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Für Chloe und Molly
© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2014 Karen Harrington
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel:
»Courage for Beginners« bei Little Brown and Company,
einem Imprint der Verlagsgruppe Hachette, Inc.
Übersetzung: Catrin Frischer
Umschlagkonzeption: Suse Kopp, Hamburg
unter Verwendung eines Fotos von © Marie Hochhaus
MP · Herstellung: SeS
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-23544-4
V001
www.cbj-verlag.de
Man braucht Mut, um zu werden, wer man ist
e. e. cummings
Ich weiß nicht viel, aber eines schon, dass nämlich Leute stehen bleiben, um sich etwas Ungewöhnliches anzusehen. Sie fahren zum Beispiel langsamer, damit sie sich Autounfälle ansehen können. Sie holen ihre Fotoapparate heraus, um orangefarbene Sonnenuntergänge zu knipsen. Sie legen sich im Dunkeln auf eine Wiese, weil ein Nachrichtensprecher gesagt hat, sie könnten um Mitternacht einen Meteoritenschauer beobachten.
Vielleicht sehe ich jetzt gerade ungewöhnlich aus. Wahrscheinlich sogar, aber selbst stehen zu bleiben, um mich anzugucken? Das wäre schon ein echtes Kunststück.
Ich könnte ein Gemälde in einem Museum sein. Mädchen, das am Fenster sitzt.
Museumsbesucher in knallbunten Sommersandalen würden an meinem Bilderrahmen vorbeikommen und flüstern: Schaut mal, das komische rothaarige Mädchen, wie es am Fenster sitzt. Worauf wartet sie nur? Was sieht sie da? Was sehen wir hier?
In der Schule habe ich mitgekriegt, dass, wenn man immer ganz still ist, die Leute einen für schlau halten. Auch so ein Trick. Ich bin gar nicht schlau. Ich kann nur nicht aufhören zu denken.
Ich sitze hier ganz ruhig und still. Und denke. Es gibt nichts anderes zu tun.
Die meisten Leute müssen nicht den lieben langen Tag in ihrem Haus hocken.
Ich schon. Schon deshalb bin ich anders als die anderen.
Dad ist bei der Arbeit und Mom in ihrem Zimmer, die Tür ist zu. Keine Ahnung, was Laura macht. Mom hat ihre Wände gerade meerschaumgrün gestrichen, als Vorarbeit für ein weiteres Wandbild – an ihrer Stelle würde ich nicht da drinnen bleiben, wegen dem Farbgeruch. Aber wahrscheinlich ist Laura zu Mom aufs Bett gerutscht und diskutiert mit ihr darüber, ob auf dem neuen Wandbild ein Baum sein soll oder Teddybären beim Picknick oder Teddybären beim Picknick unter einem Baum. Ich für meinen Teil habe Mom gesagt, sie soll aufhören, das Motiv des Wandbilds in meinem Zimmer zu verändern. Ihre Version der Mona Lisa gefällt mir nämlich ganz gut, wir nennen sie Fake-na Lisa. Bis jetzt hat Mom sich dran gehalten. Im Flur hat sie gerade mit einem Wald angefangen.
Zum ersten Mal im Leben bin ich froh darüber, dass meine Freunde nie zu Besuch kommen. Genauer gesagt, dass mein einziger Freund nie zu Besuch kommt. Ich hab nur den einen. Aber ich würde vor Peinlichkeit tausend Tode sterben, wenn er die vielen Bilder von Mom sehen würde. Über der Toilette im Flur prangt eines von SpongeBob. Wie erklärt man denn so was?
Eigentlich müsste ich jetzt weg vom Fenster und aufhören, die Straße zu beobachten. Es wird heiß, und ich weiß jetzt schon, dass die Augustsonne an diesem Nachmittag alles versengen wird. Ich bin dran mit dem Pflanzengießen im Garten. Wahrscheinlich schreien sie schon nach mir. Hilfe! Rette uns!
Also, wenn Gemüse denn schreien kann. Aber ich muss noch auf die Frau-die-irgendwohin-geht warten. Wenn sie an unserem Haus vorbeikommt, werde ich ein Foto von ihr machen und endlich das Rätsel lösen, wo sie immer hingeht. Aber heimlich, damit ich nicht wieder Ärger kriege.
