Könnte ich nicht vielleicht das eine oder andere Foto vorher zu sehen bekommen? Vielleicht lässt sich über meine Redaktion etwas machen.«
»Na schön. Hier.«
Er holte aus seiner Jackentasche ein Smartphone, ein älteres Modell, hervor und fingerte daran herum, bis er es schließlich Suzanne vor die Nase hielt.
»Das erste Foto zeigt den Hang, gegen den die Maschine geprallt ist. Die weiteren Bilder habe ich so im Kreis um mich gemacht. Mittendrin im Schlamassel.« Er drückte einige Male auf eine Taste und fünf, sechs Fotos waren in rascher Folge zu sehen.
»Hm, ja, man müsste sich die in Ruhe ansehen. Auf einem großen Bildschirm. So kann ich kaum etwas erkennen.«
»Sind Sie also interessiert oder nicht?«, wollte der Mann wissen.
»Tja … ich weiß nicht recht.« Suzanne zögerte. Es war gut möglich, dass die ganze Redaktion über sie lachte, wenn sie mit unbrauchbaren Fotos ankam, für die sie bezahlt hatte, denn sie hatte für solche Fälle sehr wohl eine limitierte Summe zur Verfügung. Es konnte aber auch sein, dass gerade diese Fotos sich als wertvoll herausstellten und sie sich ewig ärgern würde, weil sie nicht zugegriffen hatte, als sich so eine Gelegenheit bot.
»Wie viel, denken Sie, wollen Sie für die Speicherkarte haben?«, fragte sie vorsichtig. Manche Zeitgenossen überschätzten den Wert ihrer Fotos, wenn doch bei jedem Anlass Dutzende Smartphone-Besitzer das Geschehen in Fotos und Videos dokumentierten.
»Wie wäre es mit … sagen wir mal … mit zweihundert?«
»Alte oder neue Francs?«, scherzte Suzanne, die mit viel mehr gerechnet hatte.
»Neue natürlich.« Er zögerte, dann grinste er Suzanne an. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen. Ha, ha! Euro, Mademoiselle, Euro.«
»Ja, klar. Euro. War ein Scherz. Wir Reporter sind ein fröhliches Völkchen.«
Beide lachten, dann drückte der Mann seitlich an sein Telefon und die kleine Speicherkarte sprang heraus.
»Also, abgemacht? Zweihundert?«
»Abgemacht.« Suzanne holte vier Fünfziger aus ihrer Umhängetasche. Es war höchst ungewiss, ob sie das in ihrer Spesenabrechnung würde unterbringen können, doch sie wusste, dass man auch etwas riskieren musste, wenn man gewinnen wollte. Sie drückte dem Mann die Scheine in die Hand und erhielt zugleich die Speicherkarte. Für etwaige Beobachter hätte es ausgesehen wie das schnelle Geschäft eines Straßendealers mit einem Junkie.
»Ich muss mir noch Ihren Namen und Ihre Adresse notieren. Wegen der Bildrechte. Und wenn Sie wollen, setzen wir Ihren Namen zum Foto, wenn wir eines veröffentlichen.«
»Dann steht mein Name im Matin?«
»Nur, wenn Sie das wollen. Andernfalls eben nicht.«
»Na, machen Sie das, wie Sie wollen. Aber nett wäre es schon. Dann könnte ich meinen Freunden etwas vorzeigen. Also, ich heiße Bernard Malsaque und wohne in Beaujeu. Das kennen Sie bestimmt. Da sind sie auf dem Weg hierher durchgefahren.«
Suzanne notierte den Namen und den Ort.
»Danke. Und wenn Sie mir ihre Nummer geben, rufe ich Sie an und teile Ihnen mit, ob und wann wir etwas veröffentlichen.«
Malsaque nannte ihr seine Nummer und Suzanne speicherte sie in ihrem Mobiltelefon.
Mittlerweile hatte der Wirt ihre Limonade auf dem zweiten der beiden Tische abgestellt und sich zu Ricard gesetzt.
