JOHN D. MACDONALD
Die leuchtenden Finger
Apex Crime, Band 16
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE LEUCHTENDEN FINGER
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Der gewaltsame Tod ihrer Tante scheint Melody nicht viel Kummer zu bereiten: Sie amüsiert sich und flirtet ausgelassen am herrlichen Strand von Florence City – für eine Alleinerbin ein verständliches, aber keineswegs unverdächtiges Verhalten. Cliff – ein ehemaliger Polizist – hält es dennoch für ausgemachten Unsinn, Melody den Mord an ihrer Tante anzuhängen, denn der Mörder hat den gesamten Schmuck mitgenommen, und warum sollte Melody etwas stehlen, das sie ohnehin erben wird? Aber das reizende Mädchen sorgt dafür, dass die Verwirrung immer größer wird: Denn die erste heiße Spur von dem verschwundenen Millionenschmuck ist ein kostbarer Rubin-Ring. Und man findet ihn – ausgerechnet unter Melodys Bett...
Der Thriller Die leuchtenden Finger von John D. MacDonald – erstmals im Jahr 1950 veröffentlicht – gilt als einer der ganz großen Krimi-Klassiker des Autors der Travis-McGee-Romane.
Es war ein sonniger Morgen im Februar, als die Tat entdeckt wurde. Passiert war sie schon in der Nacht vorher.
Um sieben Uhr morgens schloss Frances Audrey, ein Negermädchen, die Tür zu dem Appartement im ersten Stock auf, das an Elizabeth Stegman aus Boston, Massachusetts, vermietet war. Das Gebäude hieß Tide Winds und lag an der North Florence Beach, etwas außerhalb von Florence City, Florida.
Alles war wie immer. Frances schielte durch die offene Tür von Miss Stegmans Schlafzimmer, um zu sehen, ob sie schon wach sei. Aber dann tat sie etwas, was sie noch nie getan hatte: Sie schrie gellend...
Ich wachte um zehn Uhr auf und verließ das Haus um zehn Uhr zwanzig. Unterwegs frühstückte ich in einem Café und ging die kurze Strecke ins Büro zu Fuß.
Es befand sich im dritten Stock eines Geschäftsgebäudes, nur sechs Block von meiner Wohnung entfernt. An der Tür war ein Schild mit folgender Aufschrift befestigt:
Condor-Versicherung - Bezirksdirektion A. Myers.
Dahinter lag ein Raum mit dem Schreibtisch von Wilma Booton, einer dürren, bleichsüchtigen Person, die hier Empfangsdame spielte und den Telefondienst versah. Rechts, dem Eingang gegenüber, lag das Büro des Bezirksdirektors, links mein kleines, viel schlichter eingerichtetes Büro. An der Tür stand:
Clifford C. Bartells - Schadenersatz.
Im Zimmer neben mir saß Andrew Hope Maybree, der Bezirksvertreter. Wilma Booton sah mich vorwurfsvoll an.
»Sie sind heute spät dran.«
Ich legte beide Hände flach auf ihren Schreibtisch und beugte mich nach vorn.
»Um drei Uhr morgens, liebe Wilma, war ich noch damit beschäftigt, die Unterschrift eines Mannes einzuholen, der sich zwangsweise dazu entschlossen hat, auf seine Ansprüche zu verzichten.«
Myers, ein aufgedunsener, blasser Sitzriese, erschien in der Tür seines Büros.
»Kommen Sie gleich zu mir herein, Cliff«, sagte er.
Ich warf einen schnellen Blick auf Kathy. Der Blick ihrer großen Augen war unruhig. Ich folgte Myers in das Büro und schloss die Tür hinter mir. Vor dem Fenster blieb er stehen, den Rücken mir zugewandt.
»Nehmen Sie Platz, Cliff.«
Ida setzte mich und zündete mir eine Zigarette an.
Er fuhr herum.
