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KJELL ASKILDSEN

DAS GESAMTWERK

Aus dem Norwegischen
von Hinrich Schmidt-Henkel

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Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert.
Der Verlag bedankt sich sehr herzlich dafür.

Copyright © der Originalausgabe 1953–2015
Oktober Forlag AS, Oslo
© der deutschsprachigen Ausgabe 2019
Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Lektorat: Regina Kammerer
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Schubergestaltung: buxdesign München

unter Verwendung eines Fotos von © Nils Petter Lotherington

Umschlaggestaltung: buxdesign München unter Verwendung

zweier Illustrationen von © Håkon Bleken

ISBN 978-3-641-22484-4
V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

Inhalt

BAND 1

JETZT BRINGE ICH DICH IMMER BIS NACH HAUSE

Heimkehr

Der Mond in Connaught Water

Die Mondstrahlen

Das Zimmer der Geistesschwachen

Die weißen Kreuze

Es war schön, solange es währte

Intermezzo

Jetzt bringe ich dich immer bis nach Hause

Der Einbruch

Die Möwenküken

Beerdigungskaffee

HERR LEONARD LEONARD

DAVIDS BRUDER

KULISSEN

Hochsommer

Spätsommer

Begegnung

Eine Spanne Zeit

Es ist ein Ros entsprungen

Hinter der Front

Wartezeit

Mardons Nacht

UMGEBUNGEN

LIEBER, LIEBER OLUF


BAND 2

ALLTAG

NICHTS UMSONST

Nichts umsonst

Sonnenhut

Die Bedeutung

Ingrid Langbakke

Alles wie vorher

THOMAS F.S LETZTE AUFZEICHNUNGEN
FÜR DIE ALLGEMEINHEIT

Carl Lange

Thomas F.s letzte Aufzeichnungen für die Allgemeinheit

EINE WEITE, VERLASSENE LANDSCHAFT

Ich bin nicht so, ich bin nicht so

Der Zusammenstoß

Johannes’ fröhliche Beerdigung

Da liegt der Hund begraben

Der Nagel im Kirschbaum

Der Joker

Eine weite, verlassene Landschaft

DIE HUNDE IN THESSALONIKI

Die Hunde in Thessaloniki

Elisabeth

Der Grashüpfer

Ein schöner Ort

Die Unsichtbaren

Das Gesicht meiner Schwester

EIN PLÖTZLICH BEFREIENDER GEDANKE

Der Flieger

Zurück aus dem Krieg

Ein plötzlich befreiender Gedanke

Martin Hansens Ausflug

DER PREIS DER FREUNDSCHAFT

Konrad T.

Willy Hassel

Der Preis der Freundschaft

Das rote Haus

Nach der Trauerfeier

Der andere Traum

Marion

Gerhard P.

Gustav Herre

Der Kulturbeutel

Georg

BEGLEITBUCH

KJELL ASKILDSEN

WER DIE WAHRHEIT ERZÄHLT, LÜGT.
WER DICHTET, LÜGT NICHT.

KJELL ASKILDSENS LITERARISCHE STIMME WILL SICH NIEMALS EINSCHMEICHELN

FESTER GRUND. KJELL

UNVERBRAUCHTE NEUGIER

Der Übersetzer der Werkausgabe

Editorische Notiz zur Werkausgabe Kjell Askildsen

Frühere Veröffentlichungen von Kjell Askildsen auf Deutsch

Quellen der Biografie

BAND 1

JETZT BRINGE
ICH DICH IMMER
BIS NACH HAUSE

Erzählungen
(1953)

Heimkehr

ICH HABE MIR DIE HAARE gekämmt. Vor dem Spiegel, dem Zauberspiegel, der mich attraktiver erscheinen lässt, als ich bin. Ich habe mir die ausdruckslosen Brauen mit einem kräftigen Stift gefärbt, einen dunkelroten Lippenstift benutzt und mir die Wangen gepudert, damit sie blasser wirken.

Ich habe im Garten Schwertlilien gepflückt. Habe sie in die schlankeste Vase gestellt. Er wird sich freuen, wenn er sie sieht.

Seit fast einer Stunde warte ich. Rieche an den Lilien, lächele den Spiegel an, den Zauberspiegel. Hmm. Gut siehst du aus. Ich warte. Warte die ganze Zeit, obwohl ich doch weiß, dass er unmöglich so früh kommen kann.

Was wird er sagen, wenn er kommt? Meine schöne Liebste?

Ich habe in der Haustür gestanden und die Straße hinuntergeblickt. Habe mich plötzlich daran erinnert, dass Ohrringe mir gut stehen, und bin schnell reingelaufen, zu dem Schmuckkästchen unter dem Spiegel. Dem Zauberspiegel. Hmm. Schön bist du. Aber stell den BH ein bisschen enger. Es braucht gar nicht so viel.

Ich bin vor dem Spiegel auf einen Stuhl gestiegen und habe mir den Rock ganz hochgezogen. Und ich sagte laut, ohne mir dabei lächerlich vorzukommen: Kann all das ihn glücklich machen?

Ich bin jetzt ganz glücklich. Er kann jeden Augenblick kommen. Ich will gleich mal hinausgehen und nachschauen, ob … Nein. Ich will hier sitzen und mich einfach nur freuen. Was wird er sagen? Meine geliebte Liebste?

Wie schön es ist, hier zu sitzen und auf das Wunderbare zu warten. Darauf zu warten, dass jeden Moment … Psst! die Tür geht. Jetzt schlägt er die Tür hinter sich zu.

Als er ins Wohnzimmer kam, stand sie vom Sofa auf und lief ihm entgegen.

»Liebster Mann.«

»Liebste.«

Und als ihre Lippen sich wieder voneinander lösten, sagte er:

»Wie schön, wieder nach Hause zu kommen. Ich bin völlig erledigt.«

»Hast du mich vermisst?«

»Wenn ich Zeit dazu hatte.«

»Ich habe dich ganz schrecklich vermisst.«

»Ich dich auch.«

Er machte sich von ihr los. Ging zum Radio und schaltete es an. Es gab Störungen, er sagte: Verfluchtes Mistding, und schaltete es wieder ab. Dann griff er eine Zeitung aus der Seitentasche des Radiotischs und setzte sich in den Sessel neben dem Bücherregal.

»Willst du sofort essen oder noch ein bisschen warten?«

»Lieber noch warten«, sagte er. »Ich habe im Zug gegessen.« Er blickte nicht von der Zeitung auf. Sie ging zu ihm und setzte sich auf die Armlehne. Sie legte ihm den Arm um die Schultern.

»Ich habe mich so danach gesehnt, wieder mit dir zusammen zu sein.«

»Hm?« Er schaute nicht von der Zeitung auf.

»Ich habe davon geträumt, wie schön es wird, dich wieder hierzuhaben.«

»Schön zu hören.«

»Wenn du die Zeitung weglegst, erzähle ich dir noch mehr.«

»Moment, ich lese den Artikel noch fertig.«

Sie stand auf und schaltete das Radio an, suchte einen Sender mit Musik. Musik und Rauschen wechselten einander ab.

