Das Buch
Noch bis vor Kurzem war Lift ein einfaches Straßenmädchen, das in der Stadt Azimir die Gassen der Elendsviertel unsicher gemacht hat, immer auf der Suche nach Nahrung. Seit sie allerdings mit ihrem Kumpan in den Herrscherpalast eingebrochen ist und dort unversehens Teil sehr bedeutsamer Ereignisse wurde, ist nichts mehr, wie es vorher war. Plötzlich ist ihr Freund der neue Prim, der Herrscher von ganz Azir, und Lift ist ein Ehrengast in seinem Palast. Noch weiß niemand, dass an alldem Lifts besondere Gabe, ihre »Großartigkeit«, wie sie es selbst nennt, nicht ganz unschuldig ist. Und weil sie sich nicht gern kontrollieren lässt, flieht sie kurzerhand durch die Wüste in die Stadt Yeddaw. Wo sie nicht nur umgehend von ihrem Schicksal und ihrer Gabe eingeholt wird, sondern plötzlich von einem Wesen bedroht wird, das in ganz Roschar Menschen tötet. Menschen mit ähnlichen Begabungen wie Lift. Und das kann Lift auf keinen Fall zulassen. Ein Abenteuer beginnt, an dessen Ende Lift nicht nur noch großartiger ist als zuvor, sondern auch begriffen haben wird, zu welchem Schicksal sie eigentlich geboren ist …
In »Die Tänzerin am Abgrund« erzählt Brandon Sanderson die Geschichte einer in den Hauptromanen seiner epischen Sturmlicht-Chroniken bislang kaum beachteten Heldin. Der Roman spielt zwischen den Ereignissen von »Die Stürme des Zorns« und »Die Splitter der Macht«.
Der Autor
Brandon Sanderson, 1975 in Nebraska geboren, schreibt seit seiner Schulzeit fantastische Geschichten. Er studierte Englische Literatur und unterrichtet Kreatives Schreiben. Mit den Sturmlicht-Chroniken, seinem großen Fantasy-Epos um das Schicksal der Welt von Roschar, erobert er regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten und begeistert auch in Deutschland Tausende Fans. Er wird bereits als der J. R. R. Tolkien des 21. Jahrhunderts gepriesen. Brandon Sanderson lebt mit seiner Familie in Provo, Utah.
Mehr über den Autor und seine Bücher auf
www.brandonsanderson.com
Ein Roman aus der Welt der
Sturmlicht-Chroniken
Aus dem Amerikanischen von
Michael Siefener
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe ist unter dem Titel »Edgedancer«
in dem Band Arcanum Unbounded bei
Tor/Tom Doherty Associates, LLC, New York, erschienen.
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Wichtiger Hinweis:
Diese Geschichte spielt nach Die Worte des Lichts und Die Stürme des Zorns und enthält Spoiler.
Deutsche Erstausgabe 12/2019
Redaktion: Joern Rauser
Copyright © 2016 by Dragonsteel Entertainment, LLC
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlagillustration: Federico Musetti
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN: 978-3-641-18770-5
V001
www.brandon-sanderson.de
Lift bereitete sich darauf vor, großartig zu sein.
Sie rannte über ein offenes Feld im nördlichen Taschikk, etwa eine Tagesreise von Azimir entfernt. Die Gegend war mit braunem, ein oder zwei Fuß hohem Gras bewachsen. Die Bäume, die hier und da standen, waren hoch und knorrig; ihre Stämme wirkten, als bestünden sie aus umeinander geschlungenen Ranken, und die Äste zeigten eher aufwärts als seitwärts.
Sie mochten irgendeinen offiziellen Namen haben, doch jedermann nannte sie wegen ihrer nachgebenden, federnden Wurzeln bloß Totsteller. In einem Sturm fielen sie einfach zu Boden und blieben dort liegen. Danach sprangen sie wieder auf, als wäre das eine grobe Geste gegen den Wind.
Lifts Sprint schreckte eine Gruppe von Axthirschen auf, die in der Nähe gegrast hatten. Diese schlanken Kreaturen sprangen auf vier Beinen aus dem Weg und hatten dabei die beiden Vorderklauen dicht an den Körper gelegt. Diese Tierchen waren besonders lecker. Und sie hatten kaum eine richtige Schale. Aber Lift war diesmal nicht in der Stimmung für eine Mahlzeit.
Sie war auf der Flucht.
