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Mit Illustrationen von Max Meinzold

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© 2019 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Illustrationen: Max Meinzold

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie,

unter Verwendung einer Illustration von Max Meinzold

aw · Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-23370-9
V001

www.cbj-verlag.de

INHALT

Kapitel 1 – Ein Stein spricht

Kapitel 2 – Sturmfreie Bude

Kapitel 3 – Blutige Steaks & fliegender Teig

Kapitel 4 – Geplatzte Mumien

Kapitel 5 – Eine unruhige Nacht

Kapitel 6 – Im Brunnenhaus

Kapitel 7 – Flodderpocks ahoi!

Kapitel 8 – Von Bronfern und Montilopen

Kapitel 9 – Das Phantom

Kapitel 10 – Walschnodder & Warzenpilze

Kapitel 11 – Jarveralarm

Kapitel 12 – Barker Bates

Kapitel 13 – Sherman-Spezial

Kapitel 14 – Die Monstermall

Kapitel 15 – Das Omen

Kapitel 16 – Honeys Farm

Kapitel 17 – Kümmel & Königinnen

Kapitel 18 – Holymolys

Kapitel 19 – Mondsüchtig

Kapitel 20 – Die Falle

Kapitel 21 – Die Mission

Kapitel 22 – In der Unterwelt

Kapitel 23 – Die schwarze Grotte

Kapitel 24 – Der Gefangene

Kapitel 25 – Das Versprechen

Kapitel 26 – Solimans Geheimnis

Kapitel 27 – Ein fetter Fund

Kapitel 28 – Eine dicke Überraschung

KAPITEL 1

Ein Stein spricht

VON MÄCHTIGEN EICHEN UND RIESENFARNEN umgeben, verbarg sich tief im Wald eine verwunschene Lichtung. Dort stand ein ziemlich kleiner, blasser Junge und redete mit einem ziemlich großen, alten Stein.

»Ach, komm schon, krieg dich wieder ein. Hast du dich etwa noch nie versprochen?«

Der Felsbrocken antwortete nicht.

Die Leute von Oaksend nannten ihn Druidenstein. Er ragte fast mannshoch aus der Erde empor und soll einst magische Kräfte gehabt haben. Doch das war lange her. Inzwischen war der Stein geborsten und mit Moos bewachsen, das flauschige Tupfen bildete.

»Es ist mir doch nur so rausgerutscht. Du hast natürlich keine Tupfen, sondern … Flecken!«

Der Felsbrocken schwieg beharrlich.

»Dann sag ich eben auch nichts mehr«, maulte der Junge, klaubte eine Eichel auf und pfefferte sie frustriert ins Unterholz.

Eine Windbö fuhr durch den Wald und ließ die Blätter rauschen. Die Gestalt, die sich zwischen den Riesenfarnen verbarg, presste sich flach zu Boden. Dort, wo die Eichel sie getroffen hatte, zuckte ein Muskel. Die schlitzartig verengten Augen schielten durch die Farnwedel hindurch auf die Lichtung. Da war er ja, der Junge. Wie klein und blass er doch war … und wie einsam er sein musste, wenn er mit einem Felsbrocken sprach. Der Gestalt kam ein Verdacht. Hatte der Junge sich in seiner Einsamkeit einen »unsichtbaren Freund« zugelegt? Abermals zuckte ein Muskel. Die Versuchung wurde fast übermächtig. Aber es war zu riskant. Hinter der dunklen Stirn arbeitete es. Das marode Brunnenhaus kam ihr in den Sinn. Aus dem tiefen Schacht würde kein Pieps nach außen dringen. Ja. Genau so würde es geschehen. Ein Plan, so simpel wie grausam – und süß wie die Rache …

Nun wusste die Gestalt, was sie zu tun hatte. Lautlos wie ein Schatten glitt sie auf allen vieren rückwärts durch das Dickicht und verschwand in der Tiefe des Waldes. Ein Schwarm Fledermäuse stob aus den Wipfeln empor und bildete eine ungewöhnliche Formation. Für die Dauer eines Wimpernschlages erschien die Silhouette eines springenden Tieres am Himmel. Dann war es auch schon wieder vorbei. Die Formation löste sich auf und der Schwarm flog davon. Niemand hatte die seltsame Erscheinung bemerkt.

Auch Robin nicht, der auf der Lichtung einen neuen Versuch startete.

»Es tut mir ja leid. Aber mehr als entschuldigen kann ich mich nicht.«

Endlich zeigte der Felsbrocken eine Reaktion: »Du könntest die Hymne singen.«

Robin stöhnte. Ausgerechnet die Hymne. Schlimmer als Scrabble. Sogar schlimmer als Graupensuppe. Doch was blieb ihm übrig? Die Zeit drängte. Er räusperte sich und begann mit wackeliger Stimme zu singen:

O Ratzenfurz und Läusenissen,

wer ist so flink und so gerissen?