»Halten Sie sich fest«, sagte er ohne Einleitung. »Elizabeth Stegman ist tot.«
»Das ist bedauerlich. Und wer ist Elizabeth Stegman?«
Myers setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
»Wer Elizabeth Stegman ist? Verflucht, Cliff, wissen Sie denn gar nichts?«
»Ich weiß vieles, aber nicht, wer diese Stegman ist.«
»Verzeihen Sie, ich bin zu aufgeregt. Mir läuft der Schweiß den Rücken herunter. Sie wurde vergangene Nacht ermordet. Vielleicht auch erst am frühen Morgen. Das Dienstmädchen hat sie gefunden. Seitdem hänge ich am Telefon. Sie hatte ihren gesamten Schmuck mit nach Florida gebracht. Er ist weg. Alles!«
Der Rest war mir klar.
»Und sie war bei uns versichert, nehme ich an.«
»Ja. Für eine dreiviertel Million Dollar.«
Ich zog nachdenklich an meiner Zigarette. In diesem Augenblick klingelte das Telefon.
Während ich Amerika den Krieg gewinnen half und danach ein paar Jahre in Westdeutschland stationiert war, wuchs Florence City in die Dimensionen einer Großstadt. Als ich meine Arbeit bei der Polizei wieder aufnahm, musste ich feststellen, dass mit der Stadt auch die Anzahl der Verbrechen gewachsen war. Das sei unvermeidlich, behauptete man, und das sah ich auch ein.
Aber dann kam ich hinter ein paar Dinge, die mir nicht gefallen wollten.
Man müsse einer gewissen Organisation gegenüber großzügig sein, sagte man mir. Nur so könne man eine gewisse Ordnung halten. Damals roch ich zum ersten Mal den Gestank der Korruption. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich geglaubt, derlei Praktiken gehörten längst der Vergangenheit an.
Es war das alte Lied mit einer neuen Melodie.
An einem Januarmorgen tappte ich mitten hinein.
Ich sah den Halbwüchsigen, den sie wegen seines renitenten Verhaltens fast zu Tode geprügelt hatten, ohne eine Spur an seinem Körper zu hinterlassen. Er sah wie ein alter Mann aus und bewegte sich auch so.
Man nahm ihm ein Geständnis ab. Es handelte sich um ganze zehn Raubüberfälle. Ich sprach mit dem Jungen in der Zelle und stellte zu meiner Befriedigung fest, dass er mit keinem der Verbrechen etwas zu tun gehabt hatte. Als man ihn dennoch zu fünfzehn Jahren verurteilte, schaltete ich mich ein.
Ich sagte, was ich herausgefunden hatte, und drei Tage später war ich einfacher Streifenpolizist. Der einzige, der in Florence City zu Fuß ging.
Ich nahm natürlich meinen Abschied - wie man es von mir erwartet hatte - und arbeitete von da an für die Condor-Versicherung. Man war der Auffassung, dass ich als ehemaliger Polizeibeamter genau der richtige Mann für die Schadenersatzabteilung sei. Ich beschäftigte mich hauptsächlich damit, gestohlene Ware zurückzukaufen, wofür ich dann Provision bekam. Ein Rückkauf von Smaragden im Wert von vierzigtausend Dollar - ich bezahlte siebzehntausend dafür - brachte mir zum Beispiel dreitausend Dollar ein. Bei einem anderen Fall verdiente ich fünftausend, weil ich die gestohlene Ware, die mit siebenundsechzigtausend Dollar versichert war, billig wieder eingehandelt hatte.
Aber langsam fiel mir diese Arbeit auf die Nerven. Ich wünschte mir etwas Abwechslung im täglichen Einerlei.
Myers knallte den Hörer auf die Gabel und starrte mich geistesabwesend an.
