Weil Liebe unvorhersehbar ist...
Holland Bakker ist Mitte Zwanzig und jobbt eher erfolglos als T-Shirtverkäuferin. Ihr Highlight auf dem Weg zur Arbeit: der genauso attraktive wie talentierte Straßenmusiker Calvin, für den Holland täglich einen Umweg von „nur“ drei Blocks macht. Dass sie aber bald eine Wohnung und ihr Leben mit Calvin teilen würde, hatte sich Holland selbst in ihren kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Doch der Grund dafür ist eher unromantisch, zumindest am Anfang …
Roman
Aus dem Amerikanischen
von
Sybille Uplegger
Forever by Ullstein
forever.ullstein.de
Deutsche Erstausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
März 2019 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
German Translation copyright © 2019 by Ullstein Buchverlage GmbH
Original English language edition copyright © 2017 by Christina Hobbs and Lauren Billings
All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published
by arrangement with the original publisher, Gallery Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Roomies
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Übersetzung: Sybille Uplegger
Autorenfoto: © Alyssa Michelle
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ISBN 978-3-95818-350-6
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Der Familienlegende nach wurde ich im Fußraum eines Taxis geboren.
Ich bin das jüngste von insgesamt sechs Geschwistern. Angeblich sagte Mom: »Ich spüre da so ein leichtes Ziehen, aber lasst mich noch schnell das Mittagessen fertig machen«, und keine vierzig Minuten später hieß es: »Willkommen im Leben, Holland Lina Bakker.«
Das ist immer das Erste, woran ich denken muss, wenn ich in ein Taxi steige. Mir fällt auf, wie mühsam es ist, über das klebrige Polster zu rutschen; ich registriere die zahllosen Fingerabdrücke und mysteriösen Flecken auf den Fensterscheiben und der Plexiglastrennwand zwischen Vorder- und Rücksitz; und ich stelle fest, dass der Fußraum eines Taxis ein ziemlich schauriger Ort ist, um das Licht der Welt zu erblicken.
Schwungvoll ziehe ich die Tür hinter mir zu, damit der pfeifende Wind von Brooklyn draußen bleibt. »Zum U-Bahnhof Fiftieth Street in Manhattan, bitte.«
Der Fahrer sucht im Rückspiegel meinen Blick. Ich weiß genau, was er jetzt denkt: Sie fahren mit dem Taxi nach Manhattan zur U-Bahn? Gutes Fräulein, warum nehmen Sie nicht einfach die C-Linie für die komplette Strecke? Das würde Sie gerade mal drei Dollar kosten.
»Ecke Eighth Avenue und Forty-Ninth Street«, setze ich hinzu und ignoriere das aufsteigende Gefühl der Scham. Mein Verhalten ist lächerlich. Statt mit dem Taxi von Park Slope nach Hause zu fahren, lasse ich mich zu einem U-Bahnhof kutschieren, der etwa zwei Blocks von meiner Wohnung in Hell’s Kitchen entfernt liegt. Und nein, es liegt nicht daran, dass ich ein hohes Sicherheitsbedürfnis habe und nicht möchte, dass der Taxifahrer meine Adresse erfährt.
Es hat einzig und allein damit zu tun, dass es dreiundzwanzig Uhr dreißig an einem Montagabend ist. Mit anderen Worten: Jack wird da sein.
Wenigstens meinen Berechnungen zufolge. Vor knapp einem halben Jahr hat er zum ersten Mal am Bahnhof Fiftieth Street gesessen und Gitarre gespielt. Seitdem habe ich ihn jeden Montagabend gesehen, außerdem mittwochs und donnerstags vormittags auf meinem Weg zur Arbeit sowie freitags während der Mittagspause. Dienstags ist er nie da, und am Wochenende habe ich ihn bisher auch noch nicht gesehen.
Die Montage sind meine Lieblingstage, weil er dann mit einer ganz besonderen Intensität spielt. Er beugt sich tief über seine Gitarre und wiegt sie in seinem Arm, als wolle er sie verführen. Es ist, als wäre die Musik das ganze Wochenende über in dem Instrument gefangen gewesen, und nun würde er sie endlich befreien. Das Einzige, was ihren Fluss unterbricht, ist das gelegentliche Klimpern des Kleingeldes, das Passanten in Jacks aufgeklappten Gitarrenkoffer werfen, oder das Donnern eines herannahenden Zuges.
Ich habe keine Ahnung, was er macht, wenn er gerade nicht am Bahnhof sitzt und spielt. Ich bin mir auch relativ sicher, dass er nicht wirklich Jack heißt, aber irgendeinen Namen musste ich ihm geben. Erstens wollte ich ihn nicht dauerhaft »der Straßenmusiker« nennen, und zweitens lässt der Umstand, dass er einen Namen hat, meine Schwärmerei ein bisschen weniger bizarr erscheinen.
Oder so ähnlich.