Um den Nationalfeiertag am vierten Juli herum bin ich nämlich zum Hausarrest meines Lebens verdonnert worden, weil ich Fotos gemacht habe von der Frau-die-irgendwohin-geht. Jeden verflipflopten Tag dieses Sommers ist die Frau an unserem Haus vorbeigegangen, langsam und sicheren Schrittes und immer in irgendeinem seltsamen Aufzug. Lange pluderige Hosen. Neongelbe Blusen. Im Parka! Eines kann ich euch sagen: Hier in Texas braucht echt kein Mensch einen Parka. Nichts an dieser Frau deutet darauf hin, dass sie Profi-Walkerin wäre. Wie die aussehen, weiß ich nämlich. In unserer Straße wohnen zwei Powerwalker, die schwarz-grüne Trainingsanzüge tragen und die Haare zu strammen Pferdeschwänzen gezurrt haben. So macht man das als Powerwalker. Die Frau-die-irgendwohin-geht schaut völlig anders aus. Ihre Haare stehen normalerweise wirr zu Berge. Sie hat keine Handtasche dabei. Niemand begleitet sie. Sie schlendert zum Rhythmus ihrer inneren Musik dahin.
Doch wo geht sie hin? Ich habe da so meine Theorien. Es passieren nämlich die tollsten Sachen in der großen, weiten Welt. Gefährliches. Abenteuerliches. Ungewöhnliches.
Also habe ich ein paar Fotos von ihr gemacht. Mit meiner Kamera. Was für ein Verbrechen. Ich hab eines Morgens wie eine Statue an meinem Fenster gesessen und darauf gewartet, dass sie vorbeischlappt in ihren Flipflops. Und dann: klick. Zwei Fotos habe ich gemacht. Sie sind gar nicht mal schlecht geworden, obwohl vor meinem Fenster ein Fliegengitter ist. Wir haben keine riesigen Bäume in unserem Vorgarten wie die Jennings, unsere Nachbarn. Nur Tomaten und Melonen wuchern da in alle Richtungen. Sie brauchen pralle Sonne, sagt Mom. Aber ich wollte ein klareres Bild haben. Also hab ich mir gedacht, ich montiere das Fliegengitter ab, damit ich ein noch besseres Foto bekomme. Auch wenn meine Eltern sich tierisch aufregen würden, sollten sie das spitzkriegen – was sie auch taten.
Mom brauchte zwei Minuten, um Dad zu sagen, dass ich ein Voyeur sei (das ist Französisch und bedeutet jemand, der zuschaut – und ich weiß echt nicht, was daran so schlimm sein soll).
Während ihrer Inquisition hab ich nicht viel gesagt. Ich hab am Esstisch gesessen, während Mom, mit den Armen in der Luft rumfuchtelnd, mein Verbrechen beschrieben hat. Dad hat mich angestarrt. Ich hab die blau-weißen Platzdecken angestarrt. Die sind so alt und ausgeblichen, dass sie vermutlich aus der Zeit der Dinosaurier stammen. Also, wenn Dinosaurier denn Platzdecken benutzt haben.
So was macht mein Gehirn, wenn ich still bin und es zu viel denkt. Es sieht Dinosaurier, die vor blau-weißen Platzdecken sitzen.
»Und offenbar geht das schon eine ganze Weile so«, sagte Mom. »In ihrer Kamera sind noch andere Bilder.«
Ich stellte mir vor, wie Dinosaurier einen grünen Blattsalat mit Croutons von unseren Platzdeckchen aßen.
»Das ist wirklich unglaublich, Mysti«, sagte Dad. »Kannst du mir mal erklären, was du dir dabei gedacht hast?«
Schaut mal, das komische Mädchen, das dachte, es sei eine gute Idee, weil dieses Rätsel ihr schon den ganzen Sommer keine Ruhe lässt.
»Ich glaub, mir war langweilig«, antwortete ich.
»Weißt du denn, warum so was eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte ist?«, fragte Dad in seinem Ich-bin-ja-so-enttäuscht-von-dir-Ton.
»Weil die Frau nicht wusste, dass sie fotografiert wurde«, antwortete ich.
Schaut mal, das komische Mädchen, das das Offensichtliche ausspricht – schließlich war die Frau nicht gerade so angezogen, als wolle sie zu einem Fotoshooting gehen.
»Stimmt genau.«
In dem Moment fragte ich mich, ob er mich wohl zwingen würde, mich bei der Frau-die-irgendwohin-geht zu entschuldigen. Das würde die Lösung des Rätsels ratzfatz beschleunigen.