»Kannst du keinen besseren Sender finden?«

»Es ist überall dasselbe.«

»Dann wäre es wohl besser, du machst es wieder aus.«

»Ich langweile mich aber.«

»Schön zu hören.«

»Wie?«

»Schön zu hören, dass du dich langweilst, kaum dass ich zehn Minuten wieder da bin.«

Sie antwortete nicht. Sie konnte nichts sagen. Sie schaltete das Radio aus und ging ins Schlafzimmer. Sie blieb vor dem Spiegel stehen und streckte sich selbst die Zunge heraus. Sie sah eine feuchte Träne in ihrem Augenwinkel, und da tat ihr nicht mehr nur die Enttäuschung schmerzhaft weh, sondern da war heftiges Selbstmitleid, mit ihr, die eben noch auf einem Stuhl vor dem Spiegel gestanden hatte, den Rock ganz hochgezogen.

Der Mond in Connaught Water

JEDEN ABEND UM HALB ZEHN nahm Miss Keenan den 38er-Bus von Chingford in die City. Eine Haltestelle vor Piccadilly Circus stieg sie aus. Der Fahrer half ihr mit dem Kinderwagen. Mit langsamen Schritten schob sie den Kinderwagen Richtung Charing Cross Road.

Miss Keenan schob den Kinderwagen langsam in Richtung Charing Cross Road. Sie lächelte in die Dunkelheit unter dem Verdeck. Sie blickte zu den Leuchtreklamen auf den Dächern. Guinness is good for you. Ihr Mund bewegte sich, doch ihr kam kein Laut über die Lippen. Sie lächelte die ganze Zeit, und als würde sie ein unterbrochenes Gespräch fortsetzen, sagte sie in die Dunkelheit unter dem Verdeck:

»Aber selbst wenn auch heute wieder nichts passiert, macht es nichts. Wir haben viel Zeit, oder, Bertie? Eines Tages wird es schon passieren. Wenn es passiert, ist es jedenfalls nicht zu spät, oder?«

Sie blickte zu den blassen Sternen empor. Ihre Augen waren ruhig. Der Mund lächelte. Auf ihrer Stirn saßen ein paar senkrechte Falten, doch gehörten diese Falten der Vergangenheit an.

»Wenn es heute passiert, darfst du nicht ungeduldig werden, Bertie. Vielleicht wirst du in der dunklen Einfahrt frieren. Aber du wirst tapfer sein, oder, Bertie? Wir wollen beide tapfer sein, denn mit unserer Tapferkeit tun wir Buße. Das Glück, das ich uns beschaffen werde, ist gestohlenes Gut, und wenn wir dieses Glück späterhin genießen, ist es gut zu wissen, dass wir für den Diebstahl schon gebüßt haben.«

Sie erreichte die Charing Cross Road und folgte ihr Richtung Norden. Einige Hundert Meter lang, dann bog sie nach rechts in eine Seitenstraße ab und blieb vor einer Einfahrt stehen. Blasses Licht fiel von einer Glühbirne weiter hinten auf den Zementfußboden der Einfahrt. Sie schob den Wagen vor sich her durch das offene Tor. Sie blieb stehen, klappte das Verdeck hinunter und griff mit beiden Händen in den Wagen. Einen Augenblick später hielt sie eine Schlafpuppe im Arm.

»Vielleicht passiert es heute Abend«, sagte sie. »Vielleicht bin ich lange weg. Aber wenn ich gehe, mache ich das Tor zu, dann frierst du nicht. Du wirst nicht ungeduldig, oder, Bertie? Alles braucht seine Zeit, und alles, das passieren soll, passiert auch irgendwann. Darum musst du geduldig sein, Bertie. Wenn Mutter zurückkommt, ist die Warterei vorüber. Dann bricht die Zeit des Genießens an, die Zeit des Glücks. Dann geschieht die Verwandlung. Freust du dich, Bertie?«

Sie küsste die Schlafpuppe auf die Wange, legte sie in den Kinderwagen zurück und klappte das Verdeck wieder hoch. Dann ging sie auf die Straße und schloss das Tor hinter sich. Sie ging Richtung Osten.

Es war bereits nach elf Uhr, als sie sich in der Cannon Street befand. Die letzten fünf oder zehn Minuten lang war ihr ein Mann gefolgt. Sie war langsamer gegangen, um zu prüfen, ob er sie überholen würde, aber er hatte den gleichen Abstand beibehalten.

Sie blieb unvermittelt stehen. Wartete kurz, dann drehte sie sich zu dem Mann um, der ihr nun entgegenkam. Sie lächelte.

»Verfolgen Sie mich?«

»Sie haben einen so schönen Gang, Fräulein. Ich will Ihnen nichts tun.«

»Sie können mir nichts tun.« Ihr Lächeln war so lebhaft wie das eines Kindes. »Das Schlimmste, das Sie mir tun können, ist das Beste.«

»Ich versteh nicht, was Sie meinen, Fräulein, aber ich glaub, es ist was Nettes. Wissen Sie, was ich gedacht hab, als ich hinter Ihnen her bin? Zeig mir, wie du gehst, hab ich gedacht, dann sag ich dir, wie du bist. Sie gehen wie eine Königin.«

»Würden Sie einer Königin einen Drink ausgeben?«

»Jesses, darf ich das tun, Fräulein?«

»Ich bin allein. Ich wäre sehr froh, wenn Sie mir Gesellschaft leisten würden.«

»Von mir aus können Sie sieben Drinks kriegen, Fräulein. Jesses, Sie machen mich ganz stolz. Ich hab noch nie was mit einer richtigen Dame getrunken.«

»Wo wohnen Sie?«

»Ich? Ich wohn nur in Whitechapel. Warum?«

»Ich hasse Restaurants. Dort sind so viele Menschen.«

»Whitechapel ist keine Gegend für eine Dame wie Sie.«

»Warum glauben Sie, ich wäre eine Dame?«

»Sie haben so eine schöne Haut.«

»Wollen Sie sie berühren?«

»Machen Sie sich nicht über mich lustig, Fräulein.«

»Ich mache mich nie über jemanden lustig, den ich mag.«

»Wenn ich Ihre Wange berühren dürfte, wäre ich glücklich.«

»Ich habe noch niemanden glücklich gemacht.«

»Haben Sie sicher.«

»Ich würde gerne einen Menschen glücklich machen.«

»Meinen Sie, dass …«

»Geht ein Bus nach Whitechapel?«

»Ja. Aber mein Zimmer ist nicht größer als ein Verschlag.«

»Das macht nichts.«

»Whitechapel ist keine Gegend für eine Dame wie Sie.«

»Ich mag Leute aus Whitechapel.«

»Kennen Sie wen von dort?«

»Sie sind von dort, oder?«

»Sie machen mich stolz, Fräulein. So etwas Schönes hat noch nie jemand zu mir gesagt.«

»Sollen wir?«

Sie gingen miteinander den Bürgersteig entlang. Er schaute kurz zu ihr hinüber. Ihre Augen lächelten.

Sie erreichten die nächste Haltestelle zugleich mit dem Bus. Sie gingen ins Oberdeck. Keiner von beiden sagte etwas.