Der Taxifahrer redet nicht; er hört nicht mal eine Radio-Talkshow oder eine dieser anderen Sendungen, an deren Geplärre man sich als New Yorker schnell gewöhnt. Ich reiße mich kurz von meinem Instagram-Feed voller Buchrezensionen und Make-up-Tutorials los und betrachte den ekligen Schneematsch draußen auf den Straßen. Mein Cocktail-Schwips scheint sich nicht so schnell zu verflüchtigen, wie ich gehofft habe. Als wir einige Zeit später am Straßenrand halten und ich bezahle, bin ich immer noch ganz kribbelig, so als hätte ich Sprudelwasser im Blut.
Bisher habe ich Jack noch nie in betrunkenem Zustand besucht. Das könnte eine hervorragende oder auch eine ganz blöde Idee sein. Wir werden es gleich erfahren.
Am Fuß der Treppe angelangt, sehe ich ihn, wie er gerade seine Gitarre stimmt. Ich bleibe in einiger Entfernung stehen und mustere ihn. Er hält den Kopf gesenkt, und im Licht der Straßenlaternen, das die Treppe hinunter bis in den Bahnhof fällt, wirken seine dunkelblonden Haare beinahe silbern.
Er ist, wie in unserer Generation so üblich, ziemlich nachlässig angezogen, wirkt aber ansonsten gepflegt, deshalb stelle ich mir vor, dass er irgendwo eine hübsche Wohnung sowie einen geregelten, gut bezahlten Job hat und aus reinem Spaß an der Freude hier sitzt. Er hat genau die Art Haare, die ich unwiderstehlich finde: an den Seiten kurz, oben auf dem Kopf wild und ungezähmt. Sie sehen so wunderbar weich aus und glänzen im Lichtschein, und man möchte einfach nur ganz fest in diese Haare hineingreifen und die Hände darin vergraben. Welche Augenfarbe er hat, weiß ich nicht, weil er beim Spielen nie hochschaut, aber in meiner Fantasie sind sie braun oder tiefgrün, in jedem Fall so dunkel, dass man darin versinken kann.
Ich habe ihn nie kommen oder gehen sehen, weil ich immer nur an ihm vorbeilaufe, einen Dollarschein in seinen Gitarrenkasten lege und dann weitergehe, um ihn – wie viele andere Wartende auch – von meinem Platz am Bahnsteig aus unauffällig zu beobachten. Seine Finger fliegen über den Hals der Gitarre. Seine linke Hand entlockt dem Instrument die Töne, als wäre Gitarrespielen für ihn so selbstverständlich wie Atmen.
So selbstverständlich wie Atmen. Für mich als angehende Schriftstellerin ist das ein furchtbares Klischee, aber es ist die einzige Beschreibung, die passt. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, dessen Finger sich so bewegen – ganz von selbst, ohne dass er auch nur einen Gedanken daran verschwenden muss. Fast ist es so, als würde er seiner Gitarre eine menschliche Stimme verleihen.
Er hebt den Kopf, gerade als ich einen Geldschein in seinen Gitarrenkoffer fallen lasse, blickt mich durch zusammengekniffene Augen an und sagt leise: »Danke schön.«
Das hat er noch nie gemacht – aufgeschaut, wenn jemand Geld in seinen Koffer wirft –, deshalb bin ich völlig überrumpelt, als unsere Blicke sich treffen.
Grün. Seine Augen sind grün. Und er schaut nicht sofort wieder weg. Er hält meinen Blick fest. Ich bin wie hypnotisiert.
Statt also mit »Ja« oder »Gern geschehen« zu antworten oder auch gar nichts zu sagen, wie es jeder anständige New Yorker tun würde, überkommt es mich. »Ichliebedeinemusiksowahnsinnig!«, stoße ich atemlos hervor, sodass es wie ein einziges Wort klingt.
Dafür ernte ich ein winziges Lächeln von ihm, das in meinem alkoholisierten Gehirn beinahe einen Kurzschluss auslöst. Er kaut einen Moment lang auf seiner Unterlippe, ehe er sagt: »Wirklich? Das ist echt nett von dir. Ich spiele auch wahnsinnig gern.«
Er hat einen starken irischen Akzent. Als ich ihn höre, beginnt es in meinen Fingern zu kribbeln.
»Wie heißt du?«
Drei unerträgliche Sekunden vergehen, bevor er mit einem leicht verblüfften Grinsen antwortet: »Calvin. Und du?«
Das hier ist eine Unterhaltung. Heilige Scheiße, ich unterhalte mich mit dem Fremden, in den ich seit Monaten verknallt bin.
»Holland«, antworte ich. »Wie die Provinz in den Niederlanden. Die meisten Leute denken ja, Holland und die Niederlande seien dasselbe, aber das stimmt nicht.«
Uff.
Heute Abend habe ich zwei Erkenntnisse über Gin gewonnen: Er schmeckt nach Kiefernzapfen, und er ist das reinste Teufelszeug.
