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© 2019 by Cake Literary LLC
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
»Love Sugar Magic – A Sprinkle of Spirits«
bei Walden Pond Press, an imprint of HarperCollins Publishers
© 2019 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Anne Braun
Lektorat: Carola Henke
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie
Umschlag- und Vorsatzillustration & Kapitelvignetten: Laura Rosendorfer
ml • Herstellung: UK
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-20509-6
V002
www.cbj-verlag.de
Für meine Großeltern, Mary Lou und Vince Meriano.
Ich danke euch für eure Klugheit,
euren Humor und eure unerschütterliche Unterstützung

KAPITEL 1 – Willkommen zurück
Leonora Elena Logrono, wo steckst du?«
Beim Klang dieser Stimme zuckte Leo zusammen und warf einen erschrockenen Blick über die Schulter auf die blauen Schwingtüren, die die Küche vom Verkaufsraum der Bäckerei trennten und sie und ihr Experiment vor den neugierigen Blicken ihrer Familie schützen sollten.
Mamá war zurück!
»Mija? Da ist noch Gepäck im Auto und ich will ein Begrüßungsküsschen haben!«
»Sie ist drüben im Laden, Mamá!« Leos sechzehnjährige Schwester Marisol streckte den Kopf über die Türflügel und fügte mit einem spitzbübischen Grinsen hinzu: »Drückt sich wieder mal vor der Arbeit.«
»Stimmt nicht!«, rief Leo und hüpfte von der Ladentheke, auf der sie ohnehin nicht sitzen durfte. »Ich bin an der Kasse, genau wie es unser Plan vorsieht.« Leo verzog das Gesicht. Keine sehr gute Ausrede, da die Bäckerei erst in zwanzig Minuten öffnen würde, aber im Lügen war Leo bei Weitem nicht so einfallsreich wie ihre Freundin Caroline. Doch zum Glück hörte ihr sowieso keiner zu.
Neben Marisols Kopf tauchte der von Mamá auf. Die große weinrote Reisetasche an ihrer einen Schulter und der kleinere Rucksack über der anderen knallten gegen die Türflügel und ließen sie auf und zu schwingen. »Und?«, fragte Mamá. »Was ist nun mit dem Begrüßungsküsschen?«
Mit einem breiten Lächeln rannte Leo in die Küche und in die ausgebreiteten Arme ihrer Mutter.
»Willkommen daheim!«, nuschelte Leo in ihr Shirt. »Wie war’s?«
Mamá ließ ihr Gepäck neben den langen Holztisch fallen, der den Mittelpunkt der Küche und Backstube bildete, und strich sich lächelnd ein paar vorwitzige Strähnen aus dem Gesicht. Für die frühmorgendliche Autofahrt hatte sie Jeans-Shorts und ein schwarzes T-Shirt angezogen. »Interessant wie immer, mija.«
Mamá und Isabel waren am Wochenende bei dem alljährlich stattfindenden Treffen des SRBZ gewesen – des Verbands der Southwest Regional Brujería und Zauberkunst – bei dem die Brujas und Hexen und Zauberer aus ganz Texas, Oklahoma und Louisiana zusammenkamen, um ihre Erfahrungen auszutauschen und sich mit Krähenfedern und Spinneneiern und anderen magischen Zutaten einzudecken. Der SRBZ-Verband verschickte auch monatliche Newsletters, doch die stapelten sich bei den Logronos meist ungelesen auf dem Küchentisch.
»Wir sind gut klargekommen, als ihr weg wart«, berichtete Leo und warf sich ein bisschen in die Brust. Da noch Winterferien waren, hatte sie fast Vollzeit in der Bäckerei mithelfen dürfen. »Wir haben dich und Isabel bei den Vorbereitungen für den Día de los Reyes gar nicht gebraucht.«
In der Familienbäckerei, die mit offiziellem Namen Panadería Amor y Azúcar hieß, roch es tatsächlich superlecker, nach Süße und Hefe. Auf den Backblechen lagen dicke Teigringe, auf dem langen Holztisch standen Schalen mit Trockenfrüchten und Schüsseln voller Zuckerguss. Heute war der dritte Januar, und das bedeutete, dass in den nächsten drei Tagen mit Hochdruck gebacken werden würde, denn die Einwohner der Stadt Rose Hill würden massenhaft Roscas de Reyes, Dreikönigshefekränze, kaufen, um den Día de los Reyes gebührend zu feiern.
»Sieht gut aus«, sagte Mamá mit einem anerkennenden Nicken. »Und es riecht auch lecker!«
»Wie Leo schon sagte«, warf Marisol grinsend ein, »sind wir bestens klargekommen.«
»Oh, dann will ich euch nicht weiter stören.« Mamá trat einen Schritt zurück und tat so, als lege sie die Hand an ihr verwundetes Herz.
»So war es nicht gemeint«, stellte Leo schnell richtig und umarmte ihre Mutter zur Entschuldigung gleich noch ein zweites Mal. »Ich freue mich, dass ihr wieder da seid.«
Mamá lachte. »Ich auch, Süße. Ich möchte den Feiertag für nichts auf der Welt ohne meine Familie verbringen.«
Der Dreikönigstag wurde genau zwölf Tage nach Weihnachten gefeiert, zu Ehren der drei Weisen, die dem Jesuskind zwölf Tage nach seiner Geburt Geschenke gebracht hatten. Es gab längst nicht so viele Filme über den 6. Januar wie über Weihnachten, doch die Kinder freuten sich immer sehr darauf, da sie wussten, dass sie am Morgen in ihren Schuhen Süßigkeiten, Kuchen und Geschenke vorfinden würden. Und dass dieser Tag immer mit Menschen gefeiert wurde, die man liebte.
