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Buch

Paige und Heather sind Rivalinnen, seit Heather ihrer Cousine den Freund ausspannte. Tief verletzt und einsam versucht Paige ihr Glück nun beim Onlinedating. Auch ihre Mutter Joan möchte nach dem Tod ihres Mannes vor zwei Jahren gerne wieder einen neuen Partner finden. Und Paiges beste Freundin Chloe hat vor, ihren gewalttätigen Exmann zu ersetzen, sobald die Scheidungspapiere unterschrieben sind. Zusammen steuern die Frauen ins kabbelige Fahrwasser des Onlinedatings – eine Welt, in der sich auch Heather gut auskennt. Doch dann macht eine von ihnen unwissentlich ein Date mit einem Killer aus …

Mehr zu Joy Fielding und ihren Büchern finden Sie am Ende des Buches.

Joy Fielding

Blind Date

ROMAN

Aus dem Amerikanischen
von Kristian Lutze

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »All the Wrong Places« bei Ballantine Books, New York.

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Copyright © der Originalausgabe 2019 by Joy Fielding, Inc.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic®, München

Redaktion: Ulla Mothes

AG · Herstellung: Han

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-19059-0
V008


www.goldmann-verlag.de

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Für Warren, in Liebe, immer

KAPITEL 1

»Erzähl mir von dir«, sagt er und lächelt. Ein freundliches Lächeln, wie er hofft, weder zu breit noch zu schmal, sondern eins, das auf den trockenen, vielleicht sogar unkonventionellen Humor hindeutet, der ihr seiner Meinung nach gefallen würde. Er möchte sie mit seinem Charme bezaubern. Er möchte, dass sie ihn mag.

Die junge Frau, die ihm an dem makellos gedeckten Tisch gegenübersitzt, zögert. Als sie spricht, ist ihre Stimme bebend und leise. »Was möchtest du wissen?«

Sie ist schön: Ende zwanzig, eine Haut wie Porzellan, dunkelblaue Augen, langes braunes Haar und ein Dekolletee, das gerade genug vom Ansatz ihrer schönen Brüste sehen lässt. Genau wie angepriesen, was keineswegs immer der Fall ist. Normalerweise posten sie Fotos, die schon ein paar Jahre alt sind, und die Frauen selbst sind noch älter. »Nun, zunächst einmal wieso eine Dating-App? Ich meine, du bist hinreißend. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du Probleme hast, Männer zu treffen, schon gar nicht in Boston.«

Sie zögert erneut. Sie ist schüchtern, nicht selbstbezogen, sondern aufmerksam. Das gefällt ihm auch. »Ich dachte, es wäre ein Spaß«, sagt sie. »Alle meine Freundinnen ­machen es. Und ich war für eine Weile raus aus der Dating-Szene …«

»Du hattest einen Freund.«

Sie nickt. »Wir haben uns vor vier Monaten getrennt.«

»Hast du dich von ihm getrennt?«

»Nein, ehrlich gesagt. Er hat mich verlassen.«

Er lacht. »Das finde ich schwer zu glauben.«

»Er hat gesagt, er sei noch nicht bereit, sich zu binden«, fährt sie unaufgefordert fort. In ihren Augen stehen Tränen. Ein, zwei lösen sich und bleiben an ihren Wimpern hängen.

Instinktiv streckt er die Hand aus, um sie abzuwischen, sorgfältig darauf bedacht, ihre Mascara nicht zu verschmieren. »Du vermisst ihn«, sagt er.

»Nein«, erwidert sie hastig. »Eigentlich nicht. Nur manchmal ist es schwer. Ich glaube, ich vermisse es mehr, als Paar unterwegs zu sein, unsere Freunde …«

»Wart ihr lange zusammen?«

»Etwas mehr als ein Jahr. Und du?«

Er lächelt. Sie gibt sich Mühe, denkt er. Obwohl er spürt, dass sie nicht mit dem Herzen bei der Sache ist. Aber ­manche Frauen kommen gar nicht darauf zu fragen. »Ich? Nein. Es ist schon eine Weile her, dass ich in einer ernsthaften Beziehung war. Aber wir sprachen von dir.«

Sie blickt auf ihren Teller. Sie hat ihr Essen nicht angerührt, dabei hat er es stundenlang zubereitet, hat die teuren Steaks den ganzen Nachmittag mariniert, den Salat aus Feta und Melonen kunstvoll auf Porzellangeschirr mit Blumenmuster arrangiert, denn er wollte sie beeindrucken. Vielleicht ist sie Vegetarierin, denkt er, obwohl nichts auf ihrem Profil darauf hingedeutet hat.

Er hätte fragen sollen, als er das Essen vorgeschlagen hat. »Erzähl mir von deiner Kindheit.«

Sie wirkt überrascht. »Von meiner Kindheit?«

»Ich nehme an, du hattest eine.« Wieder das nette Lächeln, das größere Tiefe andeutet.

»Die war ziemlich gewöhnlich. Da gibt es nicht viel zu erzählen.«

»Ich vermute, du stammst aus der gehobenen Mittelschicht«, sagt er, in der Hoffnung, ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Eigentlich nicht. Na ja, vielleicht am Anfang«, räumt sie zögernd ein. »Bis ich sechs war und meine Eltern sich haben scheiden lassen. Danach wurde alles anders.«

»Inwiefern?«

»Wir mussten umziehen. Meine Mom musste wieder arbeiten. Mein Dad hat noch mal geheiratet, eine Frau, die wir nicht mochten, deshalb wurden wir ständig hin und her verfrachtet.«

»Wir?«

»Meine Brüder und ich.«

»Ich mag deine Art, dich auszudrücken«, unterbricht er sie. »Die meisten Menschen haben schon Mühe, einen korrekten Hauptsatz zu bilden, von Kausalsätzen mit korrekten Konjunktionen ganz zu schweigen.« Er zuckt mit den Schultern, als er ihr wachsendes Unbehagen spürt. Nicht jeder teilt sein Interesse an Grammatik. »Wie viele Brüder hast du?«, steuert er die Unterhaltung zurück auf sicheren Boden.

»Zwei. Einer ist in New York. Der andere in L.A

»Und deine Mom? Wo lebt die?«

»Hier in Boston?«

»Weiß sie, wo du heute Abend bist? Nun, wie könnte sie?«, beantwortet er seine eigene Frage mit einer weiteren. »Sie würde es bestimmt nicht gutheißen, dass du dich auf ein Abendessen in der Wohnung eines fremden Mannes eingelassen hast, oder? Bist du immer so abenteuerlustig?« Er legt den Kopf zur Seite, eine Geste, die andere in der Vergangenheit charmant gefunden haben, und wartet auf ihre Antwort.

Wieder zögert sie. »Nein.«

»Sollte ich mich geschmeichelt fühlen? Denn ich fühle mich irgendwie geschmeichelt, muss ich zugeben.«

Sie wird rot, ob aus Verlegenheit oder in Erwartung, kann er nicht sagen.