Calvin lächelt zu mir auf und sagt verschmitzt: »Holland. Eine Provinz und eine Gelehrte«, ehe er halblaut etwas hinzufügt, das ich nicht verstehe. Ich kann nicht sagen, ob seine Augen so belustigt funkeln, weil ich er mich in meiner Trotteligkeit amüsant findet, oder weil hinter mir jemand steht, der gerade irgendwas Verrücktes macht. Da ich seit einem gefühlten Jahrtausend nicht mehr mit einem Mann ausgegangen bin, weiß ich nicht, wie ich das Gespräch am Laufen halten soll. Also suche ich mein Heil in der Flucht. Ich sprinte regelrecht die zehn Meter bis zum Bahnsteig. Kaum zum Stehen gekommen, beginne ich mit der wohlkalkulierten Geschäftigkeit einer Frau, die daran gewöhnt ist, so zu tun, als gäbe es etwas immens Wichtiges, das sie sofort und auf der Stelle finden muss, in meiner Handtasche zu wühlen.
Etwa dreißig Sekunden zu spät begreife ich, was er eben geflüstert hat: Zauberhaft.
Garantiert hat er damit bloß meinen Namen gemeint. Und das sage ich nicht aus falscher Bescheidenheit. Meine beste Freundin Lulu und ich sind zu der Einschätzung gekommen, dass wir in Manhattan attraktivitätsmäßig etwa im Mittelfeld liegen – was ziemlich gut ist, sobald wir die Stadtgrenzen verlassen. Aber Jack – ich meine, Calvin – ist jemand, der alle Blicke auf sich zieht, von Frauen wie von Männern, von reichen Pseudo-Hippies aus der Madison Avenue, die sich in der U-Bahn mal unters gemeine Volk mischen wollen, genauso wie von krawalligen Studenten aus Bay Ridge. Ich übertreibe nicht. Er hätte die freie Auswahl – wenn er sich denn jemals dazu bequemen würde, den Kopf zu heben und uns eines Blickes zu würdigen.
Wie um meine Theorie zu untermauern, offenbart ein rascher Blick in meinen Taschenspiegel, dass die Wimperntusche unter meinen Augen clownesk verlaufen ist und der Rest meines Gesichts geradezu gespenstisch bleich aussieht. Ich hebe die Hand und versuche die braunen Strähnen meiner verknoteten Haare, die sonst das Volumen eines platten Fahrradreifens haben, aber ausgerechnet heute mit ganzer Gewalt meinem Zopf entkommen wollen und mir in völliger Nichtbeachtung jeglicher Schwerkraftgesetze vom Kopf abstehen.
Zauberhaft bin ich in diesem Moment ganz sicher nicht.
Calvins Musik setzt wieder ein und erfüllt den stillen Bahnhof. Sie klingt so tief und sehnsuchtsvoll, dass ich mich noch betrunkener fühle als ohnehin schon. Wieso bin ich heute Nacht hergekommen? Wieso habe ich ihn angesprochen? Jetzt muss mein armer Kopf all diese Informationen verarbeiten – zum Beispiel, dass sein wahrer Name nicht Jack lautet und dass seine Augen auf einmal eine reale Farbe haben. Das Wissen, dass er Ire ist, macht mich dermaßen wuschig, dass ich ihm am liebsten auf den Schoß klettern möchte.
Mann. Verknalltsein ist echt das Schlimmste. Aber im Nachhinein ist es besser, mit Sicherheitsabstand verknallt zu sein, als das hier. Ich hätte mich darauf beschränken sollen, mir weiterhin Fantasiegeschichten über ihn auszudenken und ihn verstohlen anzuschmachten wie ein ganz normaler Stalker. Jetzt habe ich ihn angesprochen, und wenn er so aufmerksam ist, wie seine Augen vermuten lassen, dann wird er wahrscheinlich das nächste Mal aufschauen, wenn ich ihm Geld gebe. Und dann muss ich entweder kluge Dinge sagen oder das Weite suchen. Und durchschnittliches Attraktivitätsniveau hin oder her: Sobald ich Männern gegenüber den Mund aufmache, geht es bergab. Lulu nennt mich manchmal Trolland, weil ich dann so schrecklich unattraktiv wirke. Wie man sieht, hat sie nicht ganz unrecht.
Ich schwitze in meinem rosafarbenen Wollmantel, mein Make-up löst sich in Wohlgefallen auf, und ich verspüre das dringende Bedürfnis, mir die Strumpfhose bis unter die Achseln hochzuziehen, weil sie unter meinem Rock eine unaufhaltsame Reise gen Süden angetreten hat und es sich langsam so anfühlt, als trüge ich figurbetonte Haremshosen.
Warum mache ich es nicht einfach? Bis auf Calvin und den Mann, der auf einer Bank in der Nähe schläft, ist niemand da, und Calvin hat sich wieder ganz in seine Musik vertieft.