Kein Mensch, kein Tier, das sag ich dir.

Schlauer als der schlauste Marder,

stärker als der stärkste Parder

und leise wie ’ne Fledermaus

boxt es dich aus Unheil raus.

O Stachlerdung und Stinkesaft,

was morpht und blufft, bis es kracht?

Kein Mensch, kein Tier, das sag ich dir.

Wer kann auch schon durch Wände seh’n,

wo Mäusespeck und Kekse steh’n?

Für Feinde bleibt es unsichtbar,

doch Freunden zeigt’s sich wunderbar.

Robin wandte sich zum Druidenstein. Tat sich schon etwas?

»Weiter!«, mahnte der Felsbrocken.

Robin rief sich die nächsten Strophen in Erinnerung. Das war bestimmt die längste Entschuldigung der Welt, dachte er grimmig, holte Luft und sang weiter:

O Wanzengift und Spinnenbein,

es ist verrückt, was kann das sein?

Kein Mensch, kein Tier, das sag ich dir.

Sieben Zeichen sind der Weg,

mit RENMOST hast du einen Steg.

Nur Mut, spiel mit dem ABC,

dann findest du im Nu den Dreh.

In MRS ETON steckt es drin

und auch im alten MR STONE.

In NEMO STR. wohnt es nicht,

in unsrer Mitte aber schon.

Mit MENTORS bist du fast schon da.

Noch einmal rum und hin und her!

Jetzt weißt du’s! War doch gar nicht schwer.

Robin stand auf und stemmte die Hände in die Hüften.

»Und, bist du jetzt zufrieden?«

»Du hast die letzte Strophe vergessen.«

Robin verdrehte die Augen. Heute blieb ihm aber auch nichts erspart. Er besann sich auf die letzte Strophe und sang zu Ende:

HURRA, jetzt ist die Lösung da!

Sie leuchtet hell und sonnenklar.

Kein Mensch, kein Tier, das weiß ich jetzt.

Das coolste Wesen auf der Welt

und unser allergrößter Held,

das kann doch nur ein MONSTER sein.

Ach, könnte ich doch auch eins sein!

Plötzlich raschelte es, und im hohen Gras bildete sich eine schmale Schneise, die vom Druidenstein her geradewegs auf Robin zulief. Eine Sekunde später erschien wie aus dem Nichts ein blaugraues, pelziges Monster. Es war nicht besonders groß, etwa einen halben Kopf größer als Robin, aber doppelt so breit.

»Tupfen!«, grummelte es. Doch Robin sah, dass sein bester Freund Melvin lange nicht so sauer war, wie er tat. Robins Darbietung der Monsterhymne hatte ihn insgeheim verzückt – so schaurig schräg sie auch geklungen hatte.

Robins Blick glitt verstohlen über Melvins Fell. Es war blaugrau, sehr lang und sehr dicht. Und es hatte eindeutig Tupfen. Er knuffte Melvin spielerisch in die Seite. »Tarnflecken! Du hast supercoole Tarnflecken, wie sie nur bei stolzen Raubkatzen vorkommen. Guck mal, der da sieht sogar richtig streifig aus.«

Melvins Augen leuchteten auf. »Echt? Wo?« Er verrenkte sich den Hals beim Versuch, einen Blick auf den eigenen Rücken zu erhaschen, der mit unregelmäßigen Tupfen gesprenkelt war.

Robin wies vage auf eine Stelle zwischen den Schulterblättern. Dort war ein Tupfen, der nicht ganz so rund war wie die anderen. Mit viel gutem Willen konnte er als länglicher Klecks durchgehen. »Da! Das wird bestimmt ein dicker, fescher Streifen … Aber können wir jetzt endlich gehen? Rufus wird toben, wenn wir nicht rechtzeitig nach Hause kommen.«

»Oh. Ja, klar.« Melvin gab seine Verrenkungen auf und eilte Robin nach.

Von der Lichtung ging ein Hohlweg ab, der so schmal war, dass sie hintereinander hergehen mussten. Robin, der voranging, lächelte in sich hinein. Melvin hasste seine Tupfen und konnte es kaum erwarten, dass sie sich endlich in Streifen verwandelten. Es war ihm peinlich, dass er immer noch sein Kinderfell hatte. Robin war das schnurz. Seinetwegen hätte Melvin rot-weiß kariert durch die Gegend laufen können – was tatsächlich schon vorgekommen war. Melvin konnte nämlich bluffen. Wie ein Oktopus konnte er beliebig seine Farbe wechseln. Robin hatte Melvin schon mit Schachbrettmuster gesehen, bunt gestreift wie ein Regenbogen oder mit Veilchen auf giftgrünem Grund. Doch das Allergrößte war, dass Melvins Fell sich sogar jedem beliebigen Hintergrund anpassen konnte. Dann war er so gut wie unsichtbar.