»Hier steigen wir aus«, sagte er.

»Jetzt schon?«

»Es gibt ein Sprichwort: Es ist nie weit von der Anständigkeit bis nach Whitechapel.«

Sie standen auf dem Bürgersteig.

»Es ist nicht weit«, sagte er. »Sehen Sie die Laterne zweihundert Meter weiter? Da geht eine enge Gasse nach links. Da wohne ich. Eine der engsten Gassen von ganz London.«

Sie gingen dorthin. Es roch übel. Er schloss eine Tür auf, und sie gingen zwei Treppen hoch. Er schloss noch eine Tür auf.

»Hier wohne ich«, sagte er.

Es roch ungelüftet und nach Schweiß. In dem Zimmer befanden sich ein Tisch, ein Stuhl und ein Bett. An der Wand über dem Bett hingen Bilder von nackten Frauen.

»Ich hab ja gesagt, das ist kein Ort für eine Dame wie Sie«, sagte er.

»Ich würde gern den Mantel ablegen.« Sie legte ihre Handtasche auf das Bett, hängte den Mantel über die Stuhllehne und setzte sich unter den nackten Frauen auf das Bett.

»Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?«

»Darf ich?«

»Sie dürfen nie fragen, ob Sie dürfen. Ist das nicht Ihr Zimmer?«

»Ich habe Angst, etwas zu tun, das Sie vertreiben könnte.« Er setzte sich.

»Sie vertreiben mich nicht.« Sie sah ihn an. Er hatte sehr große Ohren.

»Ist es wahr, dass Sie glücklich wären, wenn Sie mich berühren dürften?«

Er errötete ein wenig.

»Darf ich das denn?«

»Sind Sie ein Mann oder nicht?«

Er rückte näher zu ihr, er hatte rote Flecken auf den Wangen. Sie legte sich rücklings auf das Bett und sagte:

»Schön ist das, nackte Frauen an der Wand über dem Bett eines Mannes. Außerdem ist es ungefährlich. Bilder können einem nichts tun.«

»Wie meinen Sie das?«

Sie antwortete nicht. Sie lächelte nicht mehr.

»Komm«, flüsterte sie. »Fass mich an.« Sein Gesicht kam näher. Er atmete sie an und ließ die Hand von der Wange zum Hals gleiten.

»Fass mich richtig an«, flüsterte sie.

Seine Hand glitt zu ihrer Brust. Er knüpfte ihr die weiße Bluse auf. Mit der anderen tastete er unter dem Rock herum. Er sah sie an, ihr Gesicht war sehr blass. Augen und Mund waren geschlossen, auf der Stirn hatte sie zwei senkrechte Falten

»Nimm mich!«, flüsterte sie.

Er suchte den Reißverschluss ihres Rocks und zog ihn ihr aus. Er schob ihren Unterrock hoch und riss ihr die Unterhose herunter. Sie spürte sein Gewicht auf sich. Wollte schreien, denn es tat ihr im Unterleib weh. Dann war es wieder gut. Sie legte die Arme um ihn und hielt ihn fest. Sie spürte, bald würde es unfassbar gut sein, und sie legte die Beine um ihn, hielt ihn fest. Sie spürte, jetzt … jetzt … o mein Gott … und er versuchte sich zu befreien, aber sie hielt ihn mit Armen und Beinen fest. Zuckungen überliefen ihn. Dann entspannte er sich, und sie löste den Griff.

»Jetzt habe ich ein Kind gestohlen«, sagte sie, und er musste wegschauen, denn so hässliche Augen hatte er noch nie gesehen.

»Ist dir jetzt übel im Unterleib, weil du gedacht hast, ich wollte nett zu dir sein, und das ein Irrtum war?«

»Hure!«

»Haha! Habe ich gut geschauspielert? Ja, das kann ich dir ansehen. Ich habe nur einen einzigen Fehler gemacht. Als du mir die Bluse aufgeknöpft hast, hätte ich sagen müssen: Sind meine Brüste nicht wie zwei Rehkälbchen, Gazellenzwillinge, die in den Lilien weiden? Aber dir ist dieser Fehler nicht aufgefallen, oder?«

»Zieh dich an, verfluchte Hure!«

»Hure? Ich? Hast du mit einer Hure geschlafen? O nein, du hast nur mit einer fremden Frau geschlafen. Hast du meinen Mund geküsst? Du hast meinen Mund nicht geküsst, oder? Hättest du es getan, ich hätte gesagt: Fremder Frauen Mund ist ein tiefes Grab. Wes der Herr zürnt, der soll dahinein fallen. Glaubst du, der Herrgott ist dir böse, obwohl du meinen Mund nicht geküsst hast? Glaubst du das?«

Sie setzte sich mit einem Ruck auf und zog sich den Unterrock über die Knie.

»Starr mich nicht an, während ich mich anziehe!«, sagte sie. Er drehte sich weg. Sie lächelte für sich.

»Ich habe ein Kind gestohlen«, sagte sie, aber nicht zu dem Rücken vor sich. »Ich habe ein Kind gestohlen.« Sie stand auf und ließ einen unbeherrschten glücklichen Schrei los. Sie hielt sich den Kopf mit den Händen, ihre Augen strahlten. Er drehte sich zu ihr um, und er sah die zusammengebissenen Zähne hinter den geöffneten Lippen. Sie löste die Hände von ihrem Kopf und kam auf ihn zu. Er trat einen Schritt zurück. Er spürte die Wand hinter sich, ihre Augen und Zähne waren nur einen halben Meter von ihm entfernt. »Weißt du, was Glück ist?«, hörte er dicht vor seinem Gesicht. »Der Augenblick, in dem die Verwandlung geschieht. Wenn Pygmalions Statue lebendig wird. Wenn Leben und Tod der Kuss eines Geliebten sind. Spürst du die Verwandlung? Ja, du spürst sie! Du hast Glück in den Augen! Dann schrei! Schrei dein Glück heraus, denn du bist gottgleich! Du bist … Weichen deine Augen mir aus? Warum … Oh, du hast mich hinters Licht geführt. Deine Augen sind die eines Hundes. Eines Schoßhundes. Der Teufel soll dich holen!«

Ihre Gesichter waren einander jetzt sehr nah. Die Wand in seinem Rücken fühlte sich feucht an. Er wollte die Hände heben, um sich zu verteidigen, aber plötzlich stand sie nicht mehr dort. Sie stand am Fenster.

»Oh, schau, der Mond. Komm her und sieh den Mond zwischen den Häusergiebeln. Wie eine goldene Sichel. So eine goldene Mondsichel hat etwas Dramatisches an sich, nicht wahr? Ob sie vielleicht bald rot wird? Komm her und sage mir, ob sie bald rot wird. Oder hast du Angst? Ich habe keine Angst mehr, denn ich habe gebüßt. Heute Abend habe ich gebüßt. Ja.«

Er hörte fast nicht, was sie sagte, so leise sprach sie. Immer noch stand er dicht an der Wand, und er wusste, Angst hinderte ihn daran, etwas zu unternehmen.