»Wir müssen von der Annahme ausgehen«, sagte er schließlich, »dass sich die Täter noch in der Stadt befinden. Bartells, Sie müssen sich sofort an die Arbeit machen und versuchen, mit den Burschen ins Geschäft zu kommen. Der Schmuck darf nicht aus dem Land geschafft werden.«
»Sie tun so, als ob das ein Kinderspiel wäre.«
»Es ist nicht das erste Mal, dass Sie so etwas erledigen.«
»Sicher, aber bisher habe ich ohne die Aufsicht der Presse gearbeitet. Sehen Sie, dieser Mord hat unsere Situation etwas geändert. Im Gegensatz zu unseren bisherigen Fällen wird sich keiner auf einen Handel mit mir einlassen. Das Risiko ist zu groß. Die Polizei wird jeden Schritt, den ich mache, überwachen. Sie will den Mörder, und wir wollen den Schmuck. Falls es mir gelingen sollte, den Schmuck zurückzukaufen, würde man mich so lange in die Zange nehmen, bis ich aussage, von wem ich den Schmuck habe. Rede ich nicht, werde ich wegen Begünstigung verurteilt. Man wartet nur darauf, mir eins auszuwischen. Sie erinnern sich doch noch daran, was vor einigen Jahren passiert ist.«
»Na schön, dann reden Sie eben, wenn der Handel abgeschlossen ist.«
»Wenn ich das tue, komme ich für alle Zeiten mit keinem Hehler mehr ins Geschäft. Das wissen Sie so gut wie ich. Von diesem Moment an habe ich bei diesen Leuten ausgespielt. So etwas spricht sich schnell herum.«
»Aber bisher ist doch alles glatt gegangen, Cliff.«
»Ja, ohne Mord. Lassen Sie mich bei dieser Sache aus dem Spiel, Arthur.«
»Das können Sie mir nicht antun«, jammerte er.
»Ich möchte nichts damit zu tun haben.«
Er fuhr sich über die Stirn. »Cliff, ich werde jetzt einige Anrufe erledigen. Wir sprechen später noch einmal darüber.«
Ich ging zurück in mein Büro. Kurz darauf kam Andrew Hope Maybree herein. Er war ein großer Mann mit kastanienbraunem Haar, einer immer spiegelblank geputzten Brille, großen gelben Zähnen und der fixen Idee, dass man selbst in der höllischen Sommerhitze eine Krawatte zu tragen habe.
»Wieder ein großer Fall, Cliff?«, fragte er.
»Raubmord«, antwortete ich. »Nichts Außergewöhnliches.«
»Wird die Polizei den Täter fassen?«
»Das kommt darauf an. Wenn es sich um einen Amateur handelt, schon. Wenn es ein Profi war, wahrscheinlich nicht.«
»Und war es ein Profi?«
»Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn ich weiß, wie die Frau umgekommen ist.«
Kathy kam herein. »Du sollst zum Chef kommen.«
Wieder nahm ich an seinem Schreibtisch Platz.
»Ich habe«, begann Myers stockend, »der Zentrale Ihre Einstellung mitgeteilt, Cliff. Wir sind zu einem Entschluss gekommen. Unglücklicherweise sind die einzelnen Schmuckstücke schwer erkennbar und dadurch leicht zu verkaufen. Wir können Sie natürlich nicht dazu zwingen, sich mit den Tätern einzulassen. Sie haben das Recht, den Auftrag abzulehnen. Die Zentrale ist jedoch bereit, eine große Summe für den Rückkauf zu bieten. Man hat sich für dreihunderttausend Dollar entschieden. Wenn Sie den Schmuck wieder beschaffen können, bekommen Sie eine Provision von dreißigtausend Dollar.«
»Ich verlange fünfzigtausend«, sagte ich.
»Sind Sie wahnsinnig?«, rief Myers entsetzt, und sein Blick flackerte.
»Entweder fünfzigtausend oder die Gesellschaft hat einen Verlust von siebenhundertfünfzigtausend Dollar. Offensichtlich ist der Schmuck mehr wert...«
»Gut«, sagte Myers. »In Gottes Namen vierzigtausend.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Fünfundvierzigtausend?«
Ich lächelte ihn an.
»Fünfzigtausend!«, rief er. »Fünfzigtausend Dollar!«
»Zahlbar in fünf Jahresraten von je zehntausend Dollar«, sagte ich. »Und ich möchte es schriftlich. Sie unterzeichnen, und Kathy unterzeichnet als Zeugin.«
»In Gottes Namen«, sagte er und lehnte sich zurück. Sein Schreibtischstuhl knarrte.
Fünfzehn Minuten später kam Kathy in mein Büro. Sie legte mir die schriftliche Abmachung vor.
»Lies es durch«, sagte sie. »Ist alles in Ordnung?«
Sie stand neben mir. Ich roch ihr Parfüm und spürte ihren Atem in meinem Nacken. Kathy war ein schlankes dunkelhaariges Mädchen mit einer sportlichen, sehr guten Figur. Andrew Hope Maybree und ich gingen abwechselnd mit ihr aus. Wenn man sie Tag für Tag im Büro sah, ergab sich das von selbst.
