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LP 204

www.lenos.ch

Sinan Antoon

Irakische Rhapsodie

Roman

Aus dem Arabischen
von Hartmut Fähndrich
in Zusammenarbeit mit Jinan Fierz

Mit einem Nachwort
von Hartmut Fähndrich

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Der Autor

Sinan Antoon, geboren 1967 in Bagdad als Sohn eines irakischen Vaters und einer US-amerikanischen Mutter, studierte englische und arabische Literatur sowie Arabistik. Lebt seit 1991 in den USA. Er veröffentlichte Romane, Gedichte und Essays. Daneben ist er als Übersetzer und Dokumentarfilmer (About Baghdad) sowie als Assistenzprofessor an der New York University tätig. www.sinanantoon.com.

Titel der arabischen Originalausgabe:

E-Book-Ausgabe 2019

Copyright © der deutschen Übersetzung

2009 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978 3 85787 970 8

www.lenos.ch

Inhalt

Der Autor

Vorbemerkung

Streng vertraulich

Anhang

Anmerkungen der Übersetzer

Nachwort

Vorbemerkung

Das arabische Alphabet enthält achtundzwanzig Buchstaben. Etwa die Hälfte davon wird nur durch die Setzung von Punkten voneinander unterschieden. Das heisst, es werden auf oder unter die Buchstabenstruktur einer oder mehrere Punkte gesetzt. Ausserdem erhalten diese Buchstabenstrukturen auch unterschiedliche Formen, je nachdem ob der Buchstabe am Anfang, in der Mitte oder am Ende des Wortes steht.

Zu Beginn der arabischen Schreibkultur wurden diese differenzierenden Punkte noch nicht oder höchst unregelmässig gesetzt, und die Bedeutung musste nach dem Kontext erschlossen werden. Später, wahrscheinlich schon in vorislamischer Zeit (also vor dem 7. Jahrhundert), wurden Texte durch die »diakritischen Zeichen« eindeutig gemacht. Diesen Vorgang bezeichnete man als i‘dschâm, was so viel wie »Aufhebung der Unklarheit« bedeutet, konkret dann einfach »Punktierung«. Das Wort heisst aber auch »fremdartiges Sprechen«. Der Originaltitel der Irakischen Rhapsodie lautet I‘dschâm.

Vergleichbar diesem Vorgang der Differenzierung von Buchstaben ist im Deutschen am ehesten der Fall der Umlaute, schon/schön zum Beispiel, oder kleine Unterschiede der Konsonantenform: m – n, w – v. Da im Arabischen jedoch 13 der insgesamt 18 existierenden Buchstabenstrukturen durch Punktsetzung zur Wiedergabe verschiedener Laute verwendet werden, ist die Verwechslungsmöglichkeit sehr gross, zumal die Grundbedeutung arabischer Wörter im Allgemeinen auf eine Gruppe von drei Konsonanten zurückgeht, an denen eine abstrakte Bedeutung hängt (k-t-b heisst »schreiben«) und von denen nach festen Regeln Wörter abgeleitet werden, die in das Bedeutungsfeld gehören: diktieren, korrespondieren, sich einschreiben, Buch, Schrift, Büro, Bibliothek, Buchladen usw.

Die Versetzung oder Falschsetzung einzelner Punkte kann zu völliger Bedeutungsänderung führen, da dadurch ein Wort nicht einfach falsch geschrieben, sondern einer anderen Konsonantengruppe zugewiesen wird. Aus bait, image (Haus), wird allein durch die Versetzung von ein paar Punkten bint, image (Tochter), oder nabt, image (Pflanze), oder thabt, image (fest). Das Weglassen von Punkten kann also zu gründlicher Verwirrung führen.

Die Übersetzer

»Schreibt ohne Furcht, ohne Zittern und Zagen, unbekümmert darum, ob es dem Staat gefällt oder nicht.«

Saddam Hussain, Gröfaz

»Das Schreiben und das Geschriebene erhalten, was dem Menschen wichtig ist, bewahren es vor dem Vergessen und schaffen Verbindung mit längst Vergangenem.«

»Es gibt da noch eine Trennwand zwischen den schriftlich festgehaltenen Buchstaben und den gesprochenen Wörtern: Im Vergleich zum Gesprochenen besitzt das Schriftliche eine besondere Bedeutung, und solange diese nicht klar ist, kann das Gemeinte nicht verstanden werden.«

