Zum Buch
April, 1942. Im Chaos eines Bombenangriffs auf die englische Stadt Bath verschwindet der kleine Davy. Frances wird von schrecklichen Schuldgefühlen geplagt. Warum nur hat sie Davy allein gelassen? Und lebt er noch?
Am nächsten Morgen wird das Skelett eines kleinen Mädchens gefunden: Die Tote ist Frances Freundin Wyn, die vor über zwanzig Jahren spurlos verschwand. Und so taucht Frances während ihrer unermüdlichen Suche nach Davy ein in die Vergangenheit, deren dunkle Schatten sie bis heute begleiten. Doch sie ist fest entschlossen herauszufinden, was in jenem Sommer vor 20 Jahren geschah …
Zur Autorin
Katherine Webb, geboren 1977, studierte Geschichte an der Durham University und arbeitete mehrere Jahre als Wirtschafterin auf herrschaftlichen Anwesen. Nach ihrem großen internationalen Erfolgsdebüt »Das geheime Vermächtnis« folgten die Romane »Das Haus der vergessenen Träume«, »Das verborgene Lied«, »Das fremde Mädchen« und »Italienische Nächte«, die allesamt SPIEGEL-Bestseller wurden. Nach längeren Aufenthalten in London und Venedig lebt die Autorin heute in der Nähe von Bath, England.
KATHERINE
WEBB
Die Schuld
jenes Sommers
ROMAN
Aus dem Englischen
von Babette Schröder

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Copyright © 2019 by Katherine Webb
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
The Disappearance bei Orion Books,
an imprint of The Orion Publishing Group Ltd, London
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019
by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München
Covermotive: © Trevillion/Elisabeth Ansley;
GettyImages/De Agostini, G. Wright;
Shutterstock/gyn9037, Mongkol Rujitham, Phillip Kraskoff
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
e-ISBN 978-3-641-21565-1
V001
www.diana-verlag.de.
1
Samstag
1942 – Erster Tag der Bombardierung
An jenem Samstag, dem fünfundzwanzigsten April, hätte Wyn Geburtstag gehabt. Schon den ganzen Tag war Frances immer wieder von Erinnerungen an sie heimgesucht worden, und als sie nach dem Abendessen mit ihrer Mutter im Wohnzimmer saß, wuchs ihre Unruhe. Davy döste auf ihrem Schoß. Carys, seine Mutter, hätte ihn schon längst abholen müssen, doch wie schon so oft würde sie ihn wohl einfach bei Frances lassen. Für seine sechs Jahre war Davy recht klein, dennoch lastete sein Gewicht schwer auf Frances. Sie begann zu schwitzen und bekam nur schwer Luft. Dazu das Gemurmel aus dem Radio und das Seufzen ihrer Mutter, die sich abmühte, im trüben Licht einer einzigen Lampe ein Hemd zu flicken – so konnte Frances unmöglich einen klaren Gedanken fassen. Obwohl Frances’ Vater alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, weigerte sich ihre Mutter, während der Verdunkelung die Deckenbeleuchtung einzuschalten. Frances fühlte sich in dem Raum gefangen. Es war zu warm, zu eng, zu voll.
Sie blickte zu Davy hinunter, dessen Glieder im Schlaf langsam erschlafften. Seine Augenlider schimmerten blassviolett und hatten einen wächsernen Glanz, und an Frances zerrte ein bereits vertrautes Gefühl von Betroffenheit: So erschöpft wirkte er ständig.
»Ich muss ein bisschen an die frische Luft«, sagte Frances, veränderte ihre Haltung und versuchte, Schenkel und Rippen ein wenig von Davy zu entlasten. Susan, ihre Mutter, maß sie mit strengem Blick.
»Was, jetzt?«, fragte sie besorgt. »Aber es ist doch bald Schlafenszeit.«
»Ich bin nicht müde.«
»Nun, ich schon. Und du weißt, dass Davy trotz des Medikaments aufwacht, sobald du dich bewegst. Du kannst nicht einfach gehen und ihn bei mir lassen. Und Carys’ Zustand ist um diese Zeit mit Sicherheit auch nicht mehr der beste«, fügte sie hinzu. Frances unterdrückte einen Anflug von Verzweiflung, das dringende Bedürfnis zu entfliehen. Sie kämpfte sich aus dem Stuhl hoch. Davy regte sich und rieb sein Gesicht an ihrer Schulter.