Ich wusste, dass Andrew dieselbe Erfahrung mit ihr gemacht hatte wie ich. Der erste Schritt war nicht schwer. Mit etwas Geschicklichkeit schaffte man auch noch den zweiten. Aber wie sehr man sich auch anstrengte, man erreichte das Ziel nicht. Kathy war sexy, jung und immer sehr elegant angezogen, aber sie war nicht zu überreden.
Der Grund dafür war einfach: Kathy wollte heiraten. Beim Anblick von Babys bekam sie sanfte Augen, und nichts interessierte sie mehr als Möbelgeschäfte.
»Du hast keine Hemmungen, was?«, fragte sie.
»In dem Fall bestimmt nicht«, antwortete ich.
Als das Schriftstück von Myers und Kathy unterschrieben war, verließ ich das Büro.
Florence City reagierte auf die heiße Februarsonne mit einem breiten geldgierigen Lächeln. Die Wagen von schätzungsweise siebzigtausend Touristen schoben sich durch die verstopften Straßen. Aufgetakelte Mädchen, ältliche Männer mit roten Gesichtern, jede Menge Straßenkreuzer. Man sah sofort, wer Tourist und wer Einheimischer war. Im Blick der Einheimischen lag ein Anflug von Resignation, im Blick der Touristen hektische Vergnügungssucht.
Ich ging zurück und holte meinen Wagen. Vor einem Schaufenster blieb ich stehen und betrachtete mein Spiegelbild: breite Schultern, undurchdringliche Augen mit schweren Lidern, dunkles Haar, das sich an den Schläfen bereits lichtete, einen finsteren, fast verdrießlichen Zug um den Mund, Fäuste wie Stahl, unerfüllte Träume und zum Teil sehr trübe Vorahnungen.
Sergeant Banson wohnte mit seinen beiden Kindern und seiner Schwester in einem kleinen Fertighaus in einer sumpfigen, von Moskitos verseuchten Gegend im Osten der Stadt.
Ich klopfte an der Küchentür, und die Schwester des Sergeanten begrüßte mich mit unverhohlener Feindseligkeit.
»Sie wissen ganz genau, dass Sie hier nicht gern gesehen sind«, sagte sie.
»Ich muss mit Harry sprechen.«
»Er schläft. Können Sie ihn nicht in Ruhe lassen?«
»Es ist dringend.«
»Ich wecke ihn nicht.«
»Dann tue ich es eben selbst«, sagte ich und drängte mich an ihr vorbei.
Harry lag im vorderen Schlafzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen. Meine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Er lag in der Unterhose auf dem Bett und erstickte fast an seinem Schnarchen. Er war ein großer drahtiger Mann. Seine .38er Polizeipistole lag auf dem Nachttisch.
Ich zündete mir eine Zigarette an, setzte mich auf den Bettrand, packte ihn am Knie und schüttelte ihn.
»Harry, wach auf!«
Er brummte, fuhr plötzlich in die Höhe und griff nach der Waffe.
»Was... Ach, du!«, sagte er und gähnte. Ich zündete eine zweite Zigarette an und gab sie ihm. Seine Miene wurde abweisend. »Verflucht noch mal, Cliff, was willst denn du schon wieder?«
»Mach keinen Aufstand, Harry«, sagte ich. »Ich habe meinen Wagen an der Hauptverkehrsstraße stehen lassen und bin den Rest zu Fuß gegangen.«
»Kannst du mich nicht in Ruhe lassen, Cliff?«, sagte er. »Du weißt ganz genau, dass ich Scherereien bekomme, wenn der Chef erfährt, dass du hier warst.«
»Wenn du es ihm nicht erzählst, wird er es nicht erfahren. Außerdem bist du nicht im Dienst. Du wirst doch noch mit einem Freund sprechen dürfen.«
»Von dieser Freundschaft bekomme ich nur Ärger.«
»Ich bearbeite die Stegman-Affäre.«
»Auch das noch!«
»Ich brauche ein paar Informationen, Harry.«
»Bartells, ich glaube, du hast den Verstand verloren. Sie warten doch nur darauf, dass du dir die Finger verbrennst. Der Chef macht dich zur Schnecke.« Er hustete. »Meiner Meinung nach hast du nicht die geringste Chance, den Schmuck zurückzukaufen. Wenn man auf dem Polizeipräsidium Wind davon bekommt, wirst du unter irgendeinem Vorwand verhaftet.«
»Wie ist das passiert, Harry?«
»Kauf dir die Abendausgabe der Zeitung. Da steht es bestimmt drin.«
»Stell dich nicht so an.«
»Ach, geh zum Teufel!«
Ich deutete auf die Fotografie von Angela und den beiden Kindern, die in einem Plastikrahmen auf dem Nachttisch stand.