»Hast du die neue Schaufenstergestaltung schon gesehen?«, fragte Leo ihre Mutter. »Das meiste davon habe ich gemacht. Okay, Marisol hat mir ein bisschen geholfen.«
Neben den goldenen Kronen und dekorativen Roscas de Reyes, die zu dieser Zeit das Schaufenster zierten, mochte Leo die Figuren der drei heiligen Könige am liebsten – den dunkelhäutigen Balthasar, Kaspar mit den aufgemalten glatten, schwarzen Haaren und Melchior, der wie Dumbledore aussah. Ungefähr eine Woche nach Weihnachten wurden sie ins Fenster gestellt und Leo durfte sie jeden Tag ein Stück näher zur Krippe rücken.
»Du wärst sehr stolz gewesen auf Leo«, verkündete Tía Paloma, die gerade mit zwei weiteren Reisetaschen ihrer Schwester zur Hintertür der Bäckerei hereinkam. »Die Mädchen waren mir eine große Hilfe, was ich natürlich erwartet hatte, aber Leo war an diesem Wochenende besonders fleißig. Die ganzen Ferien über, genau genommen. Sie hat enorme Fortschritte gemacht.«
Leos Lächeln erblühte und erlosch dann wieder. Dieses Wochenende und in den Ferien? War sie nicht immer fleißig? Sie studierte fast jeden Tag, welche Kräuter wofür nützlich waren, und das so intensiv, dass inzwischen sogar ihre beste Freundin Caroline die Anwendung der meisten grundlegenden Bruja-Kräuter aufsagen konnte.
»Außer heute, als sie bei den Püppchen mithelfen sollte«, murmelte Marisol, die an der Wand lehnte und an ihrem dunkelvioletten Nagellack herumpulte.
»Ich habe sehr wohl mitgeholfen.« Leo schnitt eine Grimasse in Marisols Richtung. »Ich habe sämtliche Backbleche fertig gemacht, die auf dem Tresen standen.« Den ganzen Morgen über hatte sie winzige Plastikpüppchen in diversen Ladungen Kuchenteig versteckt, die Tía Paloma zum Backen aufgereiht hatte. Die Roscas de Reyes waren etwas Besonderes, nicht nur, weil sie so herrlich schmeckten oder so farbenfroh dekoriert waren, sondern auch, weil in jedem Hefekranz ein Babyfigürchen versteckt wurde. Wer später in seinem Stück das Püppchen fand – es stellte das vor zwölf Tagen geborene Jesuskind dar –, hatte die Ehre, alle Anwesenden am einige Wochen später stattfindenden Día de la Candelaria einzuladen und sie mit Tamales zu bewirten. Leo kannte keine andere Gebäcksorte, die quasi schon das nächste Fest organisierte.
Bevor Marisol noch eine schnippische Bemerkung machen konnte, kam Isabel mit leeren Händen vom Parkplatz herein. Ihre Bluse war von der stundenlangen Autofahrt zerknittert. Leo fiel ihrer ältesten Schwester um den Hals und diese strich Leo lachend über den Kopf.
»Hi, kleine Leo. So stürmisch? Ich war doch nur zwei Tage weg.«
»Hat sich aber länger angefühlt«, meinte Leo.
»Nur weil du meine Schichten übernehmen musstest«, witzelte Isabel. Marisol schnaubte und murmelte etwas Unschönes, doch Isabel ignorierte sie. »Mir kamen die zwei Tage sehr kurz vor. Es gab so viel zu lernen! Mamá ließ mir kaum Zeit, mit jemandem zu reden, ich musste ihr dauernd als Packesel für die vielen Zutaten dienen, die sie gekauft hat.«
Dieses Jahr hatte Isabel Mamá zum ersten Mal zu diesem Treffen begleiten dürfen. Isabels Abwesenheit hatte Leo mit Schaudern an das nächste Jahr denken lassen, wenn Isabel ins College gehen und vermutlich von zu Hause wegziehen würde, vielleicht sogar sehr weit weg, nach San Antonio oder Houston. Wer würde Leo dann vor Marisols Sticheleien in Schutz nehmen? Nur der Gedanke, dass auch sie selbst eines Tages Mamá begleiten und die Magie ihrer Bäckerei bei dem großen Treffen vertreten durfte, tröstete Leo ein kleines bisschen.
Isabel deutete auf die Taschen, die Mamá und Tía Paloma schon angefangen hatten auszupacken: Gläser und Gefäße mit Flüssigkeiten und Pülverchen, mit Bindfaden zusammengebundene Kräuterbündel und Plastik- und Papiertütchen mit allem Möglichen – angefangen von Holzperlen über Kristalle bis hin zu einfachem Sand. Leos Finger juckten vor Lust, das alles anzufassen, an den Päckchen zu schnuppern, um den verräterischen Zimtgeruch der Magie zu riechen und zu erfahren, wofür jede einzelne dieser Zutaten gut war. Sie hätte am liebsten alles auf einmal gelernt, doch Tía Paloma und Mamá legten Wert darauf, dass sie zuerst die Grundlagen lernte – und das bedeutete, dass ihr Lernprozess so langsam vor sich ging wie Hefeteig, der erst aufgehen musste. In den letzten drei Monaten hatte Leo seitenweise die Eigenschaften von Kräutern auswendig gelernt und konnte inzwischen auch die Kasse in der Bäckerei bedienen. Aber eigentlich wünschte sie sich nichts sehnlicher, als einen richtig komplizierten und mächtigen Zauber zu backen.