»Na, seid Ihr einig geworden?«, fragte er.
»Ich habe nur erzählt, was ich dort oben gesehen habe«, sagte Malsaque und setzte sich zu Ricard und Meunier. Vorläufig brauchte niemand zu wissen, dass er die Fotos verkauft hatte. Wenn die Zeitung dann tatsächlich eines davon abdruckte, womöglich mit seinem Namen darunter, wäre das eine gelungene Überraschung.
»Ich könnte auch etwas erzählen«, meldete sich der alte Ricard erstmals zu Wort.
»Belästige die junge Dame nicht mit deinem Geschwätz«, sagte Meunier. »Keiner außer dir hat etwas von einer Mirage gesehen. Außerdem – die fliegen ja immer wieder über uns hinweg. Das hätte rein gar nichts zu bedeuten.«
»Mirage?« Suzanne stellte ihr leeres Limonadeglas ab und wandte sich den Männern zu. »Sie haben die Mirage also auch gesehen?«
»Eine? Drei waren es. Zwei kamen von hier …«, er zeigte nach Westen, »… und eine von dort.« Seine Hand schwenkte in Richtung Süden.
»Ach! Und wann war das?«
»Die Erste kam beinahe zugleich mit dem großen Flugzeug. Ich habe ja wegen des Lärms überhaupt erst nach oben gesehen. Die beiden Anderen vielleicht eine Minute danach.«
»Und dann kam Fantomas mit seiner fliegenden Déesse«, sagte Meunier und alle lachten, sogar Ricard.
»Glaubt, was Ihr wollt«, meinte er schließlich. »Ich weiß, was ich gesehen habe.«
*
Michel hatte so gut wie alle Artikel der Online-Ausgaben der großen Zeitungen gelesen. Sie waren, was die Fakten anlangte, so gut wie gleichlautend. Offenbar lief die gesamte Berichterstattung über Presseagenturen. Nur da und dort gab es unterschiedliche Berichte von Zeugenaussagen, die aber allesamt nebulos waren. Erst hieß es, es sei ein Notruf abgesetzt worden, dann gab es doch keinen, sondern lediglich einen Alarm der Radarüberwachung, weil die Germanhoppers nicht auf Anrufe reagiert habe.
Deshalb sei eine Mirage vom Stützpunkt in Orange losgeschickt worden, deren Pilot allerdings nichts gesehen haben wollte.
Michel stutzte bei dieser Meldung.
Er selbst hatte ja zwei Mirages beobachtet, die so nahe an der Absturzstelle gewesen waren, dass sie etwas gesehen haben mussten. Nun ja, unmittelbar nach so einer Katastrophe war meist alles durcheinander. Es würde sich in den nächsten Tagen alles aufklären, auch, ob die Maschine beim Aufprall explodiert war oder nicht, ob Bäume an der Absturzstelle verbrannt waren oder ob es dort gar keine Bäume gegeben hatte.
Jede Zeitung veröffentlichte die gleichen Fotos, auf denen man verstreute Trümmer sah. Ihre Größe war für den Betrachter nicht feststellbar, da es keine Bezugspunkte für einen Größenvergleich gab.
Die Untersuchungen fielen in den Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Marseille, also würden sämtliche Nachrichten dort gefiltert werden und an die Agence France Presse gehen, die sie an ausländische Agenturen und an die heimische Presse weitergab. Die Reporter vor Ort wurden bestimmt nicht an die Absturzstelle vorgelassen, zumal die Hubschrauber für die Bergung und die Ermittler vor Ort gebraucht wurden und man sonst nur zu Fuß hinkonnte – ein Aufstieg über mehrere Stunden, so viel man lesen konnte.
Michel konnte das gut nachvollziehen, da er selbst öfter schon in der Gegend unterwegs gewesen war und wusste, dass sich der Airbus der Germanhoppers offenbar genau die unzugänglichste Stelle der ganzen Region ausgesucht hatte, um zu zerschellen.