»Ist es, weil ich so gut aussehe?« Er sagt es spielerisch, begleitet von einem weiteren Lächeln, seinem bislang nettesten, und obwohl sie nicht antwortet, weiß er, dass er recht hat. Er sieht so was von gut aus. (»Hübscher Junge«, hat sein Vater immer höhnisch gesagt.) Viel attraktiver als das Bild, das er auf der Dating-Seite gepostet hat, denn das ist in Wahrheit gar kein Bild von ihm, sondern von irgendeinem Model mit nacktem Oberkörper, Waschbrettbauch und gewöhnlichen Gesichtszügen, das er in der Men’s Health gefunden hat.

So attraktiv, dass eine Frau die nagende Stimme in ihrem Kopf, die sie zur Vorsicht mahnt, zum Schweigen bringt und ihm aus der vollen Bar, in der sie verabredet waren, in seine Wohnung in der Nähe von Sargent’s Wharf folgt, wo er ihr ein Gourmetessen versprochen hat.

»Du isst ja gar nichts«, sagt er. »Ist das Steak zu blutig?«

»Nein, ich kann bloß nicht …«

»Bitte. Du musst es wenigstens probieren.« Er schneidet auf seinem Teller ein Stück Fleisch ab, spießt es auf die Gabel und führt sie über den Tisch zu ihrem Mund. »Bitte«, sagt er noch einmal, als Blut von dem Steak auf das weiße Tischtuch tropft.

Sie öffnet den Mund, um das fast rohe Stück Fleisch entgegenzunehmen.

»Vorsichtig kauen«, ermahnt er sie. »Nicht dass du würgen musst.«

»Bitte …«, sagt sie, als das Handy in seiner Tasche zu klingeln beginnt.

»Warte. Nur einen Moment.« Er zieht das flache Telefon heraus, wischt von links nach rechts über das Display und hält das Gerät ans Ohr. »Hallo, hallo«, sagt er und senkt verführerisch die Stimme; seine Lippen streifen das Display. Endlich, denkt er.

»Hi«, antwortet die Frau am anderen Ende. »Ist da … Mr Right Now?« Sie kichert, er lacht. Mr Right Now ist der Name, unter dem er auf den zahlreichen Dating-Portalen firmiert, die er abonniert hat.

»Ja. Ist dort … Wildflower?«

»Ja«, sagt sie mehr als einen Hauch verlegen und offenbar weniger entspannt mit Pseudonymen als er.

»Nun, Wildflower«, sagt er. »Ich bin so froh, dass du anrufst.« Er wartet schon seit einer gefühlten Ewigkeit auf diesen Moment.

»Bist du immer noch in Florida?«, fragt sie. »Passt es gerade nicht?«

»Doch. Perfekt. Ich bin gerade vor einer Stunde zurückgekommen.«

»Wie geht es deiner Mutter?«

»Viel besser. Nett, dass du fragst. Wie geht es dir?«

»Mir? Gut.« Sie zögert. »Ich habe gedacht, dass du vielleicht recht hast und wir einen neuen Anlauf starten sollten.«

»Kein Vielleicht«, sagt er, weil er sie unbedingt festnageln will. »Jedenfalls meinerseits nicht. Wie wär’s mit Mittwoch?«

»Mittwoch ist gut.«

»Super. Kennst du Anthony’s Bar in der Boylston Street? Ich weiß, dort ist es meistens sehr voll und manchmal auch ziemlich laut, aber …«

»Anthony’s ist super«, sagt sie wie erwartet. Frauen verabreden sich bevorzugt in vollen lauten Bars.

Er lächelt die Frau an, die ihm am Tisch gegenübersitzt, und bemerkt, dass ihre Tränen jetzt ungehemmt fließen. Er sieht auf die Uhr und macht diesmal keine Anstalten, die Tränen wegzuwischen. In Anthony’s Bar hat er vor nicht einmal zwei Stunden auch sie getroffen. Er ist grob und unsensibel.

»Sagen wir um sechs?«, fragt er ins Telefon.

»Sechs ist gut.«

»Und keine Absagen in letzter Minute mehr?«

»Ich werde um Punkt sechs Uhr dort sein.«

»Nein!«, ruft seine Essensbegleiterin plötzlich. »Nicht …«

Er ist sofort auf den Beinen, holt aus und schlägt ihr mit der flachen Hand hart ins Gesicht. So heftig, dass der Stuhl, an den sie gefesselt ist, die Hände mit Handschellen hinter dem Rücken fixiert, auf zwei Beinen kippelt und umzufallen droht, wodurch die Schlinge um ihren Hals sich enger zuzuziehen droht. Er beobachtet, wie sie panisch nach Luft schnappt. Wenn sie noch eine Minute hilflos herumstrampelt, wird sie wahrscheinlich ohnmächtig.

Dafür ist er noch nicht bereit. Er ist noch nicht fertig mit ihr.

»Was war das?«, fragt die Frau, die sich Wildflower nennt.

»Was war was?«, fragt er locker zurück, geht um den Tisch, stabilisiert den Stuhl und hält der panischen Frau mit der freien Hand den Mund zu. »Oh. Wahrscheinlich nur der Fernseher. Da kriegt gerade jemand gründlich die Fresse poliert. Entschuldige die Ausdrucksweise.«

Ein kurzes Schweigen. Er kann förmlich spüren, wie Wildflower lächelt.

»Sagst du mir deinen richtigen Namen?«, wagt sie zu fragen.

»Ich sage dir meinen, wenn du mir deinen sagst«, erwidert er flirtend. Eine Lüge. Er sagt keiner der Frauen seinen richtigen Namen. »Obwohl ich gestehen muss, dass ich Wildflower irgendwie mag.«

»Dann belassen wir es doch fürs Erste dabei.«

»Bis Mittwoch dann«, sagt er.

»Bis Mittwoch.«

Er schiebt das Telefon wieder in die Tasche und löst die Hand vom Mund der Frau. »Wenn du schreist, steche ich dir dieses Steakmesser ins Auge«, sagt er ruhig und hält ihr die gezackte Klinge vors Gesicht. Die Schlinge um ihren Hals hat sich in ihre Haut eingeschnitten. Er bezweifelt, dass sie genug Luft bekommt, um zu schreien, selbst wenn sie wollte. Trotzdem, er hat sie eben schon unterschätzt.

Sie war ein leichtes Opfer gewesen. Beinahe zu leicht. Verzaubert von seiner Erscheinung hatte sie all seinen Vorschlägen zugestimmt, hatte eingewilligt, die überfüllte Bar zu verlassen, um ein selbst zubereitetes Essen in seiner Wohnung zu genießen, hatte sich dort bereitwillig an den kleinen runden Tisch gesetzt, der bereits mit weißem Leinen eingedeckt war, ohne die Gefahr zu erkennen, in der sie schwebte, bis ihre Hände mit Handschellen hinter ihrem Rücken gefesselt waren und der Strick sich buchstäblich um ihren Hals gelegt hatte.