»Dort waren keine Häusergiebel, aber der Mond sah genauso aus. Ich hatte so Angst. Dort hing der Mond, da waren die Bäume und die Schatten der Bäume, und kein Laut war zu hören, als ich stehen blieb, um zu lauschen.«

Sie drehte sich zu ihm um, und die nackte Angst in ihren Augen, der wegen des einen hochgezogenen Mundwinkels schiefe Mund, die bebende Unterlippe …

»Und als ich nach Connaught Water kam, waren da zwei Monde, einer im Wasser und einer hinter den Bäumen. Du weißt nicht, dass zwei Monde den Tod bedeuten, oder? Ich schrie auf, denn der Mond und die Stille, oh!, die furchtbare Stille! Ich konnte den Koffer nicht öffnen, denn das Kind, das Kind …«

Ihre Stimme erstarb zu einem heiseren Flüstern. Sie kam auf ihn zu. Näher. Noch näher. Ihr Gesicht war verzerrt.

»Hast du schon einmal ein Kind, das nicht älter ist als einen Tag, mit blauen Malen am Hals und mit offenen, toten Augen gesehen? Hast du das?«

Er spürte ihren Atem im Gesicht. Er griff nach vorn, spürte, wie seine Hände sich um etwas Weiches schlossen, und er fühlte, dass er stark war und die Angst der Stärke wich. Sie ist schwer, sagte er innerlich, aber ich bin stark. Ich bin stark, stark, stark. Und auf einmal wusste er, was geschehen war, und aus weiter Entfernung hörte er etwas fallen, und es war gut, dass das Zimmer von Rauch erfüllt war, denn so brauchte er …

Die Mondstrahlen

DIE MONDSTRAHLEN SCHIENEN fast senkrecht durch das Fenster. Sie spielten am Boden und ein Stück an der gegenüberliegenden Wand hinauf. Sie lebten, denn vor dem Fenster standen Bäume, in deren Ästen der Wind spielte. Es war vergnüglich, im Bett zu liegen und sich vorzustellen, das Licht selbst würde sich bewegen. Ich hätte es gern Grete gesagt, aber sie schlief sicher schon. Es hatte keinen Sinn, sie wegen einer solchen Nichtigkeit zu wecken, obwohl sie es sicher auch vergnüglich gefunden hätte.

Ich versuchte einzuschlafen. Dabei dachte ich immer wieder darüber nach, ob es Anthologie hieß oder Anthalogie. Und ich kicherte bei dem Gedanken daran, dass Ottar statt krass immer grass sagt. Das wird er sich nie abgewöhnen können.

Ausgerechnet als ich fühlte, dass der Schlaf herankroch, bewegte Grete sich. Die Mondstrahlen an der Wand bildeten den Hintergrund, vor dem ich sah, wie sie die Hände vor das Gesicht schlug – sie pflegt auf dem Rücken zu schlafen –, und sie rief: »Mach das Licht an!« Ich glaubte, sie träumte, und lag ganz still. Dann warf sie mit einer jähen Bewegung den Kopf zur Seite und brach in Tränen aus. Ich sprang aus dem Bett und drehte den Schalter neben der Tür herum. Wie so oft, wenn etwas Trauriges sich ereignet, hatte ich das Gefühl, vollkommen nutzlos zu sein. Ich stand am Fußende des Betts und sah sie an. Sie war sehr blass. Sie hatte einen Zipfel des Kissenbezugs im Mund, in ihren Augen standen Tränen.

»Was ist denn, Grete?«

Sie antwortete nicht. Sie sah mich nicht einmal an. Ich konnte ihr nicht helfen.

»Was ist, Grete?«

Ich erwartete keine Antwort. Sie blickte zur Seite. Mir war kalt, also kroch ich wieder unter die Bettdecke. Ihr Gesicht war mir jetzt zugewandt, in ihren Augen war etwas Hässliches.

»Was ist?«, bettelte ich.

»Sieh mich nicht so an«, sagte sie.

Ich verstand nicht. Ich sah sie forschend an. Das Hässliche in ihren Augen war Angst. Sie starrte mich aus angsterfüllten Augen an. Ihr stand eine tiefe senkrechte Furche auf der Stirn, und sie presste die Zähne fest zusammen, den Stoff dazwischen.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte ich ratlos. Ich wusste, ich konnte ihr nicht helfen.

»Ich habe Angst«, flüsterte sie.

»Wovor denn?«

Sie drehte den Kopf weg und starrte zur Decke. So lag sie eine Weile da, als ob sie über etwas Schwieriges nachdenken würde: Plötzlich spürte ich, wie ihr Gesicht und Körper erstarrten. Mit einer raschen Bewegung führte sie die Hände vors Gesicht – abwehrend. Dann ballte sie die Fäuste und presste sie sich auf die Augen. Und wieder brach sie in Tränen aus.

Eine Art bitteres Mitleid stieg in mir auf. Was tat ihr so weh, sollte mich aber nichts angehen? Was für einen Trost brauchte sie, den ich ihr nicht geben konnte?

Ich kroch zu ihr unter ihre Bettdecke. Ihr Körper bebte unter meinen Händen.

»Erzähl mir, wovor du Angst hast«, bat ich. Aber sie bemerkte nicht, dass ich sie bat. Sie ahnte nicht, dass mich mehr noch als der Anblick der Angst in ihren Augen quälte, aus ihrer Tragödie ausgeschlossen zu sein.

»Etwas Trauriges wird passieren«, sagte sie plötzlich an meiner Wange. Ich spürte, wie ich zusammenzuckte. Ich hatte das schon einmal erlebt. Ich wusste nicht mehr, wann und wo, aber ich wusste, es war passiert. Wo? Wann?

»Nichts wird passieren«, sagte ich. Ich glaubte selber nicht daran. Vielleicht wiederholte ich den Satz darum. »Nichts wird passieren, Grete.« Ich strich ihr durch die Haare.

Da fiel es mir ein. Nicht ich hatte es erlebt, sondern sie.

… Februar 1944. Im Keller unter dem Restaurant. Der Holzstapel, leere Kisten. Der lange Tisch. Der batteriebetriebene Radioempfänger, der Sterilisator. Die gedämpften Geräusche des Restaurants. Der starke Geruch nach schlechtem Tabak. Die über den Tisch gebeugten Rücken.

Und der Fremde im Hintergrund. Er saß auf einer leeren Kiste, an den Holzstapel gelehnt. Sie spürte, dass er sie ansah. Sie wollte seinem Blick nicht mehr begegnen. Schaute dennoch hin, seine Rattenaugen waren hinter dem Rauch einer deutschen Zigarette halb geöffnet. Starr mich nur an, dachte sie. Starr mich nur an, du … du … Oberratte!