Was mochte geschehen sein, damit der Airbus, kaum dass er die Küste erreicht hatte, in einen steilen Sinkflug überging, der nicht mehr abgefangen werden konnte?
Im Internet kursierten bereits allerlei wilde Spekulationen. Erst vor Kurzem war ein Airbus gleicher Bauart plötzlich in einen Sinkflug übergegangen, den die Piloten nur hatten abfangen können, indem sie den Autopiloten mit Mühe abschalteten und die Maschine wieder hochzogen. Irgendwelche Sensoren hatten den Computer angeblich mit Fehlinformationen gefüttert, sodass er ‚glaubte‘, er müsse einen Landeanflug durchführen. Daraufhin war angekündigt worden, jene Sensoren bei allen Flugzeugen dieser Baureihe zu tauschen, doch ob das bereits geschehen war, wusste wohl niemand außer den betroffenen Fluggesellschaften. Immerhin musste man jetzt in Betracht ziehen, dass dasselbe oder ein ähnliches Problem zu dem plötzlichen Sinkflug geführt haben konnte.
Es wurde auch über einen möglichen plötzlichen Druckabfall und daraus resultierende Bewusstlosigkeit der Piloten spekuliert, und wildere Vermutungen gab es hinsichtlich eines Angriffes durch Terroristen an Bord oder durch Fernsteuerung.
Noch war alles denkbar, dachte Michel, denn die Faktenlage war noch ziemlich dünn, aber die wahrscheinlichste Variante war doch ein technisches Versagen, das die Piloten nicht in den Griff bekommen hatten.
Am späten Nachmittag, als Michel längst wieder von Le Roc zurückgekehrt war und an einem der kleinen Tische vor dem Hotel einen Espresso genoss, kam Antoine quer über den Boulevard auf ihn zu.
»Sie haben dieses Ding gefunden, mit dem aufgezeichnet wird, was im Cockpit gesprochen wird«, rief er Michel zu. »Da werden wir bald wissen, wie es passiert ist.«
»Tatsächlich?«
»Ja, ich habe es bei Martin im Radio gehört. Und jetzt muss ich mich schön machen. Meine Kleine hat angerufen. Sie besucht uns.«
Antoine ging ins Haus und Michel konnte an seinem schwankenden Gang erkennen, dass er bei Martin seine vom vielen Reden ausgetrocknete Kehle wohl mehrmals ordentlich angefeuchtet hatte.
*
Bernard Malsaque verließ seine Stammkneipe bestens gelaunt. Er hatte einiges über den Durst getrunken und auch seinen Kumpels einen ausgegeben. Er konnte es sich immerhin leisten.
Er hatte gleich gewusst, dass sich mit den Fotos etwas anfangen ließe, und zweihundert haben oder nicht haben, waren schon vierhundert, und wenn das eine oder andere Foto in einer Zeitung erschien, würde er noch berühmt werden. Er hatte kein schlechtes Gewissen deshalb. Den armen Teufeln, die in dem Flugzeug gesessen hatten, konnte nichts und niemand mehr helfen.
Bevor er der Reporterin seine Speicherkarte gegeben hatte, hatte er die Fotos in den internen Speicher seines Telefons kopiert, damit er sie
herumzeigen konnte, und das hatte er bereits ausgiebig getan. Wer auch immer einen Blick auf eines der Fotos erhascht hatte, war wenig begeistert gewesen, denn Bilder von kleinen, verstreuten Flugzeugteilen hatte jeder schon in den Zeitungen gesehen, aber wenn Malsaque deshalb Lokalrunden schmiss, tat man eben so, als wäre er ein Held, den es zu feiern galt.
Bernard überlegte schon seit einer Weile, ob er die Bilder nicht auch anderen Zeitungen anbieten solle. Die Reporterin hatte kein Wort davon gesagt, dass er das nicht tun dürfe. Er ging schwankend die Straße entlang und malte sich aus, was er mit dem Geld anfangen könnte, wenn er weitere fünfhundert oder gar tausend Euro herausschlagen könnte.