Sie hatte sich so bemüht, folgsam zu sein, hatte das ­alberne Spiel mitgespielt, so zu tun, als wäre dies ein echtes Date, hatte seine dummen Fragen beantwortet und sogar selbst welche gestellt, zweifelsohne in der Hoffnung, ihr Leben zu retten. Und selbst als sie das als Wunschtraum erkannte, weil der Anruf ihr klargemacht hatte, dass sie nur eine von vielen und in keiner Weise besonders war, dass er bereits vorausdachte, wer hätte geahnt, dass sie den Mumm haben würde, sein nächstes Opfer zu warnen? Das bewundert er.

Nicht dass es eine Rolle spielt.

Er setzt sich wieder an den Tisch und beendet ruhig sein Mahl, sorgsam darauf bedacht, jeden Happen Fleisch dreißig Mal zu kauen, wie sein Vater es ihm immer eingeschärft hat. Er hofft, dass sie keine Dummheiten anstellt, die es erforderlich machen würden, sie schnell zu erledigen. Er möchte sich Zeit mit ihr nehmen und ihr zeigen, dass er mehr zu bieten hat als ein hübsches Gesicht.

Er lächelt, um ihr seine volle Aufmerksamkeit zu signalisieren. Das hat sie verdient. Aber noch während er mit der Gabel das letzte Stück Fleisch zum Mund führt, eilt seine Fantasie voraus.

Zum kommenden Mittwoch.

Zu der Frau, die sein Werk krönen wird. Wildflower.

KAPITEL 2

Drei Wochen zuvor

Als Paige Hamilton um kurz nach sieben Uhr morgens aufwachte, saß ihre Mutter im Schlafanzug neben ihrem Bett. Ihr normalerweise jugendliches Gesicht war von Sorgenfalten gezeichnet, mit denen man ihr jedes ihrer siebzig Jahre ansah.

»Mom?«

»Wie war dein Date gestern Abend?«

»Du hast mich geweckt, um mich nach meinem Date zu fragen?«

»Wie war es?«

»Nicht gut.« Paige stützte sich auf ihre Ellbogen und erinnerte sich an das verunglückte Rendezvous vom vergangenen Abend, während sie ihr schulterlanges braunes Haar aus den Augen schüttelte. Der Mann war mindestens zehn Kilo schwerer und einen Kopf kleiner gewesen, als in seinem Profil auf Match Sticks angegeben. Was war los mit diesen Typen? Glaubten sie, Frauen hätten keine Augen im Kopf und würden die Diskrepanz nicht bemerken?

»Das ist schade«, sagte ihre Mutter. »Du fandest doch, er klang vielversprechend.«

»Mom … was ist los?«

»Ich will dich nicht beunruhigen.«

»Dafür ist es zu spät.«

»Tut mir leid.«

»Entschuldige dich nicht. Sag mir, was los ist.«

Der Seufzer ihrer Mutter erschütterte das Doppelbett. »Ich glaube, ich habe vielleicht einen Schlaganfall.«

Paige war sofort auf den Beinen und tigerte über das Parkett. »Wovon redest du? Wie kommst du darauf, dass du einen Schlaganfall hast?« Sie studierte die Gesichtszüge ihrer Mutter auf Anzeichen von Unausgeglichenheit. Ein herabhängendes Augenlid, eine zuckende Lippe. »Du lallst nicht. Ist dir schwindelig? Hast du Schmerzen?«

»Ich habe keine Schmerzen, und mir ist nicht schwindelig«, gab ihre Mutter zurück. »Du hast eine so hübsche ­Figur«, sagte sie, als ob das unter den Umständen eine völlig normale Bemerkung wäre.

Paige nahm ihren Morgenmantel aus pinkfarbener Seide vom Fußende des Bettes und schlüpfte hinein.

»Ich wusste nicht, dass du nackt schläfst«, fuhr ihre Mutter fort. »Das wollte ich auch immer, aber dein Vater bevorzugte Schlafanzüge, also bin ich seinem Beispiel gefolgt.«

»Mom! Konzentrier dich! Wieso glaubst du, dass du einen Schlaganfall hast?«

»Es ist meine Sicht«, antwortete ihre Mutter. »Sie ist irgendwie seltsam.«

»Was meinst du mit seltsam? Inwiefern seltsam?«

»Ich sehe lauter blitzende Lichter und schnörkelige Linien, und ich habe mal irgendwo gelesen, dass eine Veränderung der Sicht häufig das erste Anzeichen für einen Schlaganfall ist. Oder vielleicht auch für eine Netzhautablösung. Was denkst du?«

»Ich denke, ich wähle den Notruf.«

»Wirklich, Schatz? Meinst du, das ist nötig?«

»Ja, Mom, das meine ich wirklich.« Paige nahm das Smartphone von ihrem Nachttisch und wählte den Notruf. »Versuche, ganz ruhig zu bleiben«, ermahnte sie ihre Mutter, obwohl sie diejenige war, die kurz vor einem hysterischen Anfall stand. Sie hatte vor zwei Jahren ihren Vater an Krebs verloren und war nicht bereit, sich auch von ihrer Mutter zu verabschieden. Mit dreiunddreißig empfand sie sich als viel zu jung, um Waise zu werden. »Was machst du?«, fragte sie, als ihre Mutter aufstand.

»Ich sollte mich wahrscheinlich besser anziehen.«

»Setz dich wieder hin«, befahl Paige und lauschte dem Freizeichen. »Rühr dich nicht von der Stelle.« Frustriert warf sie den freien Arm in die Luft. »Was ist los? ­Warum geht niemand ans Telefon? Ich dachte, das wäre ein Notru…«

»Notrufzentrale«, unterbrach eine Frauenstimme Paiges Tirade. »Um was für einen Notfall handelt es sich?«

»Meine Mutter hat einen Schlaganfall.«

»Also, es könnte auch eine Netzhautablösung sein«, meldete sich ihre Mutter zu Wort.

»Wir brauchen sofort einen Krankenwagen.« Paige nannte der Frau die Adresse der schicken Eigentumswohnung ihrer Mutter in Back Bay. »Sie sind in fünf Minuten hier«, verkündete sie, ging zu dem angrenzenden Bad, spritzte sich ein wenig Wasser ins Gesicht, trug Deo auf, zog die erstbesten Kleidungsstücke aus ihrem Schrank und streifte sie über.

»Das ist ein hübsches Kleid«, sagte ihre Mutter. »Ist das neu?«

Paige blickte auf das legere geblümte Sommerkleid, das Noah immer gehasst hatte. Sie erinnerte sich daran, das ­Noahs Vorlieben und Abneigungen nicht mehr ihre Sorge waren. »Nein, das habe ich schon eine Weile.« Sie nahm einen Spitzenslip aus der obersten Schublade, schlüpfte hinein und zog ihn über ihre schlanken Hüften.

»Du trägst keinen BH?«, fragte ihre Mutter.

»Nun, ich brauche eigentlich keinen«, sagte Paige und entschied, dass ihre Mutter ihr durch ihr Bemühen um eine normale Unterhaltung versichern wollte, dass sie wieder gesund und, selbst wenn sich ihre Netzhaut ablöste oder sie – Gott bewahre – einen Schlaganfall hatte, alles gut werden würde.

Aber es war nicht gut, und zwar schon eine ganze Weile nicht.

