cover_klein.jpg

Die Promotion wurde gefördert und dieses Buch möglich gemacht durch die freundliche Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Bei dieser Publikation handelt es sich um eine Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin, Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät. Eingereicht am 08. Mai 2018. Disputation am 30. November 2018.

© Querverlag GmbH, Berlin 2019

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von Horst Wachholtz (Thomas Ogger, HAW-Demo in Berlin, 1973).

ISBN 978-3-89656-660-7

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

Für Bettina Henze

1 Einleitung

Die Geschichte der schwulen Emanzipation zu schreiben, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Zumindest, wenn schwule Emanzipation die Befreiung der Schwulen von jedweder Herrschaft und Unterdrückung bedeuten soll. Diese Befreiung ließe sich nur schwerlich von einer Emanzipation aller Menschen trennen, wollte sie nicht zu einer teilweisen Verbesserung der Situation Homosexueller verblassen. Alle Anzeichen der Gegenwart aber widersprechen einer gerechten Verteilung von Ressourcen ebenso wie der solidarischen Fürsorge jenen gegenüber, die Unrecht erleiden.

Allein über diese Befreiung emphatisch zu schreiben, wirkt heute kitschig und weltfremd. Utopien werden höchstens ausgemalt präsentiert und das Glück bietet man schön verpackt in Werbeanzeigen und Ladenregalen an. Nicht nur gilt als Idealist_in, wer über diese Gesellschaft hinauszudenken versucht. Vielmehr noch scheint es den Menschen, auch den Schwulen, heute so gut zu gehen, dass diejenigen Spielverderber sein müssen, die sich nach etwas anderem als nach einer unglückseligen Liberalisierung des Kapitalismus sehnen.

Vor rund 40 Jahren versuchten sich in Westdeutschland mehrere hundert Homosexuelle daran, die Zukunft schwuler Emanzipation zu erstreiten und selbst zu einem Teil ihrer Geschichte zu werden. Viele von ihnen setzten sich die Überwindung der herrschenden Verhältnisse nicht nur zum Ziel. Sie waren davon überzeugt, dass die Emanzipation in eine greifbare Nähe gerückt gewesen sei. Eine bessere Zukunft wurde zu einem realen Erlebnis der Gegenwart: In einem kurzen historischen Augenblick zu Beginn der 1970er Jahre schien es möglich, eine wirklich gerechte Gesellschaft noch in naher Zukunft zu verwirklichen. Nach kurzer Zeit sollte sich aber die Gewissheit einstellen, dass eine grundlegende Veränderung in weiter Ferne lag.

Ab 1971 gründeten sich in zahlreichen westdeutschen Städten schwule Aktionsgruppen. Sie traten mit dem erklärten Ziel an, die heterosexuelle Ordnung als Wahnsinn zu entlarven und stellten ihr die Zukunft einer Utopie gegenüber, in der alle ohne Angst verschieden sein würden. In ihrer Gesamtheit begründeten sie, was man heute als westdeutsche Schwulenbewegung der 1970er Jahre bezeichnet. Diese neue Schwulenbewegung, die sich der Idee von Emanzipation verschrieb, war historisch und im internationalen Vergleich besonders. Zugleich war ihre Besonderheit durchdrungen von der Zeit, in der sie sich organisierte. So gründete sie sich kurz nach der Reform des Paragraphen 175, die im Jahr 1969 durchgeführt worden war, und nachdem sich der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) als Repräsentanz der 68er-Studentenbewegung 1970 aufgelöst hatte. Die Entstehung der Schwulenbewegung und ihre inhaltlichen Auseinandersetzungen sind trotz ihrer teilweisen Eigenständigkeit weder vom Strafgesetz und seiner Reform noch von den Entwicklungen der damaligen Studentenbewegung zu trennen.

So universell die schwule Emanzipation sein sollte, die es zu erkämpfen galt, so umstritten war in der jungen Schwulenbewegung die Frage, welcher der richtige Weg zu ihrer Umsetzung sein würde. Die Voraussetzung im Konzept von Utopie, dass diese nur negativ zu antizipieren sei, begann bald selbst zum Streitpunkt zu werden. Schwule Emanzipation, so folgerte ein Teil der Schwulenbewegung, müsse in den gegenwärtigen Erfahrungen gesucht werden. Die Befreiung von Herrschaft gelinge nur durch die sofortige Entfesselung von alltäglich erlebten Zwängen.

