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Éric Vuillard

14.

JULI

Aus dem Französischen
von Nicola Denis

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Inhalt

Die Folie Titon

Die Tombe-Issoire

Die Schulden

Zu den Waffen greifen

Schlaflosigkeit

Zitadelle

Paris

Die Menge

Ein Vertreter des Volkes

Das Arsenal

Die Zugbrücke

Die Krankheit der Abordnung

Ein Taschentuch

Eine Leiche

Ein Brett über dem Abgrund

Die Seiltänzer

Die Sintflut

Regen aus Papier

Die Folie Titon

Eine folie ist ein Lusthaus, Architektenlaune und fürstliche Extravaganz. Ihre leichte, zierliche Anmutung, die ausschweifenden Lichter hinter den zahllosen Fenstern künden von der bürgerlichen Herrschaft des Zweitwohnsitzes. Sie ahmt die Villen Palladios nach: Vitruv für Unternehmer, Alberti für Vorarbeiter. Doch von all den französischen folies, die man im Burgund und im Bordelais, in der Nähe von Montpellier und an den Loire-Ufern baute – exzentrische Pavillons, schmucke Gärten mit ihren Magnolieninseln und Mooshöhlen, in deren Alleen sich Schwärme von Sonnenschirmen verteilten –, war es die Folie Titon, die in den letzten Stunden des Ancien Régime wirklich von sich reden machte. Sie erlebte ihre Sternstunde, als von ihrem Garten aus erstmals in der Weltgeschichte eine Montgolfière mit zwei Passagieren an Bord aufstieg. Das Papier, das den Ballon umhüllte, stammte aus der Manufaktur Réveillon, die in der Folie Titon im Pariser Bourg Saint-Antoine ansässig war. Ihre zweite Sternstunde war auch schon die letzte. Am 23. April 1789 wendet sich Jean-Baptiste Réveillon, Eigentümer der Königlichen Tapetenmanufaktur, an die Wahlversammlung seines Bezirks und fordert eine Senkung der Löhne. In seiner Fabrik in der Rue de Montreuil sind mehr als dreihundert Menschen angestellt. Ungezwungen und erstaunlich freimütig erklärt er, die Arbeiter könnten sehr wohl mit fünfzehn Sous statt mit zwanzig pro Tag auskommen, ja, manche hätten bereits eine Taschenuhr und seien bald wohlhabender als er. Réveillon ist der König der Tapeten, er exportiert in die ganze Welt, aber die Konkurrenz ist rege; er möchte, dass seine Arbeitskräfte ihn weniger kosten.

Marie-Antoinette hatte diese Mode lanciert und ließ ihr Boudoir damit auskleiden: Amor, der unter einem Blumenbaldachin eine Taube an sich drückt, bogenschießende Putten, Grotesken, Pastoralen, Singerien. Die Mode der mit Schablonen und Pinseln großartig bemalten Tapeten hatte in ganz Europa Verbreitung gefunden; und so erwog Jean-Baptiste Réveillon zwischen zwei rauschenden Festen, während er mit leichter Hand seine himbeermusfarbene Weste blähte und sein cremefarbenes Einstecktuch zurechtzupfte, in Anbetracht des harten Konkurrenzkampfes ernsthaft die Senkung seiner Löhne.

Doch das Volk hatte Hunger. Die Kornpreise waren gestiegen, die Weizenpreise waren gestiegen, alles war teuer. Und nun machte auch Henriot, Salpeterfabrikant, die gleiche Ankündigung. In den Vororten begann es zu gären. Abends traf man sich in der Schenke, schrie, schimpfte und schlürfte sein Gläschen, während man sich fragte, ob man die Miete noch lange würde bezahlen können. Alle waren aufgewühlt und in Sorge. Die Nacht vom 23. April 1789 war eine lange Nacht des Palavers, der Klagen und der Wut.

Es war kurz vor der mehrmals aufgeschobenen Eröffnung der Generalstände. Man demonstrierte. Einen Tag, zwei, vergebens. Réveillon und Henriot glaubten wohl, dass sie sich umbesinnen, dass sie zwischen zwei kräftigen Zügen Wein und zwei Brocken Brot die Pille schlucken würden – es gab ja keine Wahl! –, und dass bald alle wieder frühmorgens vor ihren Maschinen knien und um ihr Leben schuften würden – denn leben muss man nun mal! –, man kann sich schließlich nicht ewig auf der Place de Grève die Seele aus dem Leib brüllen. Doch der Protest hörte nicht auf.