»Wörter und Sprachen sind Mittler und Amulette zwischen Menschen, sind Bänder und Siegel von Bedeutungen. Diese müssen den Wörtern abgejagt werden, will man den sprachlichen Sinn erfassen und die Qualität der Eigenschaft dessen, der sie untersucht. Andernfalls wird sich der Sinn nicht erschliessen.«

Ibn Chaldûn (gestorben 1406)

Streng vertraulich

Ministerium des Innern

Direktion der Staatssicherheit

Sektion Bagdad

Ziffer 436758

23. August 1989

Sehr geehrte Damen und Herren,

beiliegender handschriftlicher Text wurde bei uns aufgefunden; dies gelegentlich einer umfassenden Inventur der gesamten Dossiers, die wir in Vorbereitung des Umzugs in den neuen Gebäudekomplex vornahmen. Eine Durchsicht ergab, dass besagter Text zahlreiche Unleserlichkeiten aufweist. Wir ersuchen Sie, einen Genossen beauftragen zu wollen, den Text zu lesen und ihn, nach Klärung zweifelhafter Stellen, abzutippen und uns danach in zwei Exemplaren zukommen zu lassen. Dies spätestens bis Monatsende.

Mit bestem Dank im Voraus

Unterschrift

Erhalten am 24.8.1989. Bitte Genossen Talâl mit der Aufgabe zu betrauen.

Ich betrachtete zwei Wolken, die schweigend am Himmel von Bagdad dahinjagten. Sie flohen nach Westen – vielleicht schämten sie sich – und liessen mich auf einer Bank unter der »französischen Palme« zurück, wo ich wie allmorgendlich auf Arîdsch wartete. Französisch nannten wir die Palme, weil sie die einzige vor der Abteilung für französische Sprache war. Ich suchte nach etwas Lesenswertem in der Republik. Auf der Kulturseite war eine schöne Übersetzung eines Gedichts von Pablo Neruda abgedruckt, umzingelt von anderen Texten, die für die Partei und die Revolution kläfften und grunzten. Die Palmwedel über mir applaudierten freundlich dem Monat April, der gerade begann, dem »Monat der Gabe: der Geburt der Partei und des Gröfaz«, des Grössten Führers aller Zeiten, wie ein Plakat an der Wand des Fakultätsgebäudes hervorhob.

»Guten Morgen.«

Es war nicht Arîdschs milchwarme Stimme, die ich erhofft hatte, sondern diejenige Abu Omars, seines Zeichens Sicherheitsoffizier an der Englischabteilung, zu deren Studenten ich zählte. Er trug graue Hosen und ein weisses Hemd mit offenem Kragen. In seiner Begleitung befand sich einer von der gleichen Gattung, ein etwas kurz geratener Mann mit eckigem Gesicht und solidem Schnurrbart. Er war in einen blauen Safarianzug gekleidet, wie ihn die Sicherheits- und Geheimdienstleute mit Vorliebe tragen, und zwar zu jeder Gelegenheit und zu jeder Jahreszeit.

»Genosse Salâch«, stellte ihn Abu Omar in seinem Samarra-Dialekt vor, den er sich krampfhaft dem Dialekt von Tikrît anzunähern bemühte, der Heimatstadt des Gröfaz. Salâch streckte seine Hand aus und schüttelte die meine. Abu Omars leicht rötlicher Schnurrbart erinnerte mich immer an die Kakerlaken, die bei Nacht unser Haus übernahmen und alle Chlorattacken überlebten, die wir gegen sie führten. Und wie die meisten seiner Kollegen unternahm Abu Omar keinerlei Anstrengung, die Seite zu verbergen, mit der und für die er tätig war. Sein völlig unregelmässiger und wirklich nur sporadischer Unterrichtsbesuch war ebenso wie sein vorgerücktes Alter (er hatte die dreissig schon überschritten) klares Indiz dafür, dass er kein gewöhnlicher Student mehr war. Während des Krieges wurden Schüler unmittelbar nach ihrem Schulabschluss in die Armee eingezogen. Ausgenommen waren nur jene, die höhere Studien in Angriff nahmen oder Dispens erhielten, um ein Universitätsdiplom zu erwerben. Doch niemandem war es gestattet, die Zeit an der Universität über Gebühr zu verlängern oder mehr als ein Diplom zu erweben. Abu Omar hatte es jedoch mit höherer Hilfe geschafft, nach dem dritten Jahr in der Arabischabteilung im vergangenen Jahr, in der Englischabteilung neu zu beginnen!