»Ich brauchte auch nie einen«, sagte ihre Mutter beinahe wehmütig und blickte auf ihre mehr als vollen Brüste. »Und dann krieg ich auf einmal die hier. Jetzt! Wo niemand mehr hinguckt. Wo es allen egal ist.«

Unter anderen Umständen hätte Paige vielleicht gelacht. Jetzt konnte sie nur gegen die Tränen ankämpfen. »Mir nicht.« Sie setzte sich neben ihre Mutter und drückte sie fest an sich.

»Du bist ein gutes Mädchen.« Ihre Mutter lehnte den Kopf an Paiges Schulter. »Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt. Das weißt du, oder?«

»Ich weiß.« Paige spürte ein stechendes Schuldgefühl. Nicht dass sie ihre Mutter nicht liebte. Das stand außer Frage. Aber sie war immer mehr ein Vaterkind gewesen, und die übergroße Persönlichkeit ihres Vaters hatte alles um ihn herum überschattet, selbst auf dem Sterbebett noch. »Ich liebe dich auch.«

»Mach dir keine Sorgen.« Ihre Mutter tätschelte Paiges Knie. »Ich werd schon wieder.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Paige lächelte. Sie wusste, dass solche Versprechen sinnlos waren. Hatte ihre Mutter nicht das Gleiche versprochen, als man bei ihrem Vater Krebs diagnostiziert hatte, woran er kaum ein Jahr später gestorben war?

»Mach dir keine Sorgen. Dein Vater wird schon wieder«, hatte sie Paige und ihrem Bruder versichert, obwohl ­Michael, fast vier Jahre älter als Paige und ein erfolgreicher Kardiologe in Livingston, New Jersey, vermutlich nicht so leichtgläubig gewesen war.

Ihre Mutter blickte zur Schlafzimmertür. »Ich sollte mir wenigstens einen Bademantel überziehen.«

»Ich hol ihn«, sagte Paige. »Nicht bewegen.«

»Bring auch was Frisches zum Anziehen mit, falls sie mich wieder nach Hause schicken«, rief ihre Mutter Paige nach, als diese durch den Flur zum Schlafzimmer ging. Sonnenlicht flutete durch die automatischen Jalousien im Wohnzimmer und warf Streifen wie Blitze auf den beigefarbenen Marmorboden.

Vor fünf Jahren hatten ihre Eltern das fast sechshundert Quadratmeter große Haus in Weston am Stadtrand von Boston verkauft und waren in die großzügige Wohnung gezogen. (»Wer braucht noch ein so großes Haus?«, hatte ihre Mutter damals gefragt. »Ihr Kinder seid längst flügge, und der Hund ist tot.«)

Hatte ihre Mutter schon immer einen so sarkastischen Humor gehabt, fragte Paige sich jetzt. Und warum war ihr das vorher nicht aufgefallen?

Die in einem der begehrtesten Viertel von Boston gelegene Eigentumswohnung war modern und geräumig, mit bodentiefen Fenstern im Wohnzimmer, in der Bibliothek, die ihrem Vater als Arbeitszimmer gedient hatte, und dem kleinen privaten Salon, der von der großen Küche abging. Die beiden Schlafzimmer lagen an einem Flur auf der gegenüberliegenden Seite der Wohnung. Und aus jedem Raum hatte man einen atemberaubenden Blick auf die City.

Paige lief über den elfenbeinfarbenen Seidenteppich in dem großen Schlafzimmer, stieß mit der Hüfte gegen einen Pfosten des Doppelbetts und hastete weiter zu dem begehbaren Kleiderschrank. Eigentlich war es mehr ein Raum voller Kleiderschränke, dachte Paige und fragte sich, ob die Sachen ihres Vaters immer noch seine Hälfte belegten oder ob ihre Mutter sie endlich weggegeben hatte. Robert Hamil­ton hatte sich gern schick angezogen, egal, ob in Anzug und Krawatte oder in legerer Freizeitkleidung, dachte Paige ­lächelnd. Jahre, bevor es Mode geworden war, hatte er eine riesige Sammlung bunter und wildgemusterter Socken sein Eigen genannt, die perfekt zu seiner übergroßen und ebenso farbenfrohen Persönlichkeit gepasst hatten.

Paige wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, die ihren Blick verschleierten. Sie vermisste ihren Vater so sehr.

Würde sie jetzt auch noch ihre Mutter verlieren? Waren alle, die sie liebte, entschlossen, sie zu verlassen?

»Gott, du bist eine egoistische Kuh«, murmelte sie, nahm den blauen Frotteebademantel von dem Haken im Kleiderschrank, wählte ein Baumwollkleid in Rosé sowie erstaunlich gewagte Unterwäsche – hatte ihre Mutter schon immer seidige Pantys und Push-up-BHs getragen? – aus der Einbaukommode und trug alles in ihr Zimmer.

Nicht, dass das zweite Schlafzimmer für sie gedacht gewesen war. Ursprünglich sollte es als Gästezimmer dienen, wenn Michael mit seiner Familie zu Besuch kam. Aber ­Michaels Terminplan verhinderte, dass das allzu häufig geschah, und seine Frau übernachtete lieber in einem Hotel, sodass der Raum weitgehend leer und unbenutzt geblieben war. Aber dann war Paiges Vater gestorben, sie hatte vor einem halben Jahr ihren Job verloren, und zwei Monate später hatte ihr bei ihr wohnender Freund sie wegen einer anderen Frau verlassen. Am Ende war es Paige gewesen, die ausziehen musste, und ihre Mutter hatte vorgeschlagen, dass sie bei ihr einzog. »Nur vorübergehend«, hatte sie betont. »Bis du wieder auf eigenen Füßen stehst.«

Würde das jemals passieren, fragte Paige sich, als sie in ihr Zimmer kam, wo ihre Mutter am Fenster stand und auf die von Bäumen gesäumte Straße zehn Stockwerke tiefer blickte. »Mom, was machst du? Ich hab dir doch gesagt, du sollst stillsitzen.«

»Ich bewundere bloß den Tag. Kein Wölkchen am Himmel.«

»Kannst du richtig sehen?«, fragte Paige. »Was machen deine Augen?«

»Immer noch jede Menge Feuerwerk. Es ist wie eine dieser Multimedia-Shows, nur ohne Ton.« Sie verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln.

»Du machst mir Angst.«

»Tut mir leid, Schätzchen. Das ist wirklich das Letzte, was ich will. Ich werd schon wieder, versprochen.«

Als Paige ihrer Mutter gerade in den Bademantel half, klingelte das Telefon. Paige lauschte der besorgten Stimme der Concierge, legte auf und atmete tief ein, bevor auch sie ein Lächeln aufsetzte. »Der Krankenwagen ist da.«

KAPITEL 3

»Joan Hamilton?«, fragte der Mann, der das kleine unpersönliche Arztzimmer betrat und die Tür hinter sich schloss. Sein Blick zuckte zwischen Paige und ihrer Mutter hin und her. Er war jung mit dichtem, dunklem, welligem Haar und einer freundlichen Ausstrahlung. Er trug einen weißen Kittel über einer eng geschnittenen Khakihose und einem blauweiß karierten Hemd.