Erst gestern hatte Robin ein Buch aus dem Regal ziehen wollen und war zurückgezuckt, als seine Finger unversehens gegen etwas Weiches stießen. Ein unterdrücktes Kichern war zu hören gewesen, und Robin begriff, dass sich Melvin in geblufftem Zustand vor das Regal geschlichen hatte, um ihn zu foppen.

Aber Melvin konnte noch mehr. Sein Fell war nicht nur lang und dicht, sondern mit seinen vielen Taschen auch unheimlich praktisch. Außerdem konnte er schnurren, mit seiner Spucke Wunden heilen, im Dunkeln sehen und mit seinen Hörnern Dinge orten, die für das bloße Auge nicht sichtbar waren. So hatte er zum Beispiel einen Geheimgang in Robins begehbarem Kleiderschrank entdeckt und auf dem Dachboden eine verborgene Kammer aufgespürt.

Nur fliegen konnte Melvin nicht. Dafür hatte er ein Hatchpatch. Das war ein kreisrundes Stück Stoff, das Melvin bloß an die Wand werfen musste, und schon öffnete sich wie durch Zauberhand eine Art Expresstunnel, durch den man von einem Ort zum anderen gelangen konnte.

Für Monster, ganz besonders für Schutzmonster, wie Melvin eins war, waren all diese Dinge – besonders das Bluffen – jedoch mehr als coole Spielereien. Seit die Monster vor langer Zeit einmal fast ausgerottet worden waren, waren sie extrem vorsichtig und hielten ihre Existenz vor den Menschen geheim. Es geschah nur ganz selten, dass sie sich jemandem zeigten.

Bei Robin fühlte sich Melvin sicher und zeigte sich oft und gern. Natürlich nur, wenn sie allein waren. Robin war stolz, dass Melvin ihm vertraute. Manchmal konnte das aber auch ganz schön anstrengend sein. Denn Melvin, der die Menschenwelt bis vor Kurzem nur aus Büchern kannte, fand die Wirklichkeit viel aufregender und ließ sich leicht ablenken.

Besonders kritisch wurde es, wenn er Gesang oder Musik vernahm. Dann konnte es sogar passieren, dass er alles um sich herum vergaß – sogar zu bluffen. So wäre er einmal um ein Haar von Robins Großvater Rufus entdeckt worden. Bei der Erinnerung daran bekam Robin immer noch weiche Knie.

Robin würde alles tun, um das Geheimnis seines unsichtbaren Freundes zu wahren. Niemand, wirklich niemand durfte von ihm erfahren. Andererseits: Wem sollte Robin es auch erzählen? Selbst wenn er es wagte, würde er wahrscheinlich schneller in Honeys Farm landen, als er Klapse sagen konnte. Alle würden ihn für verrückt erklären. Alle, bis auf Imogen Pollock. Aber die galt nicht. Robins wunderliche Schulkameradin war selbst nicht ganz normal. Sie dachte über die absonderlichsten Sachen nach – zum Beispiel, wie Steine unter Wasser atmeten.

Der Wald lichtete sich. Zwischen den Stämmen hindurch konnte Robin die verwilderte Pferdekoppel erspähen. »Melvin?« Er sah über die Schulter. Wie ein Hund, der seinem eigenen Schweif nachjagt, drehte sich Melvin im Gehen um sich selbst, während er versuchte, doch noch einen Blick auf den angeblichen Streifen zwischen seinen Schulterblättern zu erhaschen. Robin verkniff sich ein Grinsen und sagte: »Melvin, wir sind gleich aus dem Wald raus.«

»Jaja, ich mach ja schon …« Mit einem kaum wahrnehmbaren Wisperlaut, leiser als der Flügelschlag einer Fledermaus, bluffte Melvin sich weg. Der Hohlweg lag wieder scheinbar verlassen da.

KAPITEL 2

Sturmfreie Bude

ROBIN TRAT AUF DIE KOPPEL HINAUS und stapfte durch die hüfthohe Wiese voller Klatschmohn, Goldnesseln, Schlüssel- und Glockenblumen. Berauscht von dem vielen Nektar torkelten Hummeln durch die Luft. Er kletterte über das windschiefe Gatter, an dem der Mistelweg in einer Sackgasse endete. Die Häuser der Straße waren alt und ehrwürdig. Bis auf das letzte. Das war alt und schäbig. Brombeergestrüpp wucherte über die verwitterte Fassade und fingerte mit seinen Ranken nach der Dachrinne. Im Durchgang, der zwischen Haus und Garage in den Garten führte, zogen sich von den verbrannten Überresten einer Kohlenluke Rußzungen bis in den ersten Stock. Das Einzige, was an dem Haus nicht schäbig war, war die neue Veranda auf der Vorderseite. Das Holz leuchtete goldgelb und duftete nach Harz.

In diesem Haus lebte Robin, seit seine Eltern vor vielen Jahren gestorben waren. Es gehörte seinem Großvater. Großvater klang immer so nett, so nach gemütlichem älteren Herrn. Das traf auf Rufus nicht zu. Der war anders als andere Großväter. Das fing schon damit an, dass er ziemlich ungemütlich wurde, wenn Robin Opa zu ihm sagte.