Wenn Leo ehrlich zu sich war, verstand sie aber auch, warum Mamá und Tía Paloma sie ständig bremsten. Als sie vor drei Monaten die Familienmagie entdeckt und erfahren hatte, dass alle weiblichen Mitglieder ihrer Familie Backhexen waren, wollte sie alles darüber lernen – aber natürlich heimlich, weil sie ja angeblich noch zu jung war. Und in ihrem Eifer hatte Leo Rezepte ausprobiert, denen sie nicht gewachsen war. Sie hatte so ein Chaos angerichtet, dass es einen komplett neuen Zauber gebraucht hatte, um alles wieder rückgängig zu machen. Und wenn sie noch ehrlicher zu sich war, musste sie zugeben, dass die Zeit, die ein Hefeteig zum Aufgehen brauchte, ein wichtiger Teil des Backprozesses war. Doch das änderte nichts daran, dass ein ungeduldiges Stimmchen in ihrem Kopf ihr ständig zuflüsterte, dass sie ohne praktisches Üben nie etwas lernen würde.
Und aus diesem Grund experimentierte sie nun mal gern herum. An echt komplizierte Sachen wie die missglückten Liebesbisschen im letzten Jahr traute sie sich natürlich nicht mehr, nur an kleine magische Teilchen wie die, die an diesem Morgen vorne auf der Verkaufstheke lagen.
Isabel machte sich sofort ans Vorheizen der Backöfen, während Mamá und Tía Paloma die neu erworbenen magischen Zutaten in den hohen Schränken an der gegenüberliegenden Wand verstauten. Daddy kam kurz aus dem Büro, um die Heimkehrerinnen zu umarmen. Doch als er an einem Beutel mit einem dunklen Pulver schnuppern wollte, scheuchte Mamá ihn weg, und er kehrte zu seinem Schreibkram zurück. Leo wollte gerade wieder nach vorn in den Verkaufsraum gehen, um ihr Zauberexperiment fortzusetzen, als das Telefon läutete und gleich darauf zwei fast gleich aussehende Köpfe aus dem Büro gestreckt wurden.
»Leo …«, begann Alma.
»… Telefon für dich«, führte Belén den Satz ihrer Zwillingsschwester zu Ende. Die beiden hatten letzten Monat ihren fünfzehnten Geburtstag gefeiert, indem sie die verblassenden pinkfarbenen und blauen Strähnen in ihren Haaren grün und violett färbten. Wer genau hinschaute, konnte die Zwillinge ganz gut unterscheiden, aber die meisten Leute sahen nicht genau hin und verwechselten die beiden Mädchen ständig.
»Sag Caroline, dass wir dieses Telefon für Bestellungen brauchen.« Mamá seufzte, denn sie ahnte, wer am Apparat war. »Das hab ich dir schon oft genug gesagt.«
»Entschuldigung«, murmelte Leo. An jedem anderen Tag hätte sie protestiert und ihrer Mutter erklärt, dass sie endlich ein eigenes Handy bräuchte. Aber heute war sie so glücklich, dass ihre Familie wieder vereint war, dass sie nicht widersprechen wollte.
Leo warf einen besorgten Blick auf die blauen Schwingtüren, weil sie ein bisschen Angst um ihr Experiment hatte, das so offen dalag. Doch niemand schien es eilig zu haben, die Bäckerei zu öffnen. Leo ging nach hinten ins Büro, wo Alma und Belén den größten Teil von Daddys Schreibtisch mit vergilbten Karteikarten belagert hatten, die sie gerade zu Stapeln sortierten. Dabei spähte Belén ständig in eine leere Ecke des Büros, nickte und stellte flüsternd Fragen.
Hätte Leo nicht gewusst, dass noch eine unsichtbare Person im Raum war, hätte sie ihre Schwester für ziemlich schräg gehalten. Doch als Drittgeborene hatten die Zwillinge die besondere Fähigkeit geerbt, Geister zu sehen und mit ihnen sprechen zu können. Für diese Winterferien hatten sie sich vorgenommen, sich mit Abuela, Bisabuela und anderen Ahninnen mütterlicherseits zu beraten, um zu entscheiden, welche Rezepte in einer Computerdatei erfasst werden sollten und welche nicht.
Leo wusste noch nicht, welche besondere Fähigkeit sie später haben würde, und folglich hatte sie auch noch keine speziellen Projekte.
Leo nahm den Hörer aus Daddys Hand, und er klopfte ihr kurz mit seinem Stift auf den Kopf, bevor er sich wieder seiner Inventurliste zuwandte. »Hallo?«
»Hallo, Leo!« Caroline Campbell, Leos beste Freundin und manchmal auch Komplizin, zwitscherte aufgeregt: »Ich bin wieder da!« Caroline war zwei volle Wochen weg gewesen. Sie hatte über Weihnachten und Neujahr ihre Großmutter und ihre Tanten in Costa Rica besucht.
Leo lachte. »Willkommen im Club! Mamá und Isabel sind auch gerade von ihrem Treffen zurückgekommen.«
»Magst du bei mir vorbeischauen?«, fragte Caroline. »Später vielleicht, wenn du mit der Arbeit fertig bist? Ich habe ein paar tolle Souvenirs mitgebracht.«
Leo zögerte. Mamá rechnete sicher fest damit, dass beim Abendessen alle anwesend waren, um ihre Rückkehr zu feiern. Klar, Leo hätte Caroline gern besucht, aber andererseits wollte sie auch keine Geschichten von anderen Brujas aus Texas oder über verschiedene Arten von Magie verpassen.
»Vielleicht …«, sagte sie zögerlich.
»Hey, was soll das?!«, hörte sie da Marisol aus dem Verkaufsraum rufen.
Gequält schloss Leo die Augen. »Oh nein …«
»Mamá!«, rief Marisol. »Leo zaubert wieder!«
Alma und Belén blickten von ihren chaotischen Karteikartenstapeln auf und zogen die Augenbrauen hoch. Leo krümmte sich innerlich. Von allen Menschen, von denen sie nicht bei ihrem Experiment ertappt werden wollte, war Marisol die Nummer eins.