Doch im nächsten Moment erhebt sich, einem Zombie gleich, der Schlafende von seiner Bank und macht einen torkelnden Schritt in meine Richtung. Verlassene U-Bahnhöfe sind unheimlich, ein ideales Revier für Grabscher, Freaks und Exhibitionisten. Es ist nicht sehr spät – noch nicht einmal Mitternacht –, aber ich bin ganz allein. Offenbar habe ich gerade eine Bahn verpasst.
Ich gehe ein Stück den Bahnsteig entlang nach links und zücke mein Smartphone, um einen beschäftigten Eindruck zu machen. Tja, ich hätte wissen müssen, dass sich Betrunkene und hartnäckige Männer nicht von einem iPhone abschrecken lassen, und wenn noch so emsig darauf herumgetippt wird. Der Zombie kommt näher.
Ich weiß nicht, ob es an dem kleinen Stich der Angst liegt, den ich in der Brust spüre, oder ob gerade ein Windstoß durch den Bahnhof fegt, aber auf einmal habe ich den ekelerregend salzigen Geruch von Rotz in der Nase. Dazu gesellt sich das faulig-saure Aroma verschütteter Limo, die seit Monaten am Boden eines Abfalleimers vor sich hin sifft.
Der Typ hebt eine Hand und zeigt auf mich. »Du hast mein Handy.«
Ich wende mich ab und gehe in einem großen Bogen um ihn herum zurück in Richtung Treppe und Calvin. Mein Daumen schwebt über Roberts Telefonnummer.
Der Typ kommt mir nach. »Du da. Bleib stehen. Du hast mein Handy!«
»Lassen Sie mich in Ruhe«, sage ich so ruhig wie möglich und ohne aufzusehen. Dann tippe ich auf Roberts Nummer und hebe das Handy ans Ohr. Es tutet hohl im Abstand von jeweils fünf meiner pochenden Herzschläge.
Calvins Musik schwillt an, klingt nun beinahe aggressiv. Sieht er denn nicht, dass mich ein fremder Mann bedrängt? In diesem Moment kommt mir der völlig abstruse Gedanke, dass es bewundernswert ist, wie er komplett in seiner Musik aufgeht, wenn er spielt.
Der Mann hält weiterhin auf mich zu. Untermalt vom Soundtrack aus Calvins Gitarrenklängen, jagt er mich schlurfend und schwankend quer über den Bahnsteig. Wegen meiner heruntergerutschten Strumpfhose bewege ich mich weder besonders schnell noch besonders elegant. Der Mann hingegen gewinnt immer mehr an Geschwindigkeit, und seine Bewegungen scheinen mit jedem Schritt flüssiger zu werden.
Aus dem Telefon höre ich Roberts blecherne Stimme: »Hey, Butterblume.«
»Scheiße, Robert, ich bin hier gerade am –«
Der Mann greift nach mir, kriegt den Ärmel meines Mantels zu fassen und reißt mir das Handy vom Ohr.
»Robert!«
»Holls?«, ruft Robert durch die Leitung. »Schätzchen, wo bist du?«
Ich strauchle und versuche verzweifelt, mich irgendwo festzuhalten, denn ich habe das sehr, sehr beunruhigende Gefühl, jeden Moment das Gleichgewicht zu verlieren. Die Angst jagt einen kalten Schauer, der mich mit einem Schlag nüchtern werden lässt, über meine Haut: Dieser Kerl will mir nicht dabei helfen, aufrecht stehen zu bleiben – er schubst mich.
In der Ferne höre ich eine tiefe Stimme »Hey!« rufen.
Mein Handy schlittert über den Betonboden. »Holland?«
Es geht alles wahnsinnig schnell – aber wahrscheinlich ist das immer so. Wenn es langsam gehen würde, hätte ich ja die Möglichkeit, etwas zu tun – irgendetwas. Aber nein: In einer Sekunde stehe ich noch auf der genoppten gelben Warnlinie, in der nächsten stürze ich schon auf die Gleise.
Ich habe noch nie in einem Krankenwagen gelegen, und im Beisein zweier von Berufs wegen stocknüchterner Menschen mit einem lauten Grunzen aus der Bewusstlosigkeit hochzuschrecken ist genauso demütigend, wie man es sich vorstellt. Eine Sanitäterin mit strenger Miene und Permanent-Falte auf der Stirn blickt auf mich herab. Monitore piepsen. Als ich meinen Kopf bewege, fühlt es sich an, als würde gerade der Countdown zum Selbstzerstörungsmodus angezählt werden. Mein Arm schmerzt. Nein, er schmerzt nicht, er tut höllisch weh. Ich stelle fest, dass er in einer Schlinge steckt. Als ich das ferne Rumpeln der U-Bahn höre, fällt mir wieder ein, dass mich jemand auf die Schienen gestoßen hat.
Jemand hat mich auf die Schienen der U-Bahn gestoßen!
