Eine steinige Piste führte schräg den Hügel hoch, gesäumt von Feigenkakteen und staubigen Büschen. Eine Brise trug den Duft von Algen und Erde hinauf bis zum Kamm. Das Rauschen des Meeres verzog sich mit jedem Schritt in die Ferne. Tiefe Stille legte sich darüber, bis auf eine Biene, eine Fliege oder das Zwitschern von Spitzhaubenvögeln, die zwischen dem kargen Grün umher tippelten. Oben bot sich eine atemberaubende Aussicht: hinter mir die Sahara, vor mir der Atlantik, und zu Füßen Sidi Ifni. Aus den weißen Wänden stachen blaue Türen, blaue Fensterläden, blaue Borde, überdacht von sandfarbenen Terrassen. Da und dort ragte ein Minarett heraus. Von irgendwo krähte ein Hahn, schlug ein Hammer, schrie ein Kind, heulte ein Moped auf. Irgendwo da unten musste Nora sein. Bei meiner Abreise hatte ich kein konkretes Ziel vor Augen gehabt. Zeichen, Hinweise oder Menschen sollten mich führen. Ich hatte Nora auf der Überfahrt von Barcelona nach Tanger kennen gelernt, mit ihr ein paar Worte gewechselt. Sie war es gewesen, die mich auf Sidi Ifni aufmerksam gemacht hatte. Etwas Geheimnisvolles hatte da durchgeschimmert, und das betraf sowohl sie selbst als auch die kleine kompakte Stadt da unten. Aber das Gespräch war schon bald versandet. Es schien, als wollte sie alleine sein, als wäre sie mit einer Geschichte belastet, die sie mit niemandem teilen wollte. Bloß in ein paar knappen Sätzen hatte sie gewisse Dinge angedeutet. Beispielsweise dass sie mit einem Berber verheiratet sei. Offensichtlich stimmte da etwas nicht. Es hörte sich an, als würde sich eine Katastrophe anbahnen.
In den folgenden Tagen streifte ich durch die Gassen, saß stundenlang in den Cafés, beobachtete das quirlige Leben, studierte die fremden Gesichter und die bunten Kleider. Und stets hoffte ich, Nora würde auftauchen. Die Stadt war zu klein, um einem bekannten Gesicht nicht früher oder später über den Weg zu laufen, und so war es auch. Eines Morgens, als ich in die Patisserie gegenüber dem ausgedienten Cinema Avenida trat, erkannte ich sofort die burgunderrote Windjacke, darüber das schlanke Profil mit den hohen Backenknochen, die dünne Nase, die zimtfarbene Ponyfrisur. Sie stand an der Kasse und kramte in einem ledernen Geldbeutel nach Kleingeld. Ihre Miene war von Ärger und Überdruss gezeichnet. Ein großgewachsener, breitschultriger Berber in hellgrauem Anzug und schwarzem T-Shirt sah ihr ungeduldig auf die Finger. In seiner Hand baumelte eine mit Gebäck gefüllte Papiertüte. Beide Gesichter wirkten grimmig, als hätten sie sich heftig gestritten.
»Hallo Nora«, sagte ich. »Du erinnerst dich doch?« Sie sah mich überrascht an. »Die Überfahrt auf der Fantastic«, fügte ich hinzu. Sie wirkte überrumpelt, der Mann betrachtete mich skeptisch.
»Fantastic?«, wiederholte er und sah Nora an, als stünde etwas Schmutziges hinter dem Wort. Sein drahtiges Haar glich einer Schuhbürste. Der Haaransatz reichte bis an die buschigen Brauen, und der Bartwuchs klebte wie ein Pelz auf seinem kantigen Gesicht und verlieh ihm einen dunklen Schatten.
»Ah, hallo«, murmelte sie endlich und versuchte freundlich zu sein. In ihrem Gehirn arbeitete es verbissen, als suchte sie einen Notausgang. »Was schaust du mich so an?«, fuhr sie den Mann an, der sie missbilligend taxierte.
»Fantastic war der Name des Schiffes«, sagte ich zu ihm, um die Situation ein wenig zu entschärfen. »Wir waren auf demselben Schiff. Die Überfahrt von Barcelona nach Tanger.«
»Ihr wart zusammen auf dem Schiff?«, fragte er empört.