»Das bin ich«, sagte Paiges Mutter, hob die Hand und winkte mit den Fingern. Sie hatten ihren Pyjama aus- und die von Paige mitgebrachten Kleider angezogen.

»Ich bin Dr. Barelli.« Der Arzt nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und lächelte die beiden Frauen an. »Wie fühlen Sie sich?«

»Ich fühle mich gut«, sagte Joan Hamilton. »Ein bisschen dumm. Meine Augen … also, jetzt scheint alles wieder in Ordnung …«

Dr. Barelli klappte den Order in seinen Händen auf und überflog den Inhalt, Paige und ihre Mutter beobachteten ihn erwartungsvoll. Sonst gab es auch nichts, was eine eingehendere Betrachtung gelohnt hätte – die hellgrünen Wände waren bis auf ein paar austauschbare Landschaftsdrucke kahl; das Mobiliar war auf das Nötigste beschränkt und strikt funktional; auf dem Schreibtisch gab es keinerlei persönliche Gegenstände oder Familienfotos; und aus dem Fenster dahinter blickte man auf eine Backsteinmauer. Wahrscheinlich ein Gemeinschaftsraum, der für schnelle Gespräche und Konsultationen genutzt wurde. Trotzdem war es eine angenehme Erholung von den endlosen Fluren und Plastikstühlen, auf denen Paige seit ihrer Ankunft im Massachusetts General Hospital gesessen hatte. Und wenn sie nie wieder in ihrem Leben eine uralte Ausgabe des Star-Magazins sah, wäre das immer noch zu früh.

Es war kurz vor ein Uhr mittags. Sie waren seit fast fünf Stunden in dem Krankenhaus. Ihre Mutter hatte sich zahlreichen Tests unterzogen, darunter einer Magnetresonanztomografie und einem Netzhautscan sowie einer Reihe von Untersuchungen, um festzustellen, dass ihr Herz funktionierte, wie es sollte. Laboranten hatten ihr so viel Blut abgenommen, dass Paige staunte, dass ihre Mutter überhaupt noch Farbe im Gesicht hatte.

»Nun«, begann der Arzt, blickte von seinem Ordner auf und lächelte wieder. Kleine Fältchen breiteten sich von seinen Wangen bis in die Augenwinkel aus. »Soweit ich sehe, sind das alles gute Nachrichten.«

»Gute Nachrichten?«, fragten Paige und ihre Mutter gleichzeitig.

»Ihre Blutwerte sind geradezu langweilig normal, wenn ich das sagen darf. Sie haben einen leicht erhöhten Blutdruck, aber nichts, worüber man sich übermäßig Sorgen machen müsste. Ihre beiden Netzhäute sind genau dort, wo sie sein sollten. Für eine Frau Ihres Alters ist Ihre Sicht außer­gewöhnlich gut. Gleiches gilt für Ihre Hirnfunktion und so ziemlich alles andere, was wir getestet haben. Sie könnten tatsächlich der gesündeste Mensch in diesem Gebäude sein.«

»Nun, ist das nicht wundervoll«, sagte Joan Hamilton.

Paige seufzte erleichtert. »Aber … ihre Augen …«

»Klassische Augenmigräne«, erklärte der Arzt.

»Augenmigräne?«, wiederholte Joan. »Aber ich hatte keine Kopfschmerzen.«

»Sie haben Glück«, erwiderte Dr. Barelli, und seine dunklen Augen funkelten.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Paige.

»Ihre Mutter hat die Aura erlebt, die eine Migräne häufig begleitet, Flimmern und Blitze, die meist schwach beginnen und an Heftigkeit zunehmen, bis sie nach zwanzig bis dreißig Minuten normalerweise abklingen.«

»Genau so war es«, bestätigte Joan Hamilton.

»Das ist nicht ungewöhnlich, wenn man älter wird. Und die gute Nachricht ist, dass es nichts Ernstes ist. In erster Linie lästig. Es könnte sein, dass Sie die nächste Attacke erst in ein paar Jahren haben«, fuhr der Arzt direkt an ­Paiges Mutter gewandt fort, »oder morgen.« Er erklärte, dass es viele Theorien über die Ursachen gebe, jedoch niemand wirklich sicher sei, und dass man zwar Medikamente nehmen könne, deren Wirkung aber erst eintreten würde, wenn die Auren schon wieder abgeklungen seien, sodass man am besten einfach abwartete. »Wenn Sie am Steuer sitzen, würde ich natürlich empfehlen anzuhalten.«

»Das ist alles?«, fragte Paige, als ihre Mutter aufstand.

»Das ist alles«, sagte Dr. Barelli und schüttelte beiden Frauen die Hand.

»Eine Augenmigräne«, sagte Joan beinahe stolz, als sie auf den Fahrstuhl warteten. »Wer hätte das gedacht?«

»Du musst am Verhungern sein«, stellte Paige für sie beide fest, als sie wenig später auf die Straße traten. Seit sie aus dem Krankenwagen gestiegen waren, hatte Paige mit schwarzem Kaffee überlebt, ihre Mutter hatte ihres Wissens seit dem Abend zuvor nichts mehr gegessen und getrunken.

»Ich bin völlig ausgehungert«, bestätigte Joan. »Lass uns irgendwo nett mittagessen gehen. Hast du Zeit?«

Paige sah auf die Uhr. Sie hatte um drei Uhr ein Vorstellungsgespräch, ihr erstes seit zwei Wochen, deshalb war es wichtig, dass sie pünktlich war. Normalerweise kam sie ­sogar lieber ein bisschen zu früh, hatte jedoch schmerzlich gelernt, dass das nicht in jeder Lebenslage eine gute Idee war. Sie schloss die Augen und sah sich auf Zehenspitzen über den schmalen Flur ihrer alten Wohnung zu dem Schlafzimmer schleichen, das sie mit Noah teilte und aus dem sie ein allzu vertrautes Lachen hörte. »In der Charles Street gibt es ein nettes kleines Café«, sagte sie laut, um ihre Erinnerung zu übertönen.

»Warum schreist du so?«, fragte ihre Mutter.

»Entschuldige«, sagte Paige und winkte ein Taxi heran.

Leider war das kleine Café voller Touristen, die von dem Ruf der Straße für ausgefallene Mode und charmante Antiquitätenläden angelockt worden waren, sodass sie auf einen Tisch warten mussten.

»Dr. Barelli war wirklich süß, findest du nicht?«, fragte ihre Mutter, als sie endlich Platz genommen und ihre Bestellung aufgegeben hatten.

»Ein bisschen jung.«

»Sie sind alle jung. Du bist jung.«

Paiges Handy klingelte, bevor ihr eine passende Antwort einfiel. Dankbar für die Störung zog sie das Telefon aus ihrer hellbraunen Leinentasche. Ihre Mutter meinte es gut, aber Paige war nicht in der Stimmung für eine ihrer patenten Motivationsreden à la Du bist ein kluges, schönes Mädchen, und es gibt noch eine Menge andere Fische im Meer. »Hi, Chloe«, begrüßte sie ihre älteste und beste Freundin.

