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Autorin

Manuela Inusa wurde 1981 in Hamburg geboren und wollte schon als Kind Autorin werden. Kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag sagte die gelernte Fremdsprachenkorrespondentin sich: »Jetzt oder nie!« Nach einigen Erfolgen im Selfpublishing erscheinen ihre aktuellen Romane bei Blanvalet und verzaubern ihre Leser. Die Autorin lebt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern in einem idyllischen Haus auf dem Land. In ihrer Freizeit liest sie am liebsten Thriller und reist gerne, vorzugsweise nach England und in die USA. Sie hat eine Vorliebe für englische Popmusik, Crime-Serien, Duftkerzen und Tee.

Von Manuela Inusa bereits erschienen

Jane Austen bleibt zum Frühstück

Auch donnerstags geschehen Wunder

Die Valerie Lane

1 Der kleine Teeladen zum Glück

2 Die Chocolaterie der Träume

3 Der zauberhafte Trödelladen

4 Das wunderbare Wollparadies

5 Der fabelhafte Geschenkeladen

6 Die kleine Straße der großen Herzen

Die kalifornischen Träume

1 Wintervanille

2 Orangenträume

3 Mandelglück

4 Erdbeerversprechen

5 Walnusswünsche

6 Blaubeerjahre

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MANUELA INUSA

Orangenträume

ROMAN

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Copyright © der Originalausgabe 2020

by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Daniela Bühl

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

(donatas1205; DiamondGT; Charcompix; J.D.S; prapann;

Africa Studio; mamamia; grafnata; umat34; frantic00;

Callahan; hedgehog94; Food Travel Stockforlife)

JF · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

Printed in Germany

ISBN 978-3-641-21749-5
V003

www.blanvalet.de

Für Leila Amanda – Kalifornien-Mitreisende,

OC-Gefährtin und wunderbare Tochter

California, here we come,

right back where we started from …

Prolog

August 2000

»Wirf ihn rein!«, forderte Lucinda ihre Freundin auf.

Jennifer war gut ein Jahr älter als sie, da ihr alleinerziehender Vater es damals versäumt hatte, sie rechtzeitig einzuschulen. Sie war an diesem Morgen wieder einmal tränenüberströmt bei ihr auf der Farm aufgetaucht, weil ihr Dad sie angeschrien und mit einem Gürtel durchs Haus gejagt hatte. Auch jetzt noch hatte sie gerötete Augen, und doch verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. Sie nahm den Kamm ihres Vaters, den sie stibitzt hatte, und warf ihn in die metallene Tonne, in der ein glühendes Feuer loderte.

»Was wünschst du dir für die Zukunft?«, fragte Michelle, mit der Lucinda bereits seit der ersten Klasse befreundet war. Zusammengefunden hatten sie alle aber erst mit elf beziehungsweise zwölf Jahren, als sie auf die Middle School gekommen waren.

Lucinda hatte die Idee gehabt, sich ganz früh am Sonntagmorgen auf der Orangenfarm zu verabreden, die ihre Eltern bewirtschafteten und die ihnen schon seit Jahren der liebste Spielplatz und Treffpunkt war. Sie hatte vorgeschlagen, ein Feuer zu machen, in das sie und ihre Freundinnen einen Gegenstand werfen konnten, der für etwas Bedeutsames stand, und sich damit von der Vergangenheit zu verabschieden. Sich etwas für die Zukunft zu wünschen, für eine bessere Zukunft, in der es keine gewalttätigen Väter und keine Jungen geben sollte, die einen verletzten, in der alles rosig war und voller Hoffnung. In der Träume wahr werden konnten.

Jennifer nahm sich für ihre Antwort viel Zeit.

»Ich wünsche mir einfach nur, dass er mich in Ruhe lässt. Mich für immer in Ruhe lässt«, sagte sie dann schlicht. Lucinda hätte ihm an ihrer Stelle gewünscht, dass er in der Hölle schmorte, aber jeder sollte seine Gefühle so ausdrücken können, wie er mochte.

Sie stellte sich näher an ihre Freundin und legte ihr einen Arm um die Schulter.

»Darf ich als Nächste?«, fragte Rosemary und trat an die brennende Tonne.

»Klar«, antwortete sie.

Rosemary holte eine Handvoll Kartoffeln hervor und hielt sie der Tonne entgegen.

»Mein Wunsch ist, all das hier hinter mir zu lassen. Die Farm, die Menschen … euch natürlich nicht mitgezählt. Aber ich will endlich raus aus diesem Kaff, nach Hollywood gehen und ein großer, berühmter Filmstar werden.« Sie strahlte bei der Vorstellung, und dann warf sie die Kartoffeln, die für Lamont und die Farm ihrer Eltern standen, eine nach der anderen ins Feuer.

Lucinda hatte keinen Zweifel, dass Rosemary alles schaffen konnte, was sie nur wollte. So klein und zierlich sie auch war, hatte sie doch das größte Selbstbewusstsein, das sie je bei einem Menschen erlebt hatte.

»Ich wünsche mir eine eigene kleine Familie«, sagte nun Michelle, die Ruhige unter ihnen. Obwohl sie erst fünfzehn war, sprach sie von nichts anderem als von ihrer Traumhochzeit, von süßen kleinen Babys und von dem wunderschönen weiß gestrichenen Einfamilienhaus mit Vorgarten, in dem sie einmal wohnen wollte. Sie warf einen zusammengefalteten Zettel ins Feuer, auf dem sicher ein Gedicht oder der Text von einem der vielen Schnulzenlieder geschrieben stand, die Michelle sich den ganzen Tag lang anhörte.

»Das kam jetzt nicht wirklich unerwartet«, flüsterte Lucinda Jennifer zu, und diese grinste.

»Was erhoffst du dir von der Zukunft?«, fragte Rosemary sie nun.

Da brauchte Lucinda überhaupt nicht zu überlegen. Sie holte eine verfaulte Orange hervor und schmiss sie im hohen Bogen in die Tonne. »Ich wünsche mir nichts als gute Ernten und dass ich den Rest meines Lebens auf der Farm verbringen darf.« Denn seit sie denken konnte, verband sie etwas Besonderes mit diesem Ort, mit diesen Früchten, die solch wunderbare Duftnoten versprühten und einen Geschmack hatten, der mit nichts zu vergleichen war. Sie wollte niemals woanders wohnen, konnte sich gar nicht vorstellen, es ihren Eltern nicht gleichzutun, wollte nie etwas anderes machen als Orangen ernten, essen und verarbeiten.

Auch jetzt holte sie ein paar der reifen, wohlduftenden Zitrusfrüchte hervor und verteilte sie an ihre Freundinnen.

