Das Buch
Februar 1973: Glasgow scheint außer Rand und Band, als neuartige Drogen eine Welle der Gewalt auslösen. Detective Harry McCoy, der nach einer kurzen Auszeit gerade in den Dienst zurückgekehrt ist, hat gleich alle Hände voll zu tun: Mordopfern werden furchtbare Nachrichten in die Brust geritzt; rivalisierende Banden konkurrieren um die Vorherrschaft auf den Straßen; die Korruption nimmt ungeahnte Formen an, und die Eliten der Stadt kennen keine Gnade, wenn es darum geht, ihre Macht zu sichern. Harry McCoy lässt sich nicht beirren und heftet sich einem gnadenlosen Killer an die Fersen. Doch welche Rolle spielt sein ältester Freund Cooper in diesem schmutzigen Spiel?
Der Autor
Alan Parks studierte an der Universität von Glasgow Philosophie. Nach dem Studium arbeitete er als Creative Director bei London Records und später bei Warner Music, wo er für Acts wie All Saints, New Order, The Streets oder Gnarls Barkley zuständig war. Heute lebt er in Glasgow und London. Nach »Blutiger Januar« ist »Tod im Februar« sein zweiter Roman um Detective McCoy.
Lieferbare Titel
Blutiger Januar
Alan Parks
Tod im Februar
Kriminalroman
Aus dem schottischen Englisch
von Conny Lösch
Wilhelm Heyne Verlag
München
Die Originalausgabe February’s Son erschien 2018 bei Canongate Books Ltd, Edinburgh.
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The translation of this book has been made possible with the help of the Publishing Scotland translation fund.
Copyright © 2018 Alan Parks
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Thomas Brill
Lektorat: Oskar Rauch | Herstellung: Udo Brenner
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München,
unter Verwendung des Originalumschlags von Christopher Gale
Umschlagabbildung: Johannes Wiebel unter Verwendung eines Motivs von © Gettyimages/Liam McGrady/EyeEm
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-23558-1
V001
www.heyne-hardcore.de
Für Mary Mackay Robertson
»Der Tod ist nicht das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann.«
Platon
»Night time’s a lonely time …«
Alvin Stardust
Er setzt sich, betrachtet sein Werk. Trägt nur noch Hose und Unterhemd, harte Arbeit ist das. Noch immer stöhnt es, gluckst und hustet, das Blut läuft ihm in den Rachen. Er ist müde, aber bald wird es vorbei sein. Er steht wieder auf, beschimpft es noch einmal als Arschloch, bespuckt es. Sagt ihm, warum es hier ist, obwohl es das eigentlich weiß. Sagt es ihm trotzdem immer wieder. Keine Reaktion. Er holt aus, tritt es seitlich gegen den Kopf. Der Mond kommt hinter den Wolken hervor, taucht die Szene in kaltes, herzloses Licht.
Er nimmt die neue Polaroidkamera aus der Sporttasche. Steckt einen Blitzwürfel auf und richtet sie aus. Ein vertrautes Klicken, beim Drücken des Auslösers, die kleine Birne zischt, die Kamera brummt, dann wird das Foto hinten herausgeschoben. Er klemmt es sich unter den Arm. Geht dichter ran, macht noch eins, dieses Mal aus der Nähe, klemmt sich auch das unter den Arm und wartet zwei Minuten, genau wie’s in der Anleitung auf der Verpackung steht. Er zieht die Rückseite ab, ein gespenstisches Bild bleibt seitenverkehrt auf dem Papier zurück. Der Wind reißt es ihm aus den Fingern. Schöne Überraschung für denjenigen, der’s findet. Die Bilder sind noch feucht. Er fasst sie an den Ecken, legt sie auf den Boden, gestattet sich nicht, sie lange zu betrachten. Das hebt er sich für später auf.