Eine große Hungersnot wütete in Frankreich. Die Leute verreckten. Die Ernte war schlecht gewesen. Viele Familien bettelten um ihren Lebensunterhalt. Überall wurden Körnertransporte überfallen, Kornspeicher geplündert, Lager ausgeraubt. Man warf Steine in die Scheiben, zerschlitzte die Fässer mit dem Messer. Es hatte Hungeraufstände in Besançon gegeben, in Dax, in Meaux, in Pontoise, in Cambrai, in Montlhéry, in Rambouillet und Amiens. Überall waren Staatsbeamte beleidigt, ihre Paläste belagert und Soldaten verwundet worden. Es war ein Volk der Frauen und Kinder, das aufbegehrte. Auch ein Volk der Arbeitslosen. Auf sechshunderttausend Einwohner von Paris kamen achtzigtausend arbeits- und mittellose Seelen. Und so regte es sich in den Elendsbehausungen, man war von den Debatten und von der Wahl im Vorfeld der Generalstände ausgeschlossen worden, man sah deutlich, dass es nicht viel zu hoffen gab, dass sie einem nichts lassen würden als die Kälte des kommenden Winters und die Teuerung; die Sache würde unter anständigen Leuten ausgemacht werden.

Am Nachmittag des 27. sickerte die Menge langsam aus Saint-Marcel, verlangte Brot zu zwei Sous und schrie: »Tod den Reichen!«. Vor das Hôtel de Ville wurden zwei Puppen geschleift, eine für Réveillon, die andere für Henriot; man verbrannte sie. Henriots Kopf verkohlte unter den Straßenlaternen, der Rauch stieg zu den Fenstern auf und verfing sich im Laubwerk. Man weinte. Die Staatsbeamten standen verängstigt hinter den Vorhängen. Aus der Asche war schon Schlamm geworden. Die Gardes françaises rings um den Platz waren bewaffnet. Mit in der Luftpampe verzerrten Mündern keiften die Frauen ihnen in die Visage, man dürfe vor Hunger nicht verrecken. Die Soldaten schoben sie sanft zur Seite und forderten sie auf, nach Hause zu gehen. Und da nahm alles seinen Anfang. Zuerst stürzte man in die Rue de Cotte, wo Henriots Anwesen verwüstet wurde. Als die große Tür kaputt war, einzelne Stücke hingen noch in den eisernen Angeln, fiel man kreischend ein. Die Frauen stürzten in die Küchen und klaubten Körner oder Mehl in ihre Röcke, die Männer schnäuzten sich in die Wandbespannungen, die Kinder pinkelten im Krötensitz unter die Tische, die Menge strömte baff durch die Räume und rollte Weinfässer vor sich her, lief durch das Feuer, das um sich gegriffen hatte, bespuckte die Porträts, strauchelte und watete durch einen unerhörten Luxus, der sich gerade selbst zerstörte, schabte die Schubladen aus, harkte durch Wand- und Kleiderschränke und durch den Keller. Aber das reichte nicht.

Seit jeher lebt man in Häusern aus Stampflehm und Brettern, mit einem durchgesessenen Stuhl, ohne Feuer, schlechtes Brot im Mund. Und die Wut steigt so, wie die Löhne fallen. Im Laufe des 28. breitet sich der Aufstand aus. Man kommt aus allen umliegenden Vierteln, sogar vom anderen Seine-Ufer. Unterwegs zieht man die Flößer mit, die Bettler, die unter den Brücken schlafen; und am Abend erzwingt man sich erfolgreich den Eingang in die Folie Titon: Der Schweiß triumphiert über die Weinlaube, die Kanaille über die pausbäckigen Engel. Da ist sie also, die folie, die Folie Titon, wo sich die Arbeit in Gold verwandelt, wo das ausgelaugte Leben zu Zuckerwerk wird, wo die tägliche und mühselige Plackerei der Menschen, wo der ganze Dreck, die Krankheiten, das Gebell, die toten Kinder, die verfaulten Zähne, die verfilzten Haare, die Schwielen, die tiefen Sorgen der Seele, das grauenvolle Schweigen der Menschheit, alle Eintönigkeiten, die demütigenden Routinen, die Flöhe, die Krätze, die über den Heizkesseln versengten Hände, die im Dunkel schimmernden Augen, die Schmerzen, die Schrammen, das Rischerasche der Schlaflosigkeit, das Rascherusche des Abschaums sich in Honig, in Lieder und Miniaturbilder verwandeln.

