Die 13-jährige Alma ist überzeugt davon, dass ihr im Sommerurlaub Jesus erschienen ist. Sie will fortan den »Weg der Liebe« gehen und alle davon überzeugen. Ihre Eltern, die eigentlich gedacht haben, sie hätten ihre Tochter im Geist der Freiheit erzogen, wissen sich nicht mehr zu helfen und schicken sie zur Psychologin. Doch Alma lässt sich nicht beirren und geht weiter ihren Weg. Je entschlossener sie ist, desto unsicherer werden ihre Eltern, die plötzlich gezwungen sind, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren.
GUDRÚN EVA MÍNERVUDÓTTIR, geboren 1976, studierte in Reykjavík Philosophie und fing bereits früh an zu schreiben. Mittlerweile zählt sie zu den renommiertesten jungen Autorinnen des Landes. Mit ihrem Roman »Der Schöpfer« gelang ihr der internationale Durchbruch. Für »Alles beginnt mit einem Kuss« ist sie mit dem Isländischen Literaturpreis ausgezeichnet worden.
GUDRÚN EVA MÍNERVUDÓTTIR BEI BTB
Der Schöpfer. Roman
Alles beginnt mit einem Kuss. Roman
Gudrún Eva Mínervudóttir
UNTER ENGELN
Roman
Aus dem Isländischen
von Anika Wolff
Die isländische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Englaryk« bei Forlagid, Reykjavík.
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Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2020,
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © der Originalausgabe 2011 by
Gudrún Eva Mínervudóttir
Published by agreement with Forlagid, www.forlagid.is
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © Getty Images/Terry Brown
© Shutterstock/Paladin12
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
SL · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-17610-5
V001
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sind wie zwei fette Menschen
in einem winzigen Boot
prallen gegeneinander
lachend
Wange an Wange
Wampe an Wampe
kleben aneinander
lachend
bebende Kolosse
zitternde Doppelkinne
wieder schaukelt der Kahn
ich purzle auf Jesus
der prustet
und zwinkert mir zu:
Here’s looking at you, kid
ich sterbe vor Lachen!
»Hat sie das geschrieben?«, fragte Snæfrídur und legte den Zettel auf einen kleinen Tisch neben ihrem Ledersessel.
»Ja.«
Das braune Sofaleder knarzte, als Pétur sich nach vorn beugte und die Ellbogen auf den Knien abstützte. Er kam nicht umhin, darüber nachzudenken, was so eine Garnitur wohl kostete. Ein Sofa, zwei Sessel, drei passende Teaktische, auf einem davon ein Schreibblock, ein Stift und eine Taschentücherbox mit dem Aufdruck ultra soft. Alle anderen Flächen waren leer. An den weißen Wänden hingen keine Bilder, vor den Fenstern keine Gardinen. Drei Stockwerke unter ihnen, auf der Einkaufsstraße, und durch dreifaches Glas hindurch war das Geschiebe der Menschen und Autos zu hören.
Diese Psychiaterin, Snæfrídur Björnsdóttir, war irgendwie genau so, wie Pétur sie sich nach den Beschreibungen seines Vaters vorgestellt hatte, nur älter. Schon klar, sie war genauso alt wie er. Aber er hatte sie immer als junge Frau in Schlaghosen vor sich gesehen, mit ernstem Gesichtsausdruck und einem Buch unter dem Arm. Die Lieblingsstudentin des alten Professors, der ihren Namen immer japsend hervorstieß, Shnai-frith, und am Ende stets beim selben Witz landete: Snow Pretty, daughter of Bear. A-hah-hah-hah! Jetzt waren sie beide, Snæfrídur und Pétur, um die sechzig, doch damals, als sie bei Professor emeritus Boulanger studiert hatten, waren sie in ihren Zwanzigern gewesen. Damals mochte ihr Name vielleicht noch nicht so recht gepasst haben. Zumindest hatte sich der alte Boulanger manchmal darüber beschwert, dass die skandinavische Schönheit unter seinen Studenten, in deren Namen noch dazu das Wort Schnee steckte, dunkle Haare hatte. Doch inzwischen machte sie ihm alle Ehre – das schulterlange Haar war nahezu weiß geworden. Einzelne dunkle Strähnen machten das Weiß noch auffälliger; wie einzelne kahle Birkenzweige auf schneebedeckter Erde. Alles an ihr war überzeugend und vertrauenerweckend: der freundliche Ernst, die ruhigen und gezielten Bewegungen, der Hosenanzug (hellgrau, zweireihig). Die zynische Seite in Pétur wollte sie nicht so leicht davonkommen lassen, nicht ohne wenigstens ein bisschen über sie zu schmunzeln, aber das war auch schon alles. Was wünscht man sich von seinem Psychiater, wenn nicht, dass er vertrauenerweckend ist? Wenn sie ihm helfen sollte, dann durfte er sich kein zu genaues Bild von ihr machen. Außerdem wusste er in Wirklichkeit ja auch so gut wie nichts über diese Frau. Die Anspielungen und nervösen Spötteleien seines Vaters, an die er sich erinnerte, konnte man wohl kaum Fakten nennen.