Er kramte in seiner Jacke nach dem Hausschlüssel. Marie würde Augen machen, wenn er ihr von dem zu erwartenden Geldsegen erzählte!
Bernard Malsaque starb kurz vor Mitternacht auf dem rissigen Asphalt der Straße vor seinem Haus – mit den Händen in den Taschen seiner Jacke.
*
Als Michel am nächsten Morgen zum Frühstück kam, saß Antoine mit einer jungen Frau in Jeans und Pulli an ‚seinem‘ Tisch vor dem Lokal. Antoine winkte ihn zu sich und bedeutete ihm, sich zu ihnen zu setzen.
»Guten Morgen, Michel! Du kennst meine Suzanne noch nicht, oder?«
»Guten Morgen! Nein, es hat sich noch nicht ergeben«, sagte Michel und setzte sich.
»Guten Morgen!«, begrüßte Suzanne den Neuankömmling und reichte ihm ihre Hand. Michel setze sich.
»Du hast doch so ein Computertablet«, sagte Antoine. Michel nickte. »Suzanne hat Fotos, die sie gerne ansehen möchte, aber auf ihrem kleinen Bildschirm sieht man so gut wie nichts«, fuhr Antoine fort. »Kannst du helfen?«
»Sind die Fotos auf einem Mobiltelefon? Oder auf einer Speicherkarte?«, wandte sich Michel direkt an Suzanne.
»Auf einer Speicherkarte. In meinem Smartphone. Wenn ich sie nicht vergrößert sehen kann, muss ich eigens deshalb in meine Redaktion fahren. Es wäre fantastisch, wenn wir das mit Ihrem Tablet hinkriegen könnten.«
»Ich hole es. Und du«, wandte er sich an Antoine, »sorgst dafür, dass ich meinen Espresso bekomme. Und mein Croissant.«
Wenige Minuten später waren Suzannes Smartphone und Michels iPad über Bluetooth verbunden und die Fotos wanderten von einem Gerät zum anderen.
Suzanne hatte das Tablet vor sich auf dem Tisch liegen und starrte auf das Display.
Michel nippte an seinem Espresso und biss vom Croissant ab.
»Das sieht ganz schrecklich aus«, sagte Suzanne. »Aber wirklich erkennen kann ich da kaum etwas. Was meinen Sie dazu?«
Sie reichte Michel sein iPad. Er sah die Fotos der Reihe nach an. Sie waren zum Teil unscharf, verwackelt, aber ein paar waren – technisch gesehen – brauchbar.
Zum Unterschied von den Fotos, die in den Zeitungen veröffentlicht worden waren, konnte man hier die Größe mancher Trümmerstücke einigermaßen abschätzen, weil auch Menschen zu sehen waren, zumindest hier ein Bein, dort ein Kopf und der Rücken darunter, und Michel hatte den Eindruck, dass einige der Teile nicht so klein waren, wie es beschrieben worden war.
»Ich sehe keine Leichen oder Leichenteile«, sagte er. »Und nichts, was wie Flugzeugsitze aussieht. Nur Metalltrümmer und Undefinierbares.«
»Ja, so sehe ich das auch. Sehr eigenartig«, meinte Suzanne. »Aber hier«, sie beugte sich herüber und zeigte auf eine Stelle auf dem Display, »… dieses Teil könnte der Voice Recorder sein, den sie gestern noch gefunden haben.«
»Ach! Haben sie? Davon habe ich nichts mitbekommen«, sagte Michel und besah sich das Teil auf dem Foto näher.