Die Menge rennt in die Gärten der Manufaktur. Man drängt sich zwischen den zartgrünen zierlichen Hecken, überquert auf der kleinen Brücke Pont de l’Estime die Rivière de l’Inclination, bevor man zwischen den Baumgruppen im Geheimnis der Reichen gefangen ist. Einzelne Grüppchen bleiben vor dem Haus stehen, unter der prachtvollen Fassade, und empfinden für einen flüchtigen Moment ebenfalls ein Gefühl von Anmut und Gleichmaß, sind beeindruckt von dem Sinn für Proportionen und Symmetrie. Aber Ordnung und Schönheit halten nicht lange vor. Eine Art Ekel überkommt die Menge. Der Charme zieht nicht mehr, die Pracht der Folie Titon zergeht zwischen den Kieseln im Hof. Bleibt nur der Wahn, der Größenwahn, mit seinem durchlöcherten Schädel.

Ja, hier bei Réveillon driftet alles in den Luxus ab, Stoffe, Spiegel, kleines Gerät, um sich zu frisieren, zu schminken, das Haar über zierlichen Amoretten festzuzurren. Ja, aus allem lässt sich alles machen, aus der Schnur die Vorhangkordel, aus der Sichel eine hübsche Schere, aus der Unterhose der Morgenrock, und Pferdepisse verwandelt sich in eine Reihe von Flakons. Ja, hier ist die Fliege eine auf den Fenstersturz gemalte Biene, der Zieh- ein Springbrunnen, das kariesbefallene Brett ein Brunnenkranz, der zähflüssige Torf ein hübsches Parkett, die tägliche Hetzerei eine Klavierstunde, aus dem undichten Dach wird ein weiteres Stockwerk, und die Anhäufung Tausender von Hütten verwandelt sich in eine folie. Ja, wunderschön war sie, die Folie Titon. Doch fürs Erste sollten ihre Matratzen ihre wollenen Gedärme ausspucken und die Schuhe ihre Absätze verlieren.

Verzückt gelang es einer Menschenmenge, durch den Musselin einer Spinnwebe den Eingeweiden der Erde ein paar Flaschen zu entreißen. Es war der Nektar der Aufklärung, direkt aus dem Gärkeller von Montesquieu. Man zertrümmerte die Flaschenhälse auf den Palaststufen, trank die erlesensten Weine auf ex und schmierte sich das Maul blutig. Und wie das schmeckte! Was gibt es Besseres, als in einem Zug einen tausend Livre teuren Wein hinunterzustürzen, sich einen Château Margaux aus der Flasche in den Rachen zu kippen. Als der Gasometer gut gefüllt war, stand man in schaukelnden Latschen und mit eingemachtem Hirn schwankend wieder auf, mit Brillen aus Wurstpelle und fletschernd wie Kühe. Das unterschlagene Produkt der Arbeit will verschwendet, seine Anmut verstümmelt werden, weil alles glänzen und alles verschwinden muss.