»Ishem, verdammt«, sagte sie, »es ist normal, dass man auf einer fünfundzwanzigstündigen Schifffahrt mit dem einen oder anderen Menschen spricht. Auf jeden Fall für eine europäische Frau.«
Wie Tage zuvor auf der Überfahrt wirkte sie erschöpft und nervlich angeschlagen. Ihre Haut war blutlos, trocken, beinahe durchsichtig.
»Gehen wir, ich bin hungrig!«, sagte er mürrisch und wandte sich dem Ausgang zu.
»Tschüss«, sagte ich, und Nora erwiderte es trocken und folgte ihm.
Von nun an erwartete ich jeden Moment, dass wir uns erneut über den Weg liefen. Es dauerte keine vierundzwanzig Stunden. Ich saß im Café unter den Pfefferbäumen bei einem Thé à la Menthe und betrachtete das Leben um mich herum. Mein Augenmerk folgte einem kleinen Mann in weißem Kittel, der einen Handwagen über die Straße stieß, überladen mit Eierkartons. Es waren wohl an die dreihundert Eier auf fünf Stockwerken. Als er den Wagen vorsichtig über den Randstein fuhr, kippte er zur Seite. Die oberen Eierschachteln rutschten weg und fielen zu Boden. Der Mann machte ein bestürztes Gesicht und schlug die Hände an die Backen. Das Pflaster war verschmiert mit schleimigem Eigelb, darin verklebt hundert zerbrochene Eierschalen. Sofort waren andere Männer zur Stelle, klopften ihm Mut machend auf die Schulter und halfen ihm, die Schachteln neu aufzuschichten und mit den noch heilen Eiern wiederaufzufüllen. Ein Bettler trat an meinen Tisch und hielt mir die Hand hin, schlank mit feingliedrigen Fingern, die Haut ledrig, die gelblichen Fingernägel wie Krallen. Sein gebräuntes Runzelgesicht besaß etwas Feines, Sensibles, ebenso seine dunklen sanften Augen. Auch seine Kleider hatten nichts von einem Bettler, ein paar braune Stoffhosen, ein heller Wollpulli, darunter ein Hemd. Seine Beine waren leicht verkrüppelt, die Füße nach innen gebogen, sein Gang schleppend. An den Schuhen erkannte man seinen Status, uralte ausgetragene Adiletten, darin vor Dreck stehende Füße. Ich drückte ihm einen Dirham in die Hand. Ohne Blickkontakt murmelte er etwas in seinen Bart und humpelte weiter. Ich sah ihm nach, versunken in Mutmaßungen über ihn. Im Hintergrund tauchte plötzlich etwas Rotes auf. Es war Noras Windjacke. Neben ihr ging der Berber in dem hellgrauen Anzug, im Gesicht eine Spiegelsonnenbrille, sein Gang stolz und zielgerichtet. Die beiden strahlten etwas Spezielles, Kraftvolles, Leidenschaftliches aus. Sie waren anders, stachen heraus, besaßen Charakter. Es war ein Pärchen, nach dem man sich umdrehte. Was für ein Gegensatz zu dem Bettler, der mich eben noch aufgewühlt hatte. Nora deutete auf die Pharmacie Populaire unter den Arkaden gegenüber und überquerte die Straße, während Ishem aufs Café zusteuerte. Die meisten Tische waren besetzt, und so erkannte er mich erst auf den zweiten Blick, erst als er am Tischchen neben mir saß. Und irgendwie schien er verblüfft darüber. Er zog die Brille ab.
»Ah, der Mann vom Schiff«, sagte er bemüht gutgelaunt. »Na, Gefallen gefunden an Sidi Ifni? Ruhig hier, nicht?« Sein Deutsch war fehlerfrei, jedoch mit einem starken Akzent durchzogen. Ich nickte, ja, es sei schön hier. Er wich aus, sah zu der Apotheke hinüber, machte sich eine Zigarette an, hielt nach dem Garçon Ausschau, bestellte zwei café noir. Obwohl er auf gute Laune machte, war es offensichtlich, dass er angespannt war. Er sah sich unruhig um, als hoffte er, einen alten Bekannten zu sehen oder von einem solchen entdeckt zu werden. Nora kam lange nicht zurück. Ishem klopfte nervös mit den Fingern auf den Tisch.
»Bist du im Urlaub hier?«, fragte er mich plötzlich.
Ich erklärte ihm, dass es eine Art Mischform sei zwischen Urlaub und Arbeit. »Ich bin auf der Suche nach Inspiration.«
»Aha, Inspiration«, sagte er. »Künstler?«
»Ich möchte ein Buch schreiben. Einen Roman. Oder einen Reisebericht. Vielleicht eine Mischform.«
»Du bist Schriftsteller?«, fragte er mit großen Augen.