Gerade trat er mit einer Reisetasche aus dem Haus, aus der eine Pyjamahose herauslugte. »Das wurde aber auch Zeit!«, grollte er, als er Robin sah. »Das Taxi muss jeden Augenblick kommen. Hilf Mrs Stickforth mit dem Gepäck. Ich muss noch meine Unterlagen ho…«

»WIE LANGE DAUERT DAS DENN NOCH? ICH WARTE SCHON SEIT STUNDEN!«, unterbrach ihn eine zeternde Stimme.

Robin fuhr zusammen und sah zum Nachbarhaus hinüber.

Auf der Veranda wiegte sich Mrs Stickforth ungeduldig im Schaukelstuhl vor und zurück. Ihr totenkopfartiger Schädel ragte aus einem Spitzenkragen hervor, wie ihn Robin auf einem Bild in seinem Geschichtsbuch gesehen hatte. Die Passagiere der Mayflower hatten so etwas Ähnliches getragen.

»Geht gleich los, Doris!«, rief Rufus, gab Robin einen Schubs und eilte ins Haus zurück, um seine restlichen Sachen zu packen.

Robin trottete zum Nachbarhaus und stieg die Verandatreppen hoch. Mrs Stickforths spinnenartige Finger trommelten auf einer Reisetruhe, die kaum kleiner war als eine Schlafzimmerkommode. »ELENDER RUMTREIBER! WEGEN DIR WERDEN WIR NOCH DEN ZUG VERPASSEN!«, schimpfte sie los.

»Tag«, nuschelte Robin.

»WIE WAR DAS?«

»Hmpf!«, entfuhr es Robin, als er versuchte die Reisetruhe anzuheben. Mrs Stickforths Stockspitze stach in seine Kniekehle.

»EIN BISSCHEN MEHR RESPEKT, DU MISSRATENER BENGEL

»Guten Tag, Mrs Stickforth«, ächzte Robin und ging in die Knie, um die Truhe auf seinen Rücken zu wuchten. In der nächsten Sekunde wurde sie jedoch wie durch Zauberhand federleicht. Robin, der schon Schwung genommen hatte, schoss nach vorne und stolperte die Verandatreppen hinunter. »’tschuldigung!«, drang Melvins Stimme gepresst hinter der Truhe hervor.

Auf dem Weg zu Rufus’ Haus wackelte Mrs Stickforth hinterher, lautstark Ermahnungen keifend: »DASS DU MIR JA NICHT VERGISST, MEINE HORTENSIEN ZU GIESSEN

»Ja, Mrs Stickforth«, sagte Robin. Seit Tagen quälte sie ihn mit pingeligen Anweisungen, wie ihre Hortensien zu pflegen seien, während sie ihre Schwester in Banston besuchen würde. Zur Sicherheit hatte sie ihm alles aufgeschrieben. Die Liste war fünf Seiten lang. Eng beschrieben.

»SIE DÜRFEN NIE AUSTROCKNEN

»Ja, Mrs Stickforth.«

»WEHE, ICH FINDE IN ZWEI WOCHEN AUCH NUR EIN WELKES BLATT

»Ja, Mrs Stickforth.«

»DAS WILL ICH AUCH HOFFEN! UND HÄNDE WEG VON DEN STREICHHÖLZERN. MESSER, SCHERE, FEUER, LICHT SIND FÜR KLEINE KINDER NICHT! HALB OAKSEND HAST DU ABGEFACKELT

Urplötzlich wurde die Truhe wieder tonnenschwer, rutschte von Robins Rücken und krachte auf den Bürgersteig vor Rufus’ Haus. Der Aufprall übertönte einen leisen Knurrlaut. Melvin konnte Mrs Stickforth nicht verzeihen, dass sie Robin immer noch zu Unrecht beschuldigte, damals den Kellerbrand in Rufus’ Haus gelegt zu haben.

In dem Moment bog ein Taxi in den Mistelweg ein, brauste bis zum Ende der Straße, wendete vor der Pferdekoppel und hielt vor dem Haus. Ein junger Fahrer sprang heraus. »Hallihallo zusammen!«, grüßte er fröhlich. »Wo soll’s denn hin…« Sein Lächeln gefror, als er Mrs Stickforths Reisetruhe erblickte. Tapfer versuchte er einen Witz: »Mam, wollen Sie verreisen oder umziehen?«

»ICH VERBITTE MIR DIESEN TON!« Mrs Stickforth schwang drohend ihren Stock. Der Fahrer wich zurück und öffnete den Kofferraumdeckel, als suchte er dahinter Schutz. Während er sich mit hochrotem Gesicht abmühte, die Truhe in den Kofferraum zu wuchten, half Robin der murrenden Mrs Stickforth auf den Rücksitz. Ihr Griff fühlte sich an wie eine Fessel.