»Genosse Salâch möchte dir ein paar Fragen stellen.«

Mir wurde ein wenig unbehaglich, und ich antwortete vage: »Nur zu.«

»Könntest du uns begleiten?«, fragte Salâch mit einem boshaften Lächeln.

»Wohin?«

»Aufs Amt. Nur für eine halbe, drei viertel Stunde.«

Das war der Augenblick, an dessen mögliches Eintreten ich schon oft gedacht hatte, jedoch ohne das hinreichende Quantum an Vorsicht walten zu lassen, um ihn zu verhindern. Abu Omar nahm meine Bücher, die auf der Bank neben mir lagen, und reichte sie mir. Ich stellte keine weiteren Fragen, und gemeinsam gingen wir zum Haupttor. Immer hatte ich genörgelt, wie lang die Strecke zwischen dem Tor und den Unterrichtsräumen war. Diesmal jedoch schien der Weg über den frühmorgendlichen Platz ausgesprochen kurz. Ich kam gern schon etwas früher, um dem grossen Gedränge zu entkommen. Auch an diesem Tag waren noch nicht viele Studierende da. Ich suchte nach einem bekannten Gesicht, in der Hoffnung, es werde mein Verschwinden registrieren. Auch an Arîdsch dachte ich und an ihre ständigen Warnungen, ebenso an meine Oma, an ihre inständigen Gebete und die Kerzen, die sie täglich in der Kirche für mein Wohlergehen entzündete.

Wir überquerten den Platz, der die Englischabteilung von der Geographie- und Geschichtsabteilung trennt, vorbei am Zimmer des Dekans und am Büro der Nationalen Studentenunion. Dann bogen wir nach links ab zum Haupteingang. Durch das Eisentor hindurch sah ich einen Mitsubishi mit getönten Fenstern. Er stand vor der Tür des Fakultätsgebäudes, an dessen Wand eine Gedenktafel prangte, die vor Jahresfrist angebracht worden war, nachdem der erleuchtete Gröfaz dort den Schwärendoktor1 der Rechte erhalten hatte. Er trug darauf Doktorhut und -umhang und hielt die Urkunde in der Hand. »Feder und Finte2 haben dieselbe Mündung«, hiess es darunter.

Um nicht wahnsinnig zu werden bei den Gesängen, den Slogans und den Gedichten, mit denen uns das Kultur- und Informationsministerium täglich bombardierte, hatte ich mir angewöhnt, mit ihren Wörtern und Bildern zu spielen und sie nach Lust und Laune neu zu ordnen. Ich begann mit politischen Gesängen, die durch geringe Retuschen da und dort viel realistischer wurden. Im Namen des Volkes und der Nation zielte ich mit der Mündung meiner unsichtbaren Feder und brachte die Dinge wieder ins Lot.

Haus um Haus, des Führers Besuch – Haus um Haus, der Bürger Fluch

oder

Seine Blicke uns betören – seine Hände uns zerstören

oder

Aus seiner leuchtenden Visage duftet’s wie aus meinem Aasche.

Als wir bei dem Auto ankamen, sprang an der Fahrerseite ein Mann heraus und riss die beiden hinteren Türen auf. Salâch machte mir ein Zeichen einzusteigen. Ich starrte Abu Omar, der keinerlei Anstalten traf mitzukommen, hasserfüllt an, stieg ein und setzte mich auf den rechten Hintersitz. Salâch schloss die Tür, ging ums Auto und richtete sich neben mir ein, nicht ohne sich zuvor, mit Handschlag und Kuss, von Abu Omar zu verabschieden. Der Mann, der die Tür geöffnet hatte, kehrte auf den Fahrersitz zurück. Neben ihm nahm ein weiterer Platz, der eine Sonnenbrille trug. Das Auto verliess die Uni Richtung Wasirîja, vorbei an der Buchhandlung, wo ich allemal Bücher kaufte. Gleich dahinter bogen wir nach rechts in die Muhammad-al-Kâssim-Schnellstrasse ein und folgten dieser nach Süden Richtung Volksstadion.