»Kannst du vorbeikommen?«, fragte Chloe, ohne sich mit Höflichkeiten aufzuhalten.

»Irgendwas nicht in Ordnung?« Paige stellte sich vor, wie ihre Freundin sich eine Strähne ihres glatten blonden Haars aus dem Gesicht und den hellblauen Augen strich und auf ihrer Unterlippe kaute.

»Bloß alles.«

Scheiße, dachte Paige, die die Ursache von Chloes Prob­lemen auch ohne weitere Erklärung verstand. »Ich habe um drei ein Bewerbungsgespräch. Danach kann ich vorbeikommen.«

»Super. Bis später dann«

»Irgendwas nicht in Ordnung?«, wiederholte Paiges Mutter die Frage ihrer Tochter, als die das Telefon wieder wegsteckte.

Paige zuckte mit den Schultern. Bloß alles, hörte sie Chloe sagen.

»Wegen des Arztes …«, setzte ihre Mutter an. »Ich meinte nur …«

»Ich weiß, was du gemeint hast«, unterbrach Paige sie. »Aber ich habe mich ja nicht in einem Turm eingeschlossen. Ich gehe raus, ich bin bei einem Dutzend Dating-Portalen angemeldet. Ich bin in sechs Wochen mit ebenso vielen Männern ausgegangen.«

»Vielleicht bist du zu wählerisch.«

»Vielleicht«, sagte Paige, zu müde und hungrig, um zu widersprechen. War es zu wählerisch, von einem Mann zu erwarten, dass er … ehrlich war? Waren alle Männer Lügner? »Was ist mit dir?«, drehte sie den Spieß um.

»Was soll das heißen, was ist mit mir?«

»Es ist zwei Jahre her, seit Daddy gestorben ist. Hast du je daran gedacht …« Sie konnte den Gedanken kaum zu Ende denken, geschweige denn aussprechen; die Vorstellung, dass ihre Mutter sich für einen anderen Mann als ihren Vater interessierte, war einfach nur lächerlich.

»Sei nicht albern, Schätzchen. Ich bin eine alte Frau.«

»Siebzig ist wohl kaum alt. Und du siehst fantastisch aus. Dr. Barelli hat gesagt, dass du in toller Verfassung bist.«

»Für eine Frau meines Alters«, schränkte Joan Hamilton ein, obwohl irgendwas an ihrem Tonfall erkennen ließ, dass der Gedanke, sie könnte wieder mit einem Mann ausgehen, doch nicht so absurd war. Sie strich ihren eleganten blonden Bob zurecht.

»Vielleicht solltest du dich bei Match Sticks anmelden«, sagte Paige mit wachsendem Unbehagen und fragte sich, warum sie insistierte. Sie sah sich in dem kleinen dunklen Restaurant nach dem Kellner um. Warum dauerte ihre Bestellung so lange? »Oh Gott«, sagte sie plötzlich, machte sich auf ihrem Stuhl klein und bedeckte ihre Wangen mit den Händen. Konnte der Tag noch schlimmer werden?

»Was ist los?«

»Guck nicht hin.«

Sofort verrückte ihre Mutter ihren Stuhl, um sich umzudrehen.

»Ich hab gesagt, nicht …«

»Tut mir leid, Schätzchen. Es ist eine automatische Reaktion, wenn man gesagt kriegt, man soll nicht gucken«, erwiderte Joan Hamilton verlegen. »Hat sie uns gesehen? Kommt sie rüber?«

»Oh ja«, sagte Paige, richtete sich wieder gerade auf, sah ihrer Cousine entgegen und wurde an die Redewendung erinnert, »als ob man in einen Spiegel schaut«. Das war eigentlich bestimmt ironisch gemeint, aber wenn sie ihre Cousine ansah, war es tatsächlich so, als würde sie in einen Spiegel blicken, so frappierend war ihre Ähnlichkeit. Das war vermutlich nicht überraschend, wenn man bedachte, dass ihre Väter eineiige Zwillinge und die beiden Mädchen im Abstand von nur wenigen Tagen geboren worden waren.

»Na, hallo, ihr zwei«, sagte Heather und beugte sich herunter, um ihre Tante auf die Wangen zu küssen, scheinbar ohne zu bemerken, dass diese die Schultern versteifte. »Nein so was, euch hier zu treffen.«

Paige fragte sich, ob ihre Cousine mit Absicht so klischeehaft redete oder schlicht nicht anders konnte, weil sie in ihrem ganzen Leben noch keinen originellen Gedanken gehabt hatte. Blöderweise hatte sie vergessen, dass die Agentur, in der Heather arbeitete, gleich um die Ecke lag.

Oder vielleicht hatte sie es auch nicht vergessen. Vielleicht hatte sie das Schicksal herausgefordert, und das Schicksal hatte die Herausforderung angenommen und ihr den unsichtbaren Stinkefinger gezeigt.

»Kein Hallo?«, fragte Heather. »Okay, wie ihr wollt. Wie läuft die Jobsuche?« Sie lächelte Paige an, als würde sie tatsächlich eine Antwort erwarten.

Paige unterdrückte den Impuls, ihre Cousine ins Gesicht zu schlagen.

Heather verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und strich sich ihr schulterlanges braunes Haar hinters Ohr. »Na, okay. War nett, euch beide zu treffen. Ich nehme an, wir sehen uns auf der Party.«

Oh Scheiße, dachte Paige und sah Heather nach, die auf ihren Zehn-Zentimeter-Absätzen davonstöckelte.

»Hast du nicht auch so einen Rock?«, fragte ihre Mutter.

»Ich gehe nicht zu der blöden Party«, sagte Paige.

»Oh, Schätzchen. Es ist der achtzigste Geburtstag deines Onkels. Ich weiß, dass es nicht leicht werden wird, aber natürlich musst du hin.«

»Muss ich nicht«, sagte Paige. Schon im günstigsten Fall konnte sie die Anwesenheit ihres Onkels nur schwer ertragen, diese lebendige, atmende Nachbildung ihres ­Vaters, der sein Leben nach wie vor genoss, während ihr Vater unter der Erde lag. Wie konnte ihr Onkel es wagen, achtzig zu werden, während sein ihm in jeder Hinsicht überlegener Zwillingsbruder nicht so viel Glück gehabt hatte. Wie konnte ihre Mutter es aushalten, den Mann anzugucken?

Das war natürlich nicht der einzige Grund, warum Paige nicht zu der Party wollte. Vielleicht nicht einmal der Hauptgrund.

»Du könntest natürlich jemanden mitbringen«, schlug ihre Mutter vor, als der Kellner mit ihrem Essen kam.

»Zwei Cobb-Salads«, sagte der junge Mann und stellte ihre Schüsseln auf den Tisch.

»Vielleicht von einer der Websites, auf denen du bist …«, fuhr ihre Mutter fort.

Paige stieß mit der Gabel in ihren Salat und schwieg.

KAPITEL 4

Sie war zu früh nach Hause gekommen.

Das war ihr zweiter Fehler.

Der erste war es gewesen, ihn nicht vorzuwarnen.