»UNGLAUBLICH, WAS SICH DAS PERSONAL HEUTZUTAGE HERAUSNIMMT!«, keifte die alte Frau. Robin wich dem spitzen Stock aus und drückte die Tür zu.

In diesem Moment kam Rufus aus dem Haus gerannt. Er trug eine prall gefüllte Aktentasche, eine Spur wirbelnder Zettel hinter sich herziehend. Ohne den Fahrer anzusehen, drückte er ihm die schwere Tasche in den Arm und wandte sich an Robin: »Also … im Kühlschrank steht ausreichend Graupensuppe für zwei Wochen. Die magst du doch so gern. Und hier ist etwas für Frischkram – Milch, Eier, Obst und so …« Er nestelte einen Umschlag aus der Jackentasche und hielt ihn Robin hin. Doch als Robin die Finger darumlegte, zog Rufus ihn mitsamt Umschlag zu sich heran. Unter den buschigen Brauen hervor bohrte sich sein Blick in Robins Augen. »Nur für Frischkram! Nicht für Süßigkeiten, Comics oder anderen Unsinn. Verstanden?«

Mrs Stickforth kurbelte die Scheibe herunter. »RUFUS, WERD JETZT NICHT SENTIMENTAL, ICH HABE NICHT EWIG ZEIT

Rufus ließ den Umschlag los und stieg ein. »Zum Bahnhof!«, befahl er dem Fahrer. »Und keine Tricks. Ich kenne den Weg.« Der Fahrer setzte zu einer empörten Entgegnung an, doch da schlug Rufus die Tür zu. Robin sah alle drei im Wageninneren gestikulieren, als das Taxi den Mistelweg hinunterfuhr und in Richtung Bahnhof abbog.

Friedliche Stille senkte sich auf den Mistelweg. Im Brombeerbusch stimmte eine Amsel ein übermütiges Lied an.

»Zwei Wochen!«, wisperte Melvins Stimme dicht neben ihm. Unsichtbare Schnurrhaare kitzelten Robins Ohr.

»Zwei Wochen!«, wiederholte Robin und grinste. Er konnte es immer noch nicht fassen. Vor ihnen lagen zwei Wochen sturmfreie Bude und – sie hatten Mrs Stickforth vom Hals! Wochenlang hatte sie mit sich gerungen. Sollte sie sich die beschwerliche Reise nach Banston in ihrem Alter noch antun? Andererseits feierte ihre jüngere Schwester den achtundachtzigsten Geburtstag. Wie oft kam das schon vor?

Dann hatte es sich ergeben, dass Rufus zu einem Kongress fliegen musste. Er hatte Mrs Stickforth angeboten, gemeinsam mit ihr nach Banston zu fahren. Er würde ihr mit dem Gepäck helfen können, und beim Umsteigen. In Banston würde er sie zum Haus ihrer Schwester begleiten und anschließend zum Flughafen weiterfahren, um zu seinem Kongress nach Rom zu fliegen.

Unter dem Brombeerbusch steckten drei Igel die Schnauzen hervor. Ihre Knopfaugen blinzelten hoffnungsfroh. Seit Robin Melvin kannte, wusste er, dass Igel ganz versessen auf Graupensuppe waren.

Melvin raunte: »Die werden immer fetter. Nicht mehr lange und wir können sie als Bowlingkugeln verkaufen.«

»Bowlingkugeln?« Robin hüpfte die Verandastufen hinauf. Sowie er die Tür hinter sich schloss, erschien Melvin neben ihm im Flur.

»Ja, für Blitzbowling. Rasante Sportart. Lange kann man den Igel ja nicht in der Hand halten. Die Skandinavier sind Spitzenreiter. Dirty Digger, ein Panzerharthorn, hat letzte Saison den Weltrekord gebrochen und es auf sagenhafte 5 Minuten und 58 Sekunden gebracht! So eine gepanzerte Pratze hat schon Vorteile … übrigens, was ist das?« Er betrachtete den Umschlag in Robins Hand.

»Das hat mir Rufus gegeben. Er sagte, es sei für Frischkram – Milch, Eier, Obst und so …« Robin öffnete den Umschlag. Als Melvin die Geldscheine sah, wechselte sein Fell schlagartig von Blaugrau zu aufgekratztem Gelborange. »Und ich weiß auch schon, wo wir das alles in erstklassiger Qualität bekommen können«, verkündete er und machte Kulleraugen.

»Was meinst du?«, fragte Robin. Wenn Melvin dieses Verlorenes-Kätzchen-Gesicht machte, führte er irgendwas im Schilde.

Melvin schnurrte: »Im Pfannkuchenpalast …«

Pfannkuchenpalast! Allein das Wort beschwor schon die verführerischsten Bilder herauf. »Melvin, ich weiß nicht …«, protestierte Robin schwach, während sein Magen schon verräterische Grummellaute von sich gab.