So begann am 28. April 1789 die Revolution: Man plünderte das schöne Anwesen, man zertrümmerte die Scheiben, riss die Baldachine von den Betten und schlitzte die Wandbespannungen auf. Alles wurde kurz und klein geschlagen. Man fällte die Bäume und errichtete im Park drei riesige Scheiterhaufen. Tausende von Männern, Frauen und Kindern plünderten den Palast. Sie wollten die Kronleuchter zum Singen bringen und zwischen den Schleiern tanzen, aber vor allem wollten sie wissen, wie weit man gehen, was eine so riesige Menge ausrichten kann. Draußen eine Masse aus dreißigtausend Neugierigen. Allerdings unbewaffnet, man hat nur Stöcke und Pflastersteine. Da kommen die Gendarmen. Die Menge lässt es Beschimpfungen und Pfiffe hageln. Von den Dächern regnet es Steine und Schieferplatten. Man reißt das Pflaster aus der Rue de Montreuil. Was für eine Wonne, die Polypen mit Steinen kaltzumachen! Jede Freiheit nimmt diesen Weg. Die Kavallerie geht gegen die Menge an; im Geifer der Pferde, vor den blitzenden Säbeln weichen die Leute zurück. Da laden die Soldaten ihre Gewehre und schießen. Eine erste Salve tötet viele, die Menge drängt sich an den Wänden entlang, sucht Zuflucht, wo sie kann; vom Dach fliegen Ziegeln, Gebrüll. Doch die Gewehre sind erneut geladen – Feuer nach Herzenslust! Dutzende Tote übersäen die Straße. Jetzt verzieht man sich. Rennen, Gedrängel: ein Großreinemachen unter dem Keuchen des Himmels. Die Frauen flehen die Soldaten an, nicht zu töten, Gnade walten zu lassen! Wieder Schüsse, die Toten türmen sich, die Reiter preschen durch die Straßen, lassen die Rücken der Flüchtenden bersten. Man spricht von über dreihundert Toten und ebenso vielen Verletzten. Die Leichen wurden in die umliegenden Gärten geschmissen, auf Mistkarren gestapelt. Auch ein paar Gehängte gab es. Jene Aufständischen, die man auf die Galeeren schickte, wurden mit glühenden Eisen gebrandmarkt. Und es heißt, außer dem 10. August 1792 sei dies der mörderischste Tag der Revolution gewesen.

Die Tombe-Issoire

Die Verwüstung der Folie Titon galt als Fiasko. Man zählte jeden abhandengekommenen Türknauf, jede Kaminschaufel, jede Pinzette, das kleinste abgerissene Fitzelchen Wandbespannung, die zerrissenen Tischdecken, die aufgeschlitzten Kopfkissen, die abgesplitterten Porzellantassen, die zerfetzten Seidenjacken, den zerschnippelten Satin, die unzähligen Tuchwesten, die Negligés von Madame, die Haufen verbrannter Taschentücher – all das wurde zum Gegenstand genauer Berechnungen, ein akribisches Inventar, in dem sich die Zahlen stapeln, neuntausend Livres hier, siebentausend dort, neunzehntausend hüben und zweitausendfünfhundert drüben. Die Anzahl der Toten unter den Einwohnern des Faubourg hingegen bleibt vage und unbestimmt.

Zwei Tage nach dem Aufstand passierten Odent und Grandin, Kommissare im Châtelet, eskortiert von Docteur Soupé – schwarze Robe, die Tasche voller Skalpelle –, unter der Leitung des Pförtners der Katakomben den Türsturz der Tombe-Issoire. Sie nahmen eine trostlose Treppe, bevor sie durch das kühle Dunkel der ehemaligen Steinbrüche irrten. Endlich vor einer verriegelten Tür angelangt, verspürten sie ein gewisses Unbehagen. Dabei waren die beiden Kommissare mit Strafsachen vertraut, doch dieses finstere Labyrinth strahlte etwas Ungewöhnliches aus. Gott sei Dank dient die Institution als Rüstung, man vergisst sich hinter der Maske, ist in seinen Anzug eingegipst; und so machten sie sich, sobald die Tür offen war und sie die Leichen gesehen hatten, an die Arbeit.

Dem Protokoll zufolge, das noch am selben Abend verfasst werden sollte, waren es achtzehn Leichen von Aufrührerischen, die bei dem Réveillon-Aufstand getötet worden waren; anders gesagt: achtzehn Arbeiter aus dem Faubourg. Die Totengräber packten sie an Armen und Beinen; die Köpfe baumelten nach hinten, die Haare fegten über den Boden. Man legte sie alle nebeneinander. Dann teilte Grandin kleine Karten mit Nummern an die Totengräber aus. In ihren groben Schuhen schwankend, beugten sie sich über die Toten und hefteten ihnen die Nummern, die sie bekommen hatten, an die Kleider. Sobald die Etiketten angebracht waren, zogen sich die Totengräber in die Nähe der Tür zurück; und die Kommissare machten sich an eine minutiöse Beschreibung der Körper.