Etwas später. Sie befand sich auf dem Weg aus dem halbdunklen Keller heraus. Hörte Schritte hinter sich und spürte eine Hand auf der Schulter. Sie drehte sich um und blickte direkt in die roten Augen. Wollte schreien, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht. »Was wollen Sie von mir?«, fragte sie in Todesangst. »Nichts«, antwortete er mit schwerer, gedämpfter Stimme. »Nichts, außer Ihnen mein Mitleid auszudrücken.« »Ihr Mitleid?« »Ja. Sie wissen selbst, dass Sie so gut wie nie richtig glücklich sind. Und wenn Sie es einmal doch sind, wissen Sie, bald wird etwas geschehen, das alles kaputt macht.« Sie wollte lachen, so froh war sie. Rattentaktik!, dachte sie und sagte: »Sie können sich Ihr Mitleid sparen. Solange ich vor so welchen wie Ihnen meine Ruhe habe, bin ich so gut wie immer glücklich.« Er antwortete nicht. Sie befanden sich jetzt im Freien. »Wer sind Sie eigentlich?«, fragte sie. Er setzte ein seltsames Lächeln auf, zuckte mit den Schultern, und dann zog er den Hut: »Der, für den Sie mich halten. Gute Nacht.«

Noch einmal etwas später. Die menschenleere Straße bei Verdunkelung. Die Sterne froren im Licht des Vollmonds. Der Widerhall ihrer Schritte.

Sie gelangte zu dem Haus, wo sie wohnte. Suchte ein wenig in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel, fand ihn, schloss die Tür auf. Machte kein Licht an, denn die Rollos waren oben. Tastete sich die Treppe hinauf. Suchte nach der Badezimmertür. Sie griff den Türknauf und öffnete. Sie brauchte die Verdunkelung nicht herunterzulassen, denn der Mond …

Erst sah sie alles ganz klar. Den Körper ihres Vaters, an einem Seil hängend. Den umgestoßenen Stuhl. Dann trübte sich ihr Blick. Vater!, flüsterte sie, und sie sprang zu seinen Knien. Vater … Vater … liebster Vater … Und sie vermochte einfach nicht, seine Beine hochzuhalten. Sie wurden nach oben gezogen, nach oben, nach oben …

»Liebste«, flüsterte ich und streichelte ihre Haare. »Keine Angst. Ich bin ja bei dir.«

»Du kannst mir nicht helfen«, flüsterte sie. Und wie um es wiedergutzumachen, fügte sie hinzu: »Gut, dass du hier bist.«

»Erzähl mir, wovor du Angst hast.«

Sie lag kurz ganz still, und ich dachte: Sie will mich quälen. Dann wandte sie das Gesicht ab und sagte:

»Es war das Mondlicht. Ich habe den Schatten von Vaters Beinen an der Wand gesehen.«

»Das war der Schatten der Bäume.«

»Ich weiß doch. Auch vorhin habe ich das gewusst. Trotzdem, es waren Vaters Beine.«

»Verstehe.«

»Und dann habe ich etwas vor dem Fenster gehört.«

»Du brauchst es nicht zu erzählen.«

»Hast du Angst?«

»Natürlich nicht.«

»Glaubst du, es stimmt, dass ich nie lange am Stück werde glücklich sein können?«

»Das ist verdammter Unsinn.«

»Bist du ganz sicher, dass du das denkst?« Ihre Augen hatten Glanz bekommen. Glanz und etwas anderes, das ich noch nie gesehen hatte und das mich besorgt stimmte.

»Selbstverständlich.«

»Ich glaube aber, es stimmt. Ich glaube, eines Tages passiert etwas, das alles kaputt macht.«

»Was sollte das sein?«

»Ich weiß nicht. Irgendetwas. Etwas, das alles kaputt macht.«

»Lass uns morgen darüber reden. Du bist zu aufgeregt, um klar zu denken. Morgen sieht das alles anders aus.«

Sie lächelte. Ich bildete mir ein, es sei ein triumphierendes Lächeln. Sie zog mich an sich.

»Gute Nacht, Sten«, sagte sie.

»Gute Nacht, Grete.«

Ich hatte Schwierigkeiten einzuschlafen. Ich spürte, bald würde etwas geschehen.

Das Zimmer der Geistesschwachen

EIGENARTIG, DACHTE ER, dass Gin eine solche Wirkung haben kann. Er erinnerte sich an die Flasche auf dem Boden neben dem Korbstuhl. Sie stand so, dass er sie mit der Linken erreichen konnte. Er hatte sein Glas etliche Male gefüllt. Und er hatte sich gefreut, als er bemerkte, dass er die Details auf dem Erling-Enger-Druck nicht mehr richtig erkennen konnte. Einen Moment lang hatte er Lust auf Gesellschaft gehabt, aber dann war er auf den Gedanken gekommen …

Er war über die Brücke gegangen und den steilen Hang hinauf, der nach Y. führte. Er ärgerte sich, dass er einen Augenblick ausruhen musste. Er schaute auf die nackten Bäume am Fjord unten. Die Natur ist schon etwas verdammt Seltsames, dachte er. Unschuldig, wenn man es nicht zu feierlich meint.

So stand er noch ein wenig, bevor er weiterging. Der Weg schlängelte sich bergab. Auf beiden Seiten Felsen und Wald. Er wunderte sich, wie still es war. Er sah keinen einzigen Vogel, nichts war zu hören als seine Schritte. Seine Schuhspitzen wurden staubig, aber nur ein wenig, denn es hatte am Vortage geregnet. Ich stimme der Behauptung der Christen, der Mensch sei Staub, nicht zu, sagte er zu sich selbst, denn der Staub hat kein Recht, dagegen zu protestieren, dass er mit Füßen getreten wird. Das klingt ja idiotisch. Er musste es irgendwo gelesen haben.

Als er weiter in Richtung Y. hinunterkam, sah er das Wasser wieder. Ihm fiel etwas ein, das sie einmal gesagt hatte, sie saßen jeder auf seiner Seite des Tischs. Das Radio lief. Eine Band spielte Wilhelmina. Sie führte Selbstgespräche. Plötzlich sagte sie: »Im Radio sagen sie, es liegen Leute …« »Wo liegen Leute? Wie bitte, Sofie? Wo liegen Leute?« »In Kvå im Meer.«

In Wirklichkeit habe ich mir eine irrsinnige Arbeit aufgehalst, dachte er. Irrenwärter. Irrenwärter Eide. Irrenwärter und Alkoholiker Eide. Dummes Gewäsch. Nur weil er zu Hause im Bücherschrank eine halbe Flasche Gin stehen hatte? Allein schon, dass er die Flasche gestern nicht geleert hatte, war ja ein Zeichen dafür, dass er … nun gut, der Wahrheit die Ehre: Er war in dem Korbsessel eingeschlafen. Aber dass er sie heute Morgen, bevor er zur Arbeit ging, nicht ausgetrunken hatte, war ein brauchbares Argument. Alkoholiker? Er? Er lächelte. Es ist gar nicht so leicht, irgendetwas zu werden, dachte er. Eigentlich ist es verdammt schwierig, etwas zu werden, das als Bezeichnung zutrifft.

Das Meer war nicht blau. Keine Sonne fiel darauf. Es lag zu seiner rechten Seite. Der Weg war jetzt schmaler und voller großer Löcher. Links von ihm befand sich der Acker mit dem baufälligen Schuppen. Er hatte irgendwie das Gleichgewicht verloren. War mit der einen Schulter etwas eingesunken und sah müde aus.