Das Glucksen hat jetzt aufgehört, seinem Mund entweicht kein dunstiger Atem mehr. Tot. Er zieht das Rasiermesser mit dem Elfenbeingriff aus der Tasche und tritt näher heran. Er ist brav gewesen, hat es nicht getan, solange es noch gelebt hat. Jetzt grinst er. Nicht dass er’s bei anderer Gelegenheit nicht trotzdem gemacht hätte, vielleicht wird er ja soft im Alter. Er sagt ihren Namen, beteuert, es geschehe nur zu ihrem Besten. Wünschte, sie wäre hier und könnte zusehen, dann wüsste sie genau, was er getan hat. Er hebt den Arm und lässt das Rasiermesser herunterfahren. Dunkelrotes Blut spritzt in hohem Bogen an seiner Schulter vorbei und klatscht in die Pfützen.
10. Februar 1973
Eins
McCoy musste kurz stehen bleiben, es ging nicht anders. Er stützte die Hände auf die Knie, beugte sich vor, versuchte wieder zu Atem zu kommen, spürte dabei, wie ihm Schweiß über den Rücken lief und sein Hemd unter dem Pulli und dem Mantel an ihm klebte. Er blickte zu dem Uniformierten hinauf. Einer von Murrays Rugby-Jungs. Breit wie ein Schrank und garantiert dumm wie Scheiße. Genau wie die anderen.
»Welches Stockwerk ist das jetzt?«, fragte er.
Das große Arschloch atmete nicht mal schneller, stand bloß da und sah ihn an, Regentropfen glänzten auf seiner Uniform.
»Das zehnte, Sir. Noch vier.«
»Verdammte Scheiße. Das ist ein Witz, oder? Ich bin jetzt schon halb tot.«
Sie stiegen über eine provisorische Treppe nach oben. Zwischen den Gerüststangen waren Seile als Handläufe gespannt, die Treppe selbst bestand aus rohen Betonplatten, die auf das erst halb fertige Bürogebäude hinaufführten.
»Bereit, Sir?«
McCoy nickte widerstrebend, dann ging es weiter. Vielleicht hätte er sich besser geschlagen, hätte er nicht gerade zwei Dosen Pale Ale getrunken und einen halben Joint geraucht, als der Große ihn holen kam. Susan und er hatten gelacht und durchgeknallt getanzt, im Radio liefen die Rolling Stones, da hatte es an der Tür geklopft. Hinter der Milchglasscheibe ein großer Schatten in Uniform. Riesenpanik. Susan riss die Fenster auf und wedelte den Dopegestank mit einem Geschirrhandtuch nach draußen, während McCoy den Kollegen an der Tür möglichst lange in ein Gespräch verwickelte. Zum Glück hatten sie sich die Pille, die er in seiner Brieftasche gefunden hatte, dann doch nicht geteilt.
Sie stiegen noch ein paar Stockwerke höher, bogen um eine Ecke, und endlich sah McCoy den Nachthimmel über sich. Er war grau und schwer, hin und wieder tauchte der Mond zwischen den Wolken und dem Regen auf. McCoy blieb kurz stehen, betrachtete die Aussicht und verschnaufte. Unter ihm lag Glasgow, schmutzige schwarze Gebäude, nasse Straßen. Er ging an den Rand und schaute in die Ferne, wollte nicht zu nah heran, hier oben gab’s keine Wände, nur wieder Seile als Absperrung. Er rechnete sich aus, dass er Richtung Westen blickte, die Kuppel der Mitchell Library war direkt vor ihm, der Universitätsturm befand sich weiter entfernt dahinter. Unter ihnen durchtrennte die gerade im Bau befindliche neue Autobahn das, was von Charing Cross übrig war – ein breiter Strom aus braunem Schlamm mit Betonpfeilern. Er hörte Schritte hinter sich und drehte sich um.
Chief Inspector Murray streckte ihm die Hand entgegen. »Tut mir leid, ein Tag zu früh, aber Thomson ist bis Montag weg. Ich brauche jemanden, der ab sofort hier mitarbeitet.«
Aus irgendeinem Grund trug Murray einen Smoking unter seinem gewohnten Schaffellmantel. Mit allem Drum und Dran: Fliege, Kummerbund, Seidenstreifen an der Hose. Verdorben wurde seine adrette Erscheinung nur durch die schwarzen Gummistiefel, in die er die Hosenbeine gestopft hatte.