»Herrin!«, rief Wyndel, ihr Bringer der Leere – oder eher ihr Haustierchen. Er nahm die Form einer Ranke an und wuchs so schnell neben ihr her, dass er mit ihr mithalten konnte. Im Augenblick hatte er kein Gesicht, aber er konnte sprechen. Leider.
»Herrin«, bettelte er. »Könnten wir bitte einfach zurückgehen?«
Nö.
Lift wurde großartig. Dazu zog sie etwas aus dem Zeug in ihrem Innern – aus dem Zeug, das sie zum Glühen brachte. Sie machte die Sohlen ihrer Füße damit glatt und rutschte noch schneller voran.
Plötzlich rieb sich der Boden nicht mehr gegen sie. Sie glitt wie auf Eis dahin und peitschte durch die Felder. Überall um sie herum zuckte das Gras, rollte sich auf und duckte sich in die Steinfurchen. Es sah aus, als würde es sich in einer Welle vor Lift verneigen.
Sie flitzte dahin, der Wind schob ihre langen schwarzen Haare zurück und zupfte an dem flatternden Hemd, das sie über dem engeren braunen Unterhemd trug und das wiederum in ihre locker sitzende Hose gesteckt war.
Sie glitt dahin und fühlte sich frei. Nur sie und der Wind. Ein kleines Windsprengsel folgte ihr – ein weißes Band in der Luft.
Dann prallte sie gegen einen Felsen.
Dieser dämliche Fels war ihr nicht ausgewichen. Er wurde von kleinen Moosbüscheln festgehalten, die auf dem Boden wuchsen und sich an solche Dinge wie Steine klammerten, die sie als Schutz gegen den Wind nutzten. In Lifts Fuß blitzte der Schmerz auf, und sie taumelte durch die Luft und schlug mit dem Gesicht voran auf den steinigen Boden.
In einem Reflex ließ sie ihr Gesicht großartig werden – und so rutschte sie einfach weiter, glitt auf ihrem Gesicht dahin, bis sie gegen einen Baum stieß. Nun endlich hielt sie inne.
Der Baum kippte langsam und stellte sich tot. Mit einem zitternden Rascheln der Blätter und Zweige fiel er zu Boden.
Lift setzte sich auf und rieb sich das Gesicht. Sie hatte eine Schnittwunde am Fuß davongetragen, aber ihre Großartigkeit zog den Spalt im Fleisch zusammen und heilte ihn rasch. Ihr Gesicht schmerzte nicht einmal stark. Wenn ein Teil von ihr dermaßen großartig war, dann rieb er sich nicht an dem, was er berührte, sondern … glitt bloß darüber hinweg.
Dennoch kam sie sich dumm vor.
»Herrin«, sagte Wyndel und rollte sich neben ihr auf. Seine Ranke sah aus wie die, mit denen die Leute ihre Hauswände bedeckten, wenn diese nicht elegant genug wirkten. Aber entlang seiner Ranke wuchsen überall kleine Kristalle. Sie wirkten ziemlich fehl am Platze – wie Zehennägel in einem Gesicht.
Wenn er sich bewegte, schlängelte er sich nicht wie ein Aal. Er wuchs wirklich und ließ eine lange Spur aus Ranken hinter sich, die bald kristallisierten, vermoderten und sich zu Staub auflösten. Die Bringer der Leere waren schon ziemlich seltsam.
Er wand sich in einem Kreis um sich selbst, wie ein Seil, das aufgerollt wurde, und bildete einen kleinen Turm aus Ranken. Und dann wuchs etwas aus der Spitze hervor – ein Gesicht, geformt aus Ranken, Blättern und Edelsteinen. Der Mund bewegte sich, als er sprach.
»Oh, Herrin«, sagte er. »Könnten wir bitte damit aufhören, hier draußen zu spielen? Wir müssen nach Azimir zurück!«
»Zurück?« Lift stand auf. »Wir sind doch gerade erst von dort geflohen!«
»Geflohen! Aus dem Palast? Herrin, du bist Ehrengast des Kaisers gewesen! Du hattest alles, was du wolltest: Essen und …«
»Alles Lügen«, verkündete sie und stemmte die Hände in die Hüften. »Damit ich die Wahrheit nicht bemerke. Sie wollten mich essen.«
Wyndel geriet ins Stammeln. Für einen Bringer der Leere wirkte er nicht sonderlich furchterregend. Er musste … unter seinesgleichen musste er wie derjenige gewesen sein, den alle verspotten, weil er einen dummen Hut trägt. Sicherlich hatte er die anderen stets verbessert und ihnen erklärt, welche Gabel sie zu benutzen hatten, wenn sie sich zu Tisch setzten und menschliche Seele verspeisten.