»Caroline, du, ruf bitte in fünf Minuten noch mal an.« Mit etwas Glück konnte Leo diesen Anruf als Ausrede benutzen, um der Strafpredigt zu entgehen, die ihr unweigerlich bevorstand. Hastig legte sie auf und flitzte durch die Küche in den Verkaufsraum.
Marisol, Mamá, Isabel und Tía Paloma standen um die Ladentheke herum, genau an der Stelle, wo Leo vorhin noch zugange gewesen war. Dort stand ein Glas Honig, und auf einem Tablett lagen klebrige Plastikpüppchen – die Bestandteile von Leos Experiment.
»Leo, was ist das?«, fragte Mamá.
»Sieht nach einer ziemlichen Schweinerei aus«, sagte Marisol, hielt das Tablett schräg und ließ die Püppchen im Zeitlupentempo nach unten rutschen, wobei diese schleimige Honigspuren hinterließen. Isabel schnalzte mit der Zunge über Marisols unhöflichen Kommentar, doch sie sah ähnlich verwirrt aus.
Leos Gesicht begann zu glühen, als stünde sie vor einer offenen Backofentür. »Ich wollte es nicht vor euch verheimlichen«, versicherte sie. »Ich hätte es euch gezeigt, sobald ich fertig gewesen wäre.« Sie streckte Marisol heimlich die Zunge heraus.
»Gut«, sagte Mamá. »Aber zeig es uns doch gleich.«
Leo musterte ihre Mutter. War sie verärgert oder wirklich neugierig? Wollte sie es wirklich wissen? Alles, was sie in Mamás Gesicht sehen konnte, waren müde Falten und Tränensäcke, die von dem anstrengenden Wochenende herrührten.
»Du bist eingeweiht«, rief Mamá ihr in Erinnerung. »Du bekommst keinen Ärger, wenn du ein bisschen zauberst. Aber wie dem auch sei, wir wollen keine weiteren unbeaufsichtigten Fiaskos. Sei einfach ehrlich, Süße.«
Isabel beugte sich über das Tablett, um die Püppchen aus nächster Nähe zu betrachten. »Ich spüre eine gewisse Magie«, sagte sie. »Was hattest du vor, kleine Leo?«
Leo versuchte, bei dieser Anrede aus Babytagen nicht die Augen zu verdrehen. Sie rief sich lieber in Erinnerung, dass sie offiziell in die Familienmagie eingeweiht worden war, nachdem Mamá von ihrem missglückten magischen Experiment mit Brent erfahren hatte – obwohl sie damals noch gar nicht hätte zaubern dürfen. Und dass sie, genau wie ihre älteren Schwestern, eine Bruja war.
»Es sollte ein Reichtumszauber werden«, erklärte sie, hob das Honigglas hoch und schüttelte es, damit alle die klimpernden Münzen darin sahen. »Ich dachte, wer das Püppchen in seinem Stück findet, könnte etwas finanzielle Unterstützung brauchen, weil er oder sie ja bald das Candelaria-Fest mit Tamales ausrichten muss.«
Mamá griff nach dem klebrigen Glas und schnüffelte daran. »Keine schlechte Idee«, sagte sie dann langsam, »aber etwas chaotisch. Vielleicht versinken die Püppchen dadurch im Teig. Warum den Zauber nicht ohne den Honig direkt in die Püppchen packen?«
»In Plastik?« Tía Paloma legte den Kopf schief. »Kein guter Leiter, selbst in menschlicher Gestalt, was ihn natürlich verstärkt, aber … gut.« Sie nickte, weil sie entweder vergessen hatte, dass sie ihre Gedanken laut aussprach oder weil sie gerade einem Geist zuhörte – das wusste man bei Tía Paloma nie. Als Drittgeborene neigte sie wie die Zwillinge dazu, in ihrer eigenen Welt zu leben. »Aber die Idee, etwas Süßes beizumischen, ist ziemlich clever für eine Anfängerin.«
Leo nickte. Die Magie der Familie ihrer Mutter war die Magie, nach der auch ihre Bäckerei benannt war: Amor y Azúcar – Liebe und Zucker. Alles, was süß und köstlich war, konnte ihre Magie leicht festhalten, und aus diesem Grund gehörten zu allen Rezepten, die im Familien-Rezeptbuch standen, Zutaten wie Butter, Zucker und Mehl (dessen Kohlehydrate zu Zucker verstoffwechselt werden). Mit ihrer Tía Paloma studierte Leo an fast allen Tagen nach der Schule die Eigenschaften von Kräutern und Pflanzen, aber sie hatte noch nie einen Zauber ausprobiert, der nichts mit Zucker zu tun hatte.
Tía Paloma und Mamá starrten nachdenklich auf den Honig und bei beiden zuckten die Mundwinkel. Die Hitze in Leos Gesicht kroch bis zu ihren Ohren, aber jetzt war es ein Gefühl von warmem Stolz, da ihr kleines Experiment immerhin als echter Zauber galt. Vielleicht würde sie sich damit den ersten Eintrag ins Buch der Zaubersprüche sichern. Vielleicht war sie ein magisches Wunderkind. Vielleicht …
»Leo!« Oberhalb der Schwingtüren tauchte Beléns Kopf auf. Sie hielt das Geschäftstelefon hoch. »Deine Freundin mal wieder …«
Hupps, die fünf Minuten waren aber schnell vergangen. Leo griff nach dem Hörer. »Hallo, Caroline«, sagte sie hastig. »Du, entschuldige, aber ich bin gerade …«
»Schon gut«, sagte Caroline, »ich wollte dir nur von meiner Reise erzählen.«
»Wenn die Püppchen aus Wachs wären«, sagte Isabel gerade, »würden sie den Zauber besser halten, da würde ich wetten.«
»Aber sie würden schmelzen, sobald sie im Backofen sind«, gab Marisol zu bedenken und verdrehte die Augen.