Ich bejahte und fügte an, dass ich auch Musiker sei und dass ich hoffte, ein paar lokale Musiker kennen zu lernen.
»Musiker?«, wiederholte er bewundernd und musterte mich, als versuchte er mich mit neuen Augen zu sehen. Aber sofort wich er aus, und sein Blick wanderte unstetig in der Gegend herum. Und ohne mich anzusehen, sagte er: »Und jetzt horchst du die Leute aus, damit du was zu schreiben hast?«
Ich lachte und fügte an, dass ich allgemein Geschichten und Menschen möge. Jeder Mensch trage eine Geschichte in sich.
»Und du denkst, du kannst über all dies hier schreiben?« Er machte eine ausholende Bewegung mit der Hand. »Über die Menschen hier? Über uns? Die fremde Kultur? Glaubst du, du wirst etwas davon verstehen?«
»Das wird sich herausstellen.«
»Und weshalb kommst du zu uns und schreibst nicht über die Welt bei dir zu Hause? Ist es da zu langweilig?«
»Vielleicht«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. Und damit war das Gespräch zu Ende. Als die Stille unangenehm wurde, begann ich ihn über Sidi Ifni auszufragen, beispielsweise woher der Name kommt.
»Sidi ist die Anrede oder der Titel eines Herrn«, erklärte er, »und Ifni war ein Heiliger, der einst hierher kam, vor Jahrhunderten. Sidi Ali Ifni. Er stammte ursprünglich aus Tunesien. Er blieb vermutlich hier, weil es Wasser gab, vielleicht auch weil er am Ende seiner Reise angelangt war, weil er alt war. Er ist auf dem Friedhof am Ende des Strandes begraben.« Ishem verstummte und stierte stirnrunzelnd zu Boden, als grübelte er über etwas Schwerwiegendes nach. Plötzlich musterte er mich eindringlich: »Bist du verheiratet?«
»Ich war es«, sagte ich etwas verblüfft über den plötzlichen Richtungswechsel.
»Geschieden?«
»Ja, vor einem Jahr.«
»Aha.« Wieder lag sein Blick im Nirgendwo. Dann sagte er: »Und wer hat wen verlassen, wenn man fragen darf?«
»Schwierig zu sagen. Es lief sich einfach tot. Und dann war die Trennung wie eine gegenseitige Vereinbarung.« Ishem sagte nichts mehr dazu. Er fühlte sich offensichtlich unbehaglich. Also begann ich ihm Fragen zu stellen, und er schien froh darüber und antwortete bereitwillig. Er war in Sidi Ifni aufgewachsen, lebte aber seit vier Jahren in Zürich. Er lobte die Schweiz über Gebühr und sprach abschätzig über sein eigenes Land. Er war stolz auf seinen dreijährigen Sohn Younes, der leider in Zürich bei den Großeltern bleiben musste. Mit diesem Satz verfinsterte sich seine Miene auf einen Schlag, und als wollte er dies verbergen, sagte er mit bemüht gefühlvoller Stimme: »Die Grippe hat ihn erwischt. Und weißt du, Reise, Kind, Flugzeug, nicht gut bei Grippe.« Er wandte sein Gesicht ab, als versuchte er Kummer zu verbergen. »Und du?«, fragte er mit neuer Stimme, »kannst du von der Kunst denn leben?«
Ich antwortete, ich sei Millionär. Er sah mich verdattert an. »Natürlich nicht«, sagte ich. »Aber ich bin auch nicht am Verhungern. Es geht mir gut. Und ich komme mit sehr wenig aus.«
»Ich kenne jeden Musiker hier in der Stadt«, sagte Ishem. »Hängen immer bei uns zu Hause rum, fast jeden Abend eine Jam Session. Weißt du, wir haben ein Haus, oben in Boulalaam.« Er deutete nach links zu dem östlichen Stadtteil, der sanft gegen den Hügel mit den Antennen anstieg. Er nannte mir Straße und Nummer, ich solle einfach spontan reinschauen, falls ich mal da oben sei. »Open House«, sagte er großzügig. »Ach was! Komm doch gleich heute Abend! Wir essen was, feiern ein bisschen. Na? Nora kennst du ja schon, nicht wahr?«
»Gerne«, sagte ich und lächelte verhalten. Seine aufgesetzte Fröhlichkeit und sein unstetes Gemüt wirkten beunruhigend auf mich. Und doch, er besaß eine einnehmende, großzügige und charismatische Seite, aber irgendwie schien sie von einem Schatten bedeckt. Dieser Schatten strömte unterschwellig etwas Hungriges, Verzweifeltes aus. Und es schien ihm wichtig, vom Gegenüber anerkannt zu werden. Er hungerte nach Zuneigung und Bestätigung. Er war wie Nora gebildet, reflektiert, sensibel und mit einer angeborenen Intelligenz ausgestattet. Ich sah es nicht nur in der Ausdrucksweise, sondern noch mehr im Blick und in der Gabe, das Gegenüber zu lesen, zu erfühlen. Plötzlich begann er voller Begeisterung von dem Restaurant zu erzählen, das er in Zürich eröffnen wolle, eine Art Club. Da müsse ich unbedingt mal vorbei kommen und spielen. Mitten in seinen Worten kam Nora zurück. Offensichtlich erfreute es sie wenig, mich und Ishem an einem Tisch sitzen zu sehen. Ich sagte hallo, sie gab es fade zurück und setzte sich neben Ishem.