Sein Drang, mehr über sie zu erfahren, überraschte ihn selbst. Denn nicht Neugier hatte ihn in dieses Behandlungszimmer getrieben, sondern die Verzweiflung, die sein kindliches Vertrauen in die Tradition erneuert hatte. Die Überheblichkeit seines Vaters hatte er längst durchschaut, doch damit war nicht gesagt, dass alles, was der alte Boulanger glaubte und lehrte, zu nichts taugte.
»Und wo haben Sie das gefunden? Hat sie es Ihnen gezeigt?«, fragte Snæfrídur.
»Ich habe es auf ihrem Computer gefunden und ausgedruckt, als sie gestern Abend im Bett war. Um es Ihnen zu zeigen.«
Snæfrídur musterte ihren neuen Klienten. Pétur Boulanger, ein Gastwirt, der auf Snæfellsnes seine eigene kleine Pension führte, der einzige Sohn von Bernard Boulanger, ihrem ehemaligen Professor an der Sorbonne – Gott habe ihn selig. Ein Ehemann und Vater, der den ganzen Weg von Stykkishólmur gekommen war, weil er und seine Familie Hilfe brauchten. Ähnlich war er dem alten Boulanger nicht. Obwohl – jetzt, wo er das Kinn so eigensinnig nach vorne schob, wurde die Ähnlichkeit doch deutlich. Ein feines Gesicht, zu einer unwirschen Miene verzogen.
»Das ist wirklich gut«, sagte Snæfrídur. »Schreibt sie häufiger? Da steckt Humor drin und Rhythmus und eine Anspielung auf einen Filmklassiker. Sie ist erst dreizehn, haben Sie gesagt?«
Gegen den Stolz, der in ihm aufstieg, kam Pétur nicht an. Alma war trotz allem seine Tochter. Und schon immer ein cleveres Köpfchen gewesen. »Dreizehn Jahre und vier Monate, seit gestern«, antwortete er. »Als sie noch kleiner war, hat sie uns immer irgendwelche Gedichte oder Verse gezeigt, aber damit hat sie inzwischen aufgehört.«
Snæfrídur nickte langsam und schrieb etwas auf.
»Gut oder nicht gut, spielt keine Rolle«, beeilte Pétur sich zu ergänzen. »Ich wollte nur, dass Sie sehen, wie weit es schon mit ihr gekommen ist.«
»In welcher Hinsicht weit gekommen?«
»Das weiß ich nicht, deshalb bin ich ja hier!«
Wenn Pétur die Stimme erhob, hatte er denselben Tonfall wie sein Vater; auch seine Augenbrauen tanzten genauso wie bei ihm, und als er ausgeredet hatte, blieb der Mund einen Moment halb offen stehen, bis er ihn zuklappte und die Lippen übertrieben zusammenpresste. Seine Reaktion war nichts anderes als ein Stacheldrahtzaun um einen Garten aus Sentimentalität. Snæfrídur fühlte sich in Boulangers Vorlesungen in Paris zurückversetzt. Dieselbe liebenswerte Gereiztheit.
Mit zögerlichem Unbehagen fügte Pétur hinzu: »Sie ist inzwischen richtig fanatisch und komisch. Als wäre sie krank. Am Glaubensfieber erkrankt. A-hah-hah! Das Gedicht kommt Ihnen vielleicht harmlos vor, aber Sie wissen ja nicht, wie sie im Alltag so ist. Das ist grotesk und völlig aus der Luft gegriffen. Wir haben sie nie in die Sonntagsschule geschickt oder dergleichen. Niemand von ihren Freunden ist so drauf, und wir haben ihr das nicht vorgelebt.«
»Es ist nicht ungewöhnlich, dass Mädchen in diesem Alter eine Art Jesusliebe entwickeln, aber das gibt sich in der Regel von allein wieder«, sagte Snæfrídur.
»Das mag ja vielleicht auf Mädchen in katholisch geprägten Ländern zutreffen, aber hier?«, schnaubte Pétur. »Auch der Schulbehörde sind solche Schwierigkeiten nicht bekannt. Damit scheint sie wirklich allein zu sein. Allein in einem Boot, sozusagen. A-hah-hah-hah! Ihre Freundinnen reden nicht mehr mit ihr, oder sie nicht mehr mit ihnen. Die Eltern ihrer besten Freundin haben ihrer Tochter den Umgang mit Alma verboten. Sie behaupten zwar, dass sie sich mehr auf den Klavierunterricht in der Musikschule konzentrieren will, aber das ist definitiv nur ein Vorwand.«
»Also noch mal«, sagte Snæfrídur. »Die Freundinnen Ihrer Tochter sprechen nicht mehr mit ihr und deren Eltern wollen nicht, dass ihre Töchter Umgang mit Alma haben, weil sie zu stark an Jesus glaubt?«
Pétur zuckte mit den Schultern. »Wir haben versucht, ihr entgegenzukommen, und gesagt, dass sie glauben kann, an was sie möchte, aber dass solche Gedanken privat sind. Dass das niemand hören will. Dass sie die Leute damit in Verlegenheit bringt. Darauf antwortet sie dann zum Beispiel: ›Also wie Selbstbefriedigung oder aufs Klo zu gehen?‹ Dann fühle ich mich wie ein Idiot, obwohl ich immer noch der Meinung bin, dass ich richtigliege. So vorlaut war sie früher nicht, so schlagfertig.«
Pétur fuhr sich mit der Hand über den Kiefer und hinters Ohr.