Caroline redete weiter, doch Leos ganze Aufmerksamkeit galt ihrer Familie. Dass Wachs einen Zauber besser hielt als Plastik hatte sie nicht gewusst. Natürlich interessierte es sie, wie Carolines Reise verlaufen war, aber im Moment wollte sie keine neue Information über Magie verpassen – besonders wenn es um einen Zauber ging, den sie kreiert hatte!
»Du, Paloma, wäre es nicht an der Zeit, die drei Jüngsten mit Kerzenmagie vertraut zu machen?«, sagte Mamá. »Zum Herbeirufen von Geistern müssen Alma und Belén sowieso mehr über Kerzen erfahren, und Leos Neugier sollte besser auch gestillt werden, damit sie weniger Experimente auf eigene Faust macht.« Sie zwinkerte Leo zu, die zurücklächelte und den Hörer vom Ohr sinken ließ.
»Gut, nach dem Día de los Reyes?«, fragte Tía Paloma.
»Warum noch warten?«, fragte Mamá. »Ich habe meine Backstube vermisst, und da die Roscas de Reyes so weit vorbereitet sind, kommen Isabel und ich mindestens bis Mittag alleine klar. Geh du mit den drei zu dir nach Hause, dann sind sie mir für eine Weile aus dem Weg.«
»Hallo?! Hörst du mich?«, rief Caroline.
Erst da fiel Leo das Telefon in ihrer Hand wieder ein und sie hielt es sich schuldbewusst schnell erneut ans Ohr. »Ja, bin da.«
»Schlechter Empfang.« Caroline seufzte. »Meinst du, du kannst zu mir kommen? Ich habe dir so viel zu erzählen. Du hast mir gefehlt.«
»Ich …«
Tía Paloma klatschte in die Hände und rief Alma aus dem Büro. »Komm mit, Leo, bei mir zu Hause gibt es gleich eine Lehrstunde in Sachen Magie. Sag deiner Freundin, ihr könnt später reden.«
»Wisst ihr, warum Leo in letzter Zeit so fleißig war?«, gab Marisol zum Besten. »Caroline war verreist.«
»Stimmt.« Isabel nickte. »Mir ist auch aufgefallen, dass Leo weniger abgelenkt war, doch ich dachte, das läge daran, dass wir keine Schule haben.«
Wäre Leos Gehirn nicht gerade in zehn verschiedene Richtungen gezerrt worden, hätte sie Marisol und Isabel sagen können, dass Caroline sie ganz bestimmt nicht ablenkte! Gut, sie kam zwar fast täglich nach der Schule in der Bäckerei vorbei, doch meistens half sie Leo dabei, die neuen Kräuter auf ihrer Liste auswendig zu lernen oder sich coole Zaubersprüche auszudenken. Im Moment jedoch zupfte Belén an Leos Ärmel, und in Tía Palomas Lächeln lag die Aussicht auf neue Erkenntnisse über Magie, und das wollte sich Leo auf gar keinen Fall entgehen lassen.
»Du, ich muss los«, erklärte sie Caroline. »Wir sind gerade irre beschäftigt.«
»Soll ich später zu dir kommen?«, schlug Caroline vor.
»Ja, mal sehen.« Stirnrunzelnd starrte Leo auf Isabel und Marisol, obwohl die sie im Moment gar nicht ansahen. »Wir reden später, okay? Tschüs.«
Sie drückte die Austaste und ließ den Hörer neben ihrem Reichtums-Honig auf der Theke liegen.
»Wartet auf mich!« Sie rannte in die Küche und sah Tía Paloma mit den Zwillingen gerade durch die Hintertür verschwinden. »Ich komme!«

KAPITEL 2 – Kerzenmagie
Januarregen tröpfelte von dem grauen Himmel, als sie die Bäckerei verließen. Tía Paloma wohnte in Abuelas altem Haus, das eigentlich nicht weit weg von der Bäckerei lag. Doch Leos Tante fuhr so, wie sie auch redete: Sie wechselte von einer Spur auf die andere, bog falsch ab und wollte abkürzen, obwohl sie sich dabei nur wieder verfuhr. Als sie dann endlich vor der durchhängenden Veranda des kastenförmigen Holzhauses anhielten, hatte Leo das Gefühl, durch ganz Rose Hill gefahren zu sein, und das gleich zweimal!
»Immer hereinspaziert!« Tía Paloma führte Leo und ihre Schwestern ins Haus. Es war schmal, aber hoch, und hatte ein hohes, spitz zulaufendes Dach und Wände aus Holz, während in Leos Nachbarschaft fast nur gemauerte Häuser standen. Im Inneren sah es wie immer ziemlich chaotisch aus: In jeder Zimmerecke standen oder lagen Kartons, Papierstapel und Bücher sowie interessanter Schnickschnack, von Generationen von Backhexen angesammelt. Leo war gern im Haus ihrer Tante und liebte es besonders, hier herumzustöbern. Es gab Steinstatuen mit zu vielen Beinen, Holzbilder mit Heiligen, die man wie Bücher aufschlagen konnte, winzige Samenkörner an farbigen Fäden, dünne rostige Schlüssel, in Schubladen versteckt. Schon bevor Leo von der Familienmagie wusste, hatte sie irgendwie gespürt, dass Tía Paloma mit Geistern zusammenlebte.
Alma und Belén gingen sofort zum Esstisch. Seit sich ihre Gabe gezeigt hatte, Geister zu sehen, waren sie öfter hier gewesen, um von ihrer Tante Spezialunterricht zu bekommen. Leo dagegen hatte alles, was sie inzwischen über Magie wusste, über das Surren von elektrischen Mixern und das Piepen der Zeitschaltuhren der Backöfen hinweg aufschnappen müssen.
Als die Zwillinge sich setzen wollten, winkte Tía Paloma ab. »Nein, heute nicht dort. Wir gehen in den Kerzenraum. Ich möchte euch zeigen, wie Kerzen zum Zaubern verwendet werden, über das hinaus, was ich euch bereits erklärt habe. Wir haben noch nicht darüber gesprochen, dass … was?« Sie drehte den Kopf zum hinteren Bereich des Raums und Alma und Belén taten es ebenfalls. »Ja, hab ich. Klar, sie wissen es. Na schön, ich sage es ihr gleich, falls du mich lässt …« Seufzend schüttelte Tía Paloma ihren Pferdeschwanz und das Gespräch mit Abuela oder welchem Geist auch immer war beendet. Darüber war Leo froh. Es war nicht lustig, als Einzige im Raum keine Geister hören zu können.
»Kommt mit, Mädchen«, sagte Tía Paloma. »Heute werdet ihr etwas Neues lernen.«
Leo konnte es kaum erwarten und wippte auf den Fersen. Für sie gab es nichts Spannenderes als Orte, an denen sich Magie verbarg. Sie folgte ihrer Tante und den Zwillingen durch die große Küche, deren verblasstes Obstmuster der Tapete ihr genauso vertraut war wie die Collage mit den Fotos an der Kühlschranktür, auf denen die Frauen und Mädchen von Leos Familie lächelnd in immer derselben Backstube standen, vor Rührschüsseln oder Backblechen mit perfekt glasierten Keksen oder Kuchen. Und auf sämtlichen Fotos, ob nun den körnigen, verblassten Polaroids von Abuela und ihren drei Töchtern oder den erst kürzlich ausgedruckten Schnappschüssen von Alma und Leo, die gerade die Törtchen für das letzte Erntedankfest füllen, waren dasselbe Hängegestell mit Kupfertöpfen und Pfannen und dasselbe blau-weiße Butterfass zu sehen, das unerklärlicherweise mit so vielen Pennys und anderen Münzen gefüllt war, dass es keiner mehr von der Stelle neben der Arbeitsfläche bewegen konnte.
Wie jedes Mal, wenn sie an der Collage vorbeikam, strich Tía Paloma mit den Fingerspitzen über das Foto in der Mitte, auf dem Mamá als Kleinkind, sie selbst als Krabbelkind und ein größeres drittes Mädchen mit zerzausten Zöpfchen und einem schelmischen Grinsen zu sehen waren. Tía Paloma weinte auf dem Bild und streckte das Händchen nach einem Keks aus, den ihre grinsende große Schwester so hoch hielt, dass sie ihn nicht zu fassen bekam.
Leos älteste Tante war bei einem Unfall ums Leben gekommen, als Mamá und Tía Paloma noch jung gewesen waren. Und obwohl Leo wusste, dass ihre eigene Schwester Isabel nach ihr benannt worden war und als Erstgeborene ebenfalls die Gabe hatte, die Gefühle ihrer Mitmenschen beeinflussen zu können, klang das, was Mamá und Tía Paloma von ihrer großen Schwester erzählten, eher so, als sei Tante Isabel so rebellisch gewesen wie Leos Schwester Marisol.
Gemeinsam gingen sie durch den vollgestellten Flur, vorbei an Tía Palomas früherem Zimmer, in dem sie heute Bastelsachen und halb fertige Projekte aller Art aufbewahrte, dann an Mamás altem Zimmer, das inzwischen ein ziemlich überfülltes Gästezimmer war. In den Schachteln unter dem Bett hatte Leo einmal eine Sammlung von polierten Steinen gefunden, und Tía Paloma hatte ihr erlaubt, sich einen auszusuchen. Leo hatte sich eingebildet, der silbrig glänzende schwarze Stein sei magisch, doch inzwischen wusste sie, dass Tía Paloma einem Kleinkind nie etwas Magisches in die Hände geben würde. Die magischen Gegenstände bewahrte sie alle in speziellen Schränken und Regalen auf und offenbar auch im Kerzenzimmer.
Am Ende des Flurs gab es zwei Türen. Eine führte in Tía Palomas Schlafzimmer, und hierhin zogen sich die beiden orangefarbenen Katzen gern zurück, wenn die laute Logrono-Sippe zu Besuch kam; die andere Tür führte in den einzigen Raum, den Leo noch nie gesehen hatte: Tía Isabels altes Jugendzimmer.
Die Tür war mit schwarzen und neonfarbigen Stickern beklebt und in den beiden oberen Ecken hing je ein Kräuterbüschel. Schaubilder von verschiedenen Mondphasen überlappten Poster mit zornig dreinblickenden jungen Musikern, und es gab auch Fotos und Zeichnungen von Ofrendas zum Tag der Toten, in leuchtendem Orange und mit Ringelblumen und Kerzenflammen. Leo fragte sich, ob Mamás Tür früher auch so vollgeklebt gewesen war und ihre Persönlichkeit widergespiegelt hatte. Wie mochte ihre Tür wohl ausgesehen haben? Hatte ihre Mamá Magie auch früher schon so sehr geliebt wie ihre große Schwester? Hörte sie ebenfalls die Songs von Bands, deren Mitglieder nur Schwarz trugen und ihre Fäuste in die Kameras reckten? Hätte Tía Isabel all ihre Poster und Aufkleber abgemacht, wenn sie älter geworden wäre?
Vor der chaotisch beklebten Tür blieb Tía Paloma stehen, holte tief Luft und klopfte an.
Leo verkrampfte sich, weil sie dachte, gleich würde etwas Gespenstisches passieren. Alma und Belén blickten durch den Flur und legten die Köpfe schief, doch dann fing Alma Leos Blick auf und zuckte mit den Schultern. Keine Geister.
»Ich vergewissere mich immer zuerst, ob Isabel da ist – nur für den Fall der Fälle.« Tía Paloma seufzte, schüttelte den Kopf und öffnete dann die Tür.
Alma und Belén schnappten, links und rechts von Leo, unisono nach Luft. Leo war davon ausgegangen, der Raum sei wie die Tür in dem Zustand erstarrt, in dem Tía Isabel ihn verlassen hatte, doch es gab weder ein Bett noch ein Nachttischchen. Es sah eher wie Tía Palomas Bastelraum aus, mit ähnlichen, leicht zu montierenden Plastikregalen zwischen uralt aussehenden Holzregalen, die so windschief an den Wänden lehnten, als könnten sie jeden Augenblick in Staub und Asche zerfallen. Außerdem gab es sehr viel Arbeitsfläche in Form der langen Holztische, die aneinandergestellt den ganzen Raum ausfüllten. Die Tische hatten dunkle Beine, in die vertraute Formen und Muster geschnitzt waren, und Leo schmunzelte, als sie sie erkannte. Die Tische passten zu den hohen Schränken in der Bäckerei, in denen normale und magische Zutaten aufbewahrt wurden. Sowohl die Plastik- als auch die alten Holzmöbel glänzten im schwachen Licht.
In den Regalen flackerten auf jedem freien Plätzchen Kerzen, deren Flammen den dunklen Raum nicht etwa in ein orangefarbenes, sondern in ein gespenstisch blaues Licht tauchten. Auf einem Tisch standen reihenweise Gefäße mit Pülverchen, ordentlich mit Etiketten versehen. Daneben lagen Kräuterbüschel und gefaltete Zettel sowie eine Streichholzschachtel in einem hell-orangefarbenen Lichtkreis von ein paar wenigen Kerzen, die ganz normal brannten. Es sah fast wie eine Ofrenda am Día de los Muertos aus, doch Leo nahm an, dass diese ›normalen‹ Kerzen das ganze Jahr über brannten, nicht nur im November. Es war also ein Altar.
Obwohl die Kerzen am anderen Ende des Raums standen, kitzelte die Wärme der winzigen Flammen Leos Gesicht und tanzte in ihrem Magen.
»Wunderschön«, flüsterte Alma ihr ins Ohr.
Belén kicherte und griff an Leo vorbei, um Alma an die Schulter zu stupsen. »Besteht da keine Brandgefahr?«
Tía Paloma drückte auf einen Lichtschalter und alle blauen Flammen verschwanden im grellen Lichtschein der Deckenlampe. Zurück blieben ein rauchiger Geruch und ein Hauch von anderen Düften, sowohl seltsam als auch vertraut, und nur der Kreis von Kerzen in der Mitte des Raums brannte weiter. Leo ging darauf zu und untersuchte den winzigen pinkfarbenen Stummel, der noch auf dem Boden eines hohen Glasgefäßes glimmte.
»Die hatte ich für eure Mamá angezündet«, sagte Tía Paloma und zog das Glas schnell weg von Leo. »Ich bin davon ausgegangen, dass sie für das Bruja-Treffen am Wochenende eine kleine Unterstützung ihrer Kommunikationsfähigkeit brauchen konnte. Wisst ihr, in einer doch recht kleinen Gemeinschaft will jeder zu Wort kommen. Ich bin mir sicher, du und deine … Zaubermissgeschicke waren auch ein Gesprächsthema, Leo.«
Verlegen starrte Leo auf ihre Füße. Im November hatte sie sich auf eigene Faust an einem Zauber versucht und der war total schiefgegangen. Sie hatte einen Jungen, Brent, geschrumpft, der dann von der Polizei gesucht worden war. Kein Wunder, dass sich die Sache unter den Brujas und Magierinnen herumgesprochen hatte. Es war keine schöne Vorstellung für Leo, dass eine Gruppe von erfahrenen und erwachsenen Zauberinnen die Köpfe schüttelten, als sie über die kleine Logrono-Bruja redeten, die verfrüht und unkontrolliert eigene Experimente durchführen wollte. Leo war es mehr als peinlich, dass sie ihre Mutter damit blamiert hatte.
Aber inzwischen war sie eingeweiht und wurde ganz offiziell in die Geheimnisse der Magie eingeführt. Beim Bruja-Treffen im nächsten Jahr würden sicher alle mit Stolz über Leo reden.
»Aha«, sagte sie und konnte es kaum erwarten, dass Tía Paloma endlich anfing. »Kerzen können also dabei helfen, besser mit anderen zu kommunizieren?«
»Das ist eine der Funktionen von pinkfarbenen Kerzen«, erklärte Tía Paloma. »Aber ich greife mal wieder zu weit vor. Immer schön der Reihe nach. Eure Mutter und ich legen großen Wert darauf, dass ihr eine umfassende Ausbildung im Zaubern erhaltet. Und Kerzen und Kräuter sind nun mal sehr wichtig. Das hat eure Mamá sicher deutlich gespürt, nachdem sie ein Wochenende mit einer größeren Gruppe verbracht hat. Mit seiner eigenen, angeborenen Gabe zu arbeiten ist natürlich wunderbar, aber wir dürfen die Werkzeuge und Traditionen nicht vergessen, die uns alle verbinden. Deshalb finden auch regelmäßig diese Treffen statt, richtig?« Sie holte kurz Luft, bevor sie fortfuhr: »Das hier ist also der Kerzenraum, wo wir Kerzen für alles präparieren und anzünden, was wir …« Sie verstummte kurz, wie in Gedanken versunken. »Oh, und ihr Mädchen könnt die Kerzen natürlich verwenden, wann immer ihr sie braucht; sie gehören nicht mir allein, sondern der ganzen Familie.«
Leo legte den Kopf schief und überlegte sich, ob es wohl unhöflich wäre, Tía Paloma darauf hinzuweisen, dass sie sich noch unklarer ausdrückte als sonst.
»Also …« Tía Paloma deutete mit dem Kinn in eine Ecke des Raums. »Das soll natürlich nicht heißen, dass ihr es allen Leuten erzählt, die ihr kennt.«
Alma und Belén sahen Leo an und zogen die Augenbrauen hoch.
Leo verdrehte die Augen. »Mach ich doch nicht!« Da fiel ihr ein, worauf die Zwillinge anspielten, und sie sagte schnell: »Caroline ist nicht alle Leute.«
»Ach herrje …« Tía Paloma seufzte. »Ich hätte eine für mich selbst anzünden sollen, bevor ich euch das alles erkläre. Das war nicht auf dich gemünzt, Leo. Und deine Freundin schien ja immer sehr vertrauenswürdig zu sein.« Sie legte die Stirn in Falten, als sie die pinkfarbene Kerze hochhob, sie inspizierte und dann einen Deckel auf das Glas legte, sodass die kleine Flamme schrumpfte und schließlich erlosch.
Leo biss sich auf die Lippen und versuchte, ihren Ärger hinunterzuschlucken. Dass ihre Familie Caroline nicht mochte, war im Moment zweitranging. Sie war hier, weil sie etwas lernen wollte.
Als hätte Tía Paloma Leos Gedanken gelesen, klatschte sie plötzlich in die Hände und machte dann eine schwungvolle Handbewegung durch den Raum. »Veladoras«, sagte sie, »gibt es in allen Formen und Größen. Wie die Kräuter, über die wir schon gesprochen haben, hat jeder Kerzentyp spezifische Eigenschaften, und sobald ihr alles über sie wisst, könnt ihr sie als wichtige Bestandteile von komplexen Zaubern verwenden.«
»Zum Beispiel, wenn wir Geister herbeirufen, damit sie mit den Lebenden kommunizieren«, sagte Alma und nickte. Leo erinnerte sich daran, wie die Zwillinge es mit einer Kerze geschafft hatten, ihre Abuela als Geist mitten in Leos Zimmer erscheinen zu lassen.
»Aber das ist unsere spezielle Gabe als Drittgeborene«, warf Belén ein. »Isabel oder Leo könnten nicht einfach eine Kerze anzünden und mit Geistern reden, oder?«
Tía Paloma suchte gerade eines der Regale ab. »Niemand weiß genau, was Leo kann oder nicht kann, da wir noch nie eine Viertgeborene in der Familie hatten. Aber ihr habt recht; eure Schwestern können auch mithilfe von Kerzen nicht dasselbe bewirken wie ihr beide. Hier, halte mal!«
Sie nahm eine hohe, dünne, braune Kerze vom Regal und reichte sie Belén. Diese Kerze steckte in einem runden Pappteller, was Leo an ein Schwert denken ließ, als Belén sie nun am unteren Drittel anfasste. Tía Paloma nahm ein Streichholz vom Altar und zündete die Kerze an. Sie kniff kurz die Augen zusammen, bevor sie Leo und Alma um die Schultern fasste und sich mit ihnen so eng um Belén stellte, als wollte sie mit ihnen ein Selfie machen.
Leo schaute zu den Zwillingen und sie schauten zu ihr, und die Augenbrauen ihrer Schwestern verschwanden vor Verwirrung unter ihren gefärbten Stirnfransen. Leo nahm an, dass Tía Paloma mit der braunen Kerze gerade einen Zauber über die drei Mädchen zu legen versuchte.
»Rosmarin!«, rief Tía Paloma plötzlich. »Das würde es zu einem echten Zauber machen. Ich weiß, dass ich irgendwo welchen habe – Rosmarin steigert die Konzentration, wisst ihr, deshalb habe ich immer welchen im Haus. Das hilft mir, etwas …« Sie legte den Kopf schief und fixierte Leo, die schnell versuchte, nicht mehr wie ein nach Luft schnappender Fisch auszusehen. »… ähm, mich besser zu konzentrieren. Ich rede ziemlich wirres Zeug, nicht wahr?«
Leo zuckte nur mit den Schultern, obwohl die richtige Antwort ein klares Ja gewesen wäre.
agte Belén, ohne die flackernde Flamme der braunen Kerze a
»Nein, nein.« Tía Paloma schüttelte den Kopf. Sie stellte die Kerzen auf dem Tisch beiseite, holte eine dicke violette Kerze aus dem Regal und streute etwas Pulver darüber, bevor sie sie anzündete. »Kultgegenstände an sich sind normalerweise subtiler, sie öffnen Pfade und intensivieren andere magische Kräfte. Begabung allein kann durchaus zu einem Ergebnis führen, aber normalerweise ein recht begrenztes, so wie unsere Begabung im Umgang mit Geistern darauf beschränkt ist, sie sehen und hören zu können.« Die Kerzenflamme flackerte, als Tía Paloma mit der Hand hindurchfuhr. Ihre Finger warfen lange Schatten, die sich zu einem Regenbogen von dunklen Farben und zu einer sternenförmigen Lichtreflexion an der Decke kräuselten.
Alma schrie leise auf, Belén pfiff durch die Zähne und Leo bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu.
»Wenn man seine Begabung aber mit Kultgegenständen kombiniert, sind erstaunliche Dinge möglich. Auf diese Weise kreiert unsere Familie höchst komplexe Rezepte, und deshalb lege ich Wert darauf, dass ihr Mädchen sämtliche Anwendungsmöglichkeiten von Kräutern und Kerzen kennenlernt. Das alles kann euch helfen, mehr aus euren magischen Fähigkeiten zu machen.«
Leo spürte etwas in ihrer Brust brodeln, als Tía Palomas Worte endlich einen Sinn ergaben. Natürlich wollte sie mehr aus ihren magischen Fähigkeiten machen. Sie war bereit, alles nur Mögliche zu benutzen, was ihr half, ihre Kräfte zu bündeln und somit zu steigern.
Sie wollte alles lernen.
»Gut, und womit fangen wir an?«, fragte sie.