»Was machen wir nun mit dem Feuer?«, fragte Michelle ein wenig ängstlich. »Was, wenn deine Eltern aufwachen und es noch immer brennt?«

»Ach, das geht bestimmt gleich aus«, beschwichtigte sie ihre Freundin. »Iss deine Orange!« Sie nahm ihr die runde Frucht ab und stach mit dem Daumennagel in die Schale, um sie ein wenig zu lösen, weil Michelle immer so schwer einen Anfang hinbekam.

Und so standen sie da an diesem frühen Sommermorgen um nicht einmal sechs Uhr und aßen köstliche Valencia-Orangen. Jennifer lief der Saft das Kinn herunter, und sie wischte ihn mit dem Ärmel weg, was Rosemary die Nase runzeln ließ.

Lucinda schloss die Augen und atmete die Augustluft ein. Sie war unvergleichlich. Genauso wie dieser Sommer, ihr sechzehnter Sommer, den sie sicher niemals vergessen würde. Sie hatte nicht nur kürzlich ihren ersten Kuss bekommen, sondern auch das Gefühl, dass die vergangenen Wochen sie und ihre Freundinnen noch ein wenig mehr zusammengeschweißt hatten.

Der Moment war perfekt … bis sie alle einen lauten Schrei hörten und sich ängstlich umdrehten. Denn dieser Schrei war anders als alles, was sie je gehört hatten, und er ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren.

Kapitel 1

Lucinda füllte die letzten getrockneten Zitrusfruchtstückchen in kleine Zellophantüten, verschloss sie mit weißen Bändchen und klebte Sticker mit den Aufschriften »Orangentee«, »Zitrustee« und »Kumquattee« darauf. Dann legte sie alles in eine große Kiste und stellte diese zu den anderen, die bereits gefüllt waren mit Marmeladen- und Chutneygläsern, Sirupflaschen, Tütchen mit getrockneten Zitrusscheiben, kandierten Früchten und Orangenbonbons, die sie erst seit Kurzem im Sortiment hatte. Sie war extra früh aufgestanden, um all die Marktvorbereitungen am Morgen zu erledigen. Später würde sie dafür keine Zeit haben, denn heute war es endlich wieder so weit: Die Orangentage begannen.

Es war inzwischen zu einer wundervollen Tradition geworden: Jedes Jahr im Juli fanden sich ihre drei alten Jugendfreundinnen auf Lucindas Orangenfarm ein, um ein Wochenende mit ihr zu verbringen. In diesen Tagen – stets von Freitag bis Sonntag – ließen sie vergangene Zeiten wiederaufleben. Sie erinnerten sich an ihre Kindheit, erzählten sich Geschichten aus der Gegenwart und träumten von der Zukunft. Sie aßen Unmengen von Orangen, blieben die halbe Nacht auf und genossen die gemeinsamen Momente, bis sie sich am Sonntagabend trennten und jede von ihnen wieder in ihren Alltag zurückkehrte.

Lucinda wusste, dass nicht nur sie sich so auf diese Orangentage, wie sie sie seit jeher nannten, freute. Den anderen ging es genauso, vielleicht sogar noch mehr, denn sie durften nicht das ganze Jahr auf einer Orangenfarm in Kalifornien verbringen, sich im Frühjahr am Duft von Orangenblüten, im Sommer an dem von reifen Früchten und im Winter an dem von Orangen-Zimt-Zubereitungen erfreuen.

Lucinda lebte schon ihr ganzes Leben inmitten der Orangen, war auf der Farm aufgewachsen, hatte hier alle prägenden Erfahrungen gesammelt, hatte Menschen verloren, andere dazugewonnen, Wunderbares und Trauriges erlebt. Die Farm war ihr Leben, ihr Zuhause, sie atmete für sie; im Grunde war sie sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt anderswo überleben könnte, ohne den Orangenduft in der Luft. Und da sich in ihrem Leben einfach alles um Orangen drehte, war da bisher auch kein Platz für einen Mann gewesen, zumindest für keinen, der ihre Leidenschaft für die Plantage verstanden hätte. Nun, sie brauchte auch keinen, sagte sie sich immer wieder. Manchmal jedoch, an einsamen Abenden auf diesem großen Grundstück, fehlte ihr jemand zum Reden, und wenn sie neue Rezepte ausprobierte, wäre es schön, wenn da jemand anderes als sie selbst wäre, der sie kostete und ihr seine Meinung dazu sagte.

Nun, eigentlich war da sogar jemand. Alejandro, ein inzwischen in die Jahre gekommener Mexikaner, den ihre Familie seit gut zwanzig Jahren beschäftigte. Auch heute noch, nach dem Tod ihres Vaters und dem Weggang ihrer Mutter, gewährte Lucinda dem illegalen Einwanderer Unterschlupf in dem kleinen, alten Schuppen am äußersten Rande der Farm, denn auch wenn sie eine starke und selbstbewusste Frau war, fand sie es zugegebenermaßen beruhigend, nicht ganz allein hier zu leben.

Ab und zu klopfte sie bei Alejandro an, brachte ihm etwas zu essen vorbei oder unterhielt sich ein paar Minuten mit ihm, ansonsten sah sie nicht viel von ihm. Er verrichtete seine Arbeit – es standen immer kistenweise reife Orangen bereit, wenn sie sie brauchte –, aber wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie denken können, Alejandro verlasse sein Häuschen überhaupt niemals. Er war sehr in sich gekehrt, was ja auch kein Wunder war nach allem, was damals, vor neunzehn Jahren, vorgefallen war.

Sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und band ihre langen blonden Haare zu einem hohen Pferdeschwanz. Es war erst zehn Uhr, aber es waren schon jetzt gut fünfundzwanzig Grad. Im Laufe des Tages würde das Thermometer garantiert auf weit über dreißig Grad steigen. Lucinda wusste, dass ihre Freundinnen sich besonders darauf freuten, denn dann konnten sie den halben Tag in der Sonne liegen und es sich gut gehen lassen mit einem Cocktail und den neuesten Geschichten, die sie einander zu erzählen hatten.

Dies waren die einzigen freien Tage, die die vier sich das ganze Jahr über gönnten, mal ganz ohne Job und Familie. Besonders Rosemary und Jennifer waren beruflich sehr eingespannt, Michelle dagegen war bestimmt froh, einmal dem trübseligen Hausfrauenalltag zu entfliehen, und Lucinda selbst freute sich riesig darauf, endlich ein wenig Gesellschaft zu haben. Seit Wochen schon zählte sie die Tage und konnte es kaum erwarten, dass die erste ihrer Freundinnen hier eintraf. Sie tippte auf Jennifer, da diese nicht nur gewissenhaft und zuverlässig, sondern auch überpünktlich war – das brachte deren Tätigkeit als Anwältin mit sich.