»Wie war sie denn?«, fragte Snæfrídur.
Er dachte nach, bevor er antwortete. »Ein junger Mensch mit gesunden Interessen, würde ich sagen. Jedenfalls hatte sie keine so rigiden Ansichten. Sie ist gern schwimmen gegangen …« – Pétur kratzte sich mit tanzenden Fingern am Kopf – »… daran hat sich eigentlich auch nichts geändert. Ich fand zwar immer, dass sie und ihre Freundinnen zu sehr damit beschäftigt sind, was sie anhaben und wie sie sich schminken – ich meine, das sind schließlich noch Kinder. Aber jetzt würde ich mich hundertmal lieber mit so etwas herumschlagen als mit diesem Mist.«
»Mhm«, machte Snæfrídur. »Sie haben die Schulbehörde erwähnt, ist denn etwas Konkretes vorgefallen, weshalb Sie hergekommen sind? Geht sie nicht mehr zur Schule?«
»Nein. Also ich meine, sie geht noch zur Schule.«
»Aber irgendetwas muss Sie dazu gebracht haben, zu mir zu kommen.«
Auf einmal wirkte Pétur wie ausgewechselt. Er strich über die Sofalehne und spielte an einem der Lederknöpfe herum. Sein schwarzes Haar fiel ihm ins Gesicht, als er sagte: »Ich bin nicht nur deshalb hier. Und … ach, ich weiß nicht, mir fällt es schwer, über so etwas zu reden.«
»Ich empfehle meinen Klienten meist, einfach am Anfang zu beginnen«, sagte Snæfrídur und lächelte aufmunternd, doch Schreibblock und Stift in ihrer Hand machten Pétur wieder unsicher.
»Tja«, sagte Pétur, »ich weiß gar nicht mehr so genau, wie das alles angefangen hat, darüber mache ich mir auch gar nicht so einen Kopf. Ich mache mir eher Sorgen darüber, wie das enden wird.«
Sie schwiegen. Eine Fliege brummte durchs Fenster herein, obwohl es bereits Mitte Oktober war und Kälte und Dunkelheit die Tage schon längst im Griff hatten. »Ach, hallo!«, rief jemand mit schriller Stimme draußen auf der Straße.
»Also nehmen Sie sie als Patientin an?«, fragte Pétur.
»Wie Sie wissen, bin ich Familienberaterin. Das heißt, ich würde Sie alle sehen wollen; manchmal alle zusammen, aber in der Regel einzeln.«
»Ich dachte, Sie wären Psychoanalytikerin?«
»Ich bin beides.«
Pétur dachte darüber nach und guckte zur Box mit den Papiertüchern. Er begann, an seiner Entscheidung zu zweifeln, aber das war nichts Neues; er zweifelte ständig an fast allem, was wichtig war: an sich selbst als Vater, manchmal befielen ihn nagende Zweifel, ob seine Ehe halten würde, und jedes Mal, wenn er den Buchhaltungsordner aufschlug, bezweifelte er, dass es ihm jemals gelingen würde, dem verdammten Gästehaus Gewinn abzuringen.
»Ist Alma denn bereit für eine Behandlung bei einem Psychiater?«, fragte Snæfrídur.
»Davon gehe ich aus, ja«, sagte Pétur. »Sie ist zu heilig, um sich dem Willen ihrer Eltern zu widersetzen – solange Sie sich nicht in ihre Beziehung zu Jesus dem Allmächtigen einmischen. Das müsste doch eigentlich eine tolle Möglichkeit für sie sein, die andere Wange hinzuhalten«, fügte er hinzu und grinste.
»Ist sie erst seit Kurzem so … heilig, wie Sie es nennen?«, fragte Snæfrídur.