»Alles ist gut, schlaf weiter«, flüsterte sie ihm zu. »Ja, ich denke, mit Carys hast du recht«, sagte sie an ihre Mutter gewandt. »Nach Hause kann er nicht. Ich bringe ihn zu den Landys. Die sind noch lange wach.« Susan sah sie missbilligend an.
»Es ist nicht richtig, ihn ständig von einem zum anderen zu schieben.«
»Ich … ich bekomme einfach keine Luft mehr. Ich muss hier raus.«
Als sie den Hügel zu den Landys erklommen hatte, wand Davy sich in ihren Armen und rieb sich mit den Fäusten die Augen. Er gähnte, und Frances spürte seine Rippen an ihren, keine von ihnen dicker als ein Bleistift. »Schhh, schhh«, machte sie. »Du bleibst ein bisschen bei Mr. und Mrs. Landy. Ist das nicht schön? Mrs. Landy macht dir ganz bestimmt einen Becher Kakao.« Davy schüttelte den Kopf.
»Bei dir bleiben«, sagte er sehr leise, als Mrs. Landy die Tür öffnete. Sie trug ein Hauskleid und hatte das weiße Haar auf Lockenwickler gedreht, doch beim Anblick der beiden lächelte sie. Sie und ihr Mann hatten keine eigenen Kinder oder Enkelkinder.
»Ist das in Ordnung? Nur für ein paar Stunden?«, fragte Frances.
»Aber natürlich«, antwortete Mrs. Landy. »Komm rein, mein kleines Lämmchen. Wenn es sehr spät wird, können Sie ihn gern bei uns lassen, Frances. Das stört uns nicht.«
»Danke. Er hat schon gegessen und seine Medizin bekommen.«
»Frances«, sagte Davy noch immer verschlafen. Mehr nicht, doch Frances wusste, dass es seine Form des Protests war.
»Sei ein braver Junge«, erwiderte sie schuldbewusst. Kurz bevor die Tür geschlossen wurde, sah sie ein letztes Mal in sein blasses Gesicht, nahm den entgeisterten Ausdruck darin wahr. Unter den Augen, die ihren Blick suchten, lagen dunkle Schatten. Später würde sie dieses letzte Bild quälen. Wie leicht hatte sie die Schuldgefühle beiseitegeschoben und ihn einfach dort zurückgelassen.
Doch es war Wyns Geburtstag, und Frances brauchte Luft. Sie stieg zum Beechen Cliff hinauf, das hoch über Bath lag, und blickte auf die dunkle Stadt hinunter. Inzwischen mochte sie die friedliche Stille und die Einsamkeit während der Verdunkelung. Wenn man wartete, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und keine Fackel bei sich trug, ahnte niemand, dass man überhaupt da war. Man konnte völlig unsichtbar sein. Sie war nicht die Einzige, die sich das zunutze machte – häufig vernahm sie aus dem Park gedämpfte Stimmen, die flüchtigen Bewegungen und das schwere Atmen der Liebespaare. Frances mochte die schemenhaften Umrisse der Dinge, die sich vor dem helleren Himmel abzeichneten. Es gefiel ihr, dass man Geräusche und Gerüche deutlicher wahrnahm. Im Tageslicht bemerkte sie weder den Duft der blühenden Rosskastanien noch die intensive Süße des Flieders. Dann entging ihr auch der feuchte Geruch von Gras und Erde im Park, der so ganz anders war als der von Stein, Ruß und Menschen in den Straßen dort unten. Sie fühlte sich nicht bedroht, empfand nur ein leichtes Schaudern, das auch alle anderen Nacht für Nacht heimsuchte. Die Ahnung einer Gefahr, die weit entfernt schien. Als Frances auf die Stadt hinunterblickte, stellte sie sich vor, wie andere Menschen ihren Samstagabend verbrachten. Wie sie lebten, liebten, stritten. All die endlosen Gespräche. Es war befreiend, sich von ihnen zu entfernen.