Er war wieder aus der Puste und verlangsamte seinen Schritt ein wenig. Ärgerlich, dass er so schlecht in Form war. Wie schlecht tatsächlich, das war ihm erst klar geworden, als er gezwungen war, Sofie hart anzufassen. Sie hatte ihn plötzlich angefallen. Stand erst kurz da und blickte ihn hasserfüllt an. So war er vorbereitet, und als sie zuschlug, wehrte er den Schlag ab. Unvermittelt drehte sie sich um und lief zu der einzigen unverschlossenen Tür. Er holte sie ein, bevor sie die Tür öffnen konnte, und drehte ihr den Arm auf den Rücken. Mit der freien Hand griff sie ihm ins Haar. Er musste den anderen Arm fester verdrehen, damit sie losließ. Danach schleifte er sie geradezu zum Sofa.

Jetzt sah er das Haus. Er musste nach links abbiegen und einem zweihundert Meter langen Fahrweg folgen, um es zu erreichen. Es war ein altes Haus. Der weiße Anstrich war stellenweise abgeplatzt, aus einigem Abstand wirkte es aber immer noch weiß. Es lag an einem Hang, der Wald kroch fast zur Tür des Windfangs herein. Vor dem Haus standen einzelne Obstbäume. Sie schienen zu frieren. Die Wildtriebe waren nicht ausgelichtet, was sich gut machte. Zwei Pappeln standen vor dem Haupteingang, doch gehörten sie hier nicht hin. Links, mitten in einer Pfütze von weggeschüttetem Wasser, wuchs der alte, große Hausbaum.

Gepriesen sei die Fäulnis, dachte er. Gepriesen sei die Fäulnis, denn ohne dass das Weizenkorn (oder war es ein Senfsamen?) in die Erde fällt und stirbt …

Ohne anzuklopfen, öffnete er die Tür zum Windfang. Als er sie hinter sich schloss, wurde es dunkel. Alles wie gehabt, dachte er. Urin und frisch geseihte Milch. Vor allem Urin. Er rümpfte die Nase. In einem Windfang riecht es immer eigenartig, übel. An manchen Orten nur nach verschmutztem Arbeitszeug, und das ist das Beste.

Er dachte an das Hotel Baur in Hamburg. Esther wollte ein paar kleinere Einkäufe machen. Er selbst fühlte sich nach der rastlosen nächtlichen Jagd von Restaurant zu Restaurant noch etwas aufgelöst. »Bleib nicht zu lange weg«, hatte er gesagt. »Komm zurück, solange der Duft von deinem Parfüm noch im Zimmer hängt.« Sie war über drei Stunden weggeblieben, er hatte die ganze Zeit über die Wirkung der Ursache verflucht. Er hatte ein wenig gefroren und nach dem Witz daran gesucht, dass unter einem Porträt von Kaiser Wilhelm ein Zitat von Goethe angebracht war:

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,

wer nie die kummervollen Nächte

auf seinem Bette …

Irgendwann war Esther wiedergekommen, und als er sie an seine Bitte mit dem Duft erinnerte, hatte sie ihm aus lauter weiblichem Übermut die Parfümflasche über dem Kopf entleert. Er bekam etwas ins Auge, es tat verflucht weh, bis sie ein feuchtes Handtuch brachte, und als sie danach …

Er klopfte an die Küchentür, und da niemand antwortete, machte er sie auf. Zugleich wurde gegenüber eine Tür geöffnet. Sein Kollege.

»Ist sie ruhig?«

»Im Moment ja. Sie schläft.«

»Und sonst?«

»Wie üblich.«

»Sind ihre Schwestern drinnen?«

»Nein.«

Mehr war nicht zu sagen. Er nickte, und als der Kollege die Haustür öffnete, um zu gehen, lächelte er beinahe freundlich.

Er hängte seinen Mantel über eine Stuhllehne (dieser Mantel bekommt selten einen Kleiderhaken zu sehen, dachte er) und ging ins Zimmer. Er spürte einen starken Drang, wieder hinauszugehen. An diesen Gestank konnte er sich einfach nicht gewöhnen. Er erinnerte an einen Holzschuppen, in dem Katzen ihr Unwesen trieben, und stimmte ihn sehr schlecht gelaunt.

Das kleine Zimmer war in schlechter Verfassung. Der Boden war schief. Man spürte es deutlich, wenn man hin und her ging. Teilweise war er von Linoleum bedeckt, es war mit grünen Kreuzen gemustert. Nur teilweise, denn an den Rändern war das Linoleum zerbröselt.

An den Wänden einfarbige Tapete. Beinah einfarbig. In den Ecken war sie rissig, und um die Schäden zu kaschieren, war sie mit roten und blauen Stoffstücken beklebt. Nach bestem Vermögen war sie mit unzähligen Familienfotos bedeckt. Zwischen den Fotos war eine unappetitliche Mischung von Bleistiftstrichen und Fettflecken zu erkennen.

Ein – verhältnismäßig neuer – Tisch und zwei Stühle. Der eine besser als der andere, beide aber in schlechtem Zustand. In der einen Ecke ein Kachelofen. Die Seitenverkleidung war gesprungen, ansonsten wirkte er noch absolut brauchbar. In der Ecke gegenüber stand das Sofa, darauf lag Sofie unter einer hellblauen Decke. Sie schien zu schlafen.

Als er sich auf den besseren der beiden Stühle setzte, bemerkte er, dass man den Radioapparat entfernt hatte. Das ließ seine Laune noch schlechter werden. Er blickte zum Sofa und fand die hellblaue Decke hässlich.

Sie tut mir nicht leid, dachte er. Es tut mir nicht weh, dass sie so ist. Uns Lebenden tut es weh. Uns, die wir ein Bewusstsein von der Zukunft haben. Sie hat nur eine krankhafte Vorstellung von der Vergangenheit. Die Vergangenheit tötet nie. Gut, in der Regel ist sie fürchterlich, aber sie tötet nicht.

Wenn ich nun … (Nein, darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Aber vielleicht konnte er es als Sprungbrett verwenden.) Wenn ich nun keine Flasche Gin zu Hause im Bücherschrank hätte. (Nein, das ließ sich nicht als Sprungbrett verwenden.)

Er hatte wahnsinnig Durst. Einen gottvollen Durst, das Wort fiel ihm ein. Kurz amüsierte er sich darüber. Aber nur kurz, denn darum ging es ja nicht. Ich habe Durst, dachte er. Ich hätte die Flasche mitbringen sollen. Weiß Gott, man braucht manchmal wirklich eine Stärkung, wenn man Auge in Auge mit dem Wahnsinn lebt. Das ist natürlich. Das gilt nicht nur für mich. Dass ich mich gestern besoffen habe, war nichts als eine natürliche Reaktion. Und an den anderen Abenden hatte ich frei.

Er drehte sich eine Zigarette.

Meine Hände zittern ein wenig, dachte er. Aber auf dem Weg hierher habe ich nicht gezittert. Erst wenn ich hier bin, dann zittere ich. Erst wenn ich hier in diesem verdammten Zimmer bin, zusammen mit dieser …

Er warf einen raschen Blick zum Sofa. Dann zündete er die Zigarette an.