Im Radio wurden die Morgennachrichten verlesen. Von meiner Stirn fiel ein Schweisstropfen auf mein rechtes Brillenglas – ein Hohn auf meinen Versuch, wie ein Fels zu erscheinen. Es war das erste Mal seit der ersten Kriegswoche, als iranische Flugzeuge Bagdad angegriffen und Dutzende von Bomben abgeworfen hatten, dass ich echte Panik verspürte und an den Tod dachte. Die Muhammad-al-Kâssim-Schnellstrasse führte über einen alten Friedhof, auf dem das Grab der Sajjida Subaida liegen soll, der Ehefrau des Kalifen Harûn al-Raschîd, vielleicht auch einer anderen Subaida aus späterer Zeit; ausserdem dasjenige von Nâsim al-Ghasâli. Das Bild der syrischen Schauspielerin, die in der Harûn-al-Raschîd-Serie die Rolle der Subaida gespielt hatte, vermischte sich mit Nâsim al-Ghasâlis Stimme, die klagend sang: Die mir das Leben bitter gemacht, die mich in Folterverliese gebracht – oben auf der Musajjib-Brück liessen sie mich allein zurück.

Was sie wohl mit mir vorhatten? Sarmad hatte recht! Hatte wirklich jemand einen Bericht über mich verfasst? Hatten sie vielleicht etwas von mir aufgenommen? Einen dieser Witze, die ich immer wieder erzählte, oder meine Stimme, wie ich den Tikrîter Dialekt des Führers nachäffte. Hätte ich doch auf meine Oma hören sollen?

»Halt draussen den Mund, mein Junge«, sagte sie immer. »Was soll ich denn tun, wenn du nicht mehr da bist? Dann kann ich doch nur noch vor Kummer sterben. Hüte deine Zunge, sonst schneiden sie sie dir ab. Die da fürchten Gott nicht.«

Salâch unterbrach die grossmütterliche Stimme und antwortete spöttisch auf die Fragen, die ich mir gestellt hatte. Er schien zu wissen, was mir durch den Sinn ging.

»Uns gefallen deine Ansichten und deine Gedanken. Wir möchten sie aus deinem eigenen Mund hören.« Dann, mit einem Blick auf den Friedhof, der sich hinter uns entfernte, fügte er hinzu: »Auch den Esprit, den du besitzt.«

»Und was ist die Absicht dabei?« Ich tat, als wüsste ich nicht, worum es ihm ging.

»Du weisst doch genau, was die Absicht ist. Pass ja auf! Wir wissen so manches über dich.« Er grinste boshaft.

Bei der Nidâlstrasse bog das Auto ab. Ich war überzeugt, es gehe zur Staatssicherheit. Die Schweisstropfen auf meiner Stirn mehrten sich. Mein Herz wurde zu einem Stamm von Trommeln, die einander jagten. Das Auto durchquerte die Nebenstrassen in dem Wohngebiet, das an den Komplex der Staatssicherheit angrenzte. Wir fuhren an einem kleinen Mädchen vorbei, das auf einer Kreuzung in der Nähe des staatlichen Symphonieorchesters mit dem Fahrrad fuhr. Wie oft hatte ich nicht darüber gespottet, dass ein harmonischer Zufall es so wollte, dass die Staatssymphonie und die Staatssicherheit Nachbarinnen waren! Hier lag auch der »Taârufklub«, der den Sabiern1 gehörte und den ich hin und wieder mit einem Freund aus deren Gemeinschaft aufgesucht hatte, um im Garten dort ein Bier zu trinken und Kichererbsen zu knabbern. Der Fahrer bremste, um das Mädchen seine Runde fertigdrehen zu lassen, dessen Mutter von irgendeiner Haustür wild gestikulierend nach ihr rief. Salâch wies den Fahrer an, Eingang Nummer drei zu nehmen. Wenige Augenblicke später endete die Strasse. Das Auto hielt vor einem grossen Tor, das drei Bewaffnete bewachten. Als sie des Autos ansichtig wurden, entfernte einer von ihnen die gezähnte Eisenstange, die aussah wie das Gebiss eines riesigen Haifischs. Barrieren dieser Art lagen vor jedem Regierungsgebäude, um sprengstoffbestückten Autos die Reifen zu durchlöchern und sie so ausser Gefecht zu setzen. Ein anderer öffnete das Tor. Als sich das Auto wieder in Bewegung setzte, wechselten der Fahrer und die Wachen einen Gruss. Kaum hatten wir das Tor passiert, hiess Salâch den Fahrer anhalten und den Kofferraum öffnen. Die lange Strasse vor uns war links von einer hohen Mauer gesäumt. Salâch stieg aus, und ich hörte, wie der Kofferraum wieder geschlossen wurde. Mit einem weissen Stück Stoff in der Hand kam er zurück und machte sich daran, mir die Augen zu verbinden. Als ich mich zu wehren versuchte, drückte er mir die Hände mit Gewalt herunter und herrschte mich an: »Wenn du dich rührst, hau ich dir die Fresse ein. Verstanden?«