»Seit Juni«, antwortete Pétur. »Wir haben unseren Sommerurlaub in Andalusien verbracht, haben ein Auto gemietet und sind von Stadt zu Stadt gefahren. Granada, Cádiz, Málaga, Sevilla. Haben es drauf ankommen lassen und erst spontan vor Ort Hotels gesucht, weil wir so früh unterwegs waren, bevor die Touristenmassen kamen. In Cádiz haben wir Alma verloren, oder sie ist einfach auf eigene Faust herumgezogen. Erst nach sechs Stunden haben wir sie wiedergefunden, nachdem wir die komplette Polizeistation verrückt gemacht hatten. Alma hingegen wirkte nicht wirklich beunruhigt. Sie hatte bloß Hunger und fand es allenfalls in Ordnung, uns zu sehen. Meine Frau Jórunn und Anton, unser Jüngster, haben geweint; bei mir hat auch nicht viel gefehlt. Als Alma fragte ›Wo wart ihr?‹, waren wir anderen sprachlos. Sie meinte, dass sie keine Angst gehabt hätte, weil sie die ganze Zeit wusste, dass wir sie um die Abendbrotzeit finden würden. Und woher wusste sie das? Wissen Sie die Antwort? Wollen Sie raten?«
Snæfrídur schüttelte den Kopf.
»Weil Jesus es ihr gesagt hat.«
Cádiz war heiß und staubig und altersblass, rundgeschliffen wie ein Kiesel am Strand. Der Himmel blau und die Sonne stechend, die Straßen eng und wenig belebt, abgesehen von den großen Fußgängerzonen, den Marktplätzen und Hauptverkehrsadern. Familie Boulanger schleppte sich über den mit großen Platten belegten Bürgersteig, zu der Tageszeit, die Pétur die Zank-Zeit nannte, kurz vor Mittag, wenn die Spannung vom Morgen abgeflaut war, alle langsam müde vom Gehen wurden und unterschiedliche Bedürfnisse die Gruppe zu spalten drohten.
Auf den ersten Blick sahen sie wie ganz normale Touristen aus, fünf Paar gebräunte Arme und Beine, dunkle Sonnenbrillen, die Frau und das Mädchen mit breitkrempigen Hüten aus weißem Kunstbast. Diese Hüte wurden dort an jeder Ecke verkauft, genau wie die Schirmmütze des kleinen Jungen und die Ledersandalen seines Vaters.
Bei genauerem Hinsehen aber waren sie doch mehr als ein Klischee, stachen zum Beispiel dadurch heraus, dass sie durch ein normales Wohnviertel spazierten – fernab vom organisierten Tourismus –, oder dadurch, dass der Vater sich kein Täschchen um den Bauch geschnürt hatte. Er hatte einen Stadtplan dabei und sein Handy mit GPS, das er möglichst unauffällig zurate zog. Er trug eine lange Hose und ein verwaschenes T-Shirt, das er beim Heringsfest in Siglufjördur gekauft hatte, mit dem Aufdruck: Silfur hafsins, Guds gjöf – Silber des Meeres, Geschenk Gottes. Ein fast sarkastisches Kleidungsstück, aber doch irgendwie rührend; es zeigte, dass sein Besitzer auf keinen Fall für einen Deutschen oder einen Amerikaner gehalten werden wollte.
Die Frau war deutlich jünger als ihr Mann. Sie guckte immer wieder zwischen den Kindern hin und her, achtete sehr darauf, keines aus den Augen zu verlieren; dass eines davon es trotzdem schaffen sollte, sich davonzustehlen, war wirklich ein Wunder. Die Mutter schlüpfte neben ihren Ältesten, fasste ihn sanft am Ellbogen und fragte, warum er denn so ein mürrisches Gesicht mache. »Hast du dein Herz zu Hause in Stykkishólmur gelassen? Wartet dort deine Freundin auf dich?« Sie schmiegte sich an ihn, und ihre Haare klebten an seiner schweißnassen Schulter. Er betrachtete die hellen Ansätze ihrer Haare, die sie in der Mitte gescheitelt trug und neuerdings färbte. Sie hatte sicher kastanienbraune Haare gewollt, den Friseursalon aber mit einer dunklen Matte verlassen, mit einem Stich ins Weinrote.
Sigurbjartur klapste zärtlich den Handrücken seiner Mutter, bevor er sich aus ihrer Umarmung befreite. An sich fand er es gut, in Andalusien zu sein, aber lieber wäre er in anderer Gesellschaft gereist. Er war fünfzehn Jahre alt und vermisste seine Freunde, den Plattenspieler, seinen Bücherschrank und dass er für gewöhnlich in Ruhe gelassen wurde. Seine Eltern und die jüngeren Geschwister waren zwar okay, aber so ein Familienurlaub im Ausland bedeutete doch zu viel Nähe; sie nervten ihn, und es gab immer irgendetwas, an dem er sich störte. Im Moment war es die abgeschnittene Jeans seiner Schwester. Für seinen Geschmack hatte sie es deutlich übertrieben. »Warum hast du dir überhaupt die Mühe gemacht, diesen Fetzen anzuziehen?«, fragte er. »Du könntest genauso gut nur in Unterhose rumlaufen.«
Im ersten Moment guckte Alma erschrocken, doch dann überspielte sie ihre Unsicherheit, indem sie die Schultern straffte. »Misch du dich da nicht ein«, sagte sie.