Nummer 1 ist ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann, sein Haar wird von einer Bandschleife zusammengehalten, er hat eine Adlernase und ein scharf geschnittenes Gesicht. Er trägt eine Jacke aus dickem Tuch, eine rote Weste mit Kupferknöpfen und ein grobes Leinenhemd; dazu eine blaue Hose und eine Zwillichschürze. Es ist jedoch weder Zweck der Visite, ein Porträt des Verstorbenen zu zeichnen, noch, seine Bekleidung zu beschreiben; die Aufständischen werden des Diebstahls verdächtigt. Also greift man ihnen in die Taschen. Odent ruckt kurz den Kopf nach hinten, einer der Totengräber begreift sofort, was das besagen will. Die Reihe mit den Leichen ist lang. Sie sind hart und kalt, achtzehn auf dem Kellerboden ausgestreckte Gliederpuppen. Hier sind die Toten zahlreicher als die Lebenden. Langsam macht sich der Totengräber an seine Aufgabe, tritt zwischen die Körper, stülpt die Schürzentasche um: Nichts.

Anschließend erstellt man ein Inventar der Verletzungen und Todesursachen. Soupé macht seine Tasche auf, nimmt Skalpell, Klammern und Schere heraus. Er schneidet die Kleider auf, reinigt die Verletzung zügig, zieht mit den Klammern die Wundränder auseinander. Das Hemd des Verstorbenen ist blutgetränkt. Die Gedärme quellen ihm aus der Seite.

Der Nächste bitte. Nummer 2. Ein sechzehnjähriger Junge. Das lange Haar zum Pferdeschwanz gebunden, Stupsnase, dunkelhäutiges Gesicht. Und seine Kleidung besteht aus der gleichen grauen Tuchjacke, der gleichen Baumwollweste, den gleichen, aber zusammengewürfelten Kupferknöpfen, der gleichen Schürze; dazu wollene Strümpfe. Wieder macht Odent ein Zeichen mit dem Kopf, der Leichenträger beugt sich vor und schiebt seine dicke Männerhand in die Taschen des Jungen. Nichts. Aber dafür ist das Scheitelbein gebrochen und das Hinterhauptbein zertrümmert. Was bedeutet, dass man ihn rücklings geschlagen, dass man ihm den Schädel mit dem Säbel oder Bajonett zertrümmert hat.

Und weiter geht’s. Nummer 3, zwanzig Jahre alt. Ein hübscher, ein Meter siebzig großer Kerl mit zerzaustem kastanienbraunen Haar. Er trägt eine Jacke und eine Wollweste. Und wie bei allen anderen sind es dicke Wolle und grobes Tuch, sind es zusammengewürfelte Knöpfe und eine notdürftige Jacke; auch die gleichen schäbigen Stoffe: Tuch für die Jacke, Leinen für das Hemd, Baumwolle für die Weste, Serge für die Kniehose, Wolle für Strümpfe oder Fußbekleidungen, Kupfer für die Knöpfe; und die gleiche armselige Arbeitsoder Elendskleidung: Lederhosen, Tuchjacke und grobe Leinwandschürze. Auch hier nichts in den Taschen, aber eine große Wunde über dem Auge und dem klaffenden Stirnknochen, aus der Hirnfetzen und Blutklumpen quellen.

Die Nummer 4 ist dran. Ein rundes Puppengesicht. Das Haar hinten zusammengebunden. Die Nase kurz und breit. Er ist in graues Tuch gekleidet, ein Hemd aus Haushaltsleinen, eine Musselinkrawatte, eine grobe Tuchweste. Der Totengräber durchsucht den Toten. Grandin zieht die Brauen hoch; seine Augen blitzen hinter der Brille. Der steinerne Himmel dünstet ein paar Tropfen aus; es ist ein bisschen zu kühl, der Kommissar verspürt ein Kratzen im Hals, er hätte sich wärmer anziehen sollen. Der Totengräber dreht sich um und zuckt mit den Schultern: Nichts in den Taschen.