Ich hörte, wie sich das Tor kreischend hinter uns schloss. Das Letzte, was ich sah, war das Gesicht des Gröfaz, der mich von Salâchs Schweizer Uhr anglotzte, bevor meine Augen hinter dem Tuch verschwanden. Als ich ein weiteres Mal Widerstand leistete, erhielt ich einen deftigen Schlag auf den Hinterkopf. Was danach geschah, daran erinnere ich mich nicht mehr.

Ich kehrte nachhause zurück. Dort sass meine Oma, das Teetablett wie üblich vor sich. Aber sie weinte herzzerreissend.

»Was ist los?«, erkundigte ich mich.

»Komm, schau dir das an! Da ist doch tatsächlich ein Sprecher vom Innenministerium aufgetreten und hat erklärt, alle Bürger müssten zur Unterstützung der Kriegsanstrengungen beitragen – mit ihren Augen! In den Schulen würden Augenspendezentren eingerichtet. Alle hätten zu gehen und anzustehen. Das mit dem Gold, das haben wir ja noch verstanden und es gegeben, und beim Geld haben wir gedacht, na gut. Aber die Augen?! Was soll denn das heissen? Das gab es unser Lebtag noch nie. Möge Gott sie doch alle in die Hölle schicken! Was sind das bloss für finstre Zeiten?«

Ich glaubte, Alter und Angst hätten ihrem Verstand zugesetzt und sie fasle. Aber dann erschien auf dem Bildschirm der Sprecher und verlas nochmals die Erklärung des Militärs: »An unser gesamtes teures Volk! In den grossartigsten Schlachten unseres ewigen Kampfes gegen den altbösen Feind habt ihr die Erde des Vaterlands mit eurem reinen Blut getränkt. Nie habt ihr gegeizt, weder mit Leib noch mit Gut. Unsere edlen Volksgenossinnen haben ihr Gold gespendet zur Unterstützung unserer Wirtschaft in den Stunden der Not. Nun ruft euch das geliebte Vaterland, den Feinden und Verrätern euren legendären Heldenmut und eure grenzenlose Opferbereitschaft zu zeigen …«

Uff! Wie konnte ich nur vergessen, dass wir unter der Aufsicht der baathistischen Absurditätspartei seit Jahrzehnten ein Fest der Dauerabsurdität durchleben! Dass es nichts gibt, was es nicht gibt! Ich liess mich neben meiner Oma aufs Sofa fallen und stellte fest, dass auch die Schlagzeilen der Tageszeitungen, die sie mir immer besorgte, ohne Punkte und die Leute auf den Bildern ohne Augen waren. Ich blätterte alle durch. Von Entsetzen gepackt, rannte ich hinaus auf die Strasse, ohne auf meine Oma zu achten, die mir zur Tür folgte und mir hinterherrief, zuhause zu bleiben und sie nicht allein zu lassen.

Alle Plakate und Reklametafeln, ja sogar die Nummernschilder der Autos waren ohne Punkte. Und vor der Avantgarde-Grundschule in der Nähe unseres Hauses, die sich flugs in ein Augenspendezentrum verwandelt hatte, sah ich eine Menschenschlange. Die da standen, es war zum Kotzen, lachten und jubelten allesamt. Einige psalmodierten: »Was deine Hände berührten, haben unsere Augen geküsst! Als du schrittst durch unsere Türen, uns zu führen!« Lachen und Jubeln schwollen an. Menschen, die ich nicht kannte, versuchten, mich in die Schlange zu ziehen. Ein Genosse in Khaki ging an den Wartenden vorbei und notierte Alter und Augenfarbe. Fast am Ende der Schlange erblickte ich Ali, einen Freund aus Sekundarschultagen. Er sah finster aus, beteiligte sich nicht am kollektiven Jubel und klatschte nicht wie die anderen in die Hände. Ich rief mehrfach seinen Namen, um zu erfahren, was los sei, doch er hörte mich nicht. Das Gejubel, Geklatsche und Gejauchze wurde immer lauter, immer erbarmungsloser.

Ich erwachte und fand mich hier und dort.