Den Ernst, mit dem die bewegten Schwulen ihre Anliegen vertraten, dokumentieren Protokolle ausgiebiger Diskussionen und mehrseitige, teils handgeschriebene Streitschriften, auf die entsprechende Antworten folgten. Diese Papiere waren die ersten Zeugnisse der westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre, die ich in den Händen hielt, als ich die unsortierten Archivboxen mit der Aufschrift „Homosexuelle Aktion Westberlin“ (HAW) im Archiv des Schwulen Museums in Berlin öffnete. Auf meine Nachfrage hin, wo sich etwas über die Geschichte der Polittunten1 lesen lasse, hatte der damalige Archivleiter Jens Dobler geantwortet, dass man diese Geschichte erst noch schreiben müsse und mir vielversprechend zugenickt. Die Diskussionen, deren Heftigkeit trotz der mitunter verblichenen Tinte noch spürbar war, nahmen mich ein: Je länger ich las und die Konfliktlinien nachzuzeichnen versuchte, desto mehr hatte ich den Eindruck, ein Mitstreiter in den Debatten über schwule Emanzipation zu sein, die sich vor mir entfalteten. Im Zuge der Systematisierung der HAW-Sammlung wurde mir die historische Distanz zwischen mir als 1987 geborenem Schwulen und seit den späten 2000er Jahren aktiver Polittunte und jener Zeit, in der die Dokumente erstellt worden waren, zunehmend bewusst. Dabei war es gerade mein Interesse an der Geschichte politisch aktiver Tunten und die Suche nach Vorreiterinnen, auf deren Schultern ich stehe, die mich die Kartons mit 40 Jahre alten Schriften öffnen und durchforsten ließen.

Im April 2011 begann ich im Zuge meines Studiums der Gender Studies unter Anleitung von Beate Binder mein Forschungsprojekt „info“ der Homosexuellen Aktion Westberlin von 1972 bis 1976, in dem ich mich mit dem internen Publikationsorgan der HAW beschäftigte. Währenddessen lernte ich in den archivierten Schriften wortgewaltige Polittunten wie Mechthild Freifrau von Sperrmüll und Lilly Donner kennen, traf auf kiebige Schwestern wie Mimi Steglitz und konnte den Furor der sich aufbäumenden Winfrieda Freifrau von Rechenberg geradezu nachempfinden. Wo sich hinter diesen Namen die jeweiligen Personen rekonstruieren ließen, versuchte ich, Kontakt zu den Aktivist_innen aufzunehmen. In einigen Fällen hatte ich Glück und arrangierte die ersten Treffen mit meinen Interviewpartner_innen. Im Sommer 2012 entstand aus diesen Forschungsarbeiten meine Abschlussarbeit im Master des Studiengangs Gender Studies: „Raus aus den Klappen – Rein in die Straßen!“ – Schwule Politiken in der Homosexuellen Aktion Westberlin von 1971 bis 1976.

In der Anfangszeit meiner Beschäftigung mit der westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre fanden zwei Veranstaltungen statt, die den weiteren Weg meiner Forschung beeinflussen sollten. Am 01. Dezember 2011 luden unter Federführung Egmont Fassbinders ehemalige Mitglieder der HAW zum 40jährigen Jubiläum der Gruppengründung ins SchwuZ am Mehringdamm. Dort lernte ich gleich mehrere Interviewpartner_innen kennen, die mit mir in den folgenden Jahren ihre Westberliner Perspektive auf die Schwulenbewegung teilen würden. Vom 9. bis zum 11. Dezember 2011 fand kurz darauf das Wochenendseminar Rosa Radikale zur Schwulenbewegung der 1970er Jahre in der Akademie Waldschlösschen statt. Dort lernte ich unter anderem den Bielefelder Aktivisten Detlef Stoffel und Michael Holy aus Frankfurt am Main kennen. Nachdem zunächst eine Westberliner Brille meinen Blick geprägt hatte, nahm ich nun Kontakt zu Aktivist_innen aus anderen Städten auf und begann, mich über Westberlin hinaus mit schwulen Aktionsgruppen der Zeit zu beschäftigen.