»Wie geht es Angela?«, fragte ich.
Kurz bevor ich eingezogen wurde, verhaftete Harry Banson - er war damals noch nicht verheiratet - in einem Armenviertel einen Verbrecher. Der Mann hatte eine Cousine namens Angela, ein dickliches freundliches sechzehnjähriges Mädchen. Harry kümmerte sich gleich um beide. Er brachte den Verbrecher hinter Gitter und heiratete Angela. Innerhalb von drei Jahren brachte sie drei Kinder zur Welt. Eines starb. Sie wurde lungenkrank, und es ging immer mehr bergab mit ihr. Ich, als Leutnant, setzte Harry auf zwei Fälle an, für deren Aufklärung es eine hohe Prämie gab. Mit dem Geld schickte er Angela nach Denver in eine Lungenheilanstalt.
»Es geht ihr viel besser«, sagte er.
Ich stand auf. »Du musst zugeben«, sagte ich, »dass ich dich bisher noch nie darauf angesprochen habe. Wenn du nicht reden willst, dann lass es bleiben.«
Er beugte sich über die Bettkante und drückte die Zigarette auf dem Fußboden aus.
»Komm, setz dich wieder hin«, sagte er. »An deiner Stelle würde ich mich raushalten. Aber du musst ja wissen, was du tust. Wenn sie den Täter nicht bald finden, verhaften sie irgendeinen Verdächtigen und erzwingen ein Geständnis.«
Ich setzte mich wieder auf das Bett.
»Heute Morgen um fünf nach sieben kam der Anruf«, berichtete Harry. »Sie heißt Elizabeth Stegman und war neunundfünfzig Jahre alt. Sie kam Anfang Januar mit einem großen neuen Buick, einem Dienstmädchen und einem Chauffeur aus Boston. Das Dienstmädchen und der Chauffeur sind verheiratet und in den Belle-Ann Courts untergebracht. Sie selbst hat für neunhundert Dollar pro Monat im Tide Winds gewohnt. Das Appartement besteht aus einem großen Schlafzimmer, einer Terrasse und einem Wohnzimmer, das auf die Bucht hinausgeht. Und der Küche natürlich.
Der Chauffeur hat einen Waffenschein, weil diese Elizabeth Stegman - eine alte Jungfer übrigens - ihren Schmuck immer mit sich herumgetragen hat. Er lag erst im Safe der Florence-City-Bank. Dann hat der Hausbesitzer auf ihre Kosten im Schlafzimmer des Appartements einen Safe einbauen lassen. Es war jeden Tag dasselbe, haben der Chauffeur und das Dienstmädchen ausgesagt. Sie heißen Franklin. Horace und Letty Franklin. Das Appartement wurde von einem Negermädchen namens Frances Audrey sauber gehalten. Alle Räume, außer dem Schlafzimmer. Sie kam jeden Morgen um sieben. Gegen neun trafen Horace und Letty ein. Horace weckte die Alte. Dann machte er das Frühstück, während Letty ihr beim Anziehen half. Horace servierte das Frühstück auf der Terrasse, und Letty brachte in der Zwischenzeit das Schlafzimmer in Ordnung. Jeden Morgen das gleiche.
Aber heute Morgen stellte Frances fest, dass die Schlafzimmertür offenstand. Die Wohnungstür war wie immer verschlossen, Frances hatte einen eigenen Schlüssel. Frances warf einen Blick durch die Tür. Die Alte lag im Schlafzimmer mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Direkt unter dem Safe. Die Safetür war geöffnet, und das Bild, das sonst immer darüber hing, lag auf dem Bett. Die Polizei nimmt an, dass man sie gezwungen hat, den Safe zu öffnen, und ihr im selben Augenblick mit einem Knüppel auf den Hinterkopf geschlagen hat. Und zwar mit einer solchen Wucht, dass der Schädel gebrochen ist und Splitter ins Hirn eingedrungen sind.