»Man sieht deine Pobacke«, sagte Anton und fügte hinzu: »Mama, darf ich ein Eis haben?«
»Du hattest schon ein Eis«, antwortete Jórunn. »Und seid nicht so oldschool, Jungs, das ist gerade in, ihr Sittenwächter.« Sie lachte.
Pétur liebte seine Frau besonders, wenn sie lachte. Er war zwar derselben Ansicht wie seine Söhne, wusste aber, dass in diesem Fall keiner auf seine Meinung Wert legte. »Niemand kriegt ein zweites Eis, bevor wir zu Mittag gegessen haben«, entschied er. »Worauf habt ihr Lust?«
»Tintenfisch«, sagte Anton.
»Ist mir egal«, sagte Alma und blieb abrupt stehen. Im Rinnstein kauerte ein Kätzchen, der Körper schwarz, die Pfoten weiß, zu klein und unerfahren, um sich in den Schatten zu flüchten. Es war sicher durstig; aber Alma hatte ja eine Flasche Wasser in ihrem Rucksack. Sie hockte sich hin, machte sich ganz klein und harmlos und säuselte: »Miiez, miez, miez …«
Das Kätzchen sprang in eine schmale Seitengasse, unglaublich, wie schnell die kurzen Beinchen trippelten. Alma huschte hinter ihm her, nahm ihren Hut ab und ging wieder in die Hocke. Aus einer halb offenen Tür roch es nach gebratenem Knoblauch, und auf der anderen Seite der Gasse wurden die Fensterläden zugeknallt.
Es raschelte, als sie den Rucksack von den Schultern gleiten ließ. Sie zog den Reißverschluss auf, holte die Flasche heraus und goss ein bisschen Wasser in ihre flache Hand, bevor sie sich weiter vortastete, wie ein hinkender Hund auf drei Beinen, ganz langsam und beinahe lautlos, wenn sie mit ihren Schuhen nicht so über die Gehwegplatten hätte rutschen müssen, warm und glatt und rundgeschliffen wie alles dort und in einer Farbe, die ihr gefiel, auch wenn sie sie nicht benennen konnte. Pastellbraun? Hellgelb? Auch die Häuser waren so; in dieser vergilbten zarten Farbe. Auf einem winzigen Balkon mit schwarzem schmiedeeisernem Geländer hing weiße Wäsche zum Trocknen, und Alma hatte diesen merkwürdigen Kloß im Hals, den sie bekam, wenn sie etwas Eindrucksvolles sah; wenn etwas sie durch seine Schönheit berührte, wie ein beiges Haus und aufgehängte Wäsche, oder auch die Hilflosigkeit des Kätzchens. Das war neu für sie, dieses Gefühl, das sie für erwachsen hielt und das ihr daher sehr willkommen war, ja, das sie nicht intensiv genug spüren konnte.
Bisher waren die Dinge immer so gewesen, wie sie waren. Alles war selbstverständlich und natürlich – ganz gleich, ob gut oder schlecht, und Schönheit war nichts weiter als ein missverständlicher Begriff. Noch vor Kurzem war ihr Innenleben unaufgeregt und anpassungsfähig gewesen; wenn sie überhaupt eine Meinung zu den Dingen hatte, dann war das kaum mehr als das Echo der Meinung ihrer Mutter oder ihres großen Bruders. Doch jetzt saß sie selbst auf dem Richterstuhl und staunte über die Kraft, die allein dadurch freigesetzt wurde, dass sie wusste, welcher Meinung sie war. Eine Kraft, die aus dem Bauch kam, groß und suchend, warm und intensiv.
Das Kätzchen stellte den kurzen Schwanz auf, setzte sich hin, um gleich wieder aufzuspringen und anmutig im Kreis zu stolzieren. »Miez, miez«, flüsterte Alma und streckte ihr die offene Hand hin, zeigte der Katze das Wasser darin, das sie in der Hitze förmlich verdunsten spürte. Sie musste sich das Lachen verkneifen, als das Tier wie ein Böckchen in die Luft sprang, einen Buckel machte, die Nackenhaare sträubte und misstrauisch fauchend die Zähne zeigte. Alma wartete einfach, mucksmäuschenstill. Sie konnte sehr wohl geduldig sein, auch wenn ihre Mutter immer das Gegenteil behauptete.
Mit einem leisen Klappern wurden die Fensterläden direkt über ihr geschlossen. Als sie sich umsah, stellte sie fest, dass alle Fenster in Sichtweite verrammelt worden waren. Eine unbestimmte Angst befiel sie. Doch da kam das Kätzchen ein Stück näher an sie heran und wirbelte Vergessensstaub auf, der sich über ihre Besorgtheit legte. Das Kätzchen wählte den umständlichen, langen Weg, legte sich zwischendurch hin und wälzte sich, tastete sich im Krebsgang voran und blieb immer wieder abrupt stehen. Und so näherte es sich langsam, aber sicher Almas ausgestreckter Hand, bis es das winzige Mäulchen hineinsteckte und Almas Handfläche mit der Zunge kitzelte. In seinem Fell hing derselbe feine, helle Sand, mit dem ganz Cádiz überzogen war; Almas Vater hatte gesagt, dass die Stadt auf einer Sandbank gebaut war, aber vielleicht hatte er das auch nicht wörtlich gemeint. Er sagte ziemlich oft, dass er etwas nicht wörtlich gemeint habe. Aber zumindest lag die Stadt tatsächlich auf einer langen, schmalen Landzunge, die in den Atlantik ragte; das hatte sie selbst auf der Karte gesehen.