Ich mag das Blau dieser Decke nicht, dachte er. Ihm fiel der Wandteppich in ihrem Zimmer im Hotel Baur ein. Der war von derselben Farbe. »Er erinnert an die Himmel von van Gogh«, hatte Esther gesagt. Sie pflegte sich bisweilen etwas eigenartig auszudrücken. Ihm hatte der Wandteppich gefallen. Aber hier passte die Farbe irgendwie nicht ins Bild. Recht gesehen, war van Gogh ja auch verrückt gewesen. Aber das hier war etwas anderes. Hier in diesem verfluchten Zimmer war keine Vernunft mehr mit im Spiel.

Es war ihm gut gegangen gestern Abend. Das Beste war wohl, dass er allein gewesen war. Zwar hatte er kurz Lust auf Gesellschaft gehabt, aber dann stellte er fest, dass er wohl nicht genügend Gin im Hause hatte, und so … dann hatte er an Gerda gedacht; sie war lieb und süß. Außerdem war sie auf eine Weise neu – sie erinnerte ihn nicht an besonders vieles. Aber es war leider nichts daraus geworden, jetzt war er froh darum.

Draußen regnete es. Er nahm es ohne besonderes Interesse zur Kenntnis. Es bedeutete nichts. Vielleicht für andere, für ihn nicht.

Einmal, als Sofie sich bekleckert hatte, sagte er: »Sofie, jetzt hast du dir Milch auf den Rock gegossen.« »Nein«, antwortete sie, »ich habe keine Milch vergossen, ich war auf dem Dachboden.« Kurz darauf hatte sie in den Milchkrug gespuckt.

Er hörte das Sofa leise knarren. Er blickte auf, sie starrte ihn an. Ihr typisches mattes Lächeln hing um die Mundwinkel. Diese Augen und dieses Lächeln! Auf einmal war ihm klar, dass er sie hasste. Nicht nur die Augen und das Lächeln. Er hasste die geistesschwache Sofie. Das zottige Haar, das ihr wie lange tote Finger über die Schultern hing. Die üppige Mundpartie. Die gedrungenen Finger, Dreck unter den zu kurzen Nägeln. Ihre Beine, diese Stampfer.

Kann man eine Geistesschwache hassen?, fragte er sich. Die Erkenntnis war zu plötzlich über ihn gekommen. Er schämte sich nicht direkt, war aber verwirrt. Kann man eine Geistesschwache hassen?

Er strich sich mit den Fingern durchs Haar, dabei fiel ihm ein, dass er es nicht mehr gewaschen hatte, seit sie sich vor drei Tagen darin festgekrallt hatte. Er fühlte sich schmutzig.

Jetzt hatte sie sich zu einer sitzenden Stellung aufgerichtet. Sie führte Selbstgespräche. Flüsterte. Worte jenseits aller Vernunft. Unzusammenhängende Worte und Sätze. Es klang, als wiederholte sie etwas, das ihr aus den Winkeln und Brachen ihres kranken Geistes zuflog.

Plötzlich schlug sie mit der linken Faust hart an die Wand. »Das ist es!«, rief sie. »Das ist es!« »Was denn, Sofie?« Sie antwortete nicht. Blickte ihn nur verwundert an. »Was denn, Sofie?« »Das ist es, was einen krank macht.« »Was macht einen krank, Sofie? Erzähl es mir, Sofie. Was macht einen krank?« »Krieg und Pest, Hurerei und Verrat, Bosheit und Kinder, die einen auslachen, wenn man klein ist, Bruder und Schwester, die einen verraten.« Es kam ein wenig staccato, aber klar und deutlich. Sie holte dabei kein einziges Mal Luft. Danach legte sie sich zurück auf das Sofa und lachte. Ohne zu lächeln. Lachte nur mit weit geöffnetem Mund. Das Lachen klang leer, füllte das Zimmer aber vollständig aus. (Um Gottes willen, dachte er, um Gottes willen, hör auf.) »Bist du jetzt zufrieden?«, fragte er. Sie antwortete nicht, hörte aber auf zu lachen.

Sie riss die blaue Decke von sich herunter und stand auf. Sie war voll bekleidet. Langsam ging sie im Zimmer auf und ab, mit etwas steifen Bewegungen. Dennoch wirkte es geradezu so, als ob sie dahinglitte. Sie bewegte sich seitwärts und zeichnete dabei mit den Armen eine Art waagerechter Kreise in die Luft. Ihre Augen bewegten sich in ihrem Kopf wie zwei flache Kugeln. Sie suchten nach nichts, es wirkte vielmehr, als verfolgten sie etwas, das sich in ständiger Bewegung befand.

Auf einmal sah sie ihn an. Ihre Arme bewegten sich nicht mehr. »Sag ›Sofie‹«, sagte sie. »Sofie«, sagte er. (Ich halte das nicht aus, fuhr ihm durch den Kopf. Ihre Stimme bringt mich um.) »Ja?«, sagte sie. »Geht es dir gut?« (Wenn ich es nur über mich brächte, sie zu schlagen. Dann wäre der Wahnsinn komplett.) »Ja.« Sie lächelte mit Mund und Augen. Selbst wenn sie ein so einfaches Wort wie »ja« sagte, schien sie danach zu suchen.

Sie glitt vor ihm auf die Knie. Legte ihm das Kinn auf das rechte Knie und blickte zu ihm empor. (Du kriegst Geld dafür, dass du nett zu ihr bist, sagte er sich. Geld, mit dem du Gin kaufen kannst.) Ihre Augen waren jetzt ruhig. Matt, aber starrend. Er mied ihren Blick. (Versuch, es gelassen zu nehmen. Sei ein Mann. Sie weiß nicht, was sie tut. Sie weiß nicht, dass sie nach Urin und fettigem Haar riecht.)

Einmal hatte Esther in genau derselben Stellung vor ihm gekauert. Das war lange her. Bevor sie beschlossen hatten, die Ferien miteinander zu verbringen. Sie hatte vor ihm auf dem Boden gesessen, die Arme über seinen Knien verschränkt, hatte zu ihm hinaufgeblickt und gesagt: »Darf ich etwas Dummes sagen?« »Ja.« »Ich liebe dich.« »Das ist dumm?« »Ja.«

Er sah sie an. Ihre Augen waren ruhig, wirkten aber immer noch wie flache Kugeln. Ihre Stirn war ungewöhnlich hoch, und sie war faltenlos. Eine hohe Stirn ohne Falten, das sah nicht gut aus.

Wie umfassend der Hass sein konnte. An den ersten Tagen hatte sie ihm sehr leidgetan. Er hatte sie gefragt, ob sie gerne lese. »Nein«, hatte sie geantwortet, aber als er kurz darauf ein Buch aufschlug, um selber ein wenig zu lesen, kam sie sofort an und sagte, sie wolle es ausleihen. Dann baute sie sich neben der Tür auf und las mit einer eigentümlich schleppenden Stimme fünf oder sechs Zeilen vor. Monoton. Wo im Text Kommas oder Punkte vorkamen, las sie laut »Komma« oder »Punkt«. Das hatte eine faszinierende Wirkung, und ihm war das Telegramm eingefallen, das er ungefähr einen Monat nach der Urlaubsreise erhalten hatte:

es muss schluss sein mit allem stop ich habe mich geirrt stop danke für alles stop esther

Auf einmal hatte Sofie das Buch wieder zugeschlagen und mit derselben schleppenden Stimme gesagt: »Hier sitzen wir so gemütlich beieinander, und jeder von uns beiden hasst den anderen.«

Jetzt saß sie immer noch vor ihm und starrte zu ihm empor. In den Augenwinkeln hatte sie alten Schlaf.