Wir waren zehn Minuten später an Ort und Stelle. Niemand hatte etwas gehört. Jede Wohnung hat ihren Privataufgang. Man kann also ungesehen hinaufkommen. Der Arzt stellte fest, dass der Tod zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens eingetreten ist. Die Fingerabdrücke an der Safetür stammen von der Alten. Die Tür ist nicht gewaltsam geöffnet worden. Wir fanden keine anderen Fingerabdrücke. Alles in allem die Arbeit eines Profis, wenn man davon absieht, dass die Alte dabei auf der Strecke geblieben ist.«
»Was hat man bisher unternommen?«
»Die Franklins sind lange verhört worden, aber es sieht so aus, als ob sie mit dem Verbrechen nichts zu tun haben. Die Belle-Ann Courts liegen drei Häuserblocks vom Bomb Rum, dieser Bierkneipe am Bay Drive, entfernt. Horace und Letty sind begeisterte Kartenspieler. Gestern Abend fand ein Turnier statt. Die Franklins haben den Bomb Rum um Viertel nach zwei verlassen und waren den ganzen Abend da. Sie sind übrigens Zweite geworden. Ich habe nur noch gehört, wie Letty Franklin dem Chef erzählt hat, dass Miss Stegman eine Nichte hat - die einzige nahe Verwandte, die übrigens alles erbt. Diese Nichte ist seit zwei Wochen in Florence City. Sie wohnt im Coral Strand. Ich war völlig fertig, mein Dienst war zu Ende und ich ging gerade, als der Chef Buzz wegschickte, um diese Nichte zu holen.«
»Weißt du, wie sie heißt?
»Ja, Melody Chance«, sagte Harry, »So, Cliff, und jetzt lass mich weiterschlafen. Ich bin todmüde.«
Ich stand auf und ging zur Tür. Harry vergrub beide Hände unter dem Kopf.
»Pass auf dich auf, Cliff«, rief er mir nach.
Seine Schwester bedachte mich mit keinem Blick. Ich warf die Tür hinter mir zu und ging zu meinem Wagen zurück.
Langsam quälte ich mich durch den Verkehr. Das Haus, in dem ich wohnte, war nur zwei Häuserblocks vom Bahnhof entfernt. Mein Appartement lag über einer Autoreparaturwerkstatt. Ich hatte einen eigenen Parkplatz hinter der Werkstatt. Eine Treppe, die an der Außenseite des Hauses hinaufführt, endete direkt an meiner Tür. Die Treppe innerhalb des Hauses benützte ich selten.
Ich legte mich aufs Sofa, stellte mir das Telefon auf die Brust und wählte die Nummer des Kit-Kat. Vor vier Jahren gab es noch kein Kit-Kat. Nicht einmal das Land, auf dem das Gebäude stand, war da. Man hatte es aufgeschüttet und ein großes L-förmiges Gebäude mit Swimming-Pool darauf errichtet. Der kürzere Flügel enthielt Tony Raverys Büroräume, außerdem Appartements und die größte zugelassene Spielhölle in einem Umkreis von hundertfünfzig Kilometern. In dem längeren Flügel befanden sich Bars, Restaurants, Beatlokale, Boutiquen und ähnliches.
»Kit-Kat«, antwortete mir eine freundliche Stimme. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ist Tony schon im Büro?«
»Einen Moment, Sir. Ich werde mich erkundigen. Wen darf ich melden?«
»Sagen Sie ihm, dass ihn die lächerliche Figur sprechen will.«
Ich grinste in mich hinein, als ich wieder daran dachte. Es war einen Monat, nachdem ich in die Staaten zurückgekehrt und wieder bei der Polizei gelandet war. Chefinspektor Powy hatte mich zu Tony beordert. Ich werde Tonys Grinsen und meine Wut nie vergessen.