»Deine Kamera bekommst du erst mal auf unbestimmte Zeit nicht zurück«, sagte Mom. Na und, ich hab ja mein Smartphone.
»Und bis auf Weiteres hast du Hausarrest.« Na und, ich geh sowieso nie irgendwohin.
»Ja, Mom. Ja, Dad.«
Mom sagte: »Wenn man es besser weiß …?«
»Macht man es besser«, ergänzte ich brav.
Damit war die Lektion zu Ende. Hätte schlimmer sein können.
»Okay, geh in dein Zimmer. Zum Abendessen darfst du rauskommen«, sagte Mom. »Dir fällt bestimmt was Besseres ein, als Fotos von arglosen Menschen zu machen.«
Hat dieses komische Mädchen denn echt nichts Besseres zu tun, als Fotos von arglosen Menschen zu machen?, fragt ihr euch vielleicht.
Aber ihr ahnt natürlich, dass die Antwort darauf Nein ist. Nein, hab ich nicht. Alle meine Lieblingsbücher habe ich schon zigmal gelesen. Diese Bücher laufen inzwischen Gefahr, bald nicht mehr meine Lieblingsbücher zu sein. Spannend sind sie schon lange nicht mehr, und wer die Bösewichte sind, ist klar wie Kloßbrühe.
Es ist Sommer und unsere Familie macht im Sommer nichts außer Lesen, Spiele spielen und Mom bei der Ernte der Melonen im Vorgarten und hinterm Haus zu helfen. Man könnte glauben, wir wären eine Familie vom Land, sind wir aber nicht. Wir sind eine Familie, die drei Straßen vom Supermarkt entfernt wohnt, wo man Melonen kaufen kann.
Aber bei mir zu Hause gibt es weit Seltsameres als selbst gezogene Melonen. Seltsame Dinge gehen vor sich. Zum Beispiel stelle ich mir gern vor, dass ich eine Figur in einem Buch sei. So gehen die langen, langweiligen Tag schneller vorbei.
Das sind die Hauptfiguren in meinem Buch:
Da gibt es eine Person, die malt und kocht und nie das Haus verlässt.
Eine Person mit einem Job, die vorsichtig versucht, alle anderen dazu zu bewegen, das Haus gemeinsam zu verlassen.
Eine verzogene kleine, noch nicht fertige Person, deren Hobby es ist, das Hochziehen einer Augenbraue zu üben.
Und eine Mädchenperson, die sich wünscht, alle würden sie ganz in Ruhe am Fenster sitzen lassen, während sie versucht, Fotos von einer geheimnisvollen Vorübergehenden zu machen.
Diese Leute – sie könnten der Stoff für eine interessante Geschichte sein.
Als ich auf die Welt gekommen bin, habe ich noch nicht geglaubt, eine Figur in einem Buch zu sein. Das habe ich meinen Eltern zu verdanken. Ist komisch, ich weiß.
Wenn bei uns zu Hause etwas kaputtgeht, dauert es so zirka zehn Jahre, bis es repariert wird. Damit meine ich so richtig repariert. Vollständig repariert oder ersetzt. Nicht bloß so halb repariert à la: Oh, ist das nicht total kreativ, wie wir das Handschuhfach im Auto mit Isolierband fixiert haben? Es springt jetzt gar nicht mehr auf.
Nee, das ist nicht kreativ. Das ist irgendwie dämlich. Und kaputt ist es ja trotzdem noch.
Aber so läuft das bei uns zu Hause. Als ich zwei war und auf meinem Bett rumgehopst bin wie ein wildes Tier (sagt mein Dad), hab ich den Metallrahmen zerbrochen, der die Matratze hielt. Meine Eltern haben das Bett repariert, indem sie einen Stapel Romane und dicke Kunstbücher unter die kaputte Ecke geschoben haben. Zehn Jahre später wird mein Bett noch immer von einem Bücherstapel gestützt. Mom kommt ab und zu, nimmt sich eins und tauscht es gegen ein anderes aus, so als wäre ich eine Leihbücherei. Und wozu hat es geführt, auf einem kaputten Bettgestell zu schlafen, das von Büchern gestützt wird? – Sämtliche Geschichten und Bilder sind in mein träumendes Gehirn gesickert. Das ist der Grund dafür, glaube ich, dass ich so anders bin und mich wie die Erzählerin meiner eigenen Lebensgeschichte benehme.
Na ja, man kann Schlimmeres mit seinem Kopf machen.
Zuerst waren meine Geschichten einfach nur total albern.