Er hörte die Tür des Windfangs leise quietschen. »Leg dich aufs Sofa, Sofie«, flüsterte er. »Nein, ich sitze hier sehr gut.« »Leg dich hin.« »Sitzt du nicht gern bei mir?« »Nein.« Sie blickte ihn betrübt an. Ihre Augen waren nicht mehr ruhig. »Nein!«, flüsterte er erneut, und sein Flüstern füllte das gesamte Zimmer. »Ich hasse dich!« Unvermittelt stand er auf, ihr Kopf glitt schwer von seinem Knie hinab. Er ging zur Küchentür, stieß sie auf und ging hinaus. Eine der Schwestern trank gerade ein Glas Wasser.

»Kommen Sie kurz alleine mit ihr klar?«, fragte er.

»Ja …«

»Mir ist es etwas unwohl. Ich schicke jemand anderen. Ich …« Er musste sich sehr zusammenreißen. »Sie haben natürlich keinen Schnaps im Haus?«

»Nein, leider.«

»Natürlich nicht. Entschuldigung. Ich brauchte nur eine Stärkung … Aber es geht schon besser.« (Idiot, dachte er, als er ihr erschrockenes Gesicht sah. Sie sieht aus wie das Spiegelbild eines normalen Menschen in einem Löffel.)

Er griff seinen Mantel.

»Ich bedaure«, sagte er beherrscht, als er die Tür zum Windfang öffnete. »Ich schicke jemand anderen.«

Die weißen Kreuze

IN EINEM GROSSEN WALD liegt ein altes, ungepflegtes Haus. Efeu wächst an seinen Wänden, die Zweige alter, verwachsener Obstbäume fingern an den Fensterscheiben herum. Keine Straße führt zu dem Haus. Der Pfad oder Weg, der einst vielleicht durch den Wald ging, ist seit Langem überwuchert. Wenn man diese Gegend bereist (wohin der verrückt gewordene Maler sich einst zurückgezogen hatte, um zu Gott zu beten), so kann man sich dem Haus bis auf zwanzig oder dreißig Meter nähern, ohne es zu sehen. Wenn man es dann aber erblickt, zuckt man zusammen, denn sämtliche Fensterscheiben sind mit weißen Kreuzen bemalt.

Eines Winternachmittags ging ein Mann durch den Schnee auf das Haus zu. Er trug einen Rucksack, ab und an musste er stehen bleiben und sich ausruhen. Es hatte drei Tage lang am Stück geregnet, die Bäume waren schwarz.

Er erreichte das Haus in dem Moment, als die Dämmerung es mit der Umgebung verschmelzen ließ. Er schloss die Tür auf. Er musste sie mit der Schulter aufdrücken, die Scharniere kreischten. Drinnen war es dunkel, der Mann holte ein Päckchen Kerzen aus dem Rucksack. Er ging in die Stube, in der sich nur ein Tisch, zwei Stühle und eine kastenförmige Kommode befanden. Er entzündete eine Kerze, und plötzlich wurde es draußen vor den Fenstern fast ganz dunkel.

Die weißen Kreuze hätte er sich sparen können, dachte er und sah sich nach Kleiderhaken um. Dann zuckte er mit der Schulter. Komischer alter Vogel, dachte er. Dachte der wirklich, er könnte sich so das Teufelstreiben vom Hals halten? Auf jedem Fenster sechs weiße Kreuze?

Er ging in den Windfang, wo Feuerholz gestapelt war, nahm einen Arm voll und trug es in die Stube. Als er sicher war, dass das Feuer gut brannte, packte er den Rucksack aus. Erst den Schlafsack. Dann ein Brot, etwas Butter und ein Stück Käse. Schließlich ein paar Strümpfe, einen Pullover und einen Regenumhang. Den Schlafsack und die Kleidung legte er auf die Kommode. Dann setzte er sich.

»Jetzt etwas essen, das tut gut«, sagte er. Er nahm ein Taschenmesser, wischte das Blatt mit einem Stückchen Butterpapier sauber und schnitt sich eine Scheibe Brot ab. Plötzlich hielt er inne und lauschte. War das ein Schrei? Nein, dachte er. Natürlich nicht. Und er schnitt weiter.

»Alte Häuser arbeiten immer«, sagte er. »Weil die Ecksteine absinken.« Er strich Butter auf das Brot und schnitt ein Stück Käse ab. Er nahm einen Bissen und reckte den Rücken ein wenig, sein Blick untersuchte das Fenster vor ihm, an dem die Kreuze vor dem nachtschwarzen Hintergrund leuchteten.

»Etwas, wovor ich mich nicht fürchten sollte«, sagte er mit vollem Mund, »ist die Angst. Die wurde mir bislang erspart, also möchte man annehmen, dass ich nicht dafür empfänglich bin. Sogar als ich … nein, jetzt besser nicht daran denken … obwohl, warum nicht, denn … sogar, als mir klar wurde, dass ich … all right, all right, denken wir nicht mehr daran.«

Er schnitt sich noch eine Scheibe Brot ab. Die Kerze flackerte. Da hörte er den Schrei erneut. Es lief ihm kalt den Rücken hinab. Er musste hinter sich schauen, doch dort war nichts als halb erleuchtete Ecken und an der Decke und der Wand sein eigener Schatten. Er stand auf. Er schob den Tisch ein Stück weiter und setzte sich wieder, den Rücken den Fenstern und den Kreuzen zugewandt. Er butterte die zweite Scheibe Brot und belegte sie mit Käse.

»Wenn man nur Zeit hat, sich ein wenig zu bedenken«, sagte er, »dann hat man im Grunde niemals Angst. Schreiende Fantasiegebilde können …« Weiter kam er nicht. Zum dritten Mal hörte er es, und plötzlich wusste er, wer da schrie und was sie schrie und dass sie weiterschreien würde, und all das, an das er nicht mehr hatte denken wollen, stand klar und deutlich vor ihm. Er schob den Stuhl zurück und stand auf.

»Vielleicht hatte ich doch Angst«, sagte er. »Wohl schon. Als ich sah, was ich getan hatte, bekam ich Angst. Ich wich etwas zurück, und erst draußen auf der Straße bemerkte ich, dass ich Blut an der Hand hatte. Und ich dachte: Habe ich das wirklich getan?, denn ich wusste nicht, dass ich imstande war, so etwas anderen als Soldaten anzutun. Ich dachte: Ich bin dazu imstande, und da bekam ich Angst. Seitdem hatte ich oft Angst, denn ich dachte: Wozu andere imstande wären, es aber nicht tun, das habe ich getan.«