Alma nahm das Kätzchen auf den Arm, dieses Fliegengewicht, und lief mit ihm denselben Weg zurück, den sie gekommen war, konnte es kaum erwarten, es den anderen zu zeigen. Anton durfte es auch mal halten, wenn er wollte. Als sie bemerkte, dass die Straße, auf der sie sich von ihrer Familie getrennt hatte, menschenleer war, befiel Alma keine Panik, sondern sie lief einfach weiter, das Tier fest an sich gedrückt, mit pochendem Herzen und fliegenden Füßen, guckte in alle Seitengassen, ohne jedoch weit hineinsehen zu können, da sie sich verzweigten wie die Äste an einem Baum. Irgendwann machte sie kehrt und rannte den halben Weg zurück und schließlich in eine der Gassen hinein. Jetzt hatte sie doch Angst, traute sich aber nicht, nach ihrer Familie zu rufen. Die Spanier hielten gerade Mittagsruhe.
Dann wurde der Weg vor ihr breiter, und auch die Häuser waren nicht mehr so beengend – als würde sie aus einem dichten Wald auf eine Lichtung treten –, und mit einem Mal stand sie auf einem Platz mit Bänken, Abfalleimern und einer gepflegten Baumreihe. In der Mitte war ein Betonklotz, vermutlich das Podest einer Statue, doch die Statue fehlte. Das Podest war vollgeschmiert und mit leeren Bierflaschen zugestellt. Alma starrte die Flaschen an und war auf einmal schrecklich durstig. Und ihre Füße, die gerade noch durch die Luft gewirbelt waren, wurden so heiß und fühlten sich so wund und schwer wie Blei an, dass sie sich auf den Betonklotz setzen musste, obwohl er nach Urin stank.
Auf ihrem Arm zappelte das Kätzchen, und ihr fiel der Rucksack wieder ein und der Hut auf dem staubigen Gehweg. Im Rucksack hatte sie ihre Wasserflasche, einen Apfel, zwanzig Euro und ihr Handy.
Wenn sie denselben Weg zurückging, würde sie ein paar Gassen weiter zu der Ecke kommen, an der sie ihre Sachen liegen gelassen hatte. Beeilen musste sie sich nicht. Es war ohnehin schon so viel Zeit verstrichen, die anderen waren sicher schon ganz verrückt vor Sorge, und wenn jemand ihren Rucksack stehlen wollte, hatte er das schon längst getan.
Die Sonne brannte auf ihr ungeschütztes Gesicht und ihre Schultern; der Hut war der Ersatz für die stinkende Sonnencreme gewesen, die ihre Mutter ihr hatte aufdrängen wollen. Alma legte die freie Hand auf ihren brennend heißen Kopf und ärgerte sich, dass sie Rucksack und Hut vergessen hatte. Wie dumm von ihr.
Sie versuchte, sich im Schatten der Häuser zu halten, doch die Sonne stand so hoch am Himmel, dass es nur einen sehr schmalen schattigen Streifen direkt an der Wand gab. Ein paarmal überlegte sie, irgendwo anzuklopfen und darum zu bitten, kurz telefonieren zu dürfen, doch sie traute sich nicht. Man konnte nie wissen, was sich hinter fremden Türen verbarg. Aggressive Hunde. Kinderschänder. Geistesgestörte. Alkoholiker. Wie weit war sie gelaufen? Sie hatte schon einige Gassen überquert, aber die richtige noch nicht gefunden. Vielleicht war sie schon längst daran vorbeigegangen. Sie war sich auch nicht sicher, ob sie die Straße überhaupt wiedererkennen würde – sie sahen sich einfach zu ähnlich. Aber trotzdem kehrte sie nicht um, sondern lief weiter, wie in Trance, lief so lange, bis sie jegliches Zeitgefühl verlor, wartete an einem Fußgängerüberweg an einer großen Straße und ging schließlich auf die andere Seite, ohne den Autofahrern in die Augen zu sehen, die an der roten Ampel warteten. Hier sahen die Häuser anders aus; höher, mit klareren Linien, graubraun und mit weißen Dächern, Türen und Fensterläden. Almas T-Shirt war völlig durchgeschwitzt, und auch das Fell des Kätzchens war ganz nass und klebte an ihrem Bauch. Geknickt trottete sie an der großen Straße entlang, setzte sich vor einem geschlossenen Restaurant auf einen Stuhl und das benommene Kätzchen auf den Tisch vor sich. Ihr Hals fühlte sich gereizt an, und sie schluckte ein paarmal. Es war ein merkwürdiges papierenes Gefühl, und als sie sich über die Kuhle zwischen den Schlüsselbeinen rieb, fühlte sich auch die Haut wie Papier an. Ihre Augen brannten, vor Trockenheit oder weil sie das Weinen unterdrückte, und dann bemerkte sie auch noch ein Stechen in einem Ohr. Die Angst zu verdursten trieb sie weiter, zurück über die Straße, wo sie von einem heranrasenden Auto angehupt wurde, zurück in das Viertel, wo sie alles verloren hatte. Sie hätte nie so weit gehen dürfen, hätte sich an denselben Weg halten, an der Stelle ruhig warten sollen, wo die anderen sie zurückgelassen hatten. Darauf warten, dass sie es bemerkten und zurückkamen, zurück zu ihr.