Damals hatte Paige natürlich nicht gewusst, dass es notwendig war, Noah vorzuwarnen. Oder doch? War sie nicht zumindest ein wenig argwöhnisch gewesen? War das nicht der wahre Grund dafür gewesen, dass sie ihn nicht angerufen hatte, um ihm zu sagen, dass sie auf dem Heimweg war, weil Chloe und Matt früher als erwartet von ihrem wöchentlichen Abend zu zweit zurückgekommen waren – Chloe hatte offensichtlich geweint, und sie hatte einen verdächtigen roten Abdruck auf der Wange.

Chloes üblicher Babysitter hatte im letzten Moment abgesagt, Chloe hatte panisch angerufen – Matt wartete schon in dem Restaurant und hasste Planänderungen in letzter Minute – und Paige gefragt, ob sie kommen könnte. »Ich würde ja meine Mutter fragen, aber sie ist … na ja, du weißt schon … meine Mutter.«

Mit Vergnügen hatte Paige zugesagt. Sie liebte Chloes zwei kleinen Kinder, als wären es ihre eigenen, und verbrachte gern Zeit mit ihnen. Außerdem würde sie alles für Chloe tun, deren Mutter eine komplette Katastrophe war, unfähig über ihre eigene Nasenspitze hinauszublicken. Ein Wunder, dass Chloe geworden war, wie sie war, schlicht gesagt einer der nettesten Menschen, die Paige je getroffen hatte.

Vielleicht zu nett.

Zu nett für einen Mann wie Matt, so viel war sicher.

Netter, als gut für sie war, sorgte Paige sich manchmal.

Noah hatte keine Einwände gehabt, dass Paige ihre gemeinsamen Pläne in letzter Minute platzen ließ. Er wirkte vielmehr erleichtert und gestand, dass er ohnehin nicht besonders erpicht auf den Film gewesen sei, den Paige vorgeschlagen hatte. Er könne die Zeit nutzen, um sich auf den Fall vorzubereiten, an dem er gerade arbeite, und dann früh zu Bett gehen, um hoffentlich ein wenig dringend benötigten Schlaf nachzuholen. »Sieht so aus, als würde es eine ziemlich anstrengende Woche werden«, hatte er gesagt.

Paige hatte verstanden, dass das der Code für »heute Abend kein Sex« war, obwohl es Wochenende war und ihr Sexleben in letzter Zeit nicht gerade überragend. »Ich habe so viel auf dem Zettel«, hatte er sich beim letzten Mal mit Erschöpfung und Überarbeitung entschuldigt, als er ihre Avancen zurückgewiesen hatte. Paige hatte lächelnd erklärt, dass sie ihn verstehen würde, aber das stimmte eigentlich nicht. Noah war Anwalt und hoffte, eines Tages in der großen Innenstadt-Kanzlei, bei der er arbeitete, zum Partner ernannt zu werden. Schon als sie sich kennengelernt hatten, war er erschöpft und überarbeitet gewesen. Das hatte ihn in den drei Jahren, die sie inzwischen zusammen waren, nicht daran gehindert, ein eifriger und passionierter Liebhaber zu sein. Aber in den letzten Monaten hatte sich irgendetwas zwischen ihnen verändert, das sie nicht genau benennen konnte.

Oder vielleicht hatte sie auch genau gewusst, was los war.

Und wem sie die Schuld dafür gab.

Vielleicht hatte sie deswegen nicht angerufen, um ihn zu warnen, dass sie auf dem Heimweg war, hatte nicht wie üblich Hallo gerufen, als sie den Flur ihrer kleinen Wohnung betreten hatte, und nicht einmal einen Blick ins Wohnzimmer geworfen, als sie auf Zehenspitzen durch den Flur zur geschlossenen Schlafzimmertür geschlichen war. Sie hatte auch nicht gezögert, als sie das Kichern dahinter vernommen hatte; und schon bevor sie die Tür aufgestoßen und den nackten Körper gesehen hatte, der rittlings auf Noahs hockte, hatte sie gewusst, wessen Körper es sein und in wessen erschrockenes Gesicht sie blicken würde.

»Wollt ihr mich verarschen?«, hatte sie geschrien, während ihre Cousine sich aufrappelte und beinahe gestolpert wäre, als sie hektisch in ihre Unterwäsche schlüpfte. »Ich fasse es nicht.«

Aber sie erfasste es sehr wohl. In Wahrheit wäre Paige geschockt gewesen, wenn die Frau, die sie rittlings auf ihrem Freund erwischt hatte, nicht Heather gewesen wäre. Ihre Cousine hatte schon immer alles begehrt, was Paige hatte, seien es Kleider, Frisuren oder Männer. Als Paige als Teenager einen Modelkurs belegt hatte, hatte es ­Heather ihr nachgemacht. Als Paige Gitarre spielen lernte, nahm ­Heather sofort ebenfalls Unterricht. Als Paige sich Sneakers mit Strass kaufte, war Heather losgerannt und hatte sich genau die gleichen gekauft.

Paige hatte sich bei ihrem Vater darüber beklagt, und er hatte ihr lächelnd erklärt, dass »Imitation die ehrlichste Form der Schmeichelei« sei. Sein Bruder hatte es mit ihm genauso gemacht. »Aber er war nie so gut«, hatte er zwinkernd hinzugefügt. »Und alle wussten es.«

Deshalb war auch niemand erstaunt, dass Heather ­Paiges Beispiel folgte, als diese nach ihrem College-Abschluss in die Werbung ging. Heather hatte bei einer größeren, aber weniger angesehenen Agentur angefangen, wo sie jahrelang ihre Einstiegsposition bekleidete, bis sie schließlich zur ­Junior Account Managerin befördert worden war, einer von sechsen. Ebenso wenig überraschend war Paige in ihrer kleineren Agentur rasch zur Direktorin für strategische ­Planung aufgestiegen.

Dann war ihre Agentur aus heiterem Himmel von einer größeren New Yorker Firma geschluckt worden, die ihre eigenen Leute mitgebracht hatte, und Paige sowie fast das gesamte Management wurden unfeierlich auf die Straße gesetzt.

»Das ist schrecklich«, hatte Heather sie bemitleidet und es geschafft, trotz des Blitzens in ihren Augen aufrichtig zu klingen. »Nach so vielen Jahren. Du musst am Boden zerstört sein.«

»Ich werde etwas anderes finden.«

»Natürlich.«

Aber wie sich herausstellte, gab es nicht allzu viele offene Stellen für eine Direktorin für strategische Planung. Eigentlich gab es gar keine. Bei den wenigen Vorstellungsgesprächen, zu denen Paige eingeladen wurde, ging es um weniger anspruchsvolle Positionen, die sie trotzdem alle liebend gern angenommen hätte, vor allem als aus einem Monat ein halbes Jahr wurde, doch man hielt sie jedes Mal für »überqualifiziert«.