Sie schloss nun die großen Scheunentüren und streckte sich, atmete die warme Luft ein, die ganz wunderbar nach all den Zitrusfrüchten duftete, die hier gediehen. Ihre Eltern hatten seit jeher immer nur Orangen angebaut. Doch nach dem Tod ihres Vaters und nachdem ihre Mutter beschlossen hatte, ihr die Leitung zu überlassen, bevor sie vor fünf Jahren fortgezogen war, hatte Lucinda nach und nach weitere Früchte angebaut wie Zitronen, Grapefruits, Mandarinen und Kumquats. Letzteren war sie selbst total verfallen, zurzeit waren es ihre absoluten Lieblingsfrüchte, und als die Bäumchen im Winter vollgehangen hatten, hatte sie fast täglich neue Rezepte mit ihnen ausprobiert.

Der Mix aus all diesen Früchten bewirkte, dass die Luft nicht nur angenehm roch, sondern irgendwie auch aufregend, sinnlich, voller Abenteuergeist. All das war es, was Lucinda als Mensch ausmachte, ihr Charakter spiegelte sich ganz in ihrer Arbeit wider, und sie war mehr als zufrieden mit sich selbst, diesen Schritt gewagt zu haben.

Die Sonne schien ihr in die Augen, sie blinzelte und legte sich eine Hand an die Stirn, um besser Ausschau halten zu können. Links von ihr erstreckten sich Orangenfelder, so weit das Auge reichte, rechts befanden sich der Garten und das dunkelgelb gestrichene Haus, das in der Sonne beinahe orange wirkte. Es war umrahmt von einer Veranda, auf der vier Rattanstühle, ein weißer runder Tisch und eine Hollywoodschaukel standen. Außerdem war sie übersät von Blumen. An jeder freien Stelle hatte Lucinda Töpfe und Kübel aufgestellt und -gehängt; Geranien, Fuchsien und Begonien verliehen dem Haus ein ganz besonderes Gefühl von Geborgenheit. Vorne im Garten blühten Hortensien und alle Arten von Rosen auf gepflegten Beeten, die sich bis zur Einfahrt entlangzogen, die mit weißen Kieselsteinchen ausgelegt war.

Noch immer war niemand zu sehen. Es war aber auch erst zehn Uhr dreiundzwanzig am Morgen. Lucinda erwartete eigentlich keine der Frauen vor der Mittagszeit. Also ging sie noch einmal ins Haus, goss sich ein frisches Zitruswasser aus dem Krug ein und wusch sich das schweißnasse Gesicht. Sie wusste nicht, ob etwas dran war an der Behauptung, dass die Sommer in Bakersfield heißer waren als anderswo in Kalifornien. Dass sie extrem heiß waren, war aber keine Frage.

Ihr Blick durchs Fenster fiel auf die hinteren Orangenfelder, die ersten, die ihr Vater vor gut vierzig Jahren bewirtschaftete, nachdem er die Farm erworben hatte. Damals war er gerade zwanzig Jahre alt und hatte nichts außer den fünftausend Dollar, die sein verstorbener Großvater ihm hinterlassen hatte. Davon kaufte er vier Hektar Land und pflanzte einige Orangenbäume, obwohl man ihm sagte, dass er sich lieber in Orange County niederlassen sollte, dort würden Orangen viel besser gedeihen. Doch er ließ sich nicht beirren. Er hatte es im Gefühl, dass er in Lamont, dem kleinen Vorort von Bakersfield, sein Glück finden würde. Später erzählte er Lucinda im Vertrauen, dass es ein Werbeplakat für Orangensaft gewesen sei, das in einem Ladenfenster gehangen und den Ausschlag für seine Wahl gegeben hatte. Bei seinem Roadtrip durch den amerikanischen Westen der USA, den er nach seinem Highschool-Abschluss gemacht hatte, war er im Stadtzentrum von Bakersfield darauf gestoßen. Es hatte eine hübsche junge Frau gezeigt, die einen Korb voller Orangen trug, und es hatte die Aufschrift »Lust auf Orangen? Hier sind Sie richtig!« getragen. Hank hatte das wortwörtlich genommen und war geblieben. Als er sechs Monate später seine Liliana kennenlernte, wusste er, er hatte alles richtig gemacht.

Ein Hupen ertönte, und Lucinda blickte auf. Elf Uhr vierzehn. Die Zeit war mal wieder verflogen, während sie in Tagträumen verloren gewesen war. Sie sah jetzt einen Wagen die Einfahrt hochfahren. Freudig lief sie aus dem Haus und konnte es kaum erwarten, der ersten Freundin um den Hals zu fallen.

Rosemary sah Lucinda aus dem Haus laufen und musste lächeln. Sofort war ihre schlechte Laune verflogen. Sie sagte sich, dass sie nun ihre Sorgen vergessen und sich einfach auf die Tage hier mit ihren Freundinnen freuen wollte. Ihre Orangentage.

Sie stieg aus ihrem weißen Mercedes Roadster Cabrio, das sie sich zum Geburtstag gegönnt hatte, und schob die Sonnenbrille hoch. Da fiel Lucinda ihr auch schon in die Arme.

»Rosemary! Ich freu mich so, dass du da bist!«

»Und ich mich erst. Ein paar Tage ohne Paparazzi sind der wahre Himmel für mich, das kann ich dir sagen.«

»Oje. Ich vergesse manchmal, wie berühmt du inzwischen bist«, sagte ihre Freundin und lachte.

Ja, hier in Lamont war sie noch immer die gute alte Rosemary Stutter, das kleine Mädchen, das von einer Hollywoodkarriere träumte. Für die Welt da draußen aber war sie Rose Steen, die Frau, die sich genau diesen Traum erfüllt hatte.

Lucinda betrachtete ihre erfolgreiche Freundin. »Du siehst umwerfend aus«, sagte sie und meinte es ernst. Rosemary war mit ihrer zierlichen Figur, den weichen Gesichtszügen und den braunen Locken schon immer die Schönste von ihnen gewesen, aber in den letzten Jahren hatte sie sich wirklich in eine zweite Natalie Portman verwandelt. Sie war bezaubernd, in jeder Hinsicht, fand Lucinda und mit ihr anscheinend der Rest der Welt.

»Ach, heute habe ich mich doch extra gar nicht herausgeputzt. Diese alten Klamotten«, erwiderte Rosemary und winkte ab.

Lucinda schüttelte lachend den Kopf, denn sie wusste, dass »diese alten Klamotten« wahrscheinlich mehr kosteten als der gesamte Inhalt ihres Kleiderschranks.

»Ich kann das Kompliment aber nur zurückgeben. Du siehst auch toll aus, Lucinda. Und kein Jahr älter als zwanzig, noch immer nicht. Wie machst du das nur? Und das ist eine ernst gemeinte Frage. In Hollywood geben sie alle Tausende Dollar für überteuerte Schönheitsprodukte und -behandlungen aus, du aber bist und bleibst einfach schön. Da bist du wirklich von Mutter Natur gesegnet.«

Lucinda sah an sich hinunter. Heute trug sie kurze Jeansshorts und ein weißes Tanktop, dazu weiße Chucks, und sie musste feststellen, dass sie schon wieder ein wenig an Gewicht verloren hatte.