»Herrin!«, sagte Wyndel. »Menschen essen keine anderen Menschen. Du bist ein Gast gewesen!«
»Ja, aber warum? Sie haben mir zu viel zu essen gegeben.«
»Du hast dem König das Leben gerettet!«
»Das hätte doch ausreichen müssen, um dort ein paar Tage zu schmarotzen«, sagte sie. »Ich habe einmal einen Kerl aus dem Gefängnis geholt, und er hat mir fünf ganze kostenlose Tage in seiner Höhle geschenkt, und dazu noch ein hübsches Taschentuch. Das war großzügig. Aber die Azisch hatten mir erlaubt, so lange bei ihnen zu bleiben, wie es mit passt.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie wollten etwas von mir. Das ist die einzige Erklärung. Sie wollten mich essen.«
»Aber …«
Lift rannte wieder los. Der kalte Stein, der von Grasbüscheln durchsetzt war, fühlte sich unter ihren Zehen und Füßen gut an. Keine Schuhe. Wozu waren Schuhe gut? Im Palast hatten sie ihr einen ganzen Haufen von Schuhen angeboten. Und dazu auch hübsche Kleidung – weite, bequeme Umhänge und Roben. Kleidungsstücke, in denen man verloren gehen konnte. Lieber hätte sie bloß etwas Weiches getragen.
Und dann hatten sie Fragen gestellt. Warum nahm sie nicht ein paar Unterrichtsstunden und lernte lesen? Sie waren dankbar für das, was sie für Gawx getan hatte, der nun der Prim Aquasix war – ein hübscher Titel für ihren Anführer. Wegen dem, was sie geleistet hatte, durfte sie sich Lehrer aussuchen, hatten sie gesagt. Sie konnte lernen, die Kleidung in der richtigen Weise zu tragen; und außerdem konnte sie das Schreiben erlernen.
Es hatte angefangen, sie aufzufressen. Wie lange hätte es wohl gedauert, bis sie nicht mehr Lift gewesen wäre, wenn sie geblieben wäre? Wie lange, bis sie ganz aufgesaugt worden wäre und ein fremdes Mädchen ihre Stelle eingenommen hätte? Gleiches Gesicht, aber doch jemand ganz anderes?
Sie versuchte wieder ihre Großartigkeit einzusetzen. Im Palast hatten sie davon gesprochen, die alten Mächte wiederzubeleben. Die Strahlenden Ritter. Das Wogenbinden. Die natürlichen Kräfte.
Ich werde mich an all jene erinnern, die vergessen wurden.
Lift machte sich mit ihrer ganzen Kraft vollkommen glatt, rutschte einige Fuß über den Boden, kippte um und rollte durch das Gras.
Sie schlug mit der Faust auf die Steine ein. Dummer Boden. Dumme Großartigkeit. Wie sollte sie denn auf den Beinen bleiben, wenn ihre Füße so schlüpfrig waren, als hätte jemand sie mit Öl eingepinselt? Sie sollte einfach wieder auf ihren Knien rutschen. Das war so viel leichter. Auf diese Weise konnte sie balancieren und ihre Hände zum Steuern verwenden. Wie eine kleine Krabbe, die hierhin und dorthin huschte.
Sie waren anmutige Schöpfungen der Schönheit, hatte Finsternis gesagt. Sie konnten auf dem dünnsten Seil dahinreiten, über die Dächer tanzen und wie ein Band im Wind auf dem Schlachtfeld umhertoben …
Das Geschöpf namens Finsternis, der Schatten eines Mannes, der sie einmal gejagt hatte, hatte diese Worte im Palast gesprochen und von jenen geredet, die – vor langer Zeit – Kräfte wie die von Lift benutzt hatten. Vielleicht hatte er auch gelogen … schließlich hatte er sie umbringen wollen.
Aber warum hätte er lügen sollen? Er hatte sie mit Spott behandelt, als wäre sie ein Nichts. Wertlos.
Sie reckte das Kinn vor und stand auf. Wyndel redete noch immer, aber sie beachtete ihn nicht, sondern rannte so schnell, wie sie es vermochte, über das verlassene Feld und schreckte dabei das Gras auf. Sie erreichte die Spitze eines kleinen Hügels, sprang in die Luft und überzog ihre Füße mit der Kraft.