Mein Herz macht eine Art Kung-Fu-Bewegung in meiner Brust, und sein panischer Rhythmus wird vom Piepsen diverser Apparate um mich herum aufgenommen. Ich rapple mich auf, kämpfe die monumentale Woge der Übelkeit nieder, die in mir hochzusteigen droht, und krächze: »Haben Sie den Kerl erwischt?«
»Immer mit der Ruhe.« Mit besorgter Miene drückt mich die Sanitäterin – auf ihrem Namensschild steht »Rossi« – sanft zurück auf die Trage. »Es ist alles in Ordnung.« Sie nickt ermutigend. »Es geht Ihnen gut.«
Dann überreicht sie mir eine Visitenkarte.
Landesweite Hotline für Suizid-Prävention
1–800–273–8 255
Ich drehe die Karte um. Wer weiß, vielleicht steht ja auf der Rückseite:
Rufen Sie an, wenn ein Besoffener Sie auf die Gleise geschubst hat.
Leider werde ich enttäuscht.
Ich sehe zu der Sanitäterin auf. Vor Empörung steigt mir die Hitze in die Wangen.
»Ich bin nicht gesprungen.«
Rossi nickt. »Schon gut, Ms Bakker.« Sie missversteht meinen verdatterten Gesichtsausdruck und fügt hinzu: »Wir kennen Ihren Namen, weil wir Ihre Handtasche auf dem Bahnsteig gefunden haben.«
»Er hat meine Handtasche nicht mitgenommen?«
Weil die Frau daraufhin ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammenpresst, sehe ich mich nach Unterstützung um. Ihr Kollege, ein kerniger Typ wie aus einem Sanitäter-des-Monats-Kalender, steht draußen vor den Türen des Krankenwagens und notiert gerade sorgfältig etwas. Sein Namensschild weist ihn als »Gonzales« aus. Ein Stück weiter weg parkt ein Streifenwagen am Straßenrand, und zwei Polizisten unterhalten sich angeregt neben der geöffneten Fahrertür. Ich kann mir nicht helfen: Irgendwie scheint mir das hier nicht die beste Art und Weise zu sein, mit einer potenziellen Suizidlage umzugehen. Ich habe beim Aufwachen quasi geschnaubt wie ein Nashorn, mein Rock ist komisch hoch bis zu meinen Hüften gerutscht, der Schritt meiner Strumpfhose hängt südlich des Äquators, und die Knöpfe meines Shirts sind offen, um Platz für die angeklebten Sensoren des Herzmonitors zu machen. Ein selbstmordgefährdetes Individuum könnte in einer solchen Situation einen Hauch von Erniedrigung empfinden.
»Ich bin nicht gesprungen«, wiederhole ich, während ich versuche, einigermaßen elegant meinen Rock wieder nach unten zu schieben.
Gonzales blickt von seinen Unterlagen auf und lehnt sich gegen die Tür des Krankenwagens. »Wir haben Sie auf den Gleisen gefunden, meine Liebe.«
Ich kneife die Augen zu und knurre, wütend über seine herablassende Art. Das ergibt doch alles hinten und vorne keinen Sinn. »Zwei Sanitäter gehen rein zufällig auf dem Bahnsteig spazieren, kurz nachdem ich auf die Schienen gefallen bin?«
Er schenkt mir ein winziges Lächeln. »Anonymer Notruf. Der Mann sagte, es läge jemand auf den Gleisen. In neun von zehn Fällen ist so was ein Selbstmordversuch.«
Anonymer Notruf.
CALVIN.
In dem Moment nehme ich eine Bewegung am Straßenrand jenseits des Krankenwagens wahr.
Es ist dunkel draußen, aber er ist es, kein Zweifel. Ach du Scheiße. Er steht gerade vom Bordstein auf und sieht in meine Richtung. Unsere Blicke kreuzen sich einen Sekundenbruchteil lang, ehe er erschrickt und sich hastig abwendet. Ohne noch einen weiteren Blick zurückzuwerfen, macht er sich davon und verschwindet die Eighth Avenue entlang.
»He!« Ich zeige in seine Richtung. »Warten Sie mal. Mit dem da müssen Sie reden.«
Gonzales und Rossi drehen sich langsam um. Rossi macht keine Anstalten aufzustehen. Ich fuchtele aufgeregt mit dem Finger. »Der Typ da hinten.«
»Hat er Sie gestoßen?«, fragt Gonzales.
»Nein, aber ich glaube, das ist der, der den Notruf gewählt hat.«
Rossi schüttelt den Kopf und verzieht, eher mitleidig als anteilnehmend, das Gesicht. »Der Mann kam erst dazu, als wir schon vor Ort waren. Er hat gesagt, er weiß von nichts.«
»Dann hat er gelogen.« Wieder versuche ich mich aufzusetzen. »Calvin!«
Er bleibt nicht stehen. Im Gegenteil, er beschleunigt seine Schritte und duckt sich hinter ein Taxi, ehe er im Laufschritt die Straße überquert.