Melvin tat so, als hätte er nichts gehört, legte die Hände auf den Rücken und betrachtete scheinbar interessiert die Flurtapete. »Was genau hat Rufus gesagt, als er dir den Umschlag gab?«, fragte er mit Unschuldsmiene, ohne den Blick von den verblassten Malvenblüten abzuwenden.

Robin wiederholte tonlos: »Nur für Frischkram – Milch, Eier, Obst und so. Nicht für …«

»Und woraus werden Pfannkuchen gemacht?«

»Milch und Eier.«

»Und Blaubeerpfannkuchen sogar mit Obst …«

So gesehen hatte Melvin recht. Rufus hatte gesagt, Robin dürfe das Geld nur für Milch, Eier und Obst ausgeben. Er hatte nichts über die Zubereitung gesagt.

Melvin drehte sich um und grinste Robin breit an: »Ich bin dein Schutzmonster. Ich habe einen Eid auf die acht Gebote der Mentora geschworen. Gebot zwei lautet: Eines Schutzmonsters Kraft diene ausschließlich dem Wohlergehen seines Schützlings. Ich finde, Pfannkuchen gehören unbedingt zum Wohlergehen dazu.«

KAPITEL 3

Blutige Steaks & fliegender Teig

ROBIN UND MELVIN LIEFEN den Mistelweg hinunter. Für Robin war es ein ganz neues Gefühl, an Mrs Stickforths Haus vorbeizugehen, ohne von der Veranda aus angekeift zu werden. Am Ende des Mistelwegs querten sie die Bluefordstraße und gingen weiter durch die Kastanienallee, deren Bäume mit ihren üppigen pyramidenförmigen Dolden an riesige Kronleuchter erinnerten. Sacht wogten sie in der Frühlingsbrise. Weiße Blütenblätter sprenkelten den Asphalt.

Die Allee mündete im kopfsteingepflasterten Lindenring, der um den Marktplatz herumführte. Dort reihten sich allerlei Geschäfte um den Platz, außerdem der Park, die Stadtbibliothek und das Hotel Majestic. Der Marktplatz war das Herzstück von Oaksend. Hier stand die tausendjährige Linde und breitete ihr Blätterdach über das Brunnendenkmal von St. Octavian aus. Zu Füßen der lebensgroßen Statue des mittelalterlichen Heilers kauerten steinerne Eulen und spien sprudelnde Wasserbögen ins muschelförmige Becken. Am Rande des Platzes befand sich ein altmodischer Kiosk. Die Rollläden des achteckigen Büdchens waren heruntergelassen. Aus dem kegelförmigen Dach, das einem Hexenhut glich, ragte trotzig eine pompöse Spitze heraus, die an eine Ritterlanze erinnerte.

Zwei Männer umrundeten die kleine Bude. Der eine, Rory Gilligan, war fast so groß und breit wie der Kiosk selbst. Er war Ex-Rugbyspieler und züchtete Petunien. In der einen Hand hielt er ein Schild, mit der anderen gestikulierte er eifrig, während er auf sein Gegenüber einredete. Der andere Mann musterte ohne Begeisterung den verrammelten Kiosk. Schließlich schüttelte er den Kopf, Rory die Hand und ging Richtung Bahnhof davon. Mit hängenden Schultern befestigte Rory das Schild wieder an dem Kiosk. Zu vermieten, stand darauf.

Robin wollte nicht daran denken, was aus dem vorherigen Kioskbetreiber geworden war. Die Leute glaubten, Mr Hooper habe die Stadt aus Liebeskummer verlassen. Doch Robin und Melvin kannten die Wahrheit. Mr Hooper war ein gefährliches Monster gewesen, das sich als Mensch getarnt in Oaksend eingeschlichen hatte, um ein unermesslich wertvolles Buch zu stehlen. Seinen teuflischen Plan hatten Robin und Melvin unter Lebensgefahr durchkreuzen können. In letzter Sekunde waren sie aus dem lichterloh brennenden Keller gerettet worden.

Energisch verscheuchte Robin die böse Erinnerung und setzte einen Fuß auf die Straße, um die Abkürzung über den Marktplatz zu nehmen.

»Lass uns lieber drum herumgehen«, raunte Melvins Stimme neben ihm, und Robin wurde von unsichtbarer Hand auf den Bürgersteig zurückgezogen.

»Wieso? Was ist denn los?«, fragte Robin aus dem Mundwinkel heraus und sah sich um. Er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken.

»Meine Hörner kribbeln«, antwortete Melvin leise, »irgendwas liegt in der Luft …«

Robin nickte verstohlen und wandte sich nach rechts. Sie passierten Mr Boons Lebensmittelladen mit den üppigen Auslagen, Hattie Hopes Schönheitssalon, und einen etwas verstaubt wirkenden Laden, über dessen Schaufenster ein Schild mit verwitterten Goldlettern hing: Appollonia McNuff, Antiquariatsbuchhandlung. Auch hier waren die Rollläden heruntergelassen, und an der Tür klebte ein Zettel:

Vorübergehend geschlossen

wegen Hochzeitsreise!