»Der coolste Club von Zürich«, sagte Ishem zu Nora, »nicht wahr? Wird es nicht der coolste Club von Zürich?« Sie nickte mit einer Miene, als hätte sie dieses Thema über. Sie setzte die Sonnenbrille auf und blickte zur Seite. An ihren Ohren hingen hübsche silbrige Spiralen, das uralte Symbol der Berberkultur, das Symbol für die ewige Harmonie. Ishem warf mir einen komplizenhaften Blick zu und zuckte mit der Schulter, als wollte er sagen: Diese Frauen! Dann tat sich betretene Stille auf. Plötzlich sagte er mit neuem Mumm: »Nora, der Typ hier ist Musiker. Ich hab ihn für heute Abend eingeladen, wir feiern ein bisschen. Badr, Tarek und Alain werden sowieso da sein. Wir essen was Hübsches und machen ’ne kleine Jam Session. Weißt du was? Ruf doch Pierette an, machen wir eine Paëlla!« Und zu mir: »Magst du Paëlla?«
»Ich liebe Paëlla«, sagte ich aufrichtig.
»Mann, Nora«, maulte Ishem, »wieso sagst du nichts? Wieso hast du die ganze Zeit diese saure Miene auf?«
Sie ignorierte ihn. Ihr Blick zielte über die Straße auf das ausgediente Flugfeld, das sich gegen Süden ausbreitete.
»Passt dir was nicht?«, fragte er. »Hast du wieder mal was gegen meine Freunde? Oder hast du was gegen ihn?« Er deutete mit dem Daumen auf mich. »Oder hast du vielleicht was mit ihm?«
Sie entließ einen entnervten Seufzer der Ungeduld: »Ishem, bitte!« Ihr dünner Mund bewegte sich kaum, als wäre er zu müde zum Sprechen.
Ishem schüttelte verständnislos den Kopf und wandte sich wieder an mich: »Ich sage immer: Freunde sind das A und O des Lebens. Ohne Freunde kannst du einpacken. Hast du Cicero gelesen, seinen Aufsatz über die Freundschaft? Sollte man allen einbläuen. Vor allem ihr.« Nun deutete er mit dem Daumen auf Nora.
»Kluge Worte und wenig Action«, murmelte Nora.
»Action beginnt mit klugen Gedanken und klugen Worten«, konterte Ishem. »Das ist die richtige Einstellung. Da beginnt bei dir schon der Mangel. Du bist der geborene Pessimist, alles ist negativ, ein positiver Gedanke wird gleich mit einem Nein oder einem Aber quittiert.«
»Blablabla«, murmelte Nora und sah beleidigt weg.
»Ja, blablabla«, wiederholte Ishem, »dein Lieblingssatz.«
Ich rief den Garçon, deutete auf alle drei Getränke und streckte ihm eine Note hin. Ishem fuhr mit großer Geste dazwischen und verkündete, das gehe selbstverständlich auf seine Rechnung. Er zog ein Geldbündel hervor und gab dem Garçon eine Note, der Rest sei für ihn. Der Garçon strahlte. Ich bedankte mich bei Ishem, erhob mich und sagte tschüss. Nora schaffte es knapp, den Gruß zu erwidern, schlaff und abwesend.
»Also bis heute Abend«, rief Ishem mir nach.