Die Interviews mit Aktivist_innen aus Bielefeld, Bochum, Göttingen, Hamburg, Würzburg und Frankfurt am Main erweitern meine Geschichte der Schwulenbewegung. Westberlin aber bleibt ein unübersehbarer Schwerpunkt meiner Arbeit, was dort besonders deutlich wird, wo ich größtenteils Archivmaterial heranziehe. Ein Stück weit reproduziere ich damit die lückenhafte Aufmerksamkeit für kleinere schwule Aktionsgruppen der Zeit. Die Frankfurter Rote Zelle Schwul (RotZSchwul) oder die Homosexuelle Studentengruppe Münster (HSM) versuche ich mitsamt ihrer Bedeutung für die damalige Zeit hervorzuheben. Doch könnte man jeder dieser Gruppen allein eine ausgiebige Forschungsarbeit widmen. Die einzige Lesbengruppe, mit der ich mich in meiner Analyse eingehend beschäftige, ist die HAW-Frauengruppe. Zunächst nannten sich diese Lesben in der HAW ebenfalls Schwule beziehungsweise schwule Frauen. Ich widme mich in meiner Arbeit jenen Lesben, die Teil der Schwulenbewegung waren, was meiner Kenntnis nach im Sinne einer eigenen Schwulengruppe nur in Westberlin der Fall war.

Die Veranstaltungen und meine Begegnungen mit den Aktivist_innen verliehen den Figuren aus dem Archivmaterial nicht nur Gestalt, sondern belebten die Streitpunkte aufs Neue und brachten mir die Konfliktlinien noch näher. Als sich die Welt der westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre für mich zu einem greifbaren Forschungsfeld zu konturieren begann, war mir zunächst an einer Chronologie gelegen, um sie nachvollziehbar zu machen. Aus meiner Perspektive als Geschlechterforscher war und ist es mir ein wichtiges wissenschaftliches Anliegen, mich einer Geschichte anzunehmen, die sonst höchstens im Bereich des Marginalen als Nebensatz großer Erzählungen Erwähnung finden würde. Gerade vor dem Hintergrund dieser epistemologischen Grundlage, mit der die Geschichte der Schwulenbewegung zu einem wichtigen Teil von Geschichte insgesamt wird, löste ich mich von der Idee, eine chronologische Abfolge historischer Ereignisse zu verfassen. Mein anfänglicher Eindruck mitreißender Debatten verfestigte sich im Laufe meiner Forschung mit Interviews und Archivsammlungen zu der Entscheidung, diese Auseinandersetzungen in den Mittelpunkt meiner Analyse zu rücken.

Die Fragen, die ich in meiner Analyse stelle, ergaben sich aus meiner Beschäftigung mit den Fragestellungen, die in den Dokumenten aufgeworfen werden. Treten dort die Konflikte um schwule Emanzipation und schwulen Aktivismus zutage, befrage ich diese Konflikte nach den Bedeutungen, die der Vorstellung von Emanzipation in ihnen zukommt. Meine Gesprächspartner_innen hoben die wichtige Stellung von Konflikten für eine Geschichte der westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre allesamt hervor. Anhand ihrer Erinnerungen boten sie mir lebensgeschichtliche Einblicke, die mögliche Bedeutungen von Emanzipation, Selbstermächtigung oder Freiheit erweiterten und vertieften. Diese Betonungen waren ein weiterer Anstoß dazu, die Konflikte schwuler Emanzipation gegenüber beispielsweise ausführlichen Aufzählungen der Daten von Gruppengründungen in den Vordergrund zu heben.

Die Grundlage für meine Analysen bilden zwei erhobene Materialbestände: Das betrifft zum einen die zu Beginn noch unsortierten Sammlungen im Archiv des Schwulen Museums. Hierzu zählt insbesondere die Sammlung der HAW, die ich vollständig katalogisierte und damit der Öffentlichkeit zugänglich machen konnte. Hinzu kommen intensive Recherchen in den dortigen Sammlungen der RotZSchwul und der HSM. Das archivalische Material besteht vorrangig aus Protokollen, Flugblättern, theoretischen Ausarbeitungen, internen Streitschriften, Briefwechseln und Zeichnungen, die in den schwulen Aktionsgruppen angefertigt oder von diesen gesammelt wurden. Meine Gesprächspartner_innen überreichten mir darüber hinaus unterschiedliche Archivalien wie Flugblätter, Plakate oder Zeitschriften.