»Bartells«, hatte mich Tony begrüßt, »in den letzten Jahren, seit es hier aufwärts geht, hat sich vieles geändert. Ich will dir reinen Wein einschenken. In dieser Tasche habe ich den Chef der Kripo und in der anderen den Polizeipräsidenten. Das Syndikat wünscht, dass in dieser Stadt Ordnung herrscht. Du musst dich erst an die neuen Zustände gewöhnen. Deshalb möchte ich dir einen Rat geben: Mach keine lächerliche Figur aus dir. Wenn du uns Schwierigkeiten machst, wird es dir schlecht gehen. Du sollst deinen Dienst bei der Polizei erledigen, aber es bestehen gewisse Abmachungen, die eingehalten werden müssen. Verstanden?«
Ein Klicken am anderen Ende der Leitung. »Ich verbinde Sie mit Mr. Lavery«, sagte die Telefonistin. »Einen Moment, bitte.«
»Was verschafft mir die Ehre, Bartells?«, fragte Tony. »Soll ich raten? Nur du kannst so dumm sein. Wenn es sich um das handelt, was ich vermute, dann komm auf dem schnellsten Weg her!«
»Du hast richtig geraten«, sagte ich und legte auf.
Der Cocktailbetrieb war bereits in vollem Gange. Auf dem Parkplatz standen ungefähr sechzig Wagen. Am Swimming-Pool wimmelte es. Alles trank und lachte.
Vor Tonys Büro stieß ich auf die Kreshak-Zwillinge. Es waren Naturburschen. Den ganzen Tag hindurch liefen sie in engen schillernden Badehosen herum und trugen ihre Muskeln zur Schau. Und am Abend tauchten sie in weißen Dinnerjackets auf und betätigten sich als Rausschmeißer. Sie verstanden ihr Geschäft. Ein grölender Betrunkener wurde schnell nüchtern, wenn die Zwillinge von zwei Seiten auftauchten, ihn an den Armen packten und wegführten.
Ich konnte die beiden nie auseinanderhalten.
»Riecht's hier nicht nach Polizei?«, fragte der eine.
»Nur ganz schwach«, sagte der andere.
»Sie sind doch hoffentlich nicht kitzlig?«, sagte der erste und tastete mich schnell ab.
Ich betrat Tonys Büro. Er beugte sich über einen Spiegel, der auf seinem Schreibtisch lag, und riss sich mit einer Pinzette Barthaare aus.
»Mach dir einen Drink«, begrüßte er mich. »Für mich einen Bourbon mit Wasser. Ohne Eis.«
Tony legte den Spiegel und die Pinzette in die oberste Schublade seines Schreibtisches, als ich ihm den Drink brachte. Ich setzte mich mit meinem Whisky-Soda ans Fenster.
»Ich habe dich nie für dumm gehalten«, sagte Tony. »Aber jetzt bekomme ich allmählich Zweifel.«
»Man kann es doch versuchen, oder?«
»Angenommen, ich würde erfahren, dass es einer von unseren Jungs war. Nur angenommen. Ich würde ihn so lange bearbeiten, bis ich den Schmuck und ein Geständnis hätte. Und dann würde ich beides auf schnellstem Weg der Polizei übergeben. Jetzt siehst du vielleicht, wie sehr mir diese Angelegenheit gefällt. Gut, ich habe dir schon öfter einen Kontakt vermittelt. Aber diesmal liegen die Dinge anders. Es ist zu gefährlich.«
»Und wie steht's mit Gerüchten?«
»Wer einen großen Coup landet, gibt sich nicht mit Helfershelfern ab. Er operiert allein, hat höchstens einen Komplicen, zieht sich gut an und führt ein anständiges, einfaches Leben. Mit kleinen Fischen hat er nichts zu tun. Bei der Menge von Touristen, die sich während der Saison in Florence City herumtreibt, kann es durchaus ein Fremder gewesen sein. Ich habe keine Ahnung.«
»Und falls du mir doch noch einen Kontakt vermitteln könntest?«
»Diesmal nicht, Bartells. Wenn ich etwas hören würde, ginge ich auf dem schnellsten Weg zur Polizei.« Er zog eine Nagelfeile aus der Tasche und beschäftigte sich mit seinem linken Daumen.
»Trotzdem will ich es versuchen«, sagte ich. »Falls du etwas hörst, ich biete dreihunderttausend Dollar.«