Sie dachte an Kinder und daran, dass in Davys Augen manchmal schon der Ausdruck eines sehr alten Mannes lag – eine Erschöpfung, als würde er sich in das Unausweichliche fügen. Es war, als sei er bereits vor seiner Zeit gealtert. Ein bisschen, wie Wyn es gewesen war.
Seit zwei Jahren passte Frances auf Davy auf, seit sie wieder bei ihren Eltern wohnte. Als seine Mutter, Carys Noyle, ihn Frances zum ersten Mal in den Arm geschoben hatte, war er sehr schwach und klein gewesen – ein winziger Junge in dreckigen, viel zu weiten Shorts, der an einem entzündeten Flohstich auf seinem Arm herumkratzte und nach altem Schmutz stank. Frances hatte nicht auf ihn aufpassen wollen – sie wollte auf gar kein Kind aufpassen –, doch es war schwer, Carys etwas abzuschlagen. Und für Frances war es noch schwieriger als für jeden anderen. So entwickelte sich aus dem einmaligen Gefallen eine Routine, die drei-, viermal in der Woche in Anspruch genommen wurde, ohne dass
Carys jemals vorher Bescheid sagte. Sie ging selbstverständlich davon aus, dass Frances nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wusste.
Es war eine ruhige, klare Nacht, die Luft so mild, dass Frances’ Atem nicht zu sehen war. Heute wäre Wyn zweiunddreißig geworden, genauso alt wie Frances. Jedes Jahr versuchte Frances, sie sich als erwachsene Frau vorzustellen – verheiratet, mit Kindern. Wie sie aussähe, was sie alles täte. Wären sie Freundinnen geblieben? Frances hoffte es, doch sie waren sehr verschieden gewesen, und Freundschaften unter Erwachsenen schienen komplizierter zu sein als unter Kindern. Sie würde es niemals erfahren. Wyn war an einem Augusttag vor vierundzwanzig Jahren verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Sie war ein achtjähriges Kind geblieben. An ihrem Geburtstag suchte Wyn Frances Jahr für Jahr gnadenlos heim, bestürmte sie mit halb vergessenen Erinnerungen und ließ sie den Verlust wie einen körperlichen Schmerz spüren.
Ein einsames Flugzeug flog in der Nähe von Sham Castle ostwärts und hinterließ eine leuchtende Spur aus Brandbomben, die beinahe anmutig langsam vom Himmel fielen. Frances wartete, und natürlich begannen unten die Sirenen zu heulen, die vor einem Bombenangriff warnten. Für gewöhnlich trafen die ersten Flugzeuge zwischen elf Uhr und Mitternacht ein. Plötzlich wurde Frances bewusst, dass bereits mehrere Stunden verstrichen sein mussten, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie musste dringend nach Hause und mit ihrer Mutter in den Keller gehen, wo ihr der Liegestuhl regelmäßig Rückenschmerzen bereitete und die Luft im Laufe der Stunden immer stickiger wurde. Es war unmöglich, dort unten zu schlafen, und im Dunkeln »Ich sehe was, was du nicht siehst« zu spielen war schon seit Monaten nicht mehr lustig. Die Aussicht auf eine weitere Nacht im Keller war so erfreulich wie ein verregnetes Wochenende. In letzter Zeit hatte Frances sich nicht mehr gerührt, wenn die Sirenen losjaulten, und da war sie nicht die Einzige. Viel zu oft schon waren sie losgegangen, ohne dass Bomben gefallen waren.
Das Mondlicht glitt über den Holloway, die alte Straße am Fuße des Hügels, und fiel auf das Dach der St. Mary Magdalen Chapel. Es schien auch auf das Dach des alten Leprakrankenhauses daneben – ein schmales Häuschen, das völlig dunkel dalag, wie alle anderen Gebäude auch. Während der Verdunkelung wies nichts darauf hin, dass es leer stand. Es hatte ein grobes Dach aus Steinziegeln und kleine gotische Fenster, und an der Seite ragte ein Schornstein auf. Frances musste sich erst wappnen, ehe sie es wagte, genauer hinzuschauen; fast als würde sie sich einer Mutprobe stellen. Aber nachdem sie es einmal getan hatte, war es schwer, den Blick wieder zu lösen. Der Anblick katapultierte sie unerwartet und brutal in ihre Kindheit zurück. Sie starrte den Schornstein an und bemerkte die Geräusche der nach und nach eintreffenden Flugzeuge nicht gleich – sie übertönten kaum das leise Rascheln der Bäume. Irgendwo unten in Lyncombe Hill bellte ein Hund. Als sich das Geräusch verstärkte, hörte Frances das unverkennbare zweistimmige Schmettern deutscher Propeller, das so anders klang als das gleichmäßige Dröhnen der britischen Maschinen. Alle kannten den Unterschied.