Derweil war Heather immer häufiger in Paiges Wohnung aufgetaucht, angeblich mit Tipps über potenzielle Jobs, hatte Mahlzeiten mitgebracht, die sie auf dem Weg von der Arbeit nach Hause bei Eataly geholt hatte, und mit gebannter Aufmerksamkeit zugehört, wenn Noah von seinem Tag erzählte, hatte selbst über seine lahmsten Witze gelacht. Ihr Bemühen, ihm zu schmeicheln und zu gefallen, war so offensichtlich gewesen, dass Paige und Noah manchmal gemeinsam darüber gelacht hatten, nachdem sie gegangen war.

Wie sich herausstellte, stand Noah auf offensichtlich.

Wie sich herausstellte, hatten sie schon seit mehr als einem Monat miteinander geschlafen, als Paige sie erwischte.

»Ich kann nicht mal behaupten, er hätte mich für eine Jüngere verlassen«, hatte Paige sich bei Chloe beklagt. »Sie ist zwei Tage älter als ich. Und wir sind praktisch Zwillinge, Herrgott noch mal, ihr Aussehen kann es also nicht sein.«

»Ihre Persönlichkeit ist es ganz bestimmt auch nicht«, sagte Chloe.

»Oh Gott«, jammerte Paige.

»Was?«

»Sie muss eine Granate im Bett sein.«

»Meinst du?«

»Was könnte es sonst sein?«

»Das glaube ich nicht. Dazu fehlt ihr die Fantasie.«

»Nun, irgendwas muss sie haben, was ich nicht habe«, widersprach Paige.

»Nein. Noah ist einfach ein Idiot.«

»Okay«, stimmte Paige ihr zu. »Einigen wir uns darauf.«

Heather und Noah lebten jetzt seit fast vier Monaten zusammen, was einen nicht zu leugnenden Riss zwischen den Familien verursacht hatte. Seit der Nacht, in der Paige ihre Cousine mit Noah erwischt hatte, hatte sie trotz Heathers halbherziger Versöhnungsversuche kein Wort mehr mit ihr gesprochen, und ihre Mutter hatte aus Loyalität alle Abendeinladungen ihres Schwagers und seiner Frau abgelehnt.

Aber nun wurde Ted Hamilton achtzig, Samstag in einer Woche gab es im Ritz Carlton Hotel eine große Party zu seinen Ehren, und ihre Mutter fühlte sich verpflichtet hinzugehen und wollte, dass Paige mitkam. »Du könntest natürlich jemanden mitbringen«, hatte sie vorgeschlagen, weil sie wusste, dass Heather mit Noah kommen würde.

»Ja, klar«, flüsterte Paige, als sie aus dem Prudential Building auf die Boylton Street trat, die Nachrichten auf ihrem Handy checkte und feststellte, dass sie keine hatte. Sie winkte ein Taxi heran, ließ sich auf die Rückbank fallen, nannte dem Fahrer Chloes Adresse und rekapitulierte das Vorstellungsgespräch, ging im Kopf die Fragen durch, die man ihr gestellt, und die Antworten, die sie gegeben hatte. Sie wusste, dass es nicht so gut gelaufen war wie erhofft, dass sie bestenfalls zögerlich geantwortet hatte, weil ihr Selbstvertrauen nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit angeknackst war.

Sie war nicht so aufgeweckt und scharfsinnig, wie sie sein wollte und musste, wenn sie einen neuen Job finden wollte. Sie hätte zumindest vorher nach Hause fahren und sich umziehen sollen. Sie trug nicht mal einen BH. Selbst Heather wäre so klug gewesen, sich angemessener zu kleiden.

Wie hatte ihr Vater einmal gesagt, als er sie mit ihrer Cousine verglich? »Du bist selbstbewusst, aber nicht blasiert. Heather ist blasiert, aber nicht selbstbewusst.«

Jetzt war sie weder noch.

Und Heather hatte Noah.

Und würde ihn garantiert auf der Party ihres Vaters präsentieren.

»Scheiße«, sagte Paige lauter als beabsichtigt.

»Haben Sie etwas gesagt?«, fragte der Taxifahrer, während sie sich der Harvard Bridge näherten.

»Nein«, entschuldigte Paige sich und widmete sich wieder ihrem Handy. Sie klickte Match Sticks an und scrollte durch die ständig wachsende Liste möglicher Verehrer. Stud ­Muffin, prahlte der Name über dem Foto eines Mannes mit bedauerlicherweise nacktem Oberkörper. Paige wischte nach links, und sein Bild verschwand. Romeo lautete der Name eines Mannes mittleren Alters mit aufgedunsenem Gesicht, der behauptete, lange Spaziergänge im Regen zu mögen. »Wirklich?«, flüsterte Paige und wischte wieder nach links. Gab es Menschen, die tatsächlich gern im ­Regen spazieren gingen? Auf Romeo folgten Chaucer, Luther und Einfach nur Alan. »Einfach nur Nein«, sagte Paige und wischte jedes Mal nach links. Vielleicht hatte ihre Mutter recht. Vielleicht war sie zu wählerisch.

»Moment mal. Wer ist das?«, fragte sie, als sie das Bild eines Mannes sah, der sich Mr Right Now nannte. Paige lachte. Der Typ hatte wenigstens Humor. Und er war außergewöhnlich attraktiv. Wenn er dem Bild, das er gepostet hatte, auch nur entfernt ähnlich sah, wäre er der ­ideale ­Revanche-Begleiter für die Party ihres Onkels. »Nein«, sagte sie, als in ihrem Kopf bei der Erinnerung an das ­Fiasko vom Abend zuvor die Alarmglocken läuteten. »Du bist auf jeden Fall zu gut, um wahr zu sein.« Sie loggte sich aus und warf das Handy in ihre Handtasche.

Was war aus dem Konzept geworden, dass man einen möglichen Partner bei der Arbeit oder durch gemeinsame Freunde kennenlernte oder sogar in einer Bar aufgabelte? Hatten Bequemlichkeit und Zweckmäßigkeit der modernen Technik solche einfachen menschlichen Begegnungen überflüssig gemacht? »Ah, die gute alte Zeit.«

»Haben Sie etwas gesagt?«, fragte der Taxifahrer wieder.

»Eine Menge Verkehr«, improvisierte Paige.

»Immer.«

Paige nickte und betrachtete die lange Schlange von Fahrzeugen, die im Schritttempo Richtung Charles River und Cambridge krochen. Vielleicht lag es nicht bloß an der Zweckmäßigkeit, dachte sie. Vielleicht waren einfach alle vereinsamt. Sie lehnte sich in das braune Kunstlederpolster zurück, schloss die Augen und stellte überrascht fest, dass hinter ihren geschlossenen Lidern Mr Right Now auf sie wartete. Zu vereinsamt, um auf eine zufällige Begegnung zu warten oder sich auf den Vorschlag einer Freundin zu verlassen. Zu bequem, um in eine Bar zu gehen, zu ängstlich, um eine Zurückweisung von Angesicht zu Angesicht zu riskieren.

Deshalb würde sie vielleicht später noch einmal bei Match Sticks reinschauen und vielleicht sogar Mr Right Nows Bild nach rechts wischen, um zu sehen, ob er ihr Interesse erwidern würde. Bestand irgendeine Chance, dass er so gut war wie angepriesen? »Ja, klar«, flüsterte Paige. »Träum weiter.«