»Das macht die viele frische Luft«, erwiderte sie. »Ich bin doch den ganzen Tag draußen. Außerdem ernähre ich mich sehr gesund.« Wenn Rosemary wüsste … In den letzten Monaten hatte sie kaum etwas anderes als ihre Früchte gegessen.

»Du musst mir deine Geheimnisse unbedingt verraten, ja?«

»Klar. Wir haben ja ein ganzes Wochenende Zeit.«

Ihre Freundin nahm nun ihre Hände in die ihren und sah sie einen Augenblick lang intensiv an. Lucinda glaubte fast, Tränen in Rosemarys Augen zu entdecken, dann lächelte sie aber auch schon wieder und fragte, ob sie reingehen und sich frisch machen könne.

»Natürlich. Du weißt ja, wo alles ist. Ich bleibe hier und halte Ausschau nach den anderen, ja?«

Rosemary nickte und verschwand im Haus.

Rosemary konnte mit Worten gar nicht beschreiben, wie glücklich sie war, hier zu sein. So sehr sie ihren Mann Edward und ihr Töchterchen Jeannie auch liebte, so waren die letzten Monate doch die Hölle gewesen. Das würde sie ihren Freundinnen natürlich nicht erzählen. Das tat sie nie. Wenn sie hier war, ließ sie das Hollywoodleben, ihre schicke Villa am Strand von Malibu, ihre Filmrollen, die Paparazzi, die Gerüchte und die Probleme hinter sich. Für ein Wochenende konnte sie ganz sie selbst sein, dann war sie einfach nur wieder Rosemary Stutter, und das Leben war sorglos und schön.

Sie wischte sich die einzelne Träne weg, die ihre Wange hinuntergelaufen war, und tupfte sich das Gesicht mit einem Wattepad ab, das sie in der Schublade neben dem Waschbecken gefunden hatte. Dann ging sie hinunter in die Küche und füllte sich ein Glas von dem Wasser ein, das auf dem Tisch stand. Frische Zitronen- und Orangenscheiben verliehen ihm einen spritzigen Geschmack. Allein diesen auf der Zunge zu spüren brachte alte Erinnerungen zurück.

Fröhlich ging sie wieder nach draußen, stieg die drei Stufen hinunter und atmete durch. Der Duft von Orangen lag in der Luft, er machte sich in ihr breit und verschaffte ihr ein wohliges Gefühl. Sie musste lächeln, dieser Ort war ihr der liebste auf der Welt.

Lucinda sah Rosemary in ihren schwarzen Shorts, der roten ärmellosen Bluse und den High Heels aus dem Haus treten und breit lächeln. Sie war richtig erleichtert, denn einen Moment lang hatte sie sich schon Sorgen um sie gemacht. Rosemary hatte so müde und so unausgeglichen gewirkt. Dabei glaubte man doch, dass diese Hollywoodstars allesamt zufrieden und rundum glücklich wären, dass sie keine Sorgen hätten, und wenn doch, dass sie diese mit ihrem vielen Geld sofort aus der Welt schaffen könnten. Rosemary erzählte, wenn sie hier war, auch immer nur, wie schön das Leben in L. A. sei, so, als wäre es ein wahr gewordener Traum. Warum sollten sie ihre Worte anzweifeln? Sie freuten sich doch für ihre Freundin, dass ihr Leben als Schauspielerin, Ehefrau und Mutter so perfekt war. Neid empfanden sie keinen, da konnte Lucinda wohl für alle sprechen, denn Neid und Eifersucht waren Gefühle, denen sie alle schon sehr früh abgeschworen hatten. Nachdem damals, infolge der tragischen Vorfälle ihres sechzehnten Sommers, die Wahrheit ans Licht gekommen war.

Rosemary trat nun auf sie zu und fragte: »Was glaubst du, wer als Nächstes kommt?«

»Jennifer, auf jeden Fall. Ich hatte sogar geschätzt, dass sie die Erste sein würde. Aber dann kamst du in deinem schicken Cabrio um die Ecke geflitzt.« Sie lächelte ihr zu.

»Ein Geburtstagsgeschenk. Hab ich mir selbst gemacht. Edward hat das gleiche in Schwarz bekommen.«

»Er kann sich wirklich glücklich schätzen, dein Göttergatte. Wie geht es ihm eigentlich? Und deinem bezaubernden Töchterchen?« Die kleine Norma Jeane war entzückend. Rosemary und Edward hatten sie nach Norma Jeane Baker benannt, wie Marilyn Monroe vor ihrer Hollywoodkarriere geheißen hatte. Doch sie riefen sie Jeannie.

Rosemarys Augen nahmen diesen ganz besonderen Glanz an. »Es geht ihnen sehr gut, danke. Jeannie kommt jetzt schon in die erste Klasse.«

»Machst du Witze? Die Kleine kommt in die Schule?« Lucinda staunte. »Wie schnell vergeht denn nur die Zeit?«

»Das frage ich mich auch immer wieder. Noch vor Kurzem musste ich ihr die Windeln wechseln, und jetzt sagt sie mir schon, wenn ich fett aussehe in einem Kleid.«

Lucinda musste lachen, und zwar aus zweierlei Gründen. Denn erstens war sie sich ziemlich sicher, dass Rosemary Jeannie niemals die Windeln gewechselt hatte, dazu hatten sie schließlich eine Nanny, und zweitens, weil Rosemary bestimmt niemals fett in irgendeinem Kleid aussah.

»Das tut sie? Nun, sie hat Mut, das muss ich ihr lassen. Sich mit dir anzulegen könnte mächtig in die Hose gehen. Du könntest ihr lebenslanges Fernsehverbot verpassen.«

»Das würde ich manchmal gerne tun. Was die Medien teilweise über mich bringen … Das kann man keinem Kind zumuten. Sie versteht ja noch nicht, dass das nicht alles der Wahrheit entspricht. Neulich zum Beispiel wurde berichtet, dass ich eine Affäre mit Zac Efron hätte.«

Lucinda legte sich eine Hand auf den Mund und kicherte. »Ach herrje. Und das hat Jeannie mitbekommen?«

»Ja. Bridget, die Nanny, hat irgendeine Realityshow angehabt, Teen Mom, glaube ich, und dann kamen die Klatschnachrichten.«

»Oh nein! Und wie hat die Kleine darauf reagiert?«

Ihre Freundin lachte. »Du wirst es nicht glauben, aber sie hat sich gefreut! Sie steht total auf diese alten High school Musical-Filme und hat sich schon vorgestellt, dass Zac bald mit ihr durchs Haus tanzen würde.«

Nun konnte Lucinda sich selbst nicht mehr einkriegen vor Lachen. Jeannie war einfach bezaubernd, fand sie. Bezaubernde kleine Jeannie. Sie sah sie viel zu selten, das letzte Mal musste bald zwei Jahre her sein, da hatte sie Rosemary und ihrer Familie einen Besuch in Malibu abgestattet. Das war ja zum Glück nicht allzu weit entfernt, sogar im selben Staat, da konnte man ruhig mal für ein, zwei Tage runterfahren. Bei den anderen sah das schon ganz anders aus, leider.