»Ich weiß ja nicht, wie so etwas aussieht, aber ein relativ unversehrter Kasten … diese Dinger sind ja bestimmt besonders stabil konstruiert, sonst wären sie ja sinnlos.«
»Genau. Und nun sehen Sie sich einmal das Foto hier an!« Suzanne legte eine an der richtigen Stelle gefaltete Zeitung – nicht den Matin – vor Michel auf den Tisch. Es war die Morgenausgabe, und das Foto zeigte genau diesen kleinen Kasten. Er sah allerdings ziemlich ramponiert aus, an einer Seite aufgebogen, nicht wie auf dem Foto, das auf dem Display des iPads zu sehen war. Beide Fotos waren beinahe aus demselben Winkel aufgenommen worden.
»Wann wurden diese Aufnahmen gemacht?«, wollte Michel wissen. Er deutete auf das iPad.
»Ich habe die Speicherkarte seit gestern kurz vor Mittag«, sagte Suzanne. »Meine Quelle war als einer der Ersten an der Absturzstelle.«
Michel sah sich beide Fotos noch einmal genauer an. »Das ist nicht dasselbe Teil … oder es wurde nachträglich beschädigt«, sagte er dann.
»Genau das denke ich auch. Der ermittelnde Staatsanwalt sagte, der Voice Recorder sei stark beschädigt, aber er sei zuversichtlich, dass die Aufnahmen brauchbar seien.«
»Und was ist mit dem Flugdatenschreiber? Der berühmten ‚Blackbox‘?
»Wurde noch nicht gefunden«, sagte Suzanne.
»Das verstehe ich nicht. Diese Dinger senden doch Peilsignale.«
»Aber nur, wenn sie nicht zerstört sind.«
»Ja, klar. Aber wenn dieser Recorder zumindest auf dem einen Foto beinahe unversehrt aussieht … warum sollte die ‚Blackbox‘ zerstört sein?«
»Gute Frage.«
»Jetzt hätte ich gern noch einen Espresso«, sagte Michel. »Mögen Sie auch einen?«
»Ja. Gute Idee. Ich kümmere mich darum«, sagte Suzanne und ging ins Haus, um den Kaffee zu holen, da Antoine vorhin nicht wieder herausgekommen war und auch Jeanne sich – ganz entgegen ihrer Gewohnheit – nicht hatte blicken lassen.
Michel öffnete den Internetbrowser und machte sich daran, die neuesten Online-Nachrichten zu überfliegen. Das Foto, das er nun schon aus der Zeitung kannte, tauchte immer wieder auf. Und der Kasten sah anders aus als auf dem Foto auf dem Bildschirm des iPads.
*
»Ich habe mit meiner Kollegin Marie Lecomte vom France Soir telefoniert.« Suzanne stellte ein Tablett mit zwei Kaffeetassen und zwei Gläsern Orangensaft auf den Tisch und setzte sich. »Es gibt nicht viel Neues oben in Le Vernet. Am Nachmittag kommen die Busse mit den Angehörigen an, heißt es. Die werden aber vor der Presse abgeschirmt werden; so gesehen kein Brot für uns.«
»Also macht es wenig Sinn, heute wieder hinaufzufahren?«
»Genau. In der Redaktion kann ich auch nichts tun, also tu ich so, als wäre ich weiterhin hart am Ball und genehmige mir einen freien Tag. Marie hat versprochen, mich anzurufen, falls sich doch etwas Wichtiges ereignen sollte.«
»Dann könnten wir doch einen Ausflug zum Canyon machen und über die Sache reden«, schlug Michel vor.
»Ja, warum nicht? Ich war lange nicht mehr dort.«
Sie meinten die weithin berühmten Gorges du Verdon, tiefe Schluchten, die der Fluss Verdon in Jahrtausenden gegraben hatte. Während der Saison lockten sie Touristen in Massen an, Wildwassersportler, Wanderer, Fotografen und sonstige Schaulustige. Ausgangspunkt für viele Unternehmungen war Castellane, von wo aus man auch den Stausee nordöstlich des Ortes erreichen konnte. Michel rauchte eine Zigarette, während sie ihren Kaffee tranken.