Sofort geriet sie ins Rutschen. Die Luft. Die Luft, gegen die sie drückte, wenn sie sich bewegte, hielt sie zurück. Lift zischte und bestrich dann ihr ganzes Selbst mit der Kraft. Sie schnitt wie ein Messer durch den Wind und drehte sich seitwärts, während sie den Hang hinabschlitterte. Die Luft rutschte von ihr ab, als könnte sie Lift nicht zu fassen bekommen. Sogar das Sonnenlicht schien auf ihrer Haut zu schmelzen. Sie befand sich zwischen den Orten, war hier und doch nicht hier. Keine Luft, kein Boden. Nur die reine Bewegung, und zwar so schnell, dass Lift das Gras erreichte, bevor sich dieses vor ihr zurückziehen konnte. Es umschwamm sie geradezu und wurde durch ihre Kraft beiseitegedrückt.
Ihre Haut glühte; Ranken aus rauchigem Licht stiegen von ihr auf. Lachend erreichte sie den Fuß des kleinen Hügels und übersprang einige Felsbrocken.
Und dann rannte sie mit dem Kopf voran gegen einen weiteren Baum.
Die Blase der Kraft, die sich um sie gebildet hatte, zerplatzte. Der Baum kippte zu Boden, und sicherheitshalber beschlossen die nächsten beiden, seinem Beispiel zu folgen. Vielleicht glaubten sie, dass ihnen eine Gefahr entgangen war.
Wyndel erreichte Lift und sah, dass sie wie eine Närrin grinste und hoch zur Sonne starrte. Sie hatte sich auf dem Baumstamm ausgestreckt und die Arme zwischen die Äste gesteckt, und ein einzelnes goldenes Ruhmsprengsel – geformt wie eine Kugel – kreiste über ihr.
»Herrin?«, sagte er. »Oh, Herrin. Du warst so glücklich im Palast. Ich habe es dir angesehen!«
Darauf erwiderte sie nichts.
»Und der Kaiser«, fuhr Wyndel fort. »Er wird dich vermissen! Du hast ihm nicht einmal gesagt, wo du hingehst!«
»Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen.«
»Eine Nachricht? Du hast also doch gelernt … zu schreiben?«
»Bei den Stürmen, nein. Ich habe ihm sein Abendessen stibitzt. Unter der Abdeckung des Tabletts hinweg, als sie es ihm gebracht haben. Gawx weiß, was das bedeutet.«
»Das finde ich zweifelhaft, Herrin.«
Sie kletterte von dem umgekippten Baum herunter, reckte und streckte sich und blies sich die Haare aus den Augen. Vielleicht konnte sie wirklich auf Hausdächern tanzen, auf Seilen reiten und … was war das andere noch gewesen? Wind machen? Ja, das konnte sie auf alle Fälle. Sie ging weiter über das Feld.
Leider beschwerte sich nun ihr Magen lautstark darüber, dass sie ihre Großartigkeit in der letzten Zeit so oft eingesetzt hatte. Sie brauchte Nahrung, sogar mehr als die meisten anderen Leute. Ihre Großartigkeit konnte sie aus allem ziehen, was sie aß, aber mit leerem Magen war sie nicht in der Lage, etwas Unglaubliches zu tun. Dann musste sie warten, bis sie wieder etwas zu futtern bekam.
Ihr Magen knurrte bedrohlich. Sie stellte sich manchmal vor, dass er sie verfluchte, und sie durchsuchte ihre Taschen. In ihrem Gepäck befand sich nichts mehr zu essen, obwohl sie heute Morgen so viel mitgenommen hatte. Aber hatte sie nicht eine Wurst am Boden ihrer Tasche gesehen, bevor sie den Rest zusammengerafft hatte?
Ah, richtig. Die Wurst hatte sie gegessen, als sie vor ein paar Stunden den Flusssprengseln zugesehen hatte. Trotzdem suchte sie weiter, aber sie fand nur das Tuch, worin das große Fladenbrot eingewickelt gewesen war, als sie dieses in ihrem Gepäck verstaut hatte. Sie steckte sich ein Teil des Tuchs in den Mund und kaute darauf herum.
»Herrin?«, fragte Wyndel.
»Hat v’lleicht noch Kr’mel dr’n«, nuschelte sie um das Tuch herum.