»Dinner beim Lord Provost«, sagte Murray, der McCoys Blick gesehen hatte. »Im North British Hotel. Ein ungenießbarer Fraß war das. Hab mich selten in meinem Leben so gefreut, zu einem Mordfall abkommandiert zu werden.«
»Will er dich immer noch überreden, den Job bei Central Scotland zu übernehmen?«, fragte McCoy.
»Er will, aber er beißt auf Granit. Egal, zu wie vielen schicken Abendessen er mich einlädt.« Er nahm die unangezündete Pfeife aus dem Mund, zeigte in die Dunkelheit. »Folge mir, braver Pilger, denn ich irre nicht.«
Ein Pfad aus feuchten platt getretenen Pappkartons führte zum hintersten Winkel auf dem Dach. Ungefähr zehn Leute waren bereits dort, Streifenpolizisten standen daneben, zwei Gerichtsmediziner trugen das Zelt, und sogar Wee Andy, der Fotograf, der in seinem Dufflecoat und dem großen Wollschal beinahe verschwand, war schon erschienen. McCoy hörte die Sirenen in der Ferne; sah zwei Rettungswagen den Fluss zu ihrer Seite hin überqueren, das Blaulicht kreiste. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis die Jungs von der Presse hier eintrafen. War so schon schwer genug, einen ganz gewöhnlichen Mord unter Verschluss zu halten, von einem wie diesem mal ganz zu schweigen. Eine Leiche oben auf dem Dach eines Rohbaus, nur wenige Gehminuten von der Redaktion des Record entfernt? Keine Chance.
»Schöne Aussicht hat man von hier oben«, sagte Murray und zeigte auf die Stadt. »Ich kann die Kathedrale sehen. Wenn’s nicht so schütten würde, könnte man sogar den People’s Palace erkennen.«
»Toll«, sagte McCoy. »Dann hat sich der Aufstieg über vierzehn Stockwerke ja voll gelohnt.«
Murray schüttelte den Kopf. »Und ich dachte, die kleine Auszeit hätte dich verändert, aber nein, du bist derselbe ewig maulende Drecksack geblieben. Wie war’s überhaupt? Bist du zu den Terminen gegangen?«
Allerdings. Drei zweistündige Sitzungen in einem zugigen Hinterzimmer in der Pitt Street. Eine Frage nach der anderen.
Was haben Sie empfunden, als Sie ihn vom Dach stießen?
Was dachten Sie beim Anblick des Toten?
Was haben Sie in Ihrem tiefsten Inneren gespürt? Haben Sie sich schuldig gefühlt?
Tatsächlich hatte er vor allem das überwältigende Bedürfnis verspürt, sich über den Tisch zu beugen und dem Arschloch die Fresse zu polieren. Aber er wusste, wenn er’s tat, würde er niemals wieder zum Dienst zugelassen werden, also blieb er sitzen, sagte möglichst wenig und schaute auf die Uhr. Erst als er nach Hause kam, dachte er an die letzten Worte, die der Therapeut zu ihm gesagt hatte.
Sind Sie noch glücklich in Ihrem Beruf als Polizist? Ist es das, was Sie wirklich wollen?
McCoy nickte. »Ich war bei allen drei vorgeschriebenen Terminen. Und hab meine Wiederzulassung bekommen. Bin dem Dienst psychisch gewachsen, ganz offiziell.«
Murray brummte. »Wie viel hast du dafür bezahlt?«
»Und bei euch? Hab ich was verpasst?«, fragte McCoy. »Was gibt’s Neues bei …«
»Da ist ja unser Junge!«
Sie drehten sich um. Wattie kam auf sie zu. Mit seinem Anorak, seiner Bommelmütze und Fäustlingen aus Aranwolle ähnelte er eher einem freudig aufgeregten Kleinkind als einem angehenden Detective.