Polly & John.

Robin lächelte. Er mochte Polly. Die schusselige Buchhändlerin hatte ihm einmal sehr geholfen. Und er mochte John. Robin wusste nicht, wie der schlaksige Tierarzt das machte, aber sobald er auftauchte, beruhigten sich die Gemüter.

»Wer kümmert sich jetzt eigentlich um Punchkiss?«, riss ihn Melvin aus seinen Gedanken.

In dieser Sekunde gellte ein Schrei über den Marktplatz: »Haltet den Dieb!«

Robin wirbelte herum und sah ein struppiges gelb-braunes Fellbündel über den Platz flitzen – Punchkiss, Pollys Kater. In seinem schiefen Maul, das ihn noch hässlicher machte, als er ohnehin war, trug er ein blutiges Steak.

»Punchkiss, du Biest!« In der Eingangstür zum Majestic zappelte eine vor Wut schäumende Tess Gilligan, die bei der Verfolgung des Katers mit ihren 120 Kilo im Türrahmen stecken geblieben war. Sie schaffte es, einen Arm zu befreien, und schleuderte einen Fleischklopfer nach dem Kater – just in dem Moment, in dem ihr Mann Rory dabei war, den Kater mit einem Hechtsprung einzufangen. Doch Punchkiss schlug einen Haken, Rory knallte auf das Pflaster, und der Fleischklopfer pfiff haarscharf über ihn hinweg. Er prallte vom Stamm der Linde ab und flog in hohem Bogen geradewegs durch die geöffnete Tür der Patisserie. Es klirrte und schepperte.

»Mon Dieu! Assassins! Sabotage!« Ein von Mehl zugestaubter Mann schoss heraus. In seinem linken Arm klemmte eine gewaltige Rührschüssel, der rechte Arm schwang den Fleischklopfer, an dem noch mehr Teig klebte. »Unglaublisch! Wer ’at das gemacht?«, schrie Monsieur Pané und sah sich mit wildem Blick um, »isch kann so nischt arbeiten! Wie soll isch nur fertisch werden? Aber das ist eusch ’interwäldler ja völlisch egal!« Die schiefe Kochmütze auf seinem Kopf bebte vor Empörung.

Tess schlug sich die Hand vor den Mund, lief rot an und sah Hilfe suchend zu Rory. Der rappelte sich auf und öffnete den Mund. Doch beim Anblick des Konditors, der den Fleischklopfer wie einen Morgenstern schwang, überlegte er es sich rasch anders. Sein Arm schnellte empor und deutete in Richtung Park. Dort verschwand Punchkiss’ buschige Schwanzspitze gerade zwischen dichtem Gebüsch.

Unter dem Mehlstaub lief Monsieur Pané dunkelviolett an. In Wirklichkeit hieß er Gavin Pan. Er tat nur so, als sei er Franzose, bestand auf dem Akzent und gab seinen Torten französische Namen. Abgesehen davon war Monsieur Pané ganz in Ordnung. Doch bald fand die Verleihung der Goldenen Spritztüte statt und der Preisrichter des diesjährigen Backwettbewerbs war kein Geringerer als der von Monsieur Pané vergötterte Maître Philippe. Der war wirklich Franzose. Aus Paris.

Monsieur Pané sah wieder zu Rory und vergaß vor Wut sogar seinen Akzent: »Für wie blöd hältst du mich eigentlich?« Er ließ den Fleischklopfer fallen, griff mit der bloßen Hand in die Rührschüssel und schleuderte einen Batzen Teig nach Rory. Der duckte sich, der Batzen flog über ihn hinweg und klatschte auf die Windschutzscheibe von Mr Duncans Auto, der in dem Moment in den Lindenring einbog. Seiner Sicht so überraschend beraubt, verwechselte Mr Duncan vor Schreck Brems- und Gaspedal. Der Wagen schoss vorwärts, schrammte Funken schlagend über den Bordstein auf den Marktplatz und krachte in den Kiosk. Die Bude knickte ein und das Dach mit der lanzenartigen Spitze neigte sich bedrohlich, hielt jedoch stand. Nicht so Mr Duncans neuer Familienkombi. Die Motorhaube glich nun einer Quetschkommode.

Mr Duncan stieg sehr steifbeinig aus. Wortlos sah er von der zerstörten Motorhaube zu Rory, dann zu Tess, dann zu Monsieur Pané. Dessen teigverschmierte Hand schnellte empor und deutete Richtung Park. »Punchkiss!«, stieß er aus und riss die Augen in gespielter Unschuld weit auf.