Schaut mal, das komische Mädchen, das Pyjama-Land erobern wird.
Mom und Dad klatschten und erzählten mir, wie originell ich doch sei.
Und ich ließ mich von meinen Träumen an Orte bringen, an denen ich gern sein wollte.
Schaut mal, das komische Mädchen, das auf einem roten Fahrrad durch die Straßen von Paris fährt. (Eigentlich hätte ich ein französisches Mädchen sein sollen, habe ich lange Zeit geglaubt.)
Mom und Dad haben gesagt, ich würde ein ganz tolles französisches Mädchen abgeben.
Und dann habe ich die Geschichten meine Probleme lösen lassen.
Schaut mal, das komische Mädchen, dessen Mutter die ganze Familie in ein Restaurant einlädt, in dem es riesige Pizzas gibt.
Mom und Dad sahen sich an und sagten nichts.
»Hat euch meine Geschichte gefallen?«, fragte ich.
Und Mom sagte: »Das ist gar keine richtige Geschichte, Mysti.«
»Doch, na klar! In Geschichten erlebt man Sachen, die man sonst nie macht. Wir waren noch nie im Restaurant.«
»Ich weiß.«
»Warum denn nicht?«
Darauf antwortete meine Mom nur: »Nun geh und leg deine Wäsche zusammen, bevor sie ganz krumplig wird. Darüber reden wir ein anderes Mal.«
Dieses andere Mal kam nie. Ich habe dann damit aufgehört, meinen Eltern Geschichten aus meinem Leben zu erzählen.
Und mir wurde langsam klar, dass in meiner Familie nichts gut und richtig repariert wird. Wir halten alles mit Klebeband zusammen – echtem und ausgedachtem – und tun so, als wäre alles in Butter. Das ist ein Trick, so ähnlich wie die Sache mit dem Stillsein in der Schule, damit die anderen einen für schlau halten.
Ich habe drüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass man die Fähigkeit, in Restaurants zu gehen, vielleicht nicht unbedingt zum Leben braucht.
Die Tatsache, dass wir nie ins Restaurant gehen, wurde einfach ein Thema, über das wir nicht mehr sprachen.
Die Tatsache, dass ich andere Kinder kenne, deren Mütter echt aus dem Haus gehen, kam mir irgendwann nicht mehr so außergewöhnlich vor.
Die Tatsache, dass meine Mutter im wahrsten Sinne des Wortes eine Hausfrau ist, ist nichts weiter als das: eine Tatsache. Sie ist die ganze Zeit zu Hause, malt, gärtnert und backt jeden zweiten Tag frisches Brot – und, ja, sie verbreitet jede Menge Liebe. Und vielleicht reicht ja ein Elternteil mit Führerschein völlig aus, und man braucht nicht unbedingt eine Mutter, die Auto fährt.
Meine kleine Schwester Laura und ich kommen prima mit dem Bus zur Schule. Manchmal werden wir auf der Heimfahrt von Freunden im Auto mitgenommen. Zum Einkaufen von Lebensmitteln oder Kleidern für die Schule fahren wir mit Dad und manchmal auch in den Park. Ab und zu geht es zum Arzt zu einer Vorsorgeuntersuchung. Einmal im Monat machen wir uns zu dritt auf zur Stadtbücherei. Dad sitzt immer hinter dem Steuer des alten grünen Toyota mit dem mit Klebeband zugeklebten Handschuhfach und Laura und ich sind die Mitfahrer. Niemals Mom.
Und immer wenn wir von wo auch immer zurückkommen, sitzt Mom am Küchentisch und wartet auf uns, liest ein Kunstbuch, das gleich neben den sich aneinanderschmiegenden Salz- und Pfefferstreuern liegt. Die haben die Form von zwei kleinen Gespenstern, die sich umarmen, und sie stehen schon immer genau in der Mitte von unserem Esstisch. Lange dachte ich, Mom würde ihnen vorlesen, solange wir weg waren.
Okay, Salz und Pfeffer, hört gut zu, ich lese euch jetzt vor, wie man mit Farbe Harmonie erzeugt.