»Ich werde mir eine Jacke holen«, sagte Suzanne schließlich. »Am Wasser ist es bestimmt ziemlich kühl.«
»Ja, das denke ich auch.«
Suzanne stand auf und ging ins Haus. Michel sah ihr hinterher.
Verdammt hübsch, dachte er. Aber viel zu jung.
*
»Maman ist wirklich unglaublich«, sagte Suzanne und schenkte die von ihrer Mutter selbst gemachte Limonade in zwei Pappbecher ein.
»Santé!«
»Wenn ich mit Antoine unterwegs war, hat sie uns noch nie einen Picknickkorb mitgegeben«, sagte Michel schmunzelnd und nahm das Sandwich entgegen, das ihm seine Begleiterin reichte.
»Wunderschön ist es hier«, sagte sie. »Es war eine gute Idee von dir, zum Stausee zu fahren und nicht zum Canyon. Dort versteht man sein eigenes Wort nicht, weil das Wasser so dröhnt, und wir wollen ja etwas bereden.«
Michel brauchte ein paar Sekunden, um zu registrieren, dass sie ihn ohne Vorwarnung geduzt hatte.
»Ja, genau daran dachte ich, als ich das vorschlug.«
Suzanne sah ihn eigenartig an, dann biss sie in ihr Sandwich. Mit vollem Mund brauchte sie den Kommentar nicht abzugeben, der ihr auf der Zunge lag.
»Also, was haben wir bisher«, eröffnete Michel die Besprechung. »Wir haben ein Flugzeug, das ohne ersichtlichen Grund in einen steilen Sinkflug übergeht und von etwa elftausend auf etwa zweitausend Meter heruntergeht – und das innerhalb von etwa acht Minuten.«
»Während der ganzen Zeit kein Notruf, keine Antwort auf Anrufe der Flugsicherung oder anderer Maschinen, die gebeten wurden, die Germanhoppers anzufunken«, ergänzte Suzanne.
»Wobei es über das Thema Notruf widersprüchliche Meldungen gab, bis man sich offiziell dahin gehend geäußert hat, dass es keinen Notruf der Germanhoppers gab, nur den Alarm der Fluglotsen.«
»Und wir haben Fotos eines stark beschädigten Teils, das der Cockpit Voice Recorder sein soll, und im Gegensatz dazu ein Foto direkt vom Absturzort, das das Teil beinahe unversehrt zeigt«, sagte Suzanne. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«
»Vergessen Sie nicht die unterschiedlichen Aussagen zu den Mirages. Offiziell war es eine. Antoine und ich haben zwei gesehen. Der alte Mann im Le Moulin – ich glaube, er heißt Ricard – hat drei gesehen. Erst eine, beinahe zugleich mit der Linienmaschine, zwei kurz danach, aus anderer Richtung kommend.«
»Ein alter Mann, der dort beinahe zum Inventar gehört? Ricard, sagst du? Ich glaube, den habe ich dort auch gesehen. Waren ja nur drei Leute dort. Der Wirt, Bernard Malsaque, der mir die Speicherkarte verkauft hat … und dann saß dort noch ein alter Mann, der anscheinend die Zeit totschlug.«
»Das war er bestimmt. Nun ja, alte Leutchen, die sonst nichts zu tun haben, sind meist gute Beobachter, aber sie flunkern gelegentlich auch, um sich interessant zu machen.«
»Als ich dort war, hat er auch etwas von drei Mirages gesagt. Eine von Süden kommend, zwei von Westen, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ja, stimmt. Also könnte es gut sein, dass er die Wahrheit gesagt hat. Obwohl … mir reicht ja schon, dass die Behörden von einem einzigen Abfangjäger sprechen, Antoine und ich aber zwei gesehen haben. Da stimmt definitiv etwas nicht!«
Er steckte sich eine Zigarette an, dann fiel ihm ein, dass er Suzanne keine angeboten hatte.
»Danke, nein. Ich rauche nicht. Aber es stört mich nicht, wenn du rauchst.«
Da war es wieder, das Du …