Monatelang, Nacht für Nacht, hatten sich die Einwohner von Bath versteckt, wenn die Flugzeuge auf dem Weg nach Bristol über sie hinweggeflogen waren, um die dortigen Hafenanlagen und Lagerhäuser zu bombardieren. Frances hatte vom Beechen Cliff aus beobachtet, wie der Himmel im Westen von Explosionen und Luftabwehrgeschossen erhellt wurde, in denen Menschen in der Nachbarstadt ums Leben kamen. Nervöse Piloten, die nicht genau wussten, wo sie sich befanden, warfen vereinzelt eine Bombe in der Gegend von Bath ab oder ließen auf dem Rückweg zum Kontinent nicht verschossene Ladung einfach fallen. Eine brennende Scheune hier, ein zu begaffender Krater dort. Letztes Jahr am Karfreitag hatte ein Pilot aus reiner Boshaftigkeit wahllos vier Bomben abgeworfen und in Dolemeads elf Menschen getötet. Es war schwer, sich diese jungen deutschen Piloten vorzustellen, die mit kaltem Schweiß auf der Stirn in ihren Cockpits saßen und Tod und Zerstörung brachten. Frances fragte sich manchmal, was wohl ihre Leibgerichte als Kinder gewesen waren oder was sie als Zwölfjährige hatten werden wollen. Ob sie die ersten Küsse genossen oder sie überrascht und angeekelt fortgewischt hatten. Sie sollte sie hassen. Sie nicht zu hassen hieß England zu hassen. Man musste sie einfach hassen genau wie im letzten Krieg. Damals hatte Frances sich vor all dem Hass gefürchtet, jetzt verachtete sie ihn.
Der Lärm verstärkte sich. Er kam aus zwei Richtungen – über den River Avon aus Box, das im Osten lag, und hinter Frances aus südlicher Richtung. Sie zündete sich eine Zigarette an, schirmte die winzige Streichholzflamme mit der Hand ab und versuchte sich zu erinnern, wann sich der Ausdruck eines Greises auf Davys Gesicht geschlichen hatte. Als sie das erste Mal auf ihn aufgepasst hatte, wusste sie nicht so recht, was sie mit ihm anfangen sollte. Sie putzte weiter Karotten in der hinteren Spülküche und dachte gar nicht mehr an ihn, bis sie sich umdrehte und sah, wie er um den Türpfosten linste. Er hatte graue Augen und verfilztes blondes Haar, und seine blasse Haut war mit Dreck beschmiert. Damals wirkte er weder verängstigt noch neugierig – eher beharrlich. Stumm entschlossen, etwas zum Essen aufzutreiben, wie Frances rasch herausfand. Sein Gesicht hatte offensichtlich erst später den Ausdruck von Resignation angenommen. Frances war nicht gut im Umgang mit Kindern, und zuerst hatte sie nicht gewusst, was sie zu ihm sagen sollte. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie schließlich und fügte hinzu: »Du kannst im Garten spielen«, und als er nicht antwortete, war sie ein wenig verlegen gewesen und auch ein bisschen verärgert.