Schon bald hatte sie keine Ahnung mehr, wo sie war; sie wusste nur, dass sie auf einer Bank saß, auf einem deutlich kleineren Platz als dem mit dem Betonpodest und den Bierflaschen, umringt von Häusern, die wie blasse Elfenfelsen aussahen, von schlafenden Menschen bevölkert. Alma versuchte, sich an den Weg zu erinnern, den sie gelaufen war, im Geiste eine Karte zu zeichnen, doch es kam nichts als Gekritzel dabei heraus, das höchstens der Hoffnungslosigkeit zuträglich war, die sie inzwischen befallen hatte. Sie schloss die Augen und stellte sich auf den Tod ein. Beim Gedanken an das Wehklagen ihrer Mutter und den gebrochenen Ausdruck in den Augen ihres Vaters sammelten sich Tränen unter Almas Lidern.
Das war der Moment, in dem Jesus kam und sich neben sie auf die Bank setzte. Alma zuckte zusammen, weil sie befürchtete, dass es sich um einen Dieb oder einen Perversen handelte, doch als sie die Augen öffnete, erkannte sie ihn sofort. Er trug ein beiges Kleid und einen gräulich blauen Umhang, genau wie auf dem Bild bei ihrer Uroma, wo er betend an einem großen Stein in der Wüste kniete. Er roch zart nach Weihrauch und trockenem Wüstensand.
»Die Welt ist nicht so trostlos, wie sie scheint«, sagte er.
Da brach sie in Tränen aus. Sie konnte nichts dagegen tun. Die ganze Situation war so gefühlsbeladen, und obwohl sie ihm eigentlich hätte glauben müssen, war sie nicht einverstanden mit dem, was er sagte. Die Welt war sehr wohl trostlos. Wie konnte er etwas anderes behaupten? Menschen starben vor Hunger und wurden wegen Kleinigkeiten umgebracht. Frauen wurden vergewaltigt, die Natur zerstört, und manche Eltern waren böse zu ihren Kindern.
»Lass die Katze gehen, ich kümmere mich um sie«, sagte er. »Ich bin mit ihr verheiratet, genau wie mit dir.«
Alma weinte weiter, doch Jesus strich ihr übers Haar und sagte: »Du bist nicht verloren. Ich habe dich gerufen. Um dir etwas zu sagen.« Er nahm ihre Hand. »Lass uns deine Tasche und deinen Hut suchen.«
Er stand auf, und sie tat es ihm nach. Die Katze sprang auf den Boden und strich ihnen um die Beine, bis Jesus sich zu ihr herunterbeugte und sie unter seinem Umhang verschwinden ließ.
Sie gingen eine Weile, und er redete die ganze Zeit. Er redete so viel, dass sie sich später nicht an alles erinnern konnte, nur an Bruchstücke, die ihr nach und nach wieder einfielen, nachdem sein Gesicht in ihrer Erinnerung schon längst verschwommen war.
Alma fühlte sich immer noch ausgetrocknet, aber ihr war nicht mehr so schlecht vor Hitze. Hier und dort hatte man die ersten Fensterläden aufgestoßen; es musste auf vier Uhr zugehen. Als Jesus langsamer wurde, bemerkte Alma einen alten, breit lächelnden Mann, der mit ihrem Hut auf dem Kopf in einem schattigen Türspalt auf einem Stuhl saß.
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Jesus und ließ ihre Hand los, die gar nicht verschwitzt war, obwohl sie den gesamten langen heißen Marsch über in der seinen geruht hatte. In seiner kühlen, butterweichen Hand. Deshalb hatte sie es überhaupt zugelassen, dass er ihre Hand hielt; unter normalen Umständen hätte sie es lächerlich gefunden, in der Öffentlichkeit Hand in Hand zu gehen. »Das ist schon in Ordnung. Geh zu ihm.«
Sie gehorchte zögerlich, wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Vielleicht hatte der Mann auch einfach nur einen ähnlichen Hut wie sie. Doch da zog er ihren Rucksack unter dem Stuhl hervor und gab ihn ihr. Schnell stellte sie sich neben Jesus und nahm seine Hand.