Er klettert über die Leiche und macht weiter mit Nummer 5. Wieder ein zwanzigjähriger junger Mann. Wieder braunes Haar und ein rundes Gesicht. Wieder grobe Leinen- oder graue Tuchkleider und Wollstrümpfe. Und wieder leere Taschen. Dafür eine beachtliche Wunde im Gesicht, die Rückseite des Schädels ist eingedrückt. Der Totengräber geht um die Leiche herum, stolpert und tritt auf die Hand; irgendwie fängt er sich an der Brust des Toten ab und richtet sich wieder auf. Ein Lichtkreis erhellt das Gewölbe. Und weiter geht die Litanei: Nr. 6, Nr. 7, Nr. 8, Nr. 9, 10 und 11, bis hin zur Nr. 18: Adlernase, längliches Gesicht, zum Pferdeschwanz gebundenes dunkelbraunes Haar, und dann die Klamotten, olivfarbene, mit Serge gefütterte Tuchweste, Leinenhemd. Eine satte Anzahl an Pferdeschwänzen, Wollstrümpfen, offenen Brustkörben, Wunden unter der Achsel und zertrümmerten Schädeln. Eine satte Anzahl leerer Taschen. Aber nicht ein Heller an den achtzehn Leichen von Montrouge. Man hatte alle Taschen umgestülpt, aber nur alte Tabakbeutel gefunden, einen kleinen Schlüssel, ein paar armselige Werkzeuge. Das war’s. Nicht die Spur einer Taschenuhr.

Statt beschaulich an den Seine-Ufern entlang zu schlendern oder Karten zu spielen, schlugen Louis Petitanfant, Schornsteinfeger, und Louise Petitanfant, Kammerfrau, am Sonntag, den 3. Mai, den Weg nach Montrouge ein. Es war mild. Sie gingen lange die Rue Saint-Jacques hinauf, dann durch den Faubourg Saint-Jacques; am Observatorium vorbei verdreckten sie sich die Füße und gingen weiter geradeaus, immer geradeaus auf dem bis zur Stadtgrenze mit Feldern gesäumten Chemin du Bourg-la-Reine. Von Zeit zu Zeit nahm Louis seinen Hut ab und wischte sich die Stirn. Wortlos liefen sie nebeneinander her. Als sie die Charité hinter sich gelassen hatten, gelangten sie zur Tombe-Issoire. Dort mussten sie warten, bis der Pförtner ihnen öffnete; sie blieben artig vor der Tür stehen. Louis hielt seinen Hut zwischen den Händen. Sie schwiegen. Dann kam der Pförtner zurück und bedeutete ihnen zu folgen. Behäbig stiegen sie die Treppe hinab und stützten sich an den Wänden ab. Es war dunkel und feucht, die Lampe war zu schwach. Endlich stand man vor der Tür der Katakomben. Der Pförtner drehte den Schlüssel im Vorhängeschloss.

Ein großer dunkler Raum, die Leichen lagen auf dem Rücken, es stank; Louise hielt sich die Schürze vor die Nase. Der Pförtner hieß sie weitergehen, er habe nicht viel Zeit. Sie schritten langsam die Reihe der Toten ab, während sie einen Blick auf die unbekannten Gesichter warfen, manche schienen zu schlafen, andere waren bereits grünlich, furchteinflößend. Ohne es sich einzugestehen, hatten sie gehofft, ihn nicht hier zu finden, dass er woanders übernachtet hätte und in ein paar Tagen wieder nach Hause käme. Doch bei der Nummer 5 blieb Louise stehen. Sie machte ein Zeichen. Sie betrachteten die Leiche eingehend. Tote haben ein so anderes Gesicht! Der Kopf war nach links verrenkt, die Lippen waren steif; ein Teil des Gesichts war zu einer grässlichen Grimasse verzerrt. Unter dem Schnurrbart war das Perlmutt seiner Zähne zu sehen. Man hatte ihm die Augen geschlossen. Er hatte nicht mehr das sanfte Gesicht, das sie von ihm kannten, das kamelfarbene Tuchgewand jedoch gehörte eindeutig ihm; ein Stück seiner Jacke war umgeschlagen, und Louise erkannte das Futter aus Stoffstücken, die sie aneinander genäht hatte. Und dann die Kniehose aus grauem Tuch, die Wollstrümpfe, ja, das musste er sein, trotz des eingeschlagenen Schädels und dieser furchtbaren Grimasse, die sein Gesicht zerpflügte.