»Du hättest nicht so viel wogenbinden dürfen!« Er wand sich neben ihr über den Boden und hinterließ eine Spur aus Ranken und Kristallen. »Und wir hätten wirklich im Palast bleiben sollen. Oh, wie konnte mir das nur passieren? Ich sollte jetzt eigentlich mit Gärtnern beschäftigt sein. Ich habe die großartigsten Stühle gezogen.«
»Ftühle?«, fragte Lift und erstarrte.
»Ja, Stühle.« Wyndel ringelte sich neben ihr zusammen und formte wieder ein Gesicht aus, das sich ihr am oberen Ende der Ranke entgegenneigte. »Als ich noch in Schadesmar war, hatte ich eine großartige Sammlung von Stuhlseelen zusammengetragen, die von deiner Seite kamen. Ich habe sie kultiviert und in großen Kristallen angebaut. Ich hatte einen Rohrstuhl, einen hübschen Rattanstuhl und eine großartige Kollektion von Armlehnstühlen. Und sogar einen oder zwei Throne!«
»Bu haft Ftühle ammebaut?«
»Natürlich habe ich Stühle angebaut«, sagte Wyndel. Sein Rankenband sank in sich zusammen, und er folgte Lift, als sie weiterging. »Was sonst sollte ich denn anbauen?«
»Flanfn.«
»Pflanzen? Nun, es gibt solche in Schadesmar, aber ich bin doch kein gewöhnlicher Gärtner. Ich bin ein Künstler! Ich hatte eine Sofa-Ausstellung geplant, als der Ring mich zu dieser abscheulichen Pflicht bestimmt hat.«
»Grofe vdammpe ’hre.«
»Würdest du bitte das Tuch aus dem Mund nehmen?«, fuhr Wyndel sie an.
Lift gehorchte.
Wyndel schnaubte. Wie es einem so kleinen Rankending gelang zu schnauben, wusste Lift nicht. Aber er tat es andauernd. »Also, was wolltest du sagen?«
»Unsinn«, meinte Lift. »Ich wollte nur sehen, wie du darauf reagierst.« Nun steckte sie sich die andere Seite des Tuchs in den Mund und saugte daran.
Sie setzten ihren Weg fort, während Wyndel seufzte und etwas über das Gärtnern und sein armseliges Leben murmelte. Er war fürwahr ein seltsamer Bringer der Leere. Wenn sie es recht bedachte, hatte sie noch nie bemerkt, dass er am Verzehren einer Seele auch nur das geringste Interesse gezeigt hatte. War er vielleicht ein Vegetarier?
Sie kamen durch einen kleinen Wald; eigentlich handelte es sich nur um einen Hain. Es waren keine Totsteller, die zwar auch in Gruppen wuchsen, aber immer viel Platz zwischen sich ließen. Doch die Äste dieser Bäume schlangen sich umeinander, und sie wuchsen dicht an dicht, damit sie den Großstürmen gemeinsam besser widerstehen konnten.
Das war doch die richtige Art und Weise, oder? Jeder schlang seine Zweige um den anderen. Sie machten sich gegenseitig stark. Aber Lift war eine Totstellerin. Hak dich nicht bei den anderen unter, lass dich nicht von ihnen vereinnahmen. Geh deinen eigenen Weg.
Ja, genau so war sie. Offenbar hatte sie deshalb den Palast verlassen. Man konnte kein eigenes Leben führen, wenn man jeden Tag beim Aufstehen dieselben Dinge sah und tat. Man musste in Bewegung bleiben, denn sonst wussten die Leute bald, wer man war, und dann erwarteten sie bestimmte Dinge von einem. Und von dort war es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Aufgefressenwerden.
Inmitten der Bäume blieb sie stehen – auf einem Pfad, den jemand geschnitten und gepflegt hatte. Sie schaute nach hinten, nach Norden, in Richtung Azimir.
»Geht es um das, was dir zugestoßen ist?«, fragte Wyndel. »Ich weiß nicht viel über die Menschen, aber ich glaube, dass es etwas Natürliches war, auch wenn es sehr beunruhigend erscheint. Du bist nicht verwundet worden.«
Lift beschattete sich die Augen. Die falschen Dinge änderten sich. Sie sollte dieselbe bleiben, und die Welt sollte sich um sie herum verändern. Sie hatte es herausgefordert, nicht wahr?
War sie angelogen worden?
»Gehen wir … zurück?«, fragte Wyndel hoffnungsvoll.
»Nein«, meinte Lift. »Wir sagen nur Lebewohl.« Lift steckte die Hände in die Hosentaschen, drehte sich um und ging weiter durch den kleinen Wald.