»Möchtest du ihm den Hut schenken?«, fragte er.
»Nein«, sagte sie, ging noch einmal hin und nahm dem Alten den Hut vom Kopf. Der lachte darüber und zeigte seine gelben Zähne. Er war barfuß, trug eine graue Hose und ein offenes weißes Hemd. An seinem kugelrunden Bauch waren graue Haare zu sehen. »El sombrero«, sagte er und lachte.
Alma war nicht nach Lachen zumute. Sie holte das Wasser aus ihrem Rucksack, eine volle Ein-Liter-Flasche, und stürzte die Hälfte davon unsagbar erleichtert hinunter. Dann guckte sie noch einmal genauer in den Rucksack und stellte fest, dass er leer war, abgesehen von dem zerdrückten Apfel. Sie zeigte auf den Mann und sagte mit weinerlicher Stimme: »Er hat mein Handy und das Geld geklaut.«
Jesus schüttelte den Kopf. »Nein. Mach dir darüber keine Gedanken. Du hast alles, was du im Moment brauchst.«
Sie gingen weiter, und wohin sie auch kamen, öffneten sich klappernd und rappelnd die Fenster. Jesus redete weiter, und Alma lief wie hypnotisiert neben ihm her, lief, ohne müde zu werden, hörte zu, ohne etwas zu hören. Sie blieben im Viertel der alten, hellen Häuser, die im Schatten immer brauner wurden, und hielten einander an den Händen, die kühl und trocken waren. Das Kätzchen sah Alma nie wieder.
Sie hörte Verkehrsrauschen, und als sie um die nächste Ecke bogen, lag nur noch eine Straße zwischen ihnen und dem Strand. Autos, Roller und Fußgänger waren unterwegs, und überall öffneten Bars und Restaurants. Hinter einem Mäuerchen lag der Strand, halb nackte Leute lagen auf ihren ausgebreiteten Handtüchern oder gestreiften Sonnenliegen, aufgeblasene Wasserbälle. Sie überquerten Straße und Promenade, liefen durch eine schmale Öffnung im Mäuerchen, ein paar Steinstufen hinunter und waren am Strand. Almas beige Ballerinas füllten sich mit heißem Sand. Jesus führte sie zu einer freien Liege unter einem Sonnenschirm und sagte, dass sie sich entspannen solle. »Hier finden sie dich«, sagte er.
Verabschiedeten sie sich voneinander? Sie erinnerte sich nicht mehr. Doch sie erinnerte sich an jeden einzelnen Moment auf der Liege; an das Blau des Meeres und des Himmels und wie gut der Apfel schmeckte, selbst die bräunlichen Druckstellen, das Kerngehäuse und insbesondere die Kerne – an ihren öligen Mandelgeschmack. Alma trank genüsslich den Rest des Wassers, beobachtete die Leute, sah aufs Meer, saß lange selig im Schatten des Sonnenschirms. Große Wellen rollten auf den Strand zu und brachen mit Getöse. Ganz in der Nähe spielten ein paar Kinder, und die Brandung legte sich wie eine Decke über ihr Schreien und Lachen.
Auf einmal stand Anton über ihr, starrte sie mit großen Augen an, fast wirkte es, als hätte er Angst. Dann rannte er weg, und sie sah ihm nach, wie er mit jedem Schritt Sand aufwirbelte und mit dem Meer und den anderen Kindern um die Wette schrie. Mama, Papa und Sigurbjartur kamen ihm entgegengelaufen; vor lauter Aufregung hätte Pétur Anton beinahe umgerannt. Alma stand langsam auf; wie ihre Familie sich aufführte, war ihr nicht geheuer. Anton heulte wie am Spieß, und auch die anderen waren kaum wiederzuerkennen, ihre Blicke und Bewegungen hatten etwas Urmenschenhaftes, vor allem bei Jórunn, die sich immer wieder übers Gesicht fuhr, ihre Adern an Hals und Schläfen waren angeschwollen. So hatte Alma sie noch nie gesehen.
Pétur packte seine Tochter und hob sie hoch, quetschte ihr die Rippen, sodass sie kaum Luft bekam, und schrie ihr ins Ohr: »Aahlmah, Kiihnd!«
Später erzählten sie ihr, dass sie gerade aus der Touristenpolizeiwache an der Strandpromenade gekommen waren, völlig verängstigt und erschüttert, nachdem Pétur ausgerastet war und angedroht hatte, die faulen Säcke zu verklagen, wenn sie sich weiter weigerten, ihre Arbeit zu machen. Da hatte Anton Almas Hut über die Rückenlehne einer der Sonnenliegen hervorlugen sehen und runter zum Strand rennen dürfen, um nachzusehen, ob es wirklich seine Schwester war, woran keiner der anderen geglaubt hatte.
»Aber ich hab gleich gewusst, dass sie es war«, hatte er den ganzen Sommer über immer wieder verkündet und tat das auch jetzt noch, stolz auf seine Heldentat, obwohl es bereits Herbst war.