Mom und Dad reden nur spätabends, wenn sie denken, keiner höre zu, über das Zuhausesein meiner Mutter. (Aber wer kann denn weghören in einem winzigkleinen Haus mit dünnen Wänden?) Es gibt kleine Streitereien über Broschüren, die sie nicht lesen will. Die Broschüren zu dem Thema-über-das-wir-nicht-sprechen liegen in Zeitschriften gestopft in ihrem Nachttisch versteckt. Vor zwei Jahren habe ich diese geheimen Dokumente entdeckt. (Schubladen müssen schließlich auch innen ausgewischt werden.) Einige davon habe ich gelesen. Na gut, ich habe alle gelesen. Und ich habe begriffen, dass Mom etwas hat, das sich Agoraphobie nennt. Den Broschüren zufolge bedeutet das, man hat mächtig Angst davor, an Orten oder in Situationen zu sein, aus denen man nur schwer entkommen kann, weil das nicht möglich ist oder peinlich oder Panikanfälle auslöst.
Keine Farbschicht kann so dick sein, dass ich durch die dünnen Wände ihre leisen Stimmen nicht hören könnte, wenn sie darüber sprechen, wie Mom diese Art Angst empfindet. (Vielleicht bin ich aber auch den Flur runtergeschlichen und habe das Ohr an ihre Tür gedrückt.)
»Geh doch einfach mal nach draußen und mach einen klitzekleinen Spaziergang.«
»Ich weiß nicht, David.«
»Na, du brauchst ja nicht jetzt sofort aufzubrechen, du kannst später üben. Nur üben. Dazu braucht man Mut, das ist mir klar, also fang mit kleinen Schritten an. Weißt du, es ist bestimmt gut für die Mädchen, wenn sie sehen, dass du es versuchst.«
»Es ist ja nicht so, dass ich so sein will«, sagte Mom. »Aber ich …«
Den Rest des Satzes habe ich nicht verstehen können.
Aber jedes Mal, wenn ich zum Staubwischen in Moms Zimmer bin, lese ich die Broschüren noch mal. Ich will sichergehen, dass sie wirklich da sind. Diesen Satz habe ich nie vergessen: Kinder agoraphobischer Eltern verfügen nicht selten über eine hoch entwickelte Einbildungskraft.
Und irgendwann habe ich erkannt, dass es nicht nur an den Büchern liegt, die mein altes Bettgestell abstützen, dass es in meinem Kopf von Geschichten wimmelt, sondern auch dem Umstand zu verdanken ist, dass ich eine extrem häusliche Hausfrau als Mutter habe. Also habe ich aufgehört, meine Eltern wegen Restaurantbesuchen und anderen Müttern zu löchern.
Dad hat aufgegeben, Mom ins Auto zu nötigen, damit sie das Mutigsein übt. Alles ist bestens.
Aber wenn man ein bisschen weiterblättert in unserer Geschichte, erfährt man, dass sich das ändern wird. Dabei bin ich kein großer Fan von Veränderungen. Mir gefällt es gar nicht, wenn ich aus meinem Lieblingsshirt rauswachse und sehen muss, wie meine Schwester es trägt. Ich mag die Sommerzeit nicht, wenn die Uhren vorgestellt werden, um Strom zu sparen. Das Licht, das durchs Fenster fällt, ist so anders, und ich bin noch nicht bereit aufzuwachen. Ich mochte auch nicht, dass die Kabelfernsehfirma letzte Woche mitten in der Nacht beschlossen hat, die Sendeplatzfolge zu ändern. 130 ist jetzt plötzlich ein bescheuerter Kochsender statt Animal Planet.
»Warum haben die das geändert?«
»Veränderung ist gut. Durch Veränderung lernst du, wie man sich anpasst«, hat Dad gesagt, als ich mich darüber beschwert habe. Dad ist ein guter Zuhörer. Er guckt dir ins Gesicht und sagt, dass es für uns alle Veränderungen geben wird, denn so ist das auf der Welt, also sollten wir darauf vorbereitet sein. Aber wenn Dad lächelnd sagt: »Für dich wird es Veränderungen geben«, klingt das für mich wie eine Warnung. Es klingt so, als würde ein großes, plattfüßiges Monster nachts durch die Straßen schleichen. Es kommt dich holen!
»Nun ja, eines Tages willst du doch nach Paris, oder? Davon redest du immerzu«, sagte er. »Wie willst du da hinkommen, wenn sich nie was verändert?« Ich will nach Paris. Keine Frage. Ich will da sein. Aber ich will mich nicht auf den Weg dahin begeben. Die ganze Reise und wie man da hinkommt und die Komplikationen, die damit verbunden sind … Ich wünschte mir, man würde von Zauberhand einfach dort hingebeamt, wo man eben hinwill.