Den zweiten Bestand bilden zum anderen die Interviews, die ich mit Zeitzeug_innen der westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre führte. Für die vorliegende Arbeit konnte ich 23 Interviews mit 20 Personen durchführen, die sich in Westberlin, Frankfurt am Main, Göttingen, Würzburg, Bielefeld und Bochum engagiert hatten. Zwei Interviewpartner_innen sind Frauen, die beide in Westberlin aktiv waren. Die anderen Interviewpartner_innen sind schwule und bisexuelle Männer, die zum Teil Tunten waren oder sind.

Die Erzählungen der Interviewten verknüpfe ich in der Arbeit direkt mit dem Archivmaterial. Namen, die in den Dokumenten auftreten, lassen sich so zu den erzählten Erinnerungen in Bezug setzen. Damit entsteht zugleich das Problem der Anonymisierung. Mit meinen Interviewpartner_innen sprach ich in mehreren Schritten ab, welche Auszüge unserer Gespräche ich zitieren darf. In einem Fall anonymisierte ich ein Interview auf den Wunsch meines Gesprächspartners hin. Meine Arbeit stellt vor diesem Hintergrund zum Teil den Versuch dar, den Anspruch der Interviewten, dass ihre Geschichte in ihrem Sinne erzählt wird, mit meinem Anspruch in Einklang zu bringen, Interviews als Erzählungen und Begegnungen zu analysieren. Die Lebensgeschichten versuche ich nach bestem Gewissen wiederzugeben, doch bleibt mindestens ein Rest Entstellung durch mögliche Verdichtungen oder Einebnungen, da ich die erzählten Erinnerungen zu einer neuen Erzählung forme und niederschreibe.

Aufgrund der zentralen Stellung, die die historischen Personen in meiner Arbeit einnehmen, habe ich mich dazu entschieden, je nach beschriebener Situation oder Gruppe zu gendern. Beispielsweise gebrauche ich für die HAW-Frauengruppe das generische Femininum, während ich die Mitglieder der HAW in ihrer Gesamtheit mit einem Unterstrich geschlechtlich beschreibe. Grund hierfür sind vor allen Dingen die Tunten, deren Selbstbeschreibungen in den Interviews sowie im Archivmaterial zwischen männlichen, weiblichen und eigens tuntigen changierten.

Die vorliegende Arbeit ist den zwei bereits angedeuteten Vorhaben gewidmet, eine Geschichte der Schwulenbewegung zu erzählen, die sonst keine Darstellung gefunden hätte, und den Bedeutungen nachzugehen, die Emanzipation von ihren Akteur_innen gegeben wurden und aus heutiger Perspektive zugesprochen werden. Hierzu kontextualisiere ich zunächst meinen Forschungsgegenstand (2.). Einerseits gehe ich auf meine methodischen und theoretischen Herangehensweisen und Vorannahmen ein. Andererseits steht die historische und gesellschaftspolitische Einordnung der westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre im Vordergrund. Nach Erinnerungen an die Zeit vor der Bewegung und der Darstellung des aktuellen Forschungsstands lade ich zur eingehenden Beschäftigung mit den Praktiken von Organisierung und Kollektivierung (in) der Schwulenbewegung ein (3.). In diesem zentralen Teil meiner Arbeit sollen die Konflikte zu schwuler Emanzipation anhand der spezifischen, kollektiven Praktiken in der westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre nachvollzogen werden können. Hierzu ziehe ich initiale Ereignisse ebenso heran, wie anfängliche Formen der Herstellung von Gruppenstrukturen. Darüber hinaus gehe ich auf Abspaltungen und Streitigkeiten mit ihren Funktionen für die schwulenpolitischen Kollektive ein. Bereits während ihres Bestehens schrieben die Aktionsgruppen ihre eigenen, historischen Erzählungen. Diesen kollektiven Geschichten der Schwulenbewegung widme ich mich im darauf folgenden Teil meiner Arbeit (4.). Abschließend stelle ich die Frage nach den Praktiken und Bedeutungen von Emanzipation anhand drei durchgängig behandelter Aspekte meiner Arbeit: Die politisch-theoretischen Ansätze im Material, die Dramaturgie des schwulen Aktivismus und die Wünsche, die sich in der Schwulenbewegung artikulierten (5.).


1 Mit dem Begriff „Polittunte“ bezeichneten sich Tunten in der HAW selbst, wobei die Begriffe „Tunte“ und „Polittunte“ ohne inhaltliche Differenz abwechselnd gebraucht wurden. Zur beispielhaften Verwendung des Begriffes vgl. axel et al. 1974: 5.