Zum Buch
Frances und ihre Freundin Bobbi, Studentinnen in Dublin, lernen das Ehepaar Melissa und Nick kennen. Sie treffen sich bei Events, zum Essen, führen Gespräche. Persönlich und online diskutieren sie über Sex und Freundschaft, Kunst und Literatur, Politik und Genderfragen und, natürlich, über sich selbst. Während Bobbi von Melissa fasziniert ist, fühlt sich Francis immer stärker zu Nick hingezogen, dem zehn Jahre älteren, verheirateten Mann … Gespräche mit Freunden ist ein intensiver Roman über Intimität, Untreue und die Möglichkeit der Liebe, eine hinreißende, kluge Antwort auf die Frage, wie es ist, heute jung und weiblich zu sein.
»Unglaublich, dass dies ein Debüt sein soll … Rooney zeichnet ein nuanciertes, sehr spannendes Porträt einer superklugen Studentin in den Fängen einer Affäre mit einem verheirateten Mann.« Zadie Smith, Elle
»Dieses Buch. Dieses Buch. Ich habe es an einemTag gelesen. Und wie ich höre, stehe ich damit nicht allein.« Sarah Jessica Parker (Instagram)
Zur Autorin
SALLY ROONEY wurde 1991 geboren, ist in Castlebar, County Mayo, aufgewachsen und lebt in Dublin. Ihre frühen Arbeiten sind erschienen in The NewYorker, Granta, The White Review, The Dublin Review, The Stinging Fly, Kevin Barrys Stonecutter und der Anthologie The Winter Page. Sie studierte am Trinity College Dublin, zunächst Politik, machte dann ihren Master in Literatur. Rooneys Debütroman Gespräche mit Freunden war Book of the Year in Sunday Times, Guardian, Observer, Daily Telegraph und Evening Standard. Der Roman kam auf die Shortlist des Sunday Independent Newcomer of the Year Award 2017, des International Dylan Thomas Prize und des Rathbones Folio Prize 2018. Rooney war die Gewinnerin des Sunday Times/Peters Fraser & Dunlop Young Writer of the Year Award 2017, den u. a. auch Zadie Smith und Sarah Waters gewannen. Rooney ist inzwischen Redakteurin der irischen Literaturmagazins The Stinging Fly. Ihr zweiter Roman Normal People kam 2018 auf die Longlist des Man Booker Prize, gewann den Costa Novel Award und den An Post Irish Novel of the Year Award.
Zur Übersetzerin
ZOË BECK, geb. 1975, studierte englische und deutsche Literaturwissenschaften in Gießen, Bonn und Durham und lebte einige Jahre in England und Schottland. Sie übersetzte Werke von u. a. James Grady, Karan Mahajan, Denise Mina und Helen Oyeyemi. Mit der Übersetzung von Amanda Lee Koes »Ministerium für öffentliche Erregung« war sie 2017 für den Internationalen Literaturpreis nominiert. Beck lebt in Berlin.
Sally Rooney
Gespräche
mit Freunden
Roman
Aus dem Englischen von
Zoë Beck
Luchterhand
In Krisenzeiten muss sich jeder von uns
immer wieder entscheiden, wen er liebt.
FRANK O’HARA
Bobbi und ich trafen Melissa zum ersten Mal bei einer Poetry Night in der Stadt, wo wir gemeinsam auftraten. Melissa machte draußen von uns Fotos, während Bobbi rauchte und ich verlegen mein linkes Handgelenk mit der rechten Hand umklammerte, als hätte ich Angst, es würde sich von mir wegstehlen. Melissa benutzte eine große, professionelle Kamera, und in einer speziellen Kameratasche hatte sie viele unterschiedliche Objektive verstaut. Sie plauderte und rauchte, während sie fotografierte. Sie sprach über unseren Auftritt, und wir redeten über ihre Arbeit, auf die wir im Internet aufmerksam geworden waren. Gegen Mitternacht schloss die Bar. Es fing gerade an zu regnen, und Melissa lud uns auf einen Drink zu sich nach Hause ein.
Wir setzten uns alle drei auf die Rückbank eines Taxis und schnallten uns an. Bobbi saß in der Mitte, sie hatte den Kopf so gedreht, dass sie mit Melissa sprechen konnte, und ich sah auf ihren Nacken und ihr kleines, löffelartiges Ohr. Melissa nannte dem Fahrer die Adresse in Monkstown, und ich sah aus dem Fenster. Eine Stimme drang aus dem Radio und sagte: Achtziger … Pop … Klassiker. Dann ertönte ein Jingle. Ich war aufgeregt, bereit für die Herausforderung, in die Wohnung einer Fremden zu gehen, und legte mir schon Komplimente und bestimmte Mienen zurecht, um charmant zu wirken.
Wir hielten vor einer Doppelhaushälfte aus rotem Backstein mit einer Platane davor. Unter dem Licht der Straßenlampe wirkten die Blätter orange und künstlich. Ich war ein großer Fan davon, mir anderer Leute Häuser von innen anzusehen, besonders wenn die Leute ein bisschen berühmt waren, wie Melissa. Sofort beschloss ich, mir alles genau zu merken, damit ich es später unseren Freunden beschreiben konnte, mit Bobbi als Zeugin.
Als uns Melissa hineinließ, rannte uns ein kleiner roter Spaniel auf dem Flur entgegen und fing an zu bellen. Im Flur war es warm, und das Licht war an. Bei der Tür stand ein niedriger Tisch, auf dem jemand einen Haufen Kleingeld, eine Bürste und einen offenen Lippenstift hatte liegen lassen. Über der Treppe hing ein Modigliani-Druck, eine nackte Frau, die sich nach hinten lehnt. Ich dachte: Das ist ein ganzes Haus. Eine Familie hätte hier Platz.
Wir haben Gäste, rief Melissa in den Flur.
Niemand zeigte sich, also folgten wir ihr in die Küche. Ich erinnere mich, dass mir eine dunkle Holzschale mit reifen Früchten und der verglaste Wintergarten auffielen. Reiche Leute, dachte ich. Damals dachte ich ständig über reiche Leute nach. Der Hund war uns in die Küche hinterhergelaufen und schnüffelte an meinen Füßen herum, aber Melissa erwähnte den Hund nicht, also taten wir es auch nicht.
Wein?, fragte Melissa. Weiß oder rot?
Sie schenkte uns riesige, kugelförmige Gläser ein, und wir setzten uns an einen niedrigen Tisch. Melissa fragte uns, seit wann wir zusammen Spoken-Word-Gedichte aufführten. Wir waren beide gerade mit unserem dritten Jahr an der Uni fertig, aber wir traten schon seit der Schule auf. Die Prüfungen waren mittlerweile vorbei. Es war Ende Mai.
Melissas Kamera lag auf dem Tisch, und ab und zu griff sie danach, um ein Foto zu machen, und lachte dabei selbstironisch, sagte, sie sei »arbeitssüchtig«. Sie zündete sich eine Zigarette an und aschte in einen kitschigen Aschenbecher aus Glas. Im Haus roch es überhaupt nicht nach Rauch, und ich fragte mich, ob sie sonst auch drinnen rauchte oder nicht.
Ich hab neue Leute kennengelernt, sagte sie.
Ihr Ehemann stand in der Küchentür. Er hob zur Begrüßung die Hand, und der Hund raste kläffend und winselnd um ihn herum.
Das ist Frances, sagte Melissa, und das ist Bobbi. Sie sind Lyrikerinnen.
Er nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und öffnete sie auf der Küchentheke.
Komm, setz dich zu uns, sagte Melissa.
Ja, würd ich gern, sagte er, aber ich muss vor meinem Flug echt ein bisschen versuchen zu schlafen.
Der Hund sprang auf einen Küchenstuhl in seiner Nähe, und er streckte geistesabwesend die Hand aus, um ihn am Kopf zu streicheln. Er fragte Melissa, ob sie den Hund gefüttert hatte, sie sagte nein. Er nahm den Hund auf den Arm und ließ sich Gesicht und Hals ablecken. Er sagte, er würde ihn füttern, und dann verließ er die Küche wieder.
Nick dreht morgen früh in Cardiff, sagte Melissa.
Wir wussten schon, dass ihr Ehemann Schauspieler war. Er und Melissa wurden regelmäßig zusammen auf Veranstaltungen fotografiert, und Freunde von Freunden hatten sie bereits kennengelernt. Er hatte ein großes, schönes Gesicht und sah aus, als könne er sich Melissa bequem unter den Arm klemmen und mit dem anderen Eindringlinge abwehren.
Er ist sehr groß, sagte Bobbi.
Melissa lächelte, als wäre »groß« eine Untertreibung, aber nicht zwingend für etwas Schmeichelhaftes. Das Gespräch entwickelte sich. Wir diskutierten kurz über die Regierung und die katholische Kirche. Melissa wollte von uns wissen, ob wir religiös waren, und wir verneinten. Sie sagte, sie finde religiöse Anlässe wie Beerdigungen oder Hochzeiten »auf sedierende Art tröstlich«. Sie stiften Gemeinschaft, sagte sie. Für neurotische Individualisten ist das ganz nett. Und ich war auf einer Klosterschule, ich kann immer noch die meisten Gebete auswendig.
Wir waren auch auf einer Klosterschule, sagte Bobbi. Da gab es Probleme.
Melissa grinste und fragte: Welche?
Na ja, ich bin lesbisch, sagte Bobbi. Und Frances ist Kommunistin.
Ich glaube auch nicht, dass ich mich noch an irgendwelche Gebete erinnern kann, sagte ich.
Wir saßen lange zusammen und redeten und tranken. Ich weiß noch, dass wir über die Lyrikerin Patricia Lockwood sprachen, die wir bewunderten, und darüber, was Bobbi abfällig »Lohngefälle-Feminismus« nannte. Ich wurde langsam müde und etwas betrunken. Mir fiel nichts Witziges mehr ein, und ich hatte Mühe, mein Gesicht so zu kontrollieren, dass mein Sinn für Humor erkennbar war. Ich glaube, ich lachte und nickte viel. Melissa erzählte uns, dass sie an einem neuen Essayband arbeitete. Bobbi hatte ihren ersten gelesen, ich nicht.
Der ist nicht so gut, sagte Melissa zu mir. Warte, bis der nächste rauskommt.
Gegen drei Uhr zeigte sie uns das Gästezimmer und sagte, wie großartig sie es fand, uns kennengelernt zu haben, und wie sehr sie sich darüber freute, dass wir blieben. Als wir im Bett lagen, starrte ich an die Decke und fühlte mich sehr betrunken. Das Zimmer kreiste immer wieder in kurzen, aufeinanderfolgenden Umdrehungen. Sobald sich meine Augen an eine Drehung gewöhnt hatten, fing sofort die nächste an. Ich fragte Bobbi, ob es ihr auch so ging, aber sie sagte nein.
Sie ist großartig, oder?, fragte Bobbi. Melissa.
Ich mag sie, sagte ich.
Wir konnten ihre Stimme auf dem Flur hören, und ihre Schritte, die von Raum zu Raum wanderten. Als der Hund einmal bellte, konnten wir sie etwas rufen hören, und dann die Stimme ihres Ehemanns. Aber danach schliefen wir ein. Wir hörten nicht, wie er das Haus verließ.
*
Bobbi und ich hatten uns am Gymnasium kennengelernt. Damals war Bobbi sehr eigensinnig und musste regelmäßig wegen des Verhaltensregelverstoßes nachsitzen, den unsere Schule »Stören des Lehrens und Lernens« nannte. Als wir sechzehn waren, ließ sie sich die Nase piercen und fing an zu rauchen. Niemand mochte sie. Einmal wurde sie vorübergehend suspendiert, weil sie »Scheiß aufs Patriarchat« an die Wand neben den Gipsabdruck eines Kruzifixes geschrieben hatte. Es entstand kein Zusammengehörigkeitsgefühl wegen des Vorfalls. Bobbi galt als Angeberin. Sogar ich musste zugeben, dass das Lehren und Lernen in der Woche, in der sie fort war, sehr viel besser lief.
Als wir siebzehn waren, mussten wir an einem Wohltätigkeitsball in der Schulaula teilnehmen, in der eine halb kaputte Diskokugel Licht an die Decke und die vergitterten Fenster warf. Bobbi trug ein hauchdünnes Sommerkleidchen und sah aus, als hätte sie sich die Haare nicht gekämmt. Sie sah umwerfend gut aus, was bedeutete, dass sich alle verdammt anstrengen mussten, um ihr keine Beachtung zu schenken. Ich sagte ihr, dass mir ihr Kleid gefiel. Sie gab mir von dem Wodka ab, den sie aus einer Colaflasche trank, und fragte mich, ob der Rest der Schule abgeschlossen war. Wir überprüften die Tür, die zum hinteren Treppenhaus führte. Sie war offen. Alle Lichter waren aus, und niemand war dort oben. Wir konnten die Musik durch die Holzdielen wummern hören, wie einen Klingelton, der zu jemand anderem gehörte. Bobbi bot mir noch mal Wodka an und fragte mich, ob ich Mädchen mochte. Es fiel mir leicht, in ihrer Gegenwart cool zu bleiben. Ich sagte einfach: Klar.
Ich hinterging niemanden, indem ich Bobbis Freundin wurde. Ich war mit niemandem eng befreundet, und während der Mittagspause saß ich allein in der Schulbibliothek und las Fachbücher. Ich mochte die anderen Mädchen, ich ließ sie Hausaufgaben von mir abschreiben, aber ich war einsam und fand, ich hätte es nicht verdient, wirklich mit jemandem befreundet zu sein. Ich erstellte eine Liste mit allem, was ich an mir verbessern musste. Als Bobbi und ich zusammen waren, änderte sich alles. Niemand wollte mehr meine Hausaufgaben abschreiben. Mittags gingen wir Händchen haltend über den Parkplatz, und die Leute wandten gehässig ihre Blicke von uns ab. Es machte Spaß, es war der erste echte Spaß, den ich je hatte.
Nach der Schule lagen wir normalerweise in ihrem Zimmer und hörten Musik und redeten darüber, warum wir uns mochten. Es waren lange und intensive Gespräche, und sie kamen mir so bedeutsam vor, dass ich abends Teile davon heimlich aus dem Gedächtnis aufschrieb. Wenn Bobbi über mich sprach, kam es mir so vor, als würde ich mich zum ersten Mal im Spiegel sehen. Ich sah von nun an auch öfter in echte Spiegel. Ich fing an, mich sehr für mein Gesicht und meinen Körper zu interessieren, was ich vorher nie getan hatte. Ich fragte Bobbi Sachen wie: Habe ich lange Beine? Oder kurze?
Bei unserer Schulabschlussfeier führten wir gemeinsam ein Spoken-Word-Stück auf. Von den Eltern weinten einige, aber unsere Klassenkameradinnen sahen nur aus den Fenstern der Aula oder unterhielten sich leise miteinander. Ein paar Monate später, nachdem wir über ein Jahr zusammen gewesen waren, machten Bobbi und ich Schluss.
*
Melissa wollte ein kurzes Porträt über uns schreiben. Sie fragte uns per E-Mail, ob wir daran Interesse hätten, und hängte ein paar Fotos an, die sie vor der Bar gemacht hatte. Ich war allein in meinem Zimmer, als ich eine der Dateien herunterlud und im Vollbildmodus öffnete. Bobbi sah mich verschmitzt an, in ihrer rechten Hand hielt sie eine Zigarette, mit der linken zupfte sie an ihrer Pelzstola. Ich stand neben ihr und sah gelangweilt und interessant aus. Ich versuchte, mir meinen Namen in einem Porträt vorzustellen, in einer Serifenschrift mit dicken Linien. Ich nahm mir vor, Melissa beim nächsten Mal mehr zu beeindrucken.
Bobbi rief mich fast direkt, nachdem die E-Mail eingetroffen war, an.
Hast du die Bilder gesehen?, fragte sie. Ich glaube, ich bin in sie verliebt.
Ich hielt mein Telefon in der einen Hand und zoomte mit der anderen auf Bobbis Gesicht. Es war ein hochauflösendes Bild, aber ich zoomte, bis ich die Pixelung sehen konnte.
Vielleicht bist du einfach nur in dein eigenes Gesicht verliebt, sagte ich.
Nur weil ich ein schönes Gesicht habe, heißt das nicht, dass ich eine Narzisstin bin.
Ich ließ es auf sich beruhen. Ich war noch damit beschäftigt, auf das Bild zu zoomen. Ich wusste, dass Melissa für einige große literarische Webseiten schrieb und dass ihre Beiträge online große Verbreitung fanden. Sie hatte einen berühmten Essay über die Oscars verfasst, den alle jedes Jahr um die Preisverleihung herum erneut teilten. Manchmal schrieb sie auch Porträts über lokale Künstler, die ihre Arbeiten auf der Grafton Street verkauften, oder Straßenmusiker in London; die Artikel waren stets mit schönen Fotos garniert, und die Porträtierten, Melissas Objekte, sahen darauf menschlich und charaktervoll aus. Ich zoomte wieder raus und versuchte, mir mein eigenes Gesicht anzusehen, als wäre ich eine Fremde, die ich zum ersten Mal im Internet sah. Es war rund und weiß, mit Augenbrauen wie umgekippten runden Klammern, die Augen von der Linse abgewandt, fast geschlossen. Selbst ich konnte sehen, dass ich Charakter hatte.
Wir mailten ihr zurück, wir seien von ihrem Vorschlag entzückt, und sie lud uns zum Abendessen ein, um über unsere Arbeit zu sprechen und noch ein paar zusätzliche Bilder zu machen. Sie bat mich, ihr ein paar unserer Gedichte zu schicken, und ich suchte drei oder vier unserer besten Stücke aus. Bobbi und ich berieten ausführlich, was Bobbi zum Abendessen tragen sollte, indem wir so taten, als redeten wir darüber, was wir beide tragen würden. Ich lag in meinem Zimmer und sah ihr dabei zu, wie sie sich selbst im Spiegel betrachtete und Haarsträhnen kritisch vor- und zurückschob.
Du hast gesagt, du wärst in Melissa verliebt, sagte ich.
Ich hab mich in sie verknallt, ja.
Du weißt, dass sie verheiratet ist?
Glaubst du, sie mag mich nicht?, fragte Bobbi.
Sie hielt eins meiner weißen Flanellhemden vor den Spiegel.
Wie meinst du das, dich mögen?, fragte ich. Reden wir hier ernsthaft, oder machen wir nur Spaß?
Ich meine das halb ernst. Ich glaube, sie mag mich.
Im Sinne von außereheliche Affäre?
Bobbi lachte nur darüber. Bei anderen Leuten hatte ich normalerweise ein gutes Gefühl dafür, was ernst zu nehmen war und was nicht, aber bei Bobbi war das unmöglich. Sie schien etwas nie völlig ernst oder völlig im Spaß zu meinen. Also hatte ich gelernt, die seltsamen Dinge, die sie sagte, mit einer Art Zen-Gelassenheit zu akzeptieren. Ich sah ihr dabei zu, wie sie ihre Bluse aus- und das weiße Hemd anzog. Sorgfältig krempelte sie die Ärmel hoch.
Gut?, fragte sie. Oder furchtbar?
Gut. Es sieht gut aus.
Der Tag, an dem das Abendessen bei Melissa stattfand, war komplett verregnet. Ich saß morgens im Bett und schrieb Gedichte, drückte auf die Return-Taste, wann immer es mir passte. Schließlich zog ich die Jalousien hoch, las die Nachrichten online und duschte. Meine Wohnung hatte eine Tür, die in den Innenhof des Gebäudes führte, der großzügig begrünt war und in dem in der gegenüberliegenden Ecke ein japanischer Kirschbaum stand. Es war schon fast Juni, aber im April waren seine Blüten so hell und seidig wie Konfetti. Das Paar nebenan hatte ein Baby, das manchmal nachts weinte. Ich wohnte gern dort.
Bobbi und ich trafen uns an jenem Abend in der Stadt und nahmen den Bus nach Monkstown. Den Weg zu Melissas Haus wiederzufinden hatte etwas von einer Schnitzeljagd. Ich sagte es zu Bobbi, und sie antwortete: Und was kriegt der Sieger?
Da reden wir nach dem Essen drüber, sagte ich.
Wir klingelten, und Melissa öffnete die Tür, die Kamera über der Schulter. Sie bedankte sich, dass wir gekommen waren. Sie schenkte uns ein ausdrucksvolles, verschwörerisches Lächeln, und ich vermutete, dass sie alle ihre Objekte damit bedachte, wie um zu sagen: Du bist für mich kein gewöhnliches Objekt, du bist mein besonderer Liebling. Ich wusste bereits, dass ich dieses Lächeln später voller Neid vor dem Spiegel üben würde. Der Spaniel kläffte im Durchgang zur Küche, während wir unsere Jacken aufhängten.
In der Küche schnitt ihr Ehemann Gemüse. Der Hund war wegen unserer kleinen Versammlung richtig aufgeregt. Er sprang auf einen Küchenstuhl und bellte zehn, zwanzig Sekunden lang, bevor Nick ihm sagte, er solle aufhören.
Wollt ihr beide ein Glas Wein?, fragte Melissa.
Wir wollten, und Nick schenkte uns ein. Ich hatte ihn nach unserem ersten Treffen im Internet gesucht, zum Teil, weil ich in echt keine Schauspieler kannte. Er hatte hauptsächlich am Theater gearbeitet, aber auch Fernseh- und Kinofilme gedreht. Vor ein paar Jahren war er einmal für einen bedeutenden Preis nominiert gewesen, hatte ihn aber nicht bekommen. Ich war auf eine ganze Sammlung von Fotos mit nacktem Oberkörper gestoßen, auf den meisten war er jünger, kam gerade aus einem Swimmingpool oder duschte in einer Fernsehserie, die schon seit längerer Zeit nicht mehr lief. Ich schickte Bobbi den Link zu einem dieser Fotos und schrieb dazu: Vorzeigeehemann.
Von Melissa gab es kaum Fotos im Internet, obwohl ihre Essays sehr viel Aufmerksamkeit bekommen hatten. Ich wusste nicht, seit wann sie mit Nick verheiratet war. Sie waren beide nicht bekannt genug, online war diese Information nicht zu finden.
Ihr zwei schreibt also alles zusammen?, fragte Melissa.
O Gott, nein, sagte Bobbi. Frances schreibt alles. Ich helfe nicht mal dabei.
Das stimmt nicht, sagte ich. Das stimmt nicht, natürlich hilfst du mir. Sie sagt das jetzt einfach nur so.
Melissa legte den Kopf schief und stieß so etwas wie ein Lachen aus.
Na gut, also, welche von euch lügt?, fragte sie.
Ich hatte gelogen. Einmal abgesehen davon, dass Bobbi mein Leben bereicherte, beim Schreiben half sie mir nicht. Soweit ich wusste, hatte sie selbst noch nie etwas geschrieben. Es gefiel ihr, dramatische Monologe aufzuführen und Antikriegsballaden zu singen. Auf der Bühne war sie die Hauptinterpretin, und ich sah oft nervös zu ihr hin, damit mir wieder einfiel, was zu tun war.
Zum Abendessen gab es Spaghetti mit einer sämigen Weißweinsoße, dazu viel Knoblauchbrot. Nick war die meiste Zeit still, während uns Melissa Fragen stellte. Sie brachte uns häufig zum Lachen, aber auf dieselbe Art, wie man Leute dazu bringt, etwas zu essen, obwohl sie es nicht unbedingt mögen. Ich war mir nicht sicher, ob mir diese gezwungene Fröhlichkeit gefiel, aber Bobbi genoss sie ganz offensichtlich. Sie lachte viel mehr, als sie eigentlich musste.
Ich wusste zwar nicht genau, warum, aber ich war mir sicher, dass sich Melissa nicht mehr so brennend für unseren Schreibprozess interessierte, jetzt, da sie wusste, dass ich alles allein schrieb. Diese Veränderung war subtil genug, dass Bobbi sie später leugnen würde, was mich so sehr nervte, als wäre es bereits geschehen. Ich merkte, wie ich mich innerlich entfernte, als hätte sich die Dynamik der ganzen Konstellation bereits offenbart und würde mich nicht interessieren oder auch nur betreffen. Ich hätte versuchen können, mich stärker zu engagieren, aber vermutlich ärgerte es mich, dass ich mich anstrengen musste, um wahrgenommen zu werden.
Nach dem Abendessen räumte Nick den Tisch ab, und Melissa machte Fotos. Bobbi saß auf dem Fenstersims, betrachtete eine brennende Kerze, lachte und zog niedliche Grimassen. Ich saß am Esstisch, ohne mich zu bewegen, und trank mein drittes Glas Wein.
Das mit dem Fenster mag ich sehr, sagte Melissa. Können wir was Ähnliches machen, nur im Wintergarten?
Eine Doppeltür führte von der Küche in den Wintergarten. Bobbi folgte Melissa, die die Türen hinter ihnen schloss. Ich sah, wie sich Bobbi auf den Fenstersims setzte und lachte, aber ich konnte ihr Lachen nicht hören. Nick ließ heißes Wasser ins Spülbecken. Ich sagte ihm noch einmal, wie gut mir das Essen geschmeckt hatte, und er sah auf und sagte: Oh, danke.
Durch das Glas konnte ich zusehen, wie sich Bobbi einen Make-up-Fleck unter dem Auge abwischte. Ihre Handgelenke waren schlank, und sie hatte lange, elegante Hände. Manchmal, wenn ich etwas Langweiliges machte, zum Beispiel wenn ich von der Arbeit nach Hause ging oder Wäsche aufhängte, stellte ich mir gern vor, ich sähe wie Bobbi aus. Sie hatte eine bessere Körperhaltung als ich und ein wunderschönes Gesicht, das man so leicht nicht vergaß. Ich steigerte mich so sehr hinein, dass ich es selbst glaubte, und wenn ich dann zufällig mein Spiegelbild sah, überkam mich ein seltsam entpersonalisierender Schrecken. Jetzt fiel es mir schwerer, weil Bobbi direkt in meinem Blickfeld saß, aber ich versuchte es trotzdem. Ich hatte Lust, etwas Provokantes und Dummes zu sagen.
Ich fürchte, ich bin hier überflüssig wie ein Kropf, sagte ich.
Nick sah zum Wintergarten, wo Bobbi gerade etwas mit ihrem Haar machte.
Glaubst du, Melissa mag sie lieber?, fragte er. Ich kann mit ihr reden, wenn du möchtest.
Schon gut. Alle mögen Bobbi lieber.
Wirklich? Ich tendiere ja eher zu dir, muss ich sagen.
Wir sahen uns an. Ich merkte, dass er mitspielte, also lächelte ich.
Ja, wir hatten da gleich so einen ganz besonderen Draht, sagte ich.
Ich hab eine Schwäche für den poetischen Typ.
Ah ja. Ich habe ein reiches Innenleben, glaub mir.
Er lachte, als ich das sagte. Mir war klar, dass ich mich etwas unangebracht benahm, aber ich hatte deshalb kein allzu schlechtes Gewissen. Draußen im Wintergarten hatte sich Melissa eine Zigarette angezündet und ihre Kamera auf einen gläsernen Beistelltisch gelegt. Bobbi nickte eifrig.
Ich dachte schon, dieser Abend würde ein Albtraum werden, aber eigentlich lief er ganz gut, sagte er.
Er setzte sich wieder zu mir an den Tisch. Mir gefiel seine spontane Offenheit. Und mir fiel ein, dass ich mir im Internet Bilder von ihm mit freiem Oberkörper angesehen hatte, ohne dass er davon wusste, und in dem Moment fand ich diesen Umstand sehr amüsant und wollte ihm fast schon davon erzählen.
Ich bin jetzt auch nicht so der Dinnerparty-Typ, sagte ich.
Dafür hast du dich aber ziemlich gut geschlagen.
Du aber auch. Du warst toll.
Er lächelte mich an. Ich versuchte, mich an alles zu erinnern, was er gesagt hatte, damit ich es später für Bobbi wiederholen konnte, aber in meinem Kopf hörte es sich nicht mehr ganz so lustig an.
Die Türen öffneten sich, und Melissa kam wieder rein. Sie hielt ihre Kamera in beiden Händen. Sie machte ein Foto von uns am Tisch, auf dem Nick sein Glas in einer Hand hielt und ich leer in die Linse starrte. Dann setzte sie sich uns gegenüber und sah auf das Kameradisplay. Bobbi kam zurück und schenkte sich Wein nach, ohne zu fragen. Ihr Gesicht hatte einen glückseligen Ausdruck, und ich wusste, dass sie betrunken war. Nick sah ihr zu, sagte aber nichts.
Ich schlug vor, dass wir uns rechtzeitig verabschieden sollten, um den letzten Bus zu bekommen, und Melissa versprach, uns die Fotos zu schicken. Bobbis Lächeln verrutschte etwas, aber es war zu spät, um vorzuschlagen, dass wir noch etwas länger bleiben sollten. Man reichte uns bereits unsere Jacken. Ich fühlte mich ziemlich aufgedreht, und jetzt, da Bobbi still war, lachte ich die ganze Zeit allein über nichts.
Wir gingen zehn Minuten bis zur Bushaltestelle. Bobbi wirkte zunächst etwas gedämpft, weshalb ich vermutete, dass sie verärgert oder genervt war.
Hattest du einen schönen Abend?, fragte ich.
Ich mache mir Sorgen um Melissa.
Bitte was?
Ich glaube, sie ist unglücklich, sagte Bobbi.
Wie meinst du das, unglücklich? Hat sie mit dir darüber geredet?
Ich glaube, sie und Nick sind nicht sehr glücklich miteinander.
Echt?
Das ist so traurig.
Ich wies Bobbi nicht darauf hin, dass sie Melissa erst zweimal gesehen hatte, aber vielleicht hätte ich es tun sollen. Zugegebenermaßen schienen Nick und Melissa nicht gerade verrückt nacheinander zu sein. Er hatte mir aus heiterem Himmel gestanden, er habe befürchtet, die Dinnerparty, die sie organisiert hatte, würde »ein Albtraum« werden.
Ich fand ihn ganz witzig, sagte ich.
Er hat kaum den Mund aufgemacht.
Ja, ihn umgab so eine humorvolle Stille.
Bobbi lachte nicht. Ich ließ es bleiben. Im Bus sprachen wir kaum ein Wort, weil ich merkte, dass sie sich nicht für den besonderen Draht, den ich zu Melissas Vorzeigeehemann hatte, interessieren würde, und mir nichts anderes einfiel.
Als ich in meine Wohnung kam, fühlte ich mich betrunkener als zuvor. Bobbi war nach Hause gegangen, und ich war allein. Ich machte überall das Licht an, bevor ich mich ins Bett legte. Manchmal machte ich das.
*
Bobbis Eltern durchliefen in jenem Sommer eine bittere Trennung. Bobbis Mutter Eleanor war schon immer extrem emotional und neigte zu ausgiebigen unspezifischen Erkrankungen, und so war ihr Vater Jerry bei der Trennung der Beliebtere von beiden. Bobbi nannte ihre Eltern immer beim Vornamen. Vermutlich hatte sie das einmal rebellisch gemeint, aber jetzt wirkte es einfach kollegial, als wäre ihre Familie ein kleines Unternehmen, das sie gemeinsam führten. Bobbis Schwester Lydia war vierzehn und schien die Angelegenheit nicht mit derselben Fassung zu tragen wie Bobbi.
Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich zwölf war, und mein Vater war wieder nach Ballina gezogen, wo sie sich kennengelernt hatten. Ich wohnte bis zum Schulabschluss bei meiner Mutter in Dublin, und dann ging auch sie zurück nach Ballina. Als ich mit dem Studium anfing, zog ich in eine Wohnung in den Liberties, die dem Bruder meines Vaters gehörte. Während des Studienjahrs vermietete er das zweite Zimmer an eine andere Studentin, und ich musste mich abends ruhig verhalten und höflich hallo sagen, wenn ich meine Mitbewohnerin in der Küche sah. Aber in der vorlesungsfreien Zeit im Sommer, wenn die Mitbewohnerin nach Hause gefahren war, durfte ich dort ganz allein wohnen und Kaffee kochen, wann ich wollte, und überall Bücher aufgeschlagen herumliegen lassen.
Ich machte zu der Zeit ein Praktikum bei einer Literaturagentur. Es gab noch einen anderen Praktikanten, Philip, den ich von der Uni kannte. Unsere Aufgabe bestand darin, stapelweise Manuskripte zu lesen und einseitige Beurteilungen über ihren literarischen Wert zu verfassen. Fast immer hatten sie nahezu keinen Wert. Manchmal las mir Philip süffisant schlechte Formulierungen laut vor, und dann musste ich lachen, aber das machten wir nie vor den Erwachsenen, die dort arbeiteten. Wir arbeiteten drei Tage pro Woche und bekamen dafür »ein Stipendium«, was im Grunde bedeutete, dass wir gar nicht bezahlt wurden. Ich brauchte nur etwas zu essen, und Philip wohnte noch zu Hause, also machte es uns nicht viel aus.
So werden Privilegien weitergereicht, sagte Philip einmal im Büro zu mir. Reiche Arschlöcher wie wir machen unbezahlte Praktika und nehmen anderen dann die Jobs weg.
Kann sein, dass das auf dich zutrifft, sagte ich. Ich werde nie einen Job annehmen.
Bobbi und ich traten in jenem Sommer oft bei Spoken-Word- und Open-Mic-Veranstaltungen auf. Wenn wir draußen standen und rauchten und die männlichen Performer mit uns sprechen wollten, atmete Bobbi immer betont aus und sagte nichts, so dass ich als unsere Repräsentantin herhalten musste. Das hieß, viel lächeln und sich an die Details ihrer Aufführung erinnern. Es gefiel mir, diese Rolle zu spielen, das lächelnde Mädchen, das sich erinnerte. Bobbi sagte, ich hätte keine »echte Persönlichkeit«, aber sie sagte auch, es sei ein Kompliment. Ich stimmte ihrer Einschätzung im Großen und Ganzen zu. Ich hatte das Gefühl, immer und überall sagen zu können, was ich wollte, und erst hinterher dachte ich: Oh, so ein Mensch bin ich also.
Melissa schickte uns ein paar Tage später die Bilddateien von dem Abendessen. Ich hatte erwartet, dass Bobbi am häufigsten zu sehen sein würde, vielleicht noch mit ein oder zwei verschwommenen Alibifotos von mir, wie ich hinter einer brennenden Kerze sitze und eine Gabel Spaghetti in der Hand halte. Tatsächlich aber gab es von mir ebenso viele Fotos wie von Bobbi, immer perfekt belichtet, immer wunderschön komponiert. Nick war auch auf den Fotos, womit ich nicht gerechnet hatte. Er war strahlend schön, viel schöner als in echt. Ich fragte mich, ob er deshalb so ein erfolgreicher Schauspieler war. Man konnte sich die Fotos nicht ansehen, ohne den Eindruck zu bekommen, dass er die wichtigste Person im Raum war, was ich zu dem Zeitpunkt absolut nicht so empfunden hatte.
Melissa war auf keinem der Bilder zu sehen. Dadurch hatte das Geschehen, das auf den Fotos abgebildet war, nur entfernt mit dem Abendessen zu tun, an dem wir tatsächlich teilgenommen hatten. In Wirklichkeit hatten sich alle unsere Gespräche um Melissa gedreht. Sie hatte die unterschiedlichen Emotionen wie Unsicherheit oder Bewunderung auf unseren Gesichtern provoziert. Über ihre Witze hatten wir immer gelacht. Ohne sie bekam das Abendessen auf den Fotos einen anderen Charakter und bewegte sich in eine heikle und merkwürdige Richtung. Die Beziehungen zwischen den Menschen, die auf den Bildern zu sehen waren, wurden ohne Melissa unklar.
Auf meinem Lieblingsbild schaue ich mit verträumtem Blick direkt in die Kamera, und Nick sieht mich an, als warte er darauf, dass ich etwas sage. Sein Mund ist leicht geöffnet. Es wirkt, als hätte er die Kamera nicht bemerkt. Es war ein gutes Foto, aber natürlich hatte ich zu dem Zeitpunkt zu Melissa hochgeschaut, und Nick hatte sie einfach nicht durch die Tür kommen sehen. Das Bild fing eine Intimität ein, die so nie wirklich stattgefunden hatte, etwas Unvollständiges und irgendwie Angespanntes. Ich speicherte es in meinem Download-Ordner, um es mir später anzusehen.
Bobbi schickte mir ungefähr eine Stunde, nachdem die Fotos angekommen waren, eine Nachricht.
Bobbi: sehen wir gut aus oder was?
Bobbi: ich überlege, ob wir die als facebook profilbilder nehmen können.
ich: nein
Bobbi: sie sagt, der artikel kommt wohl erst im september?
ich: wer sagt das
Bobbi: melissa
Bobbi: wollen wir heut abend was zusammen machen?
Bobbi: nen film gucken oder so was
Melissa und sie hatten Kontakt miteinander gehabt, und ich nicht. Bobbi wollte, dass ich das wusste. Es beeindruckte mich, was beabsichtigt war, aber ich fühlte mich auch schlecht. Ich wusste, dass Melissa Bobbi lieber mochte als mich, und ich wusste nicht, wie ich mich ihrer neuen Freundschaft anschließen sollte, ohne um ihre Aufmerksamkeit zu buhlen. Ich hatte mir gewünscht, dass sich Melissa für mich interessiert, weil wir beide schrieben, aber stattdessen schien sie mich nicht zu mögen, und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich sie überhaupt mochte. Die Möglichkeit, sie einfach nicht ernst zu nehmen, hatte ich nicht, weil sie schon ein Buch veröffentlicht hatte, was ja nur bewies, dass viele andere Leute sie ernst nahmen, selbst wenn ich es nicht tat. Ich hatte mit einundzwanzig keine Erfolge oder Besitztümer, die mich als ernstzunehmende Person auswiesen.
Ich hatte zu Nick gesagt, alle würden Bobbi mir vorziehen, aber das stimmte nicht ganz. Bobbi konnte so grob und unbeherrscht sein, dass manche Leute sich unwohl fühlten, während ich dazu neigte, ermutigend höflich zu sein. Mütter mochten mich zum Beispiel immer sehr. Und weil sich Bobbi Männern gegenüber meist belustigt oder verächtlich gab, mochten mich üblicherweise auch die Männer lieber. Natürlich zog mich Bobbi deshalb auf. Einmal mailte sie mir ein Bild von Angela Lansbury aus Mord ist ihr Hobby mit der Überschrift: deine Kernzielgruppe.
Bobbi kam an jenem Abend vorbei, aber sie erwähnte Melissa mit keinem Wort. Ich wusste, dass sie strategisch vorging und wollte, dass ich sie fragte, aber das tat ich nicht. Das klingt passiv-aggressiver, als es tatsächlich war. Wir hatten eigentlich einen schönen Abend. Wir blieben lange auf und redeten, und dann schlief Bobbi auf der Matratze in meinem Zimmer.
*
In dieser Nacht wachte ich schweißgebadet unter der Decke auf. Es kam mir erst wie ein Traum oder vielleicht wie ein Film vor. Ich fühlte mich in meinem Zimmer desorientiert, als wäre ich weiter von Fenster und Tür entfernt, als ich es sein sollte. Ich versuchte, mich aufzusetzen, und spürte dann einen seltsamen, reißenden Schmerz im Becken, der mich laut aufstöhnen ließ.
Bobbi?, sagte ich.
Sie wälzte sich herum. Ich versuchte, die Hand nach ihr auszustrecken und an ihrer Schulter zu rütteln, aber ich schaffte es nicht und war von dem Versuch schon erschöpft. Gleichzeitig versetzte mich die Ernsthaftigkeit meines Schmerzes in Aufregung, als würde er mein Leben auf ungeahnte Weise verändern können.
Bobbi, sagte ich. Bobbi, wach auf.
Sie wachte nicht auf. Ich schob meine Beine aus dem Bett und schaffte es aufzustehen. Der Schmerz ließ sich leichter ertragen, wenn ich mich vornüberbeugte und fest meinen Unterleib umklammerte. Ich ging um ihre Matratze herum und aus dem Zimmer ins Bad. Der Regen prasselte laut gegen die Wandlüftung. Ich setzte mich auf den Badewannenrand. Ich blutete. Es waren nur Periodenkrämpfe. Ich stützte den Kopf in die Hände. Meine Finger zitterten. Dann glitt ich auf den Boden und lehnte mein Gesicht an den kühlen Wannenrand.
Nach einer Weile klopfte Bobbi an die Tür.
Was ist los?, fragte sie von draußen. Geht’s dir gut?
Nur die Periode.
Oh. Hast du da drin Schmerztabletten?
Nein, sagte ich.
Ich hol dir welche.
Ihre Schritte entfernten sich. Ich schlug meine Stirn gegen den Wannenrand, um mich von dem Schmerz im Becken abzulenken. Es war ein heißer Schmerz, als würden sich alle meine Innereien zu einem kleinen Knoten zusammenziehen. Die Schritte kamen zurück, und die Badezimmertür öffnete sich ein paar Zentimeter. Sie schob ein Päckchen Ibuprofen durch den Spalt. Ich kroch rüber und nahm sie, und Bobbi ging wieder.
Draußen wurde es schließlich hell. Bobbi wachte auf und kam rein, um mir aufs Wohnzimmersofa zu helfen. Sie machte mir Pfefferminztee, und ich saß gekrümmt da und hielt mir die Tasse gegen das T-Shirt, direkt über das Schambein, bis ich mich fast verbrannte.
Du leidest, sagte sie.
Jeder leidet.
Ah, sagte Bobbi. Tiefgründig.
*
Es war kein Scherz gewesen, als ich zu Philip gesagt hatte, ich würde keinen Job wollen. Ich wollte keinen. Ich hatte keinerlei Pläne, was meine finanzielle Zukunft anging: Ich hatte nie Geld mit irgendetwas verdienen wollen. Ich hatte verschiedene Niedriglohnjobs in den vergangenen Sommerferien gehabt – E-Mails verschicken, Telefonakquise, solche Sachen –, und ich ging davon aus, dass es nach meinem Abschluss so weitergehen würde. Auch wenn ich wusste, dass ich irgendwann eine Vollzeitstelle antreten musste, phantasierte ich garantiert nie von einer strahlenden Zukunft, in der ich dafür bezahlt wurde, eine wirtschaftlich relevante Rolle einzunehmen.
Manchmal kam es mir so vor, als würde ich es nicht schaffen, mich für mein eigenes Leben zu interessieren, und das deprimierte mich. Andererseits fand ich, dass mein Desinteresse an Reichtum ideologisch gesund war. Ich hatte nachgesehen, wie hoch das durchschnittliche Jahreseinkommen wäre, wenn das Weltbruttosozialprodukt gerecht auf alle verteilt wäre, und laut Wikipedia läge es bei $ 16 100. Ich sah keinen Grund, weder politisch noch finanziell, warum ich mehr als diese Summe verdienen sollte.
Unsere Chefin in der Literaturagentur hieß Sunny. Sowohl Philip als auch ich mochten Sunny wirklich gern, aber Sunny bevorzugte mich. Philip nahm das sportlich. Er sagte, er bevorzuge mich ebenfalls. Ich vermute, Sunny wusste tief im Innersten, dass ich nicht als Literaturagentin arbeiten wollte, und vielleicht war es dieser Umstand, der mich in ihren Augen auszeichnete. Philip war offensichtlich total begeistert davon, für die Agentur zu arbeiten, und obwohl ich ihn nicht dafür verurteilte, Pläne für sein Leben zu schmieden, ging ich doch wählerischer mit meiner Begeisterung um.
Sunny war an meiner beruflichen Zukunft interessiert. Sie war ein sehr ehrlicher Mensch und machte stets erfrischend ehrliche Bemerkungen, was zu den Dingen gehörte, die Philip und ich am meisten an ihr schätzten.
Was ist mit Journalismus?, fragte sie mich.
Ich reichte ihr einen Stapel bearbeiteter Manuskripte.
Du interessierst dich für die Welt, sagte sie. Du bist klug. Du magst Politik.
Tu ich das?
Sie lachte und schüttelte den Kopf.
Du bist intelligent, sagte sie. Irgendetwas wirst du tun müssen.
Vielleicht heirate ich reich.
Sie winkte mich weg.
Geh und mach deine Arbeit, sagte sie.
*
Am Freitag traten wir bei einer Lesung im Stadtzentrum auf. Ich konnte jedes Gedicht ungefähr sechs Monate lang, nachdem ich es geschrieben hatte, aufführen, aber danach ertrug ich es nicht mehr, mich damit zu beschäftigen oder es gar öffentlich vorzutragen. Ich hatte keine Ahnung, was diesen Prozess auslöste, aber ich war froh, dass die Gedichte immer nur vorgetragen und nie publiziert wurden. Sie schwebten ätherisch im Lärm des Beifalls davon. Echte Schriftsteller, auch Maler, mussten sich ihre miesen Sachen, die sie irgendwann einmal fabriziert hatten, auf ewig ansehen. Ich hasste es, dass alles, was ich schrieb, so mies war, aber auch, dass mir der Mut fehlte, mich damit auseinanderzusetzen, wie mies es war. Ich hatte diese Theorie Philip erklärt, aber der hatte nur gesagt: Mach dich nicht so runter, du bist eine echte Schriftstellerin.
Auf dem Klo des Veranstaltungsorts trugen Bobbi und ich unser Make-up auf, und wir sprachen dabei über meine neuesten Gedichte.
Mir gefällt ja an deinen männlichen Figuren, dass sie alle so fürchterlich sind, sagte Bobbi.
Die sind gar nicht alle fürchterlich.
Bestenfalls sind sie moralisch zweifelhaft.
Sind wir das nicht alle?, fragte ich.
Du solltest mal über Philip schreiben, der ist gar nicht problematisch. Der ist »nett«.
Sie malte die Anführungszeichen um das Wort nett in die Luft, obwohl sie wirklich so über Philip dachte. Bobbi würde nie jemanden ohne Anführungszeichen als nett beschreiben.
Melissa hatte angekündigt, dass sie an diesem Abend vorbeikommen würde, aber wir sahen sie erst hinterher, so gegen halb elf oder elf. Sie und Nick saßen beieinander, und Nick trug einen Anzug. Melissa gratulierte uns und sagte, ihr hätte unser Auftritt wirklich sehr gut gefallen. Bobbi sah zu Nick, als wartete sie darauf, dass auch er uns beglückwünschte, was ihn zum Lachen brachte.
Ich hab euren Auftritt gar nicht gesehen, sagte er. Ich bin gerade erst gekommen.
Nick spielt diesen Monat im Royal, sagte Melissa. In Die Katze auf dem heißen Blechdach.
Aber ich bin davon überzeugt, dass ihr toll wart, sagte er.
Ich hol euch beiden was zu trinken, sagte Melissa.
Bobbi ging mit ihr an die Bar, und ich blieb allein mit Nick am Tisch. Er trug keine Krawatte, und sein Anzug sah teuer aus. Mir war viel zu heiß, und ich hatte Angst, ich würde schwitzen.
Wie war das Stück?, fragte ich.
Oh, was, heute Abend? Ganz okay, danke.
Er nahm die Manschettenknöpfe ab und legte sie auf den Tisch neben sein Glas. Mir fiel auf, dass sie aus bemalter Emaille waren und nach Art déco aussahen. Ich überlegte, ob ich sie laut bewundern sollte, fühlte mich dazu aber nicht in der Lage. Stattdessen tat ich so, als würde ich mich nach Melissa und Bobbi umsehen. Als ich mich wieder umdrehte, hatte er sein Telefon herausgeholt.
Ich würde es mir gern mal ansehen, sagte ich. Ich mag das Stück.
Dann solltest du mal vorbeikommen, ich kann dir Karten zurücklegen lassen.
Er hob nicht den Blick, als er das sagte, weshalb ich mir sicher war, dass er es nicht ernst meinte oder es zumindest schnell vergessen würde. Ich murmelte etwas Zustimmendes und Unverbindliches. Da er mir gerade keine Aufmerksamkeit schenkte, konnte ich ihn mir näher ansehen. Er war wirklich außergewöhnlich attraktiv. Ich fragte mich, ob man sich einfach daran gewöhnte, so gut auszusehen, und es irgendwann langweilig fand, aber das konnte ich mir schwer vorstellen. Ich dachte, wenn ich so gut aussähe wie Nick, würde ich wahrscheinlich die ganze Zeit Spaß haben.
Tut mir leid, dass ich so unhöflich bin, Frances, sagte er. Meine Mutter schreibt mir. Ich sollte ihr sagen, dass ich gerade mit einer Dichterin spreche, das würde sie sehr beeindrucken.
Ach, das weißt du nicht. Vielleicht bin ich eine fürchterliche Dichterin.
Er lächelte und steckte das Telefon zurück in die Innentasche. Ich sah auf seine Hand, dann sah ich weg.
Da hab ich was anderes gehört, sagte er. Aber das nächste Mal mache ich mir vielleicht selbst ein Bild davon.
Melissa und Bobbi kamen mit den Getränken zurück. Mir fiel auf, dass Nick meinen Namen während unserer Unterhaltung genannt hatte, wie um mir zu zeigen, dass er sich an mich und unser letztes Gespräch erinnerte. Natürlich wusste ich auch noch seinen Namen, aber er war älter und irgendwie berühmt, deshalb schmeichelte mir seine Aufmerksamkeit sehr.
Es stellte sich heraus, dass Melissa mit dem gemeinsamen Auto in die Stadt gefahren war, so dass Nick gezwungen war, sich uns nach seiner Aufführung anzuschließen, um nach Hause zu kommen. Bei dieser Vereinbarung schien es nicht darum gegangen zu sein, was für ihn am bequemsten war, und er wirkte die meiste Zeit müde und gelangweilt.
Melissa schickte mir am nächsten Tag eine E-Mail, um mir mitzuteilen, dass sie zwei Theaterkarten für uns für nächsten Donnerstag hatten zurücklegen lassen aber dass wir kein schlechtes Gewissen haben sollten, falls wir da schon etwas anderes vorhatten. Sie fügte Nicks E-Mail-Adresse hinzu und schrieb: Falls du ihn direkt kontaktieren musst.