»Nach Paris fliegt man, Dad!«
»Soso, dann lass es mich wissen, wenn dir Flügel wachsen.«
Dad. Immer macht er Witze, wenn ich will, dass er ernst ist. Das wird sich niemals ändern.
Schaut mal, das komische Mädchen mit den langen roten Haaren, zwölf Jahre und zwei Minuten alt, das sich fragt, warum es so still ist im Haus.
Vielleicht glauben sie, ich sei nicht auf ihre Überraschung vorbereitet. Stimmt nicht. Bin ich durchaus.
Ich setze einen Fuß auf den Flur.
Das Haus ist zu still. Keine laufende Dusche. Keine in den Teller prasselnden Cheerios. Keine Nachrichten im Fernsehen, die von Krieg in weit entfernten Städten berichten. Nichts. Sogar mein Hund Larry ist stumm wie ein Holzklotz.
Und dann höre ich das Geflüster: »Sie hat ja keine Ahnung, was gleich passiert.«
Meine kleine Schwester Laura kichert. Eine Verschwörung ist im Gange.
Ich weiß, was sie vorhaben. Glauben sie etwa, sie könnten mich austricksen? Mich? In unserem klitzekleinen Haus, das so winzig ist, dass man die Wollmäuse pupsen hört?
Wahrscheinlich war es die Idee meiner dämlichen Schwester Laura. Ich schnappe mir eine Handvoll Murmeln von meinem Bücherregal und springe über den Flur in ihr Zimmer. Dort ziehe ich ihr Laken hoch und verteile die Murmeln auf der Matratze. Später wird sie denken, sie schläft auf Steinen.
Schaut mal, das komische Mädchen, das den Spieß umdreht und es seiner nichtsahnenden Familie zeigt.
Auf allen vieren krieche ich Richtung Esszimmeratelier. Mein Hund Larry macht sich an mich heran und enttarnt mich beinahe.
Hau ab, Larry.
Dann werfe ich einen Blick in die Küche. Ich entdecke sie. Sie kehren mir alle den Rücken zu, stehen eng beieinander auf einem Haufen. Wollen mich überrumpeln. Die haben keine Ahnung, was jetzt kommt. Aber es führen zwei Türen in die Küche und meine Tür hat gerade keiner im Blick. Was sind das nur für Dummköpfe, dass sie nicht beide Türen bewachen.
»Überraschung!«
Sie wirbeln herum. Mom springt in die Luft, schreit und packt den Küchentisch. »O mein Gott, Mysti!« Sie legt die Hand aufs Herz.
»Erwischt!«, sage ich und biege mich vor Lachen.
Aber jetzt lachen alle und sind so fröhlich wie die Tuschkastenfarbe Zitronengelb. Ich brauche einen Augenblick, bis ich wirklich erfasse, was meine Augen da sehen.
Eingewickelte Geschenke. Ein hoher Schokoladenkuchen mit zwölf Kerzen. Eine für jedes Jahr, das ich nirgendwo anders verbracht habe als genau hier.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mysti!«, ruft Dad. »Zwölf! Wünsch dir was!« In zwölf Jahren werde ich in Frankreich sein. Das ist mein Wunsch. Pfft, die Kerzen sind aus und mein Wunsch ein Rauchzeichen ans Universum.
Mom drückt mich. Dann holt sie etwas hinter dem Brotkasten hervor.
»Also, das ist noch nicht ganz trocken.« Es ist ein Ölbild. Ein wirklich wunderschönes Bild. Rote Mohnblumen in einem Meer von gelbgrünem Gras. Ein blassblauer Himmel. Ein rothaariges Mädchen in weißen Shorts, die Haare flattern im Wind. Ich, sorglos an einem unbekannten Ort. Vielleicht in Frankreich. Ganz bestimmt in Frankreich.
»Danke, Mom.« Ich seh toll aus auf diesem Bild. Ich wünschte, so gut würde ich im wirklichen Leben aussehen. Das Rot der Haare ist genau getroffen. Die hellblauen Augen. Die winzigen Sommersprossen auf den Wangen. All das stimmt genau. Was nicht stimmt, ist das schöne Lächeln, das dieses gemalte Mädchen hat. Das echte hat das nicht. Das echte hat eine kilometerweite Lücke zwischen den Schneidezähnen. Das echte lächelt nicht so. Warum auch?
Dads Geschenk für mich ist ein roter Drachen, ein Buch mit Witzen und ein Gutschein für die Reparatur des Zickzackrisses in meiner Zimmerdecke.