Jennifer hatte es nach ihrem Jura-Studium am Sandra Day O’Connor College of Law in Arizona nach Atlanta verschlagen, wo sie in einer Top-Anwaltskanzlei Karriere machte. Nach Atlanta konnte man nicht eben mal rüberfahren. Und nach Austin, Texas, wo Michelle lebte, war es auch kein Katzensprung. Das war aber nicht der Grund, weshalb Lucinda seit Jahren nicht mehr bei ihr in Texas gewesen war. Es spielten leider ganz andere Faktoren eine Rolle dabei, dass sie Michelle, die ihr von allen immer die liebste Freundin gewesen war, so lange nicht besucht hatte.

In diesem Moment fuhr Michelle die Einfahrt hoch. Rosemary stand aufrecht, ganz die Diva, lächelte und winkte leicht. Lucinda aber klatschte begeistert in die Hände und ging auf sie zu.

»Michelle!«, rief sie und breitete die Arme aus, in die ihre Freundin lief. Sie hielten sich eine halbe Ewigkeit lang fest umschlungen und strahlten einander schließlich an. »Ich hab dich so vermisst.«

»Ich dich auch. Hey, da ist ja auch schon unser großer Star. Wie geht es dir, Rose Steen?«

»Bestens, danke. Du weißt aber ganz genau, dass ich von euch nicht so genannt werden möchte. Hier bin ich immer noch Rosemary.« Ja, das sagte Rosemary ihnen jedes Jahr wieder, allerdings war es gar nicht so leicht, einfach zu vergessen, wer sie wirklich war. Wer sie geworden war.

»Alles klar. Also keine Starallüren?«

»Nicht dieses Wochenende.« Rosemary zwinkerte Michelle zu und umarmte sie.

»Wo ist denn Jennifer? Ist sie sonst nicht immer vor allen anderen da?«

»Das frage ich mich auch schon. Ob sie ihren Flug verpasst hat?« Lucinda sah auf die Uhr. Elf Uhr zweiundvierzig.

»Lasst uns doch ins Haus gehen und versuchen, sie zu erreichen. Ich bräuchte auch dringend eine kleine Erfrischung«, sagte Michelle und zupfte an ihrem gelben Oberteil herum. »Der Mietwagen stand direkt in der Sonne, als ich ihn abholte. Ich kam mir die letzten zwei Stunden vor, als säße ich in der Sauna.«

»Warum hast du denn die Klimaanlage nicht angemacht?«, wollte Rosemary wissen.

»Ach, das habe ich nicht hinbekommen. Ihr wisst doch, ich und die Technik.«

Rosemary ging zum Mietwagen, steckte den Kopf durchs offene Fenster, drückte ein paar Knöpfe und verkündete: »Ist doch ganz einfach.«

»Du darfst es mir später gerne zeigen. Jetzt muss ich aber erst mal aufs Klo.« Das war Michelle. Sie sagte, was sie dachte.

Lucinda musste lachen. »Ich hoffe, du weißt wenigstens, wie das funktioniert. Also, es gibt da so ein Ding namens Spülung …«

»Haha! Macht euch nur über mich lustig, das juckt mich gar nicht. Ich bin nur froh, endlich mal abzuschalten.«

»Und wir sind froh, dass du das mit uns zusammen tust.«

»Ich will ja nicht drängen, aber ich muss jetzt wirklich mal …«

»Tu dir keinen Zwang an.« Lucinda machte eine einladende Geste, und Michelle lief in Richtung Haus.

Sie hakte sich bei Rosemary ein, gemeinsam folgten sie ihrer Freundin gemächlich.

»Ach, diese blöden Dinger«, sagte Rosemary, zog ihre schicken schwarzen Jimmy Choos aus und ging barfuß weiter.

Und Lucinda schloss für einen Moment die Augen und wünschte sich, dass dieses Wochenende ein ganz besonderes werden würde – denn vielleicht würde es ihr letztes gemeinsames auf der Orangenfarm sein.

Kapitel 2

Jennifer hatte tatsächlich ihren Flug verpasst. Am Abend hatte sie einen Streit mit ihrer On-and-off-Beziehung Daniel gehabt, der sich die halbe Nacht hingezogen hatte. Morgens hatte sie dann verschlafen und war viel zu spät zum Flughafen gekommen. Sie hatte zum Glück noch einen anderen Flieger nach Los Angeles erwischt, hatte aber zum Gate hetzen müssen und nicht einmal mehr Zeit gehabt, ihren Freundinnen Bescheid zu sagen, dass sie sich verspätete. Sie konnte von Glück sagen, dass Kalifornien in einer anderen Zeitzone lag und sie die Uhr um zwei Stunden zurückstellen konnte.

Während des Landeanflugs auf Los Angeles musste Jennifer wieder an Daniel denken. Sie war sauer, denn er verdarb ihr ihr erstes freies Wochenende seit Langem.

Jennifer war ein Workaholic, nahm ihren Beruf als Zivilrechtsanwältin sehr ernst und gönnte sich nur selten ein wenig Erholung. Einmal im Jahr aber ließ sie alle Arbeit liegen und machte sich auf nach Lamont, ihrer Heimat, die sie nur so nennen konnte, weil sie dort zusammen mit den wundervollsten Freundinnen aufgewachsen war, die man sich nur vorstellen konnte. Wären sie nicht gewesen, hätte Lamont in ihren Erinnerungen immer nur einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen, was an ihrem Vater lag, der sie ihre ganze Kindheit lang nicht besser behandelt hatte als seine Schweine. Wenn er sie vernachlässigt und ignoriert hatte, war sie noch gut dran gewesen. Sobald sie mit der Schule fertig gewesen war, war sie aus Lamont weggegangen, hatte Jura studiert, wollte der Ungerechtigkeit auf dieser Welt ein Ende bereiten oder sie wenigstens ein kleines bisschen schmälern. Das Angebot aus Atlanta schien Schicksal gewesen zu sein, seitdem versuchte sie, Gerechtigkeit zu erlangen. Gerade hatte sie die Sammelklage einer Ortsgemeinschaft in Georgia durchbekommen, sehr erfolgreich sogar. Die Fabrik, die die Gemeinde mit giftigen Abgasen verpestet hatte, musste schließen, und die Leute hatten eine hohe Entschädigung erhalten. Jennifer kam sich manchmal fast ein bisschen so vor wie Erin Brockovich, die für das Recht des kleinen Mannes kämpfte. Dann war sie ungemein stolz auf sich. Es gab sogar Tage, an denen sie sich gerne auf nach Lamont machen und ihrem Vater zeigen würde, was aus ihr geworden war. Das tat sie dann aber doch nicht, sie kam einzig und allein für ihre Freundinnen zurück, ihren Vater hatte sie seit sechzehn Jahren nicht gesehen.

Sobald sie gelandet waren, holte Jennifer es nach, bei Lucinda anzurufen.

»Wo steckst du denn?«, fragte diese. »Wir warten schon auf dich.«

»Ich habe meinen Flieger verpasst, sorry. Jetzt bin ich aber in L. A. gelandet und hole schnell meinen Mietwagen ab. Ich bin in zwei Stunden bei euch.«

»Alles klar. Nur keine Hektik, wir laufen nicht weg. Wir freuen uns auf dich!«

»Und ich mich auf euch.« Jennifer legte mit einem Lächeln auf. Sie nahm sich fest vor, an diesem Wochenende die Arbeit Arbeit sein zu lassen, Daniel komplett aus ihren Gedanken zu streichen und die Zeit mit Lucinda, Michelle und Rosemary zu genießen. Sie wusste aber jetzt schon, dass das nicht leicht werden würde, weil Daniel sich immer wieder zurück in ihren Kopf schlich, sogar in ihr Herz, auch wenn sie das absolut nicht zulassen wollte.

Die Frauen standen in der Küche, als sie ein lautes Hupen hörten. Sie liefen alle drei hinaus, um die Vierte im Bunde zu begrüßen.

»Ich dachte schon, du kommst nicht«, sagte Lucinda und umarmte Jennifer in ihrem schicken grauen Kostüm erleichtert.

»Ich würde mir doch niemals unsere Orangentage entgehen lassen, was denkst du denn von mir?«, erwiderte Jennifer, nachdem auch Michelle und Rosemary sie fest gedrückt hatten.

»Dass du wieder mal einen Haufen Arbeit hast und sogar was davon mit hierherschleppst?«, vermutete sie, als sie Jennifers vollgestopfte Aktentasche sah.

»Nur ein bisschen«, gab diese zu.

»Nein, nein, nein. Das kannst du vergessen!«, sagte Lucinda gleich bestimmt und nahm ihr die Tasche ab, ehe ihre Workaholic-Freundin es verhindern konnte.

»Hey! Was hast du damit vor?«, rief Jennifer empört.

»Sie verstecken. Damit du gar nicht erst auf dumme Gedanken kommst. Gearbeitet wird hier nicht. Wir sind hier, um uns zu amüsieren.«

»Ja, ja, ich werde mich ja amüsieren. Ich dachte nur, dass ich vielleicht nachts …«

»Kommt gar nicht infrage! Die Nächte habe ich auch schon verplant.«

»Oooh!«, machte Michelle.

»Ich bin ja gespannt, was du mit uns vorhast«, sagte Rosemary.

»Na gut, dann arbeite ich halt nicht«, sagte Jennifer und stemmte die Hände in die Hüften. Provozierend sah sie Lucinda an. »Dann bist du aber schuld, wenn die Familie Johnson nicht an das ihr rechtmäßig zustehende Schmerzensgeld kommt, weil ein betrunkener Arzt den kleinen Tommy bei einer Wirbelsäulen-OP für immer querschnittsgelähmt hat.«

Lucinda starrte Jennifer mit Entsetzen an und gab ihr ihre Tasche zurück.

»Danke. Ich versuche wirklich, nicht allzu viel zu machen, okay?«

»Einverstanden. Nun komm erst mal mit in die Küche. Die Mädels und ich machen gerade Mittagessen.« Es war schon kurz nach zwei Uhr, und sie alle waren am Verhungern.

Michelle hakte sich bei Lucinda ein, und sie gingen auf das Haus zu, das jetzt von der Nachmittagssonne bestrahlt wurde. Das dunkle Gelb wirkte dadurch noch wärmer, man konnte fast denken, man betrete das Innere einer Orange. Als kleines Mädchen hatte Michelle sich oft vorgestellt, Lucindas Haus wäre eine Orange, und sie würde dort mit ihrer besten Freundin und deren Familie wohnen. Sie hatte sich sogar überlegt, wenn ein Hurrikan kommen und das Haus wegblasen würde wie das von Dorothy in Der Zauberer von Oz, könnte man einfach eine neue Orange nehmen und sie mit einer Luftpumpe aufblasen. Man könnte sogar die Möbel aus Orangen herstellen. Ein Orangenbett, einen Orangenschrank, Orangentische und -stühle. Die Zeit auf der Farm hatte Michelle völlig eingenommen, ihr Denken beeinflusst, ihre Vorlieben. Noch heute machte sich ein heimeliges Gefühl in ihr breit, wann immer sie den Duft von Orangen wahrnahm. Zur Weihnachtszeit schmückte sie stets das ganze Haus mit getrockneten Orangenscheiben, außerdem steckte sie getrocknete Nelken in ganze Orangen und hängte diese auf, dann roch ihr Zuhause fast wie ein echtes Zuhause. Dass Russel dabei mal wieder was zu meckern hatte, machte ihr überhaupt nichts aus. Der meckerte sowieso die ganze Zeit an ihr herum, denn der liebevolle, charmante Mann, für den sie Kalifornien und ihre Freundinnen verlassen hatte, war er leider schon lange nicht mehr. Ihre Traditionen ließ sie sich aber nicht nehmen – vor allem nicht ihr alljährliches Wochenende auf der Orangenfarm.

»War der Arzt wirklich betrunken?«, fragte Rosemary auf dem Weg zurück ins Haus, und auch Lucinda sah Jennifer gespannt an.

»Er hatte sich zum Frühstück einen Kaffee mit Schuss genehmigt. Vor Gericht klingt betrunken aber weitaus besser, oder nicht?« Jennifer zwinkerte ihnen zu.

»Wenn ich mal einen Zivilrechtsanwalt brauche, wende ich mich auf jeden Fall an dich«, sagte ihre berühmte Freundin.

»Ich wäre schwer beleidigt, wenn nicht. Was gibt es denn zu essen?«, fragte Jennifer, als sie das Haus betraten. Sie stellte ihr Gepäck neben der Tür ab und schielte zum Küchentresen hinüber, während Lucinda sich wieder an die Arbeit machte.

»Etwas Leichtes«, antworte Rosemary und verzog das Gesicht.

»Lucinda macht uns einen leckeren Salat«, berichtete Michelle und fuhr damit fort, das Dressing zu verrühren.

Lucinda hielt beim Schneiden inne und verkündete: »Mit Orangenfilets, getrockneten Tomaten, grünem Spargel und Pinienkernen. Das ist superlecker.«

»Hört sich fantastisch an. Auf das trockene Croissant im Flugzeug habe ich nämlich verzichtet, und ich sterbe gleich vor Hunger. Außerdem ist bei der Hitze so ein leichter, gesunder Salat genau das Richtige, finde ich.«

»Ja, super. Ich esse an sieben Tagen in der Woche Salat«, jammerte Rosemary. »Hier wollte ich doch ein Wochenende mal nicht an Kalorien denken und so richtig schön schlemmen.«

»Keine Sorge. Dazu werden wir auch noch kommen. Ich habe gestern noch Mandarinenmuffins gebacken, die gibt’s zum Nachtisch. Und wenn du möchtest, kannst du zu deinem Salat ein wenig kalten Braten haben. Den habe ich neulich gemacht, und es ist noch was übrig«, schlug sie ihr vor.

»Du machst einen ganzen Braten nur für dich allein?«, fragte Jennifer in misstrauischem Tonfall.

»Ich habe da was Neues ausprobiert, mit einer süßen Orangensauce.«

»Bald kannst du dein eigenes Kochbuch rausbringen, bei all den Rezepten, die du dir so ausdenkst«, sagte Michelle.

Daran hatte Lucinda sogar selbst schon gedacht, mehr als einmal. Eigentlich war es seit Jahren ihr Traum, eines Tages ein Kochbuch oder auch ein Backbuch zu veröffentlichen, ein Buch mit ihrem Namen drauf, das sie der Nachwelt hinterlassen würde – ein Buch mit Orangenrezepten. Jedes Mal, wenn sie sich ein neues Gericht ausdachte, schrieb sie die Mengenangaben und die Zubereitungsanweisung auf ein Blatt Papier, klebte ein Polaroid-Foto von einem hübsch angerichteten Teller dazu und heftete es in einem Ordner ab. Das tat sie zwar hauptsächlich für sich selbst, aber auch mit der Idee im Hinterkopf, diese Rezepte eines Tages einmal an die Öffentlichkeit zu bringen. Allerdings wusste sie auch, dass dies höchstwahrscheinlich nur ein Traum bleiben würde, denn wer brachte schon das Buch einer völlig unbekannten Hobbyköchin heraus, wenn es schon eine Million anderer Kochbücher auf dem Markt gab?

»Nun sei ehrlich, Lucinda, ich sehe es dir an der Nasenspitze an«, sagte Michelle, die sie noch immer besser kannte als jeder andere. »Du hast nicht nur für dich allein diesen Braten gemacht.«

Sie gab nun eine Handvoll Pinienkerne in eine Pfanne und röstete sie. Das Aroma stieg ihr in die Nase, und sie merkte, wie sie leicht errötete.

»Wäre eine von euch so freundlich, das Besteck aus der Schublade zu holen?«, lenkte sie vom Thema ab.

»Das übernehme ich«, sagte Jennifer und entnahm der Schublade des alten weiß gestrichenen Küchenschranks Gabeln und Messer.

»Lucinda!«, sagte Michelle mit Nachdruck.

Sie wusste, dass sie da nicht wieder rauskommen würde. »Ich habe natürlich auch Alejandro etwas von dem Braten rübergebracht«, versuchte sie es.

Seinen Namen laut auszusprechen brachte noch immer ein mulmiges Gefühl mit sich, und sie war sich sicher, dass es den anderen genauso erging, das konnte sie an ihren Gesichtern ablesen. Erinnerungen kamen hoch, schlimme Erinnerungen.

»Wie geht es Alejandro?«, fragte Rosemary behutsam, die es sich bereits am Tisch bequem gemacht hatte. Sie war es nicht gewohnt, in der Küche zu helfen.

»Es geht ihm gut. Wir können ihm gerne am Abend einen kurzen Besuch abstatten, wenn ihr Lust habt. Dann bringen wir ihm was von der Marmelade vorbei, die ich vorhabe heute Nachmittag mit euch zu machen.«

»Oh, wie schön!«, rief Michelle aus. »Ihr wisst, dass ich mich immer besonders auf diese Art von Aktivitäten freue.«

Lucinda sah Rosemary schmunzeln und leicht den Kopf über Michelles aufgeregtes Verhalten schütteln. Sie sah ja auch wirklich so aus wie ein kleines Kind, das schon ganz aufgeregt war, weil es bald seine Geschenke auswickeln durfte. Lucinda wusste, dass Rosemary dagegen auch gut aufs Marmeladekochen hätte verzichten können.

»Ich muss Michelle aber recht geben …«, begann Jennifer, und Lucinda dachte schon, sie freue sich genauso aufs Marmeladekochen. Doch sie sprach anscheinend von etwas anderem. »Du wirkst ein wenig verdächtig. Ich bin Anwältin, mich kann man nicht an der Nase herumführen.«

»Ja, ja, schon gut«, gab sie sich geschlagen. »Bevor ihr mich das ganze Wochenende damit nervt, verrate ich es euch eben jetzt schon. Ich habe mich mit jemandem angefreundet.«

»Angefreundet? Was genau bedeutet das? Eine Freundschaft mit gewissen Vorzügen?« Jennifer grinste sie an.

»Nein! Wirklich nur ein Freund.«

»Dem du einen Braten kochst?« Michelle schmunzelte.

»Er mag Braten.« Sie zuckte die Schultern.

»Und du magst ihn?«, fragte Michelle.

Rosemary erkundigte sich zeitgleich: »Wie heißt er überhaupt? Kennen wir ihn?«

»Immer langsam. Nicht alle auf einmal! Also, nein, ihr kennt ihn nicht. Er heißt Jonah Porter und betreibt einen kleinen Biosupermarkt in Arvin, den ich mit Früchten beliefere. Und ja, natürlich mag ich ihn, sonst hätte ich mich ja nicht mit ihm angefreundet. Wie sehr ich ihn allerdings mag, kann ich noch nicht sagen. Wir waren ja erst ein paarmal aus.« Sie gab jetzt über jeden angerichteten Teller einen Löffel Pinienkerne und schüttete ein wenig von dem frisch angerührten Orangendressing über den Salat. Dann stellte sie die Teller vor ihren Freundinnen auf den Tisch.

»Das sieht unglaublich aus«, sagte Michelle bewundernd.

»Danke sehr. Ach, jetzt hätte ich beinahe den Braten vergessen. Isst du ihn kalt, oder soll ich ihn dir warm machen?«, wandte sie sich an Rosemary. »Und wollt ihr anderen auch etwas davon?«

»Kalt ist okay, das passt am besten zum Salat. Und wenn ich in die gierigen Gesichter der anderen schaue, würde ich sagen, du stellst ihn einfach in die Mitte des Tisches, und jeder nimmt sich was davon«, schlug Rosemary vor.

Während sie sich zum Kühlschrank drehte und die Tupperdose herausholte, fragte Jennifer frei raus: »Hattet ihr schon Sex?«

Schockiert sah Lucinda sie an. »Jenny! Ich habe doch gesagt, dass wir nur Freunde sind. Noch zumindest.«

»Na und? Das hält einen doch nicht davon ab, Spaß zu haben.«

»Mich schon.«

»Wann hast du dich zuletzt mit einem Mann vergnügt, Lucinda? War das 2016? Emilio Rodriguez?«

Lucinda war entsetzt. »Führst du Buch über mein Liebesleben, oder was?«

»Ich kann mir Dinge gut merken, das bringt mein Beruf mit sich. Nun sag schon, hattest du danach noch jemanden, von dem wir nichts wissen? Falls nicht, musst du ja schon komplett ausgetrocknet sein, so wie deine Bäume hinten an der Straße, die ich beim Herfahren gesehen habe.«

»Ja, das ist mir auch aufgefallen. Was hat es damit auf sich?«, wollte nun auch Michelle wissen.

»Könntet ihr mal beim Thema bleiben? Ich meine, ich erzähle euch gerne was über die Plantage, aber dieses Hin und Her macht einen ja ganz schwindlig.«

»Okay, das mit dem Sex zuerst«, sagte Jennifer.

»Ich bin auch dafür«, stimmte Rosemary zu und bediente sich am Fleisch.

»Sag mal, habe ich nicht gelesen, du wärst jetzt Veganerin?«, fragte Michelle sie.

»Ach, die Presse schreibt viel, wenn der Tag lang ist. Nur weil ich was für eine Tierrechtsorganisation gespendet habe, bin ich plötzlich Veganerin. Tss, tss.«

»Daniels Schwester ist Veganerin«, informierte Jennifer sie.

»Meine Friseurin auch«, sagte Michelle.

Lucinda musste lachen. Das ist ja hier wie im Hühnerstall, dachte sie. Ein wilder Haufen Hühner, die alle durcheinandergackern.

»Will jetzt jemand was über mein Sexleben wissen, oder nicht?«, rief sie in die Runde.

Alle nickten mit den Köpfen und bejahten.

»Also, Jenny hat recht. Ich hatte tatsächlich seit 2016 keinen Sex mehr, wenn ihr es unbedingt wissen müsst. Und ja, ich fühle mich wirklich schon ganz ausgetrocknet, weshalb ich echt hoffe, dass das mit Jonah was wird. Ich finde ihn nämlich total nett, und heiß ist er auch.«

»Erzähl uns mehr!«, bat Michelle, die sich einen großen Berg Salat in den Mund schob. »Das mit den Pinienkernen muss ich übrigens nachmachen. Das ist ja der Hammer!«, fügte sie mit vollem Mund hinzu.

»Okay … Jonah hat unglaublich blaue Augen, ist ungefähr eins fünfundsiebzig groß und gut gebaut. Er hat so eine niedliche Stupsnase … und sein Lächeln erst! Ach, er ist einfach umwerfend«, schwärmte sie.

»Und er führt einen Bioladen?«, fragte Jennifer.

»Ja, genau. Er hat ihn im letzten Jahr eröffnet, dadurch haben wir uns auch kennengelernt. Er hat nach Obst- und Gemüsehändlern aus der näheren Umgebung gesucht.«

»Und ist dabei auf dich gestoßen.« Michelle machte ein Hach-Gesicht und legte die Hände ans Herz.

»Du hast etwas Entscheidendes vergessen!«, fiel Rosemary auf. »Wie alt ist er? Schon etwas älter? Erfahrener?«

Das war der Punkt, den Lucinda eigentlich nicht hatte ansprechen wollen, weil sie schon jetzt wusste, dass die anderen sie damit aufziehen würden.

»Nun rück schon raus mit der Sprache!«, forderte Jennifer.

»Er ist … neunundzwanzig, fast.«

»Haha … neunundzwanzig, fast?« Jennifer grinste wieder.

»Du meinst, du hast was mit einem achtundzwanzigjährigen Jüngling?«, fragte Rosemary, um sicherzugehen, dass auch alle es vernommen hatten.

»Ihr habt es doch schon beim ersten Mal verstanden. Ja, er ist achtundzwanzig. Fast neunundzwanzig«, betonte sie noch mal, und alle brachen in Gelächter aus. »Nun hört schon auf, ihr seid so gemein! Er ist kein kleiner Milchbubi, falls ihr das denkt, sondern ein gestandener Mann. Immerhin hat er sein eigenes Geschäft, steht mit beiden Beinen im Leben. Und wenn ich euch mal was sagen darf: Ich fühle mich auch noch kein Jahr älter als fünfundzwanzig. Ich breche regelmäßig in Panik aus, wenn mir einfällt, wie alt ich wirklich schon bin.« Nämlich beinahe vierunddreißig.

»Ja, wir sind alle schrecklich alt geworden«, stimmte Michelle zu.

»Und deshalb hast du dir einen Jüngling geschnappt? Um dich selbst wieder jung zu fühlen?«, fragte Rosemary lachend.

Lucinda bewarf sie mit einem Salatblatt. »Ist dein Edward nicht auch jünger als du?«

»Hey! Anderthalb Jahre nur. Und in Hollywood ist das ganz normal.«

»In Bakersfield auch.«

»Davon habe ich ja noch nie was gehört.«

»Nun lasst sie doch«, nahm Michelle sie jetzt in Schutz. »Es ist immer noch Lucindas Entscheidung, mit wem sie keinen Sex haben will.«

Die anderen lachten nur noch mehr, und auch Michelle stimmte ein.

Lucinda tat beleidigt. »Wenn ihr so weitermacht, werde ich euch nicht mehr bekochen. Dann könnt ihr den Rest des Wochenendes auswärts essen gehen.«

»Oh nein, bitte, bitte, verzeih uns. Wir sind schon still«, flehte Rosemary.

»Ja, es tut uns leid. Bitte koch für uns, keine kocht so gut wie du«, sagte Jennifer.

»Na gut. Wenn ihr so darum bettelt, muss ich wohl nachgeben.«

»Lernen wir denn deinen Jonah mal kennen?«, wollte Michelle neugierig wissen.

»Ich werde alles tun, was nötig ist, damit das nicht passiert«, erwiderte Lucinda entschlossen.

Die Sache mit ihr und Jonah war noch ganz frisch. Ein Haufen gackernder Hühner könnte ihn verschrecken und bis in endlose Weiten vertreiben, befürchtete sie. Und das wollte sie, die wirklich auf dem Trockenen saß, ganz sicher nicht riskieren.