»Er war doch dabei«, sage ich konfus. Gott, wie viel habe ich eigentlich getrunken? »Auf dem Bahnsteig waren ich, dieser Straßenmusiker – Calvin – und ein Betrunkener. Der Betrunkene wollte mir mein Telefon aus der Hand reißen, und dann hat er mich auf die Gleise geschubst.«
Gonzales legt den Kopf schief und deutet auf die beiden Polizisten. »Wenn das so ist, sollten Sie wohl Anzeige erstatten.«
Ich kann mir eine patzige Antwort nicht verkneifen. »Ach, finden Sie wirklich?«
Wieder der Anflug eines Lächelns – zweifellos weil eine heruntergerutschte Strumpfhose und eine klaffende Bluse mit rosa Punkten nicht gerade die ideale Ausgangslage für Sarkasmus sind.
»Holland, bei Ihnen besteht der Verdacht auf eine Fraktur des Unterarms.« Gonzales steigt zu uns in den Krankenwagen und richtet einen Gurt an meiner Schlinge. »Möglicherweise haben Sie auch eine Gehirnerschütterung. Das Wichtigste ist jetzt erst mal, dass wir sie ins Krankenhaus bringen. Das nächstgelegene ist Mount Sinai West. Gibt es jemanden, der Sie dort treffen könnte?«
»Ja.« Ich muss unbedingt meine beiden Onkel Robert und Jeff anrufen. Ich schaue zu Gonzales hoch und erinnere mich daran, wie ich in einem Augenblick noch mein Telefon in der Hand hatte und im nächsten auf die Schienen gestoßen wurde.
»Haben Sie zufällig mein Handy gefunden?«
Gonzales verzieht das Gesicht und schielt zu seiner Kollegin hinüber, die mir zum ersten Mal ein entschuldigendes Lächeln schenkt. »Ich hoffe, Sie wissen die Nummer auswendig.« Sie hält einen durchsichtigen Plastikbeutel hoch, der die kläglichen Überreste meines heiß geliebten Handys enthält.
Sobald mein Kopf untersucht und mein rechter Arm eingegipst sind (keine Gehirnerschütterung; Fraktur der Elle), erstatte ich vom Krankenbett aus Anzeige gegen unbekannt. Erst im Gespräch mit den zwei extrem Respekt einflößenden Polizisten wird mir bewusst, dass ich zu dem Mann, der mich auf dem Bahnsteig angegriffen hat, kein einziges Mal Blickkontakt aufgenommen habe. Ich kann also sein Gesicht kaum beschreiben – ganz im Gegensatz zu seinem Geruch.
Die beiden Uniformierten wechseln einen Blick, ehe mich der Größere von beiden fragt: »Der Kerl war Ihnen nahe genug, um Sie am Mantel zu packen, Sie zu beschimpfen und auf die Gleise zu stoßen, und Sie haben sein Gesicht nicht gesehen?«
Am liebsten würde ich zurückbrüllen: Offenbar waren Sie noch nie eine Frau, die vor einem Freak wegläuft! Stattdessen lasse ich sie einfach weiterreden. Die Tatsache, dass ich meinen Angreifer nicht beschreiben kann, schwächt die Glaubwürdigkeit meiner Behauptung, keine Selbstmörderin zu sein, erheblich, das lese ich in ihren Mienen. Angesichts der bereits durchlebten Peinlichkeiten beschließe ich, dass es nur noch seltsamer wirken würde, wenn ich ihnen offenbare, dass ich den Namen des Straßenmusikers kenne und dieser trotzdem nicht dageblieben ist, um mir zu helfen. Also lasse ich Calvin unerwähnt, und die beiden notieren sich meine vagen Angaben zum Tathergang mit einem Minimum an Diensteifer.
Nachdem sie weg sind, lasse ich mich in die Kissen sinken und starre an die kahle graue Zimmerdecke. Was für eine irre Nacht. Ich hebe meinen gesunden Arm und schaue durch zusammengekniffene Augen auf meine Uhr.
Falsch: Was für ein irrer Morgen.
Heilige Scheiße, es ist schon kurz vor drei. Wie lange hat das Ganze gedauert? Durch das dumpfe Pochen in meinem Schädel, gegen das auch die Schmerzmittel nicht ankommen, sehe ich immer wieder, wie Calvin vom Bordstein aufsteht und geht. Es bedeutet doch etwas, dass er gewartet hat, bis ich wieder zu mir kam, oder? Aber wenn er tatsächlich der anonyme Anrufer war – und davon gehe ich aus, denn wir wissen ja alle, dass der Zombie kein Telefon dabeihatte –, warum hat er der Polizei dann nicht gesagt, dass jemand mich geschubst hat? Wieso hat er geleugnet, Zeuge des Vorfalls gewesen zu sein?
Draußen im Gang höre ich das Knallen lederner Absätze auf Linoleum. Ich setze mich auf. Ich weiß, was gleich kommt.
Robert stürzt durch den Vorhang, gefolgt von Jeff, der sich dabei deutlich eleganter anstellt.