Ich ziehe ihn auf: »Gib mir doch einfach eine Rolle Klebeband, damit ich das selber reparieren kann.«
»Hahaha, Mysti! Warum schwimmen Delfine in Salzwasser?«
»Warum denn?«
»Weil sie in Pfefferwasser immer nur niesen würden.«
Genau wie ich hat Dad kräftige rote Haare, blaue Augen und eine Vorliebe für klasse Witze.
»Mach meins als Nächstes auf«, sagt Laura, und das mache ich. Ein Buch mit Geschichten, das ich mir sehr gewünscht habe. Darin gibt es viele leere Zeilen, in die man eigene Ideen schreiben und den Lauf der Handlung verändern kann. Auf der Rückseite des Einbandes steht, dass es in diesem Buch 267 verschiedene Möglichkeiten für den Verlauf der Geschichte gibt.
Ich hab versucht, das kleine Schwestergör mit den braunen Haaren dazu zu bringen, sich auch vorzustellen, sie sei in einer Geschichte. Wir könnten beide abwechselnd die Kapitel schreiben, hab ich gesagt. Wir könnten verwunschene Länder erfinden oder Reisen zum Mond oder dass wir Rockstars sind, hab ich gesagt.
Schaut mal, das komische Mädchen, das für den Präsidenten einen hinreißenden Songtext zum Besten gibt.
Und Laura sagt dann immer: Ach nee, erzähl mir deine Geschichten, Mysti.
Laura. Sie ist nicht so der Mach-es-selber-Typ, eher der Mach-du-es-für-mich-Typ. (Ich glaube nicht, dass sie mit hoch entwickelter Einbildungskraft geboren worden ist.)
Ich erzähle ihr also meine Geschichten. Ihre Lieblingsgeschichte ist die von einer Eule, die Leute belauscht.
Die Eule setzt sich vor die Fenster von kleinen Mädchen. Sie lauscht. Sie schnappt Gespräche über Barbies auf, die ihre Köpfe verloren haben. Und als sie die ihren Freundinnen weitererzählt, sagen die nur: Wohu? Wohu?
Laura applaudiert. Lacht. Und schmeißt mich raus aus ihrem Bett.
»Ich bin jetzt müde. Geh wieder in dein Zimmer«, sagt Laura dann.
Na ja, manche Zuhörer sind undankbar. Undankbaren Zuhörern legt man Murmeln unters Laken.
»Zum Frühstück gibt es Eiertoast!«, verkündet Mom. Sie breitet ein schönes gebügeltes Tischtuch über den Küchentisch und deckt ihn wie in einem tollen Restaurant. Dann macht sie die allertollsten Eiertoaste in der Geschichte des Eiertoasts.
»Eiertoast für das Geburtstagskind!« Mom stellt den Teller vor mich hin.
»Und was ist mit der Zahnspange? Mit 12 bekomme ich doch eine Zahnspange, oder?«
Da ist er. Dieser scharfe Blick, den Mom und Dad wechseln. Ich weiß, was ich tue, als ich sie so herausfordere. Sogar mein Hund Larry weiß, dass ich dieses Jahr keine Zahnspange bekommen werde. Denn selbst Larry weiß, dass es hier nur einen Erwachsenen gibt, der Auto fährt.
»Darüber sprechen wir noch«, sagt Dad schließlich. »Erzähl uns doch mal einen Witz aus deinem Buch.«
Darüber sprechen wir noch bedeutet, dass in nächster Zeit ganz bestimmt nicht darüber gesprochen wird. Ich nehme das Witzebuch zur Hand.
»Warum weigern Außerirdische sich, Clowns zu essen?«, frage ich.
»Warum?«, sagt Dad.
»Weil sie komisch schmecken.« Kein schlechter Witz. Nach dem Frühstück schicke ich den als Textnachricht an Anibal Gomez. Anibal Gomez ist mein einziger Freund. Vor ihm bin ich nicht still und ruhig. Ich bin ich selbst.
Schaut mal, das komische Mädchen, das den Nobelpreis gewinnt für die Erfindung der mobilen Kieferorthopäden-Praxis, die durch die Straßen der Wohngebiete fährt, verfolgt von allen Kindern mit schiefen Zähnen, die dort ein ordentliches Lächeln bekommen.