Er zog einen Handschuh aus und pumpte McCoys Hand rauf und runter. »Dachte, du bist erst ab morgen wieder im Dienst?«
»Falsch gedacht. Konnte mich nicht länger drücken. Jedenfalls nicht, wenn so ein großer Wichser vor der Tür steht und sagt, dass Murray mich sofort braucht.«
Wattie grinste. »Hast du mich vermisst? O Mann, weil ich dich nämlich vermi…«
»Watson!« Murray hatte genug. »Sorg dafür, dass der Tatort gesichert wird, und zwar sofort! Und hör auf, dich wie ein verfluchter Schuljunge aufzuführen!«
Wattie salutierte und ging durch den Regen zurück zu den Scheinwerfern, die in der hintersten Ecke auf dem Dach aufgestellt worden waren.
»Wie hat er sich gemacht?«, fragte McCoy und versuchte seinen obersten Mantelknopf zu schließen, was mit seinen tauben Fingern gar nicht so einfach war.
Murray schüttelte den Kopf. »Schlau genug ist er, aber er hält das alles für ein verdammtes Spiel. Du musst ihm endlich mal ein bisschen Vernunft beibringen.«
»Und was ist hier los?«, fragte McCoy, sah sich um. »Wieso frieren wir uns hier auf dem Dach die Eier ab?«
»Wirst du früh genug sehen. Komm mit«, sagte Murray.
McCoy folgte ihm über den Pappepfad auf die andere Seite des Daches. Immer drei Schritte hinter Murray, wie früher. Als wäre er nie weg gewesen. Die Pappe löste sich im Regen und unter den Fußstapfen der vielen Leute hier oben bereits auf. Zwei Uniformierte drängten sich in der Ecke, bekamen zwei große Regenschirme über die Köpfe gehalten, auch wenn diese das Wasser kaum abhielten. Beide machten sich an den großen Batterien zu schaffen, wollten sie anschließen.
»Verfluchtes Scheißding«, sagte einer, dann entdeckte er Murray. »Verzeihung, Sir, geben Sie uns noch eine Minute.« Er brummte, und schließlich gelang es ihm, ein Kabel anzuschließen. »Jetzt müsste es gehen«, sagte er und steckte sich die Finger in den Mund, um ihnen erneut Gefühl einzuhauchen.
»Na gut«, sagte Murray. »Worauf wartest du?«
Der Streifenpolizist nickte und legte den Schalter um. Grelles weißes Licht reflektierte auf dem nassen Dach. McCoy hielt sich den Arm vors Gesicht, spähte durch halb geschlossene Augen. Den Anblick von Blut, egal wessen und wie viel, hatte er noch nie gut vertragen, von solchen Mengen mal ganz zu schweigen. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück. Ihm verschwamm die Sicht an den Rändern seines Blickfelds, und ihm wurde schwindlig. Er schloss die Augen, atmete tief durch, zählte von zehn herunter. Dann öffnete er sie wieder, sah überall Rot und wandte den Kopf schnellstmöglich ab.
»Herrgott, du hättest mich auch vorwarnen können, Murray.«
»Hätte ich, hab ich aber nicht«, sagte Murray. »Du musst es überwinden. Hab ich dir tausendmal gesagt, verdammte Scheiße.« Er schaute rüber zu der hell erleuchteten Ecke des Daches und verzog das Gesicht. »Wobei das hier allerdings ganz schön bestialisch ist.«
Und das war es wirklich. Überall Blut. Es war bis an die halb fertigen Mauern gespritzt, tropfte von einer flatternden Plane. Teilweise war es bereits angefroren, die roten Eiskristalle glitzerten im Licht der großen Scheinwerfer. Das meiste aber war klebrig und feucht, verströmte den vertrauten Geruch nach Kupfer-Pennys und Schlachtereien.
McCoy zog sich den Schal vor den Mund, redete sich ein, dass er’s schon schaffen würde, und versuchte sich zu konzentrieren. Es ließ sich nicht vermