Buch
Harry Ackerson ist am Boden zerstört, als er erfährt, dass sein Vater bei einem Sturz von den Klippen ums Leben gekommen ist. Die Polizei hält es für einen Unfall, doch Harry weiß, dass sein Vater fit war und den Weg jeden Tag lief. Auf der Beerdigung fällt ihm eine Frau auf, die er noch nie zuvor gesehen hat. Und dann spricht Harrys Stiefmutter Alice den Verdacht aus, dass sein Vater eine Affäre hatte. Liegt hier der Schlüssel zu seinem Tod? Harry ahnt nicht, dass jede der Frauen Geheimnisse hütet und dass die Wahrheit viel finsterer ist, als er sich in seinen schlimmsten Träumen ausmalen könnte …
Autor
Peter Swanson studierte am Trinity College, der University of Massachusetts in Amherst und am Emerson College in Boston. Sein Roman »Die Gerechte« wurde in England als bester Thriller des Jahres 2015 ausgezeichnet, von der Presse hochgelobt und für einen renommierten Steel Dagger Award nominiert. Peter Swanson lebt mit seiner Frau und einer Katze in Somerville, Massachusetts.
Von Peter Swanson bereits erschienen
Die Unbekannte · Die Gerechte · Alles, was du fürchtest
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PETER SWANSON
Ein Tod ist nicht genug
Thriller
Deutsch von Fred Kinzel
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »All the Beautiful Lies« bei William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2018 by Peter Swanson
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Bernd Stratthaus
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotive: Johannes Hulsch/EyeEm Premium/Getty Images
AF · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-21164-6
V001
www.blanvalet.de
Für Nat Sobel
JETZT
Harry war für einen kurzen Moment geblendet, als er in die mit Muschelschotter bedeckte Einfahrt des Hauses in Kennewick Village bog und die Sonne genau im richtigen Winkel auf seine Windschutzscheibe traf. Er stellte seinen Honda neben dem orangefarbenen Volvo-Kombi ab – sein Vater hatte den Wagen geliebt –, legte die Hände vors Gesicht und hätte beinahe geweint.
Alice, die zweite Frau seines Vaters, hatte Harry am Vortag morgens angerufen, um ihm mitzuteilen, dass sein Vater Bill tot sei.
»Was? Wie?«, hatte Harry gefragt. Mit dem Handy am Ohr war er gerade durch den von Bäumen gesäumten Innenhof seines Colleges zu seinem Zimmer spaziert. Er hatte an seine Abschlussfeier gedacht, die in nicht einmal einer Woche stattfinden würde, und sich den Kopf darüber zerbrochen, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen sollte.
»Er ist ausgerutscht und gestürzt.« Alice sprach abgehackt. Harry begriff, dass sie weinte, es sich aber nicht anmerken lassen wollte, dass sie versuchte, ruhig und vernünftig zu klingen.
»Wo?«, fragte Harry. Ihm war plötzlich kalt, und seine Beine fühlten sich wie Gummi an. Er blieb stehen, und das Mädchen hinter ihm, das ebenfalls gerade telefonierte, streifte im Vorübergehen seinen Rucksack.
»Draußen auf dem Klippenpfad, wo er so gern spazieren gegangen ist.« Alice weinte jetzt hörbar, die Worte klangen wie durch ein nasses Handtuch gesprochen.
»Wer hat ihn gefunden?«
»Touristen. Keine Ahnung. Sie kannten ihn nicht, Harry.«
Ein zweites Telefongespräch später am Tag war nötig, damit er alle Einzelheiten erfuhr. Alice war am Nachmittag zum Einkaufen außer Haus gewesen. Sie hatte bei Bill im Laden vorbeigeschaut, und er hatte ihr gesagt, er beabsichtige, vor Einbruch der Dunkelheit noch einen Spaziergang zu unternehmen, werde zum Abendessen aber zu Hause sein. Wie immer hatte sie ihn ermahnt, vorsichtig zu sein, und gesagt, sie werde ihm einen Shepherd’s Pie zubereiten, so wie er ihn mochte, mit gewürfeltem Lammfleisch statt Hackfleisch. Das Essen war um sechs Uhr abends fertig gewesen, zu ihrer gewohnten Essenszeit – von Bill aber keine Spur, und an sein Telefon war er auch nicht gegangen. Sie hatte John angerufen, den einzigen Angestellten im Buchladen, und der hatte nur das wiederholt, was Alice bereits wusste: Bill sei kurz vor fünf zu einem Spaziergang aufgebrochen. Inzwischen war es dunkel, und Alice verständigte die Polizei und wurde zu einem Officer Wheatley durchgestellt. Als dieser ihr eben erklärte, dass die Polizei nichts tun könne, wenn eine Person nur seit etwas über einer Stunde vermisst werde, hörte sie, wie eine zweite Stimme im Hintergrund den Beamten unterbrach. Wheatley bat Alice um einen Moment Geduld, und da wusste sie Bescheid. Als er sich wieder meldete, klang seine Stimme verändert, und er sagte, er werde sie an einen Detective Dixon weiterleiten. Nicht weit von Kennewick Harbor sei eine Leiche entdeckt worden und ob Alice für eine Identifizierung zur Verfügung stehe.
»Wie ist er gestorben?«, fragte Harry.
»Sie schließen nichts aus, aber offenbar glauben sie, dass er ausgerutscht ist und sich den Kopf angeschlagen hat.«
»Er hat diesen Spaziergang jeden Tag gemacht.«
»Ich weiß. Das habe ich ihnen auch gesagt. Bald werden wir mehr erfahren, Harry.«
»Ich verstehe es einfach nicht.« Er hatte das Gefühl, diese Worte schon hundertmal an diesem Tag gedacht zu haben. Heute war Donnerstag, und die Abschlussfeier sollte am Sonntagnachmittag stattfinden. Sein Vater und Alice hatten geplant, am Samstagabend nach New Chester in Connecticut zu kommen, bis Montag zu bleiben und Harry dann beim Packen für seine vorübergehende Rückkehr nach Maine zu helfen.
Stattdessen war Harry die halbe Nacht auf gewesen und hatte selbst gepackt. Zwischen seinen Lehrbüchern und Heften hatte er die Taschenbuchausgabe von Hillary Waughs Eine perfekte Indizienkette entdeckt, die ihm sein Vater zu Beginn des letzten Semesters geschenkt hatte.
»Es ist ein Krimi, der an einer Universität spielt«, hatte sein Vater erklärt. »Ich weiß, du magst Ed McBain, deshalb dachte ich, dass dir das auch gefallen könnte, natürlich nur, wenn du Zeit findest, es zu lesen. Es ist ein sehr frühes Beispiel für einen Krimi, in dem die Arbeitsweise der Polizei beschrieben wird.«
Harry hatte die Zeit bisher nicht gefunden, aber jetzt schlug er das Buch auf. Ein Zettel mit der Handschrift seines Vaters steckte darin. Es hatte zu den Lieblingsbeschäftigungen seines Vaters gehört, Listen zu erstellen, die fast immer einen Bezug zu Büchern hatten. Diese hier lautete:
Die fünf besten Campus-Krimis:
»Aufruhr in Oxford« von Dorothy Sayers
»Mord vor der Premiere« von Edmund Crispin
»Eine perfekte Indizienkette« von Hillary Waugh
»Die schweigende Welt des Nicholas Quinn« von Colin Dexter
»Die geheime Geschichte« von Donna Tartt
Harry starrte auf den Zettel und versuchte zu verarbeiten, was es bedeutete, dass sein Vater – der einzige noch verbliebene Mensch in seinem Leben, den er aufrichtig geliebt hatte – nun von ihm gegangen war. Am selben Morgen schrieb er noch eine E-Mail an Jane Ogden, die Betreuerin seiner Abschlussarbeit, teilte ihr mit, dass er das Abendessen der Fakultät für Geschichte am selben Tag ausfallen lassen müsse, und erklärte ihr auch, wieso. Dann ging er auf die Homepage seines Colleges und fand eine E-Mail-Adresse, unter der er seine Teilnahme an der Abschlusszeremonie absagen konnte. Auf der Seite hieß es zwar in Fettdruck, eine Absage sei in den letzten beiden Wochen nicht mehr möglich, aber was sollten sie machen? Wen interessierte es schon, wenn sein Name aufgerufen wurde und er nicht da war?
Sonst blieb nur wenig zu tun. Seine Arbeiten und Examen waren abgeschlossen, alle Anforderungen erfüllt. Natürlich mussten Freunde besucht werden. Und dann war da noch Kim. Er war ihr am vergangenen Wochenende auf dem Fest im St. Dun über den Weg gelaufen. Sie hatten sich im Billardraum geküsst und einander versprochen, dass sie sich vor der Abschlussfeier noch einmal sehen würden. Aber er wollte Kim jetzt eigentlich nicht sehen. Er wollte niemanden sehen. Seine Freunde würden die Neuigkeit früher oder später auf die ein oder andere Weise erfahren.
Harry rieb sich die Augen mit den Handflächen, stellte den Motor ab und trat in die salzige Seeluft hinaus, die viel kühler war als in Connecticut. Er entdeckte Alice an einem Fenster im ersten Stock – das Schlafzimmer von ihr und seinem Vater –, und als sie sah, dass Harry sie bemerkt hatte, winkte sie kurz. Sie trug einen weißen Morgenmantel, ihre Haut und ihr Haar waren wie bleiches Gold, und in dem viktorianischen Bogenfenster wirkte sie beinahe geisterhaft. Nachdem sie gewinkt hatte, verschwand sie aus seinem Blickfeld. Harry atmete tief durch, er bereitete sich auf die Begegnung mit Alice und darauf vor, das Haus zu betreten, das er immer nur als das Haus seines Vaters gekannt hatte und das voller Dinge seines Vaters war.
In der Tür umarmte er Alice. Ihr Haar roch nach einem teuren Shampoo, etwas mit Lavendel.
»Danke, dass du so früh zurückgekommen bist«, sagte sie, und ihre Stimme klang vom Weinen heiserer als sonst.
»Ist doch selbstverständlich«, sagte Harry.
»Ich hab dir dein altes Zimmer hergerichtet. Soll ich dir beim Reintragen helfen?«
»Nein, nein«, sagte Harry. »Es ist nicht viel.«
Er musste nur dreimal zwischen dem Wagen und dem Raum im ersten Stock hin- und herlaufen. Harrys altes Zimmer war eigentlich nie sein Zimmer gewesen; zumindest hatte er es nie als solches betrachtet. Seine Mutter war an Lungenkrebs gestorben, als Harry fünfzehn Jahre alt gewesen war. Damals hatten sie in einer Dreizimmerwohnung über dem ersten Laden seines Vaters – Ackerson’s Rare Books – im West Village in New York gewohnt. Da Harry gerade mit der Highschool angefangen hatte, als seine Mutter starb, hatte sein Vater beschlossen, es wäre am besten, wenn sie in Manhattan blieben, bis Harry die Schule abgeschlossen hätte. Mit seinem Vater in der dunklen, engen Wohnung zusammenzuleben, die durch das Fehlen seiner Mutter irgendwie kleiner wirkte, war furchtbar und tröstlich zugleich gewesen. Solange sie dort gewohnt hatten, konnten sie Emily Ackersons Anwesenheit und die kalte Wirklichkeit fühlen, dass sie für immer fort war.
Im Sommer verbrachten Harry und sein Vater meist mehr Zeit in Sanford, Maine, als in New York. Es war Bills Heimatstadt. Seine Schwester und ihre Familie sowie ein Cousin, dem er nahestand, lebten immer noch dort. Während dieser Aufenthalte begann Bill Standorte für einen zweiten Laden für seltene Bücher an der Küste auszukundschaften. Sie mieteten ein Cottage am Kennewick Beach, damit Bill mehr Zeit hatte, sich Liegenschaften anzusehen. Auf diese Weise lernte er Alice Moss kennen, die bei einem Immobilienmakler arbeitete. Sie verlobten sich, als Harry in seinem Abschlussjahr an der Highschool war, und als er aufs College ging, zog sein Vater dauerhaft nach Maine, heiratete Alice und kaufte das renovierungsbedürftige viktorianische Haus, das er Grey Lady taufte. Ron Krakowski, sein Geschäftspartner, betrieb den Laden in New York indessen weiter, und Bill und Alice eröffneten einen zweiten Laden in Kennewick Village, nur einen kurzen Fußmarsch vom Haus entfernt.
Der Sommer nach seinem ersten Studienjahr war der einzige ganze Sommer gewesen, den Harry mit seinem Vater und dessen neuer Frau Alice in Maine verbracht hatte. Alice war nie verheiratet gewesen, hatte keine Kinder, und sie hatte voller Begeisterung eins der Gästezimmer in etwas verwandelt, was in ihrer Vorstellung offenbar dem Zimmer eines jungen Mannes entsprach. Sie hatte die Wände in einem dunklen Rotbraun getüncht – »Jagdrock-Rot« nannte sie es – und bei L. L. Bean Möbel gekauft, die aussahen, als gehörten sie in eine Anglerhütte. Sie hatte sogar ein Originalplakat von Gesprengte Ketten gerahmt, weil Harry ihr einmal erzählt hatte, es sei sein Lieblingsfilm. Er war dankbar für das Zimmer gewesen, hatte sich aber leicht unwohl darin gefühlt. Sein Vater war wie immer durchs Land gereist und hatte auf Flohmärkten und bei Räumungsverkäufen nach Büchern gesucht. Harry blieb allein mit Alice zurück, die sich alle nur erdenkliche Mühe gab, ihm ein Mutterersatz zu sein, ständig für ihn kochte, sein Zimmer sauber machte, seine Sachen ordentlich faltete. Sie war dreizehn Jahre jünger als sein Vater und damit genau dreizehn Jahre älter als Harry, allerdings sah sie für ihr Alter sehr jung aus. Obwohl sie ihr ganzes Leben an der Küste von Maine verbracht hatte, mied sie wegen ihres blassen Teints die Sonne, ihre Haut war faltenfrei und fast durchscheinend. Ihr einziger Sport war Schwimmen, entweder im öffentlichen Schwimmbad oder, wenn es warm genug war, im Meer. Sie aß wie ein Scheunendrescher, trank ganze Gläser Vollmilch wie ein Teenager und war weder sonderlich dünn noch übergewichtig, sondern kurvig, mit breiten Hüften, schmaler Taille und langen Beinen, die sich zu geradezu kindlichen Knöcheln verjüngten.
Es war feucht und heiß gewesen in jenem Sommer, und im Haus gab es keine Klimaanlage. Alice war den ganzen Juli und August in abgeschnittenen Jeans und einem hellgrünen Bikinioberteil herumgelaufen, ohne zu bemerken, welche Wirkung sie auf ihren jugendlichen Stiefsohn hatte. Sie war auf eine seltsame Art schön, ihre Augen standen zu weit auseinander, und ihre Haut war so blass, dass man immer die blauen Adern direkt unter der Oberfläche sehen konnte. Sie erinnerte Harry an eine dieser scharfen Alienrassen aus Star Trek, ein wunderschönes weibliches Wesen, das nur zufällig eine grüne Haut hatte oder Wülste auf der Stirn. Sie war außerirdisch. Harry fand sich in einem permanenten Zustand der Verwirrung und des sexuellen Aufruhrs wieder und dachte schuldbewusst ständig an Alice. Und die Art und Weise, wie sie ihn bemutterte – dafür sorgte, dass er genug aß und dass es ihm gut ging –, machte ihre Anziehungskraft nur umso verstörender.
Nach diesem ersten und einzigen Sommer in Kennewick hatte Harry seine Semesterferien entweder bei Freunden verbracht oder war in New Chester geblieben und hatte einem seiner Professoren bei seiner Forschung geholfen. Seinen Vater sah er dennoch recht häufig, da dieser immer noch viel Zeit in New York verbrachte, um sich mit Ron Krakowski zu treffen und Kauf- und Verkaufsverhandlungen zu führen. New Chester war mit dem Zug weniger als zwei Stunden von der City entfernt.
»Du solltest öfter nach Maine kommen«, hatte sein Vater erst kürzlich zu ihm gesagt. Sie hatten gerade in neu eingetroffenen Büchern im Housing Works Bookstore in Soho gestöbert. »Alice würde sich freuen.«
Bill sprach ihren Namen selten aus, als würde es irgendwie das Andenken an Harrys tote Mutter beflecken, wenn er es tat.
»Ich komme diesen Sommer«, hatte Harry versprochen. »Wie geht es ihr?«
»Wie immer«, sagte sein Vater. »Wahrscheinlich ist sie zu jung für mich.« Er hatte innegehalten und dann angefügt: »Sie ist eine treue Frau. Ich hatte zweimal Glück, weißt du?«
Das Zimmer – Harrys Zimmer – war fast noch genauso, wie es gewesen war, als Alice es drei Jahre zuvor eingerichtet hatte. Der Hauptunterschied bestand darin, dass der leere Bücherschrank, den sie ursprünglich bereitgestellt hatte – »Du kannst ein paar von deinen Lieblingsbüchern hierlassen, Harry« –, inzwischen mit einer Reihe Erstauflagen der Krimi-Taschenbücher seines Vaters gefüllt war, und auf dem Schrank standen gerahmte Fotos, wahrscheinlich von Alice ausgesucht. Auf den meisten waren Harry und sein Vater zu sehen, aber eines war ein Bild seiner Eltern, das er nicht kannte, aus der Zeit ihres Kennenlernens Anfang der 1980er. Sie saßen zusammen auf einem Balkon und hielten jeweils eine Zigarette zwischen den Fingern. Sie waren etwa im selben Alter, in dem Harry jetzt war, und doch wirkten sie irgendwie älter, reifer. Harry fühlte sich, als hätte er gerade mal die Pubertät hinter sich, und er wusste, dass er auch so aussah. Er war hochgewachsen und sehr dünn, mit dunklem, dichtem Haar, das ihm in die Stirn hing. Kim hatte ihn liebevoll »Bohnenstange« getauft. Auf Partys sagten wildfremde Mädchen manchmal zu ihm, wie sehr sie ihn um seine Wangenknochen und Wimpern beneideten.
»Harry.« Es war Alice, die vor der Tür stand. Sie hatte seinen Namen geflüstert, und er war ein wenig erschrocken. »Tut mir leid, ich wusste nicht, ob du Tee oder Kaffee willst, deshalb habe ich beides gemacht.« Eine Tasse in jeder Hand betrat sie das Zimmer. »Beide mit Milch und Zucker, das stimmt doch, oder?«
»Danke, Alice. Ja, stimmt.« Er nahm den Kaffee, hatte jedoch nicht vor, viel davon zu trinken, denn was er wirklich wollte, war schlafen. Allein die Ankunft im Haus hatte ihn schon erschöpft. »Ist es in Ordnung, wenn ich ein Nickerchen mache? Ich hab letzte Nacht nicht viel geschlafen.«
»Natürlich«, sagte Alice und entfernte sich rückwärts. »Schlaf, so lange du willst.«
Nachdem er die Tür geschlossen hatte, trank Harry einen Schluck Kaffee, dann zog er Schuhe und Gürtel aus und schlüpfte unter die karierte Wolldecke. In seinem Kopf tauchten unerwünscht Bilder von seinem Vater in dessen letzten Augenblicken auf. War er sofort gestorben, ohne zu wissen, was geschah? Vielleicht hatte er einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten und war deshalb gestürzt.
Harry öffnete die Augen und gab den Versuch zu schlafen auf. Er ertrug es nicht, noch weiter an seinen Vater zu denken, also dachte er stattdessen an das College, das vier Jahre lang sein Leben beherrscht hatte und nun so abrupt zu Ende gegangen war. Ein surreales Gefühl überkam ihn, wie wenn man nach zwei Wochen im Ausland zurückkehrt und die Reise einem sofort wie ein Traumgebilde vorkommt, als hätte sie gar nicht wirklich stattgefunden. So ging es ihm jetzt, wenn er an die vier Jahre College zurückdachte. Diese Jahre, sein kleiner Freundeskreis, Kim Petersen, die Professoren, mit denen er engeren Kontakt gehabt hatte, das alles lag jetzt für alle Zeit in Trümmern wie eine reich verzierte Vase, die in tausend Scherben zerspringt. Sein Vater war ebenfalls von ihm gegangen und ließ ihn ohne Familie zurück, abgesehen von Alice und einigen Cousins und Cousinen, die er mochte, mit denen er jedoch sehr wenig gemeinsam hatte.
Er stand neben seinem Bett und wusste nicht, was er tun sollte. Alice staubsaugte gerade, er hörte das vertraute Summen irgendwo in dem riesigen Haus.
Sein Handy läutete – Paul Roman, sein bester Freund im College. Er würde ihn zurückrufen; im Moment war Reden das Letzte, wonach ihm zumute war. Stattdessen ging er ans Fenster und öffnete es einen Spaltbreit, um Luft hereinzulassen. Er blickte über die Wipfel der sattgrünen Bäume. Das Dach der Gemeindekirche war sichtbar, ebenso das Schindeldach des Village Inn und in der Ferne ein winziger Ausschnitt des Atlantiks, grau unter einem dunstigen Himmel. Eine junge Frau mit dunklem Haar, das von einem Stirnband zurückgehalten wurde, kam die Straße heraufspaziert. Harry sah, wie sie ihr Tempo merklich drosselte, als sie an dem viktorianischen Haus vorbeiging, und einen Blick zu den Fenstern hinaufwarf. Instinktiv trat er einen Schritt ins Zimmer zurück. In dem kleinen Dorf Kennewick, wo viel getratscht wurde, hatte sich die Nachricht sicher schon herumgesprochen.
Sein Telefon läutete wieder. Es war Gisela, eine weitere Freundin aus dem College. Offenbar hatte sich die Nachricht auch bei seinen Freunden dort herumgesprochen. Sein Vater war tatsächlich gestorben. Er hielt das Smartphone in der Hand. Er wusste, er würde einen seiner Freunde zurückrufen müssen, schaffte es aber nicht, seine Finger in Bewegung zu setzen. Das Staubsaugergeräusch war jetzt näher. Er setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Dielenboden, schaukelte vor und zurück und weinte immer noch nicht.
FRÜHER
Alice Moss zog mit vierzehn nach Kennewick, Maine.
Nachdem ihre Mutter, Edith Moss, endlich ihren Scheck von dem Vergleich mit der Saltonstall Mill erhalten hatte, zog sie von der Zweizimmerwohnung im Zentrum von Biddeford, die sie mit ihrer Tochter bewohnt hatte, in ein Einfamilienhaus in Kennewick Village um. Jetzt, da sie Geld hatten und in einem Haus wohnten, würde Alice anfangen müssen, sich wie eine kleine Dame zu benehmen, sagte ihre Mutter. Alice war einfach glücklich, am Meer zu sein. Sie behauptete, es noch nie gesehen zu haben, obwohl Biddeford, das keine zwanzig Meilen nördlich von Kennewick lag, ebenfalls ein Küstenort war.
»Natürlich hast du das Meer schon gesehen«, sagte ihre Mutter. »Ich war ständig mit dir am Meer, als du noch klein warst.«
»Daran erinnere ich mich nicht.«
»Alice Moss, natürlich erinnerst du dich daran. Du hast dich immer vor den Möwen gefürchtet.«
Die Erwähnung der Möwen weckte eine Erinnerung in ihr. Alice sah ihre Mutter vor sich, wie sie die schmutzigen Vögel mit Tortilla-Chips fütterte und lachte, als sie um sie herumschwärmten. Sie erinnerte sich auch an das Jucken ihrer sonnenverbrannten Haut und daran, wie Sandklumpen an ihrem Saftkarton klebten. Dennoch sagte sie zu ihrer Mutter: »Ich erinnere mich an nichts. Das muss ein anderes kleines Kind gewesen sein.«
Ihre Mutter lachte und entblößte ihre schiefen Zähne, die fleckig waren, wo sie einander überlappten. »Na ja, jetzt kannst du jedenfalls so oft an den Strand gehen, wie du willst. Deinen tollen Körper vorführen.« Edith ließ eine Hand in Richtung der Brüste ihrer Tochter vorschnellen, wahrscheinlich um in eine davon zu kneifen, aber Alice entzog sich ihr blitzschnell.
»Echt krass, Mom«, sagte sie und verließ die Küche. Es war zum Kotzen, wie glückselig ihre Mutter seit dem Eingang des Geldes aus dem Vergleich war. Die Explosion des Heizkessels hätte sie um ein Haar getötet, aber als der Scheck eintraf, war sie wie ein Teenager in der Wohnung herumgetanzt, und dann war sie losgezogen und hatte eine Stange ihrer Lieblingszigaretten und eine Flasche Absolut Wodka gekauft. Alice hatte panische Angst gehabt, ihre Mutter könnte das ganze Geld auf einen Schlag ausgeben und etwas Dämliches tun, wie ihre Freundinnen zu einer Kreuzfahrt einzuladen oder sich einen brandneuen Sportwagen zuzulegen, aber nach dem teuren Wodka und den Zigaretten kaufte sie nur noch ein paar Klamotten, dann teilte sie Alice mit, sie würden von Biddeford in einen wirklich hübschen Ort namens Kennewick ziehen. Alice tat, als wäre sie entsetzt, aber eigentlich hatte sie nichts dagegen, vor allem, als sie erfuhr, dass sie in dem Haus, das sie mieteten, ihr eigenes Zimmer mit Bad haben würde. Das machte den Umstand wett, dass sie ihre Freundinnen zurücklassen und an einer neuen Highschool anfangen musste. Und das Haus war ziemlich hübsch, mit großen Fenstern und Holzböden statt des fleckigen Teppichbodens, der nach Zigaretten roch.
Sie zogen Ende Mai um, und Alice hatte den ganzen Sommer für sich. In Biddeford hatte sie nirgendwo hingehen können, außer zu Earl’s Famous Roast Beef und auf die Rollschuhbahn, aber hier konnte sie zum Kennewick Beach spazieren, einem langen Sandstrand, an dem sich den ganzen Sommer über die Touristen drängten. Und auch wenn sie sich selbst eingestanden hatte, dass sie tatsächlich schon das Meer gesehen hatte, fühlte es sich trotzdem wie das erste Mal an. Sobald die Sonne herauskam, funkelte das kalte, klare Wasser, und es war fast wie auf Bildern, die sie von tropischen Stränden gesehen hatte. Das erste Mal war sie am Memorial Day, Ende Mai, allein ans Wasser gegangen. Am Strand hatte es von Leuten gewimmelt, hauptsächlich Familien, aber auch jede Menge Teenager, muskelbepackte Jungs und dürre Mädchen in Bikinis. Unter ihrer Jeans-Shorts mit dem hoch sitzenden Bund und dem Ocean-Pacific-T-Shirt trug Alice einen dunkelroten Einteiler, der ein bisschen zu eng war. Sie hatte ihn im Sommer zuvor gekauft, um im Pool ihrer Freundin Lauren zu schwimmen, aber ihre Mom hatte ihn selten gewaschen, sodass er an den Nähten von dem Chlorwasser ausgebleicht war.
An diesem ersten Tag am Strand ging sie direkt am Wasser entlang, sie trug ihre Sandalen in der Hand und genoss es, wie der nasse Sand ihre Zehen festsaugte. Aber sie schwamm nicht. Im Verlauf der Woche kaufte sich Alice von ihrem eigenen Geld zwei neue Badeanzüge in einem Souvenirladen an der Route 1A: einen schwarzen Bikini, von dem sie nicht sicher war, ob sie ihn je tragen würde, und einen grünen Einteiler, irgendwie langweilig, aber an den Seiten hoch geschnitten. Sie kaufte außerdem eine Strandtasche, ein Handtuch und eine Flasche Sonnenöl. Danach fing sie an, nach einem strengen Zeitplan täglich an den Strand zu gehen. Sie stellte rasch fest, dass sie es hasste, zu viel Sonne abzubekommen. Es reizte ihre Haut, und sie wurde nicht braun; ihre weiße Haut verbrannte nur, oder sie bekam einen grässlichen Ausschlag. Sie tauschte das Sonnenöl gegen Sunblocker – mit dem höchsten Lichtschutzfaktor, den sie fand – und verteilte ihn im Sommer jeden Morgen nach dem Duschen dick auf ihrem ganzen Körper. Dadurch fühlte sie sich undurchdringlich. Dann packte sie ein Thunfisch-Sandwich, eine Thermosflasche Limonade und einen der Liebesromane ihrer Mutter in die Tasche und brach zu einem Tag am Strand auf. Dort angekommen breitete sie ihr großes Badetuch aus und legte Steine auf alle vier Ecken, damit es schön flach liegen blieb. Sie las den Liebesroman und machte gelegentlich eine Pause, um zuzusehen, wie andere Strandbesucher Frisbee spielten oder im Wasser umhertollten. Niemand sprach sie je an, aber gelegentlich ertappte sie Jungen und manchmal sogar ältere Männer dabei, wie sie wiederholt Blicke in ihre Richtung warfen. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie nur ihren Badeanzug trug oder an einem kühleren Tag noch Shorts und T-Shirt, aber es schien häufiger zu passieren, wenn sie ihren schwarzen Bikini anhatte.
Vor dem Mittagessen schwamm sie an jedem Strandtag ein Mal und zwang sich, ohne zu zögern ins eiskalte Wasser zu gehen. Solange sie im Wasser blieb und wenigstens zwei Minuten hin und her schwamm, stellte sie fest, dass ihre Haut taub wurde und sie die Kälte nicht mehr spürte. Durch das Salz im Meer hatte das Wasser sehr viel mehr Auftrieb als das in Laurens Pool, und wenn sie die Arme über ihrem Kopf ausbreitete, konnte sie sich treiben lassen und zum Himmel hinaufsehen.
Sie schwamm bei jedem Badeausflug nur ein Mal, weil es so lange dauerte, bis sie wieder trocknete. Dabei achtete sie darauf, dass nicht ein einziges Sandkorn auf ihr Handtuch geriet. Dann aß sie ihr Sandwich, trank ihre Limonade und widmete sich wieder ihrem Buch.
Ihre Mutter kam in diesem Sommer nur ein einziges Mal mit Alice an den Strand. Es war an einem Samstag Ende Juli. Edith war früh aufgestanden, hatte geduscht und sich geschminkt, weil ihre Freundin Jackie aus Biddeford zu Besuch kommen wollte. Aber dann rief Jackie an und sagte ab. »Man könnte meinen, ich hätte sie gebeten, durch den halben Bundesstaat zu fahren«, sagte Edith nach dem Anruf. »Dabei wohnt sie verdammt noch mal zwei Orte entfernt. Was treibst du heute, Al?«
»Strand.«
»Natürlich, der Strand. Ich sollte mal mitkommen, um herauszufinden, ob du überhaupt hingehst. Wie kann es sein, dass du jeden Tag am Strand bist und trotzdem eine Haut wie Kreide hast?«
»Ich benutze Sunblocker.«
»Als ich in deinem Alter war, bin ich auch ständig an den Strand gegangen, und ich war praktisch schwarz. Vielleicht komme ich tatsächlich mit, es sei denn, du willst nicht.«
»Doch, du solltest wirklich mitkommen. Ich mache noch ein Sandwich.«
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Edith fertig war. Die Hälfte ihrer Sachen war noch in Kisten verpackt, und sie kramte darin herum, bis sie den richtigen Badeanzug gefunden hatte; wie sich herausstellte, war es ein Einteiler mit Leopardenmuster, der einen großen Teil ihrer Brust entblößte, deren Haut ledrig und voll dunkler Flecken war. Auch ihr linker Arm war gut zu sehen, mit den Narben und Runzeln von ihrem Unfall in der Papierfabrik.
»Ich bin dann so weit, Al. Kann ich eine Flasche Wein an den Strand mitnehmen, oder geht das gar nicht?«
»Ich kann dir welchen in eine Thermosflasche füllen«, sagte Alice und riss bereits den Kühlschrank auf, in dem ihre Mutter ihren Mateus Rosé aufbewahrte.
Es war fast Mittag, als sie sich endlich am Strand hinsetzten, jede auf ihr eigenes Handtuch. Es war ein perfekter Badetag, nur am Horizont waren ein paar Schleierwolken zu sehen. Die Luft roch nach Meer, aber auch nach Sonnencreme, und gelegentlich trug der leichte Wind einen Hauch Zigarettenrauch heran. Alice fing an zu lesen, sie steckte mitten in der x-ten Lektüre von Shirley Conrans Love. Ihre Mutter schlug ebenfalls ihr Buch auf, sah aber nicht hinein. Sie war unruhig und zappelig und fing an, am Wein in ihrer Thermosflasche zu nippen. »Sollen wir spazieren gehen?«, fragte sie nach einer Weile.
»Klar, warum nicht«, sagte Alice.
Sie liefen einmal den ganzen Strand entlang und wieder zurück, wobei Edith die ganze Zeit ihr Tuch über den Schultern behielt. »Schau mal, Al, eine Möwe«, sagte sie ständig und stieß Alice an.
»Ich hab keine Angst mehr vor Möwen, Mom«, sagte Alice.
»Dann erinnerst du dich also doch an sie.«
»Nein. Du hast mir erzählt, dass ich Angst vor Möwen hatte. Ich erinnere mich nicht mehr an die Ausflüge, falls wir sie überhaupt gemacht haben.«
Als sie zu ihren Strandtüchern zurückkamen, war Alice heiß, ihr Nacken war feucht vor Schweiß. »Willst du schwimmen gehen?«, fragte sie ihre Mutter.
»Um Gottes willen, nein. Es ist doch eiskalt.«
Alice ging allein ins Wasser und schwamm über die Linie hinaus, an der die Wellen brachen, damit sie sich auf den Rücken legen und in der Dünung auf- und abschaukeln konnte. Sie schloss die Augen und beobachtete die kleinen Farbexplosionen hinter ihren Lidern, und wenn sie den Kopf weit genug in den Nacken legte und mit den Ohren unter Wasser tauchte, hörte sie nur noch das dröhnende Rauschen des Ozeans.
Als sie zu ihrer Mutter zurückkehrte, stand ein älterer Mann vor Ediths Handtuch, die Beine leicht gespreizt, die Hände in die Hüften gestemmt. Er trug eine schwarze Badehose, die an den Oberschenkeln hoch geschnitten war. Sein Haar war zur Seite gescheitelt und an den Schläfen bereits grau. Auch wenn er körperlich in guter Verfassung war, sah man, dass er sich extra in Positur warf und den Bauch leicht einzog.
»Alice, das ist Jake«, sagte Edith und blinzelte in die Sonne.
»Hi, Alice«, sagte der Mann und wechselte eine brennende Zigarette von der rechten in die linke Hand, um ihr die Hand zu schütteln. Er trug eine verspiegelte Fliegerbrille, und Alice fragte sich, ob er hinter den Gläsern ihren Körper betrachtete. Als er sie wieder losließ, bückte sie sich, hob das Handtuch auf, das sie zum Abtrocknen benutzte, und wickelte sich darin ein.
»Deine Mutter hier …«, begann Jake.
»Jake hat mir geholfen, hier ein Bankkonto zu eröffnen. Daher stammt der neue Radiowecker, der in der Küche steht.«
»Aha«, sagte Alice. Sie hatte sich ihr Haar abgetrocknet, setzte sich nun auf den Rand ihres Handtuchs und passte auf, dass die nassen Füße im Sand blieben.
Der Mann namens Jake ging in die Hocke. Edith stützte sich auf einen Ellbogen. Sie hielt jetzt ebenfalls eine Zigarette zwischen den Fingern, die Hitze der Glut brachte die bereits warme Luft darüber zum Flimmern.
»Ich habe gerade zu deiner Mutter gesagt«, ergriff der Mann nun wieder das Wort, »dass ich mich freuen würde, euch beiden Kennewick zu zeigen. Aus der Sicht eines echten Einheimischen. Wo es die besten Krabbenbrötchen gibt und solche Dinge.«
Alice musste das Gesicht verzogen haben, denn der Mann lachte. »Also gut, dann eben die besten Eisdielen.«
»Warum nicht«, erwiderte Alice und rutschte auf ihrem Handtuch ein bisschen weiter zurück. Der Mann wandte seine Aufmerksamkeit wieder Edith zu. Alice legte sich auf den Rücken und konzentrierte sich darauf, wie die Sonne die Wassertropfen auf ihrem Gesicht trocknete. Sie konnte beinahe spüren, wie sie verdunsteten und winzige Salzkrusten auf ihrer Haut hinterließen.
»Okay, dann haben wir also eine Verabredung«, sagte der Mann, und Alice öffnete die Augen. Er stand inzwischen wieder, und zwar ihr in der Sonne. Eigentlich sah er nicht schlecht aus, dachte Alice. Er sah aus, als könnte er in einem Werbespot für Newport-Zigaretten mitspielen.
Der Mann ging erneut in die Hocke, und seine Badehose spannte um den Zwickel, sodass Alice sah, wie sich seine Genitalien abzeichneten. Sie konzentrierte sich lieber auf seine Sonnenbrille, ein silbriges Blau im hellen Sonnenlicht. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Alice. Wenn du noch ein bisschen erwachsener bist, wird das andere Geschlecht keine Chance haben.«
»Das erzähle ich ihr auch ständig«, pflichtete Edith ihm bei. »Werd nicht erwachsen. Es lohnt sich nicht.«
Der Mann stand auf, er und Alices Mutter lachten dieses erkennbar aufgesetzte Lachen älterer Leute. Er verabschiedete sich und spazierte davon, wobei er sich immer noch so steif hielt, als würde er gleich zusammenklappen, sobald er vollständig ausatmete.
Edith drückte ihre Zigarette aus – die Marke des Mannes, nicht ihre eigene – und fragte: »Was hältst du von Jake?«
Sie fragte es erwartungsvoll, und ihre Stimme klang eine Idee zu hoch. Alice wurde plötzlich klar, dass diese Begegnung zumindest teilweise eingefädelt gewesen war, dass der Mann und ihre Mutter sich nicht einfach zufällig am Strand über den Weg gelaufen waren, oder falls doch, dass sie sich schon früher miteinander getroffen hatten – und zwar nicht nur in der Bank.
»Er scheint nett zu sein.«
»Er ist sehr erfolgreich«, erwiderte Edith und fischte eine ihrer eigenen Zigaretten aus der Handtasche, die sie sich gekauft hatte.
Alice streckte sich wieder auf dem Rücken aus. Sie befürchtete, sie könnte am Morgen nicht genügend Sunblocker auf ihrem Gesicht aufgetragen haben, deshalb breitete sie das Handtuch über ihren Kopf. Es fühlte sich angenehm an, feucht und kühl. Sie dachte an den Mann, den ihre Mutter kennengelernt hatte. Er war alt und wirkte ein bisschen gekünstelt, aber insgesamt war er nicht so übel. Als Edith noch als alleinerziehende Mutter in einer Papierfabrik gearbeitet hatte, hatte sie mit einem Hausverwalter ausgehen müssen, der ärmellose T-Shirts trug und dicke Muttermale auf den Schultern und am Hals hatte. Jetzt, da sie nicht mehr arbeiten musste und in einer hübschen Stadt wie Kennewick wohnte, konnte Edith mit Männern ausgehen, die in einer Bank arbeiteten und auf ihr Äußeres achteten. So funktionierte die Welt eben, das wusste sie aus ihren Büchern: Reiche Mädchen heirateten reiche Typen und hatten ein besseres Leben. So einfach war das.
Sie konnte es nicht sehen, aber eine Wolke musste sich vor die Sonne geschoben haben, denn sie fühlte plötzlich eine Kühle auf der Haut. Sie setzte sich zu schnell auf, sodass sie leichter Schwindel überkam. Offenbar war sie eingeschlafen. Am Strand waren inzwischen weniger Leute, und ihre Mutter packte gerade zusammen.
»Können wir gehen, Al?«, fragte sie.