Anibal Gomez stört es nicht, wenn Mädchen schiefe Zähne oder Transportprobleme haben. Und mich stört’s nicht, wenn Jungs schüchtern sind und Größe XXL tragen. Das tut er nämlich. So hat Anibal jemanden, neben dem er im Bus sitzen kann, und ich habe jemanden, der mich nicht zu Partys einlädt, zu denen ich doch nicht gehen kann. (In Frankreich würde man sagen, diese Freundschaft ist parfait. Das ist perfekt auf Französisch.)
Einen Auszug der letzten Geschichte – der mit dem Nobelpreis für die mobile Kieferorthopäden-Praxis – habe ich Anibal erzählt.
»Du hast echt verrückte Ideen«, sagt Anibal. »Unter allen Müttern der Welt ist deine die Letzte, die dich hinter irgendwelchen Kieferorthopäden herlaufen lässt.«
»Das ist nur eine Geschichte!«
»Vermutlich wäre so was echt gut für dich«, sagt er. »Besonders, weil deine Mom …«
Ich unterbreche ihn. »Halt die Klappe! Sag es nicht.«
»Ich wollte nur sagen, weil deine Mom dann deine Zähne nicht immer angucken muss. Mann. Bist du empfindlich.«
Wenn man Anibal so gut kennt wie ich, weiß man, dass das ein Kompliment ist. Irgendwie. Er hat sie nie ausgesprochen, diese geheime Sache mit Mom.
In der fünften Klasse haben wir mal in der Pause Familiengeheimnisse ausgetauscht.
»Seit ich acht bin, schlafe ich schon auf einem kaputten Wasserbett, das mit Plüschtieren ausgestopft ist«, hat er gesagt.
Ich fand es natürlich toll, dass in seiner Familie Sachen auch auf ungewöhnliche Art repariert werden.
»Meine Mutter ist nicht mehr aus dem Haus gegangen, seit ich fünf bin«, sagte ich. Ich wartete. Nichts. Nicht mal ein Blinzeln. Das besiegelte meine Freundschaft zu Anibal Gomez.
»Meine Mutter arbeitet im 1-Dollar-Laden«, sagte er. »Ich kann dir ein Poster von Justin Bieber besorgen.«
»Meine Mutter zieht Melonen im Garten«, sagte ich. »Und mein Dad isst sie alle auf und ich mache mir nichts aus Justin Bieber.«
Anibal ist nach wie vor die vertrauenswürdigste Person, die ich kenne.
Ich muss nicht grübeln, was er wirklich meint, wenn er was sagt. Das ist nämlich mein Problem mit anderen Mädchen, meistens muss man raten, was sie denken, und darin bin ich nicht gut. Anibal sagt es einem immer ganz genau.
Deshalb nehme ich Anibal auch bei seinem offenen Wort, als er anruft, mir zum Geburtstag gratuliert und seine neueste Idee präsentiert. Also eher: seine Theorie.
Solange Anibal existiert, wird es keinen Mangel an Theorien geben.
»Ich führe ein soziales Experiment durch. Und du bist ein Teil dieses Experiments.«
»Was muss ich machen?«
»Tu so, als würdest du mich nicht kennen.«
»Warum?«
»Ich habe beschlossen, ein Hipster zu sein.«
»Das kann man nicht einfach beschließen. Jemand muss dich erst so nennen. Du musst dafür gehalten werden.«
»Ich habe mir einen Hut gekauft«, sagt Anibal. »Und ich glaube, Sandy Showalter hat was für Hipster übrig. Dies ist das Jahr von Anibal und Sandy. Sandy wird mich bemerken und mit mir zur Herbstfete gehen. Weißt du, wahrscheinlich beachtet sie mich nicht, weil da ein anderes Mädchen im Weg steht. Also, deshalb ist das deine Aufgabe bei meinem Experiment.«
»Aber warum stellst du dich Sandy nicht einfach vor? Sogar ich könnte das.«
»So läuft das nicht, Mysti. Mädchen wie Sandy sind nur nett zu Leuten, die dazugehören. Die Welt ist grausam, aber was soll man machen?«
»Meinst du damit, dass ich eine Person bin, die nicht dazugehört?«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Brüllendes Schweigen.
»Ich weiß nicht«, sage ich schließlich. »Warum sollte ich das für dich tun?«
»Ein Wort. Talentwettbewerb.«
»Was? Moment mal. Darüber muss ich nachdenken«, sage ich zu Anibal.
»Talentwettbewerb!«
»Okay, schon kapiert.«
Verdammt!