Die Flugzeuge flogen tief, tiefer als jemals zuvor. Es schien Frances, als könnte sie die Hand ausstrecken und sie berühren. Ihre schwarzen Umrisse füllten den Himmel – es waren auch mehr als je zuvor. Erschrocken ließ sie die Zigarette fallen, hielt sich die Ohren zu und blickte hinauf. Sie sahen aus wie ein Schwarm riesiger Insekten. Das Geräusch durchdrang ihre Brust und erschütterte ihr Herz. Sie schienen sich so langsam zu bewegen, dass man meinte, sie müssten jeden Moment vom Himmel fallen, und plötzlich begriff Frances. Sie flogen nicht nach Bristol, sie wollten nach Bath. In das unschuldige, schutzlose Bath. Einen Moment saß sie fassungslos da und konnte sich nicht rühren. Die Flugzeuge stürzten nach unten, sie hörte das verräterische Pfeifen der Brandsätze und sah die weißen Blitze, als sie zündeten – die Bomben setzten Häuser in Brand, erleuchteten damit die ganze Stadt und spotteten so der Verdunkelung. Dann folgte die enorme Detonation einer Sprengbombe. Kurz bevor der Lärm alles andere überdeckte, dachte sie noch an den kleinen Davy Noyle, der das blonde Haar seiner Tante Wyn hatte.
Frances kroch von der Bank, kauerte sich ins Gras und schlang schützend die Arme um den Kopf. Sie schien keine Luft zu bekommen. Die Atmosphäre um sie herum kreischte, der Boden bebte, und sie konnte keinen Gedanken mehr fassen. Sie empfand pure Angst, ihre Muskeln zitterten, sie war schwach und unfähig, sich zu rühren. Sie hatte das schon einmal erlebt, doch das war sehr lange her. Damals, als sie zum ersten Mal das Gespenst im alten Leprakrankenhaus sah, hatte sie dieselbe lähmende Angst empfunden – das Gefühl, sich im freien Fall zu befinden und nur noch wenige Sekunden Lebenszeit zu haben, bevor man auf den Boden aufschlug. Frances schloss fest die Augen und biss die Zähne zusammen, bis es schmerzte. Währenddessen donnerte ein Flugzeuggeschwader nach dem anderen über sie hinweg, schwebte tief über der Stadt und warf eine Bombe nach der anderen ab. Der Angriff schien ewig zu dauern; das Dröhnen der Motoren, die Erschütterungen und das Krachen der Explosionen. Der frühlingshafte Duft von Gras und Bäumen ging im Brandgestank unter. Rauch erfüllte die Luft, und als Frances sich schließlich zwang aufzublicken, sah sie, dass ganz Bath in Flammen stand. Das Gaswerk war ein einziges loderndes Inferno. Der Holloway brannte. Die Straße, in der sie lebte – in der ihre Eltern lebten.
Die Panik katapultierte sie auf die Füße. Sie fühlte sich aufs Schrecklichste ausgeliefert und stürzte mit einem Schrei zur Jakobsleiter – steile Stufen, die am unteren Ende der Alexandra Road in das Beechen Cliff geschlagen waren. Dort wohnte ihre Tante Pam. Es war der nächste Ort, an dem sie sich in Sicherheit bringen konnte. Sie hörte das Rattern der Maschinengewehre – obwohl sie das Geräusch noch nie zuvor gehört hatte, erkannte sie es sofort –, hastete die Stufen hinunter, klammerte sich an das Geländer und suchte verzweifelt Schutz in Lorbeerbäumen und Unterholz. Währenddessen jagte das Feuer über das Land. Frances rannte blindlings weiter. Auf halber Höhe verfehlte sie eine Stufe, stolperte und prallte mit voller Wucht gegen das Geländer. Ihr Fuß knickte um, und sie stieß sich derart heftig den Kopf, dass weiße Blitze vor ihren Augen tanzten. Ganz in der Nähe fiel eine weitere Bombe. Ihr Abwurf war von einem Pfeifen begleitet, das zu einem schrecklichen Heulen anschwoll, dann schlug sie mit überwältigendem Lärm ein und übertönte einen Moment lang jedes andere Geräusch. Frances blieb, wo sie war, klammerte sich an das Geländer wie an einen rettenden Anker und hatte das Gefühl, ihr Kopf werde zerquetscht. Sie dachte an ihre Mutter unten im Keller, die große Angst haben musste. Und an ihren Vater draußen irgendwo in einem öffentlichen Schutzraum. Sie dachte an Geister. Dann dachte sie eine Weile gar nichts mehr, denn sie konnte nichts weiter tun, als einfach nur zu leben.