»Was. Zur. Hööööölle.« Robert dehnt das letzte Wort zu ungefähr siebzehn Silben, nimmt mein Gesicht in beide Hände und mustert mich aufmerksam. »Ist dir eigentlich bewusst, was für Sorgen ich mir gemacht habe?«
»Sorry.« Ich schneide eine Grimasse und spüre, wie mein Kinn anfängt zu beben. Zum ersten Mal in dieser Nacht. »Mein Handy wurde mir aus der Hand geschlagen.«
Als ich die Angst in den Gesichtern der beiden sehe, setzt auch bei mir der Schock ein, und ich beginne am ganzen Leib zu zittern. Gefühle steigen in mir hoch und brechen sich in Form einer salzigen Flutwelle Bahn.
Robert beugt sich zu mir herab und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Auch Jeff tritt näher und legt mir sanft eine Hand aufs Knie.
Obwohl wir nicht blutsverwandt sind, kenne ich Onkel Robert schon mein ganzes Leben. Er und Jeff, der jüngere Bruder meiner Mutter, sind sich mehrere Jahre vor meiner Geburt begegnet.
Onkel Jeff ist der Zurückhaltendere der beiden. Man merkt eben, dass er aus dem Mittleren Westen kommt. Er ist besonnen und rational und arbeitet, wie Sie vielleicht schon erraten haben, im Finanzwesen. Robert dagegen ist von Kopf bis Fuß Bewegung und Musik. Er wurde in Ghana geboren und ist mit achtzehn in die USA gekommen, um am Curtis Institute of Music in Philadelphia zu studieren. Jeff hat mir erzählt, dass Robert nach dem Studium zehn verschiedene Stellenangebote hatte, sich aber für den Posten des Konzertmeisters der Des Moines Symphony entschied – der jüngste Konzertmeister, den das Orchester je gehabt hatte. Denn während er zum Vorstellungsgespräch in der Stadt gewesen war, hatte er Jeff kennengelernt, und die beiden hatten sich auf den ersten Blick unsterblich ineinander verliebt.
Als ich sechzehn war, zogen meine Onkel von Des Moines nach Manhattan um. Zu dem Zeitpunkt war Robert Chefdirigent der Des Moines Symphony, und diesen Posten aufzugeben und als musikalischer Leiter eines Off-Broadway-Theaters ganz neu anzufangen, bedeutete – auch finanziell – einen beruflichen Abstieg. Doch Roberts Herz schlägt nun mal für das Musiktheater, und noch wichtiger war für die beiden vielleicht die Überlegung, dass zwei Männer es als Ehepaar in New York um einiges leichter haben als in Iowa. In New York fühlten sich die beiden sofort heimisch, und vor zwei Jahren hat sich Robert schließlich hingesetzt und It Possessed Him komponiert – ein Musical, das schnell zur populärsten Produktion am Broadway aufstieg.
Weil ich nicht dauerhaft von ihnen getrennt sein wollte, zog ich irgendwann hinterher und schloss an der Columbia University meinen Master in Kreativem Schreiben ab. Seitdem hänge ich irgendwie in der Luft. Als angehende junge Autorin in New York kam ich mir vor wie ein mittelprächtiger Guppy in einem riesengroßen Schwarm voller schillernder Fische: Ohne den Hauch einer Idee für den nächsten großen amerikanischen Roman oder eine Begabung für Journalismus war ich auf dem Arbeitsmarkt praktisch nicht vermittelbar.
Irgendwann hat Robert, mein Retter in der Not, mir einen Job in seinem Theater besorgt. Meine offizielle Stellenbeschreibung lautet »Bühnenfotografin« – zugegeben eine etwas seltsame Arbeit für eine Fünfundzwanzigjährige mit null Erfahrung am Broadway. In Anbetracht der Tatsache, dass es bereits eine Million Fotos von der Produktion gibt, bin ich mir schmerzhaft bewusst, dass mein Job einzig und allein als Gefälligkeit für meinen Onkel geschaffen wurde. Ein- oder zweimal die Woche mache ich die Runde und knipse wahllos Bilder von Kulissen, Kostümen und dem Treiben hinter der Bühne, damit die Presseagentur genügend Bildmaterial für die sozialen Netzwerke hat. Vier Abende die Woche arbeite ich darüber hinaus am Einlass und verkaufe It Possessed Him-T-Shirts.
Leider kann ich mir nicht vorstellen, wie ich einarmig den Zuschauerandrang beim Ticketabreißen bewältigen oder meine riesige Kamera halten soll. Das löst weitere Schuldgefühle in mir aus.
Ich bin wirklich zu nichts zu gebrauchen.
Ich ziehe eins der Kissen unter meinem Kopf hervor und schreie ein paarmal hinein.
»Was ist denn los, Butterblume?« Robert nimmt mir das Kissen weg. »Brauchst du mehr Schmerzmittel?«
»Ich brauche ein Ziel im Leben.«
Er tut meine Klage mit einem Lachen ab, bückt sich und gibt mir noch einen Kuss auf die Stirn. Jeff greift in stiller Anteilnahme sanft nach meiner Hand. Jeff – der herzensgute, sensible Zahlenakrobat Jeff – hat im letzten Jahr seine Leidenschaft fürs Töpfern entdeckt. Er hat jetzt wenigstens die Keramik, die ihm seine tristen Arbeitstage an der Wall Street versüßt. Ich habe nur meine Liebe zu Büchern, die von anderen Leuten geschrieben wurden, und an ein paar Tagen in der Woche die Vorfreude auf meine Begegnungen mit Calvin am U-Bahnhof Fiftieth Street.
Wobei ich nach der Nummer heute Nacht nicht weiß, ob meine Gefühle für ihn vielleicht erloschen sind. Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werde ich wohl nicht mehr geneigt sein, vor Sehnsucht dahinzuschmelzen. Wahrscheinlich werde ich ihn eher fragen, wieso er untätig herumgesessen hat, während mich ein Kerl vor den Zug stößt. Jedenfalls vor einen hypothetischen Zug.
Vielleicht gehe ich auch, während mein Bruch verheilt, zurück nach Des Moines und nehme mir eine Auszeit, um darüber nachzudenken, was ich mit meinem Studienabschluss anfangen will. Bei den freien Künsten gilt in der Regel folgende Gleichung: ein nutzloses Studium plus noch ein nutzloses Studium gleich null Jobchancen.
Ich blicke zu meinen Onkeln auf. »Habt ihr Mom und Dad angerufen?«
Jeff nickt. »Sie wollten wissen, ob sie herkommen sollen.«
Trotz meiner düsteren Stimmung muss ich lachen. Bestimmt hat Jeff ihnen gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, noch bevor er über das Ausmaß meiner Verletzungen Bescheid wusste.
Meinen Eltern ist das Gewimmel von New York dermaßen verhasst, dass es für alle Beteiligten besser wäre, wenn sie in Iowa blieben, selbst wenn ich in zwei Hälften zerbrochen im Streckverband läge. Auf alle Fälle würde es mir eine Menge Stress ersparen.
Jeff setzt sich neben mich aufs Bett und schaut zu Robert hoch. Mir fällt auf, dass er sich mit der Zunge über die Lippen fährt. Das macht er immer, wenn er im Begriff ist, eine schwierige Frage zu stellen. Ich frage mich, ob ihm das bewusst ist. »Also, was ist denn nun genau passiert, Hollsy?«
»Du meinst, wie ich auf den Schienen der C-Linie gelandet bin?«
Robert sieht mich wissend an. »Genau. Da ich mir ziemlich sicher bin, dass der kleine Vortrag über den Umgang mit Selbstmordgefährdeten, den wir uns draußen im Wartebereich anhören mussten, überflüssig war, kannst du uns vielleicht erzählen, wie es zu dem Unfall gekommen ist.«
»So ein Typ ist auf mich losgegangen. Er wollte mir mein Handy wegnehmen, und als ich zu nah an die Bahnsteigkante gekommen bin, hat er mich aufs Gleis gestoßen.«
Robert fällt die Kinnlade herunter. »Das war es, was ich gehört habe, als du angerufen hast?«
Jeff steigt die Röte ins Gesicht. »Hast du eine –«
»Anzeige aufgegeben? Ja«, teile ich ihm mit. »Aber er hatte eine Kapuzenjacke an, und du weißt ja, dass es Verrückte nur ermutigt, wenn man Blickkontakt zu ihnen aufnimmt, also konnte ich der Polizei nicht viel mehr sagen, als dass es ein Weißer war, wahrscheinlich Mitte dreißig, bärtig und besoffen.«
Jeff lacht trocken. »Klingt wie ein ganz normaler Freitagabend in Brooklyn.«
Ich richte meinen Blick auf Robert. »Die Bahn war gerade abgefahren, deshalb gab es keine weiteren Augenzeugen.«
»Nicht mal Jack?« Beide Onkel wissen von meiner U-Bahn-Schwärmerei.
Ich schüttle den Kopf. »Er heißt Calvin.« In Antwort auf die Frage, die sich zweifellos gerade in ihren Köpfen formt, sage ich: »Ich hatte zwei Cocktails intus und habe ihn nach seinem Namen gefragt.«
Robert grinst. »Hast dir Mut angetrunken.«
»Eher Dummheit.«
Seine Augen werden schmal. »Und du willst mir sagen, dass dieser Calvin nichts gesehen hat?«
»Das hat er zumindest den Sanitätern gegenüber behauptet. Aber ich glaube, er war derjenige, der den Krankenwagen gerufen hat.«
Robert legt mir einen Arm um die Schultern und hilft mir dabei, mich aufzusetzen. »Also, du bist offiziell entlassen und darfst nach Hause.« Er küsst mich auf die Schläfe, und dann sagt er die sieben wundervollen Worte: »Du kommst heute Abend mit zu uns.«