Da knirschte es unheilvoll. Alle schauten alarmiert zum Kioskdach hoch, wo die lanzenartige Spitze soeben aus ihrer Verankerung brach, herunterfiel, sich mit der Spitze voran in die Motorhaube bohrte und die Hupe verklemmte. In den schrillen Dauerton mischte sich das Geschrei von Rory, Monsieur Pané und Mr Duncan, die einander wüst beschimpften und sich gegenseitig die Schuld zuschoben.

Aus den Läden rings um den Lindenring kamen Verkäufer und Kunden gerannt. Im Schaufenster zu Hattie Hopes Schönheitssalon erschienen dick eingecremte Damen mit Lockenwicklern und rosa Frisierumhängen. Mrs Greengrove pellte sich die Gurkenscheiben von den Augen, um besser sehen zu können. Andere liefen auf den Marktplatz, um die Streithähne zu trennen.

Zum Glück ging in dem ganzen Tohuwabohu Melvins Lachanfall unter. Robin bekam ein Stück Fell zu fassen und zog seinen Freund unauffällig in die Grahamstraße, einer der fünf Straßen, die sternförmig vom Marktplatz aus in alle Richtungen führten.

»Um Punchkiss müssen wir uns auf jeden Fall keine Sorgen machen«, gluckste Melvin und folgte Robin an den Geschäften entlang.

Bei Cramps, einem Geschäft für Werkzeuge und Eisenwaren, stieß Robin fast mit einem Mann zusammen, der gerade aus dem Laden trat. Er war kaum kleiner als Rory Gilligan, trug einen fleckigen, sagenhaft verbeulten Overall und einen Schlapphut, dessen Krempe einen tiefen Schatten über seine Augen warf. Unter der rot geäderten, dicken Nase baumelte ein langer, verfilzter Bart und verströmte den unverkennbar süßlich-herben Geruch nach Wacholderschnaps.

»Hallo, Big Ben«, sagte Robin.

Der Riese warf ihm einen Blick zu, bei dem jeder andere zurückgewichen wäre. Doch Robin wusste mittlerweile, dass dieser Blick nicht unbedingt etwas zu bedeuten hatte. Robin und Melvin verdankten Big Ben ihr Leben. Er war es gewesen, der sie damals aus dem brennenden Keller gerettet hatte.

Big Ben grüßte mit einem kaum merklichen Nicken zurück und ging mit langen Schritten davon.

»Sind wir heute wieder gesprächig«, ließ sich Melvin vernehmen.

»Lass ihn. Du weißt doch, wie er ist«, murmelte Robin und ging weiter.

Niemand wusste, woher Big Ben kam. Er lebte bei den Tramps, die außerhalb von Oaksend am alten Viadukt hausten. Die Leute wechselten die Straßenseite, wenn einer von ihnen in der Stadt auftauchte, und Eltern schärften ihren Kindern ein, sich vom Viadukt fernzuhalten.

Big Ben war das alles nur recht. So kam keiner auf die Idee, ihm Fragen zu stellen.

Nur Robin und Melvin wussten, dass er in Wahrheit ein Monster war, das sich als Mensch tarnte. Auch der Wacholderschnaps gehörte zu dieser Tarnung. Big Ben trank ihn nicht. Er benutzte ihn als Rasierwasser. Es funktionierte. Wer wollte schon etwas mit einem Trunkenbold zu tun haben?

Robin und Melvin gingen weiter, vorbei an Schimoniks Bekleidungsgeschäft (Alles schick mit Schimonik), Abbotts Elektrowelt, Greengroves Farben & Tapeten und den Gebrüdern Blonsky. Theo Blonsky schmiss das Beerdigungsinstitut, während sein Bruder Leo auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Trödelhalle betrieb. Die Brüder fuhren einen alten Milchwagen, den sie schwarz lackiert hatten und der ihnen je nach Bedarf als Leichen- oder Lieferwagen diente.

Jenseits der Trödelhalle ragten die Rundgiebel von WOBL auf. Das Dach mit den vielen Spitzen und Gauben verlieh der Spielzeugfabrik das Aussehen einer gigantischen Geburtstagstorte. WOBL stand für William O. Blueford. Der findige Geschäftsmann hatte während der Weltwirtschaftskrise Oaksend vor dem Ruin gerettet und galt als Wohltäter. Was man von seinem Enkel nicht sagen konnte, dachte Robin grimmig. Frederick Blueford, kurz Freddy genannt, war ein gemeiner Fiesling. Er ging mit Robin in dieselbe Klasse und pflegte ein besonderes Hobby: Robin schikanieren. Seit Melvin aufgetaucht war, gelang ihm das jedoch immer seltener.

Plötzlich stieg Robin ein intensiver Vanillegeruch in die Nase. Er lief schneller, bog um die Ecke von Kurts Angelparadies – und da war er: der Pfannkuchenpalast!

Robin wurde ganz feierlich zumute.

»Mannomonster!«, staunte Melvin, »eins muss man euch Menschen lassen – ihr versteht es wirklich, aus einem simplen Eierkuchen ein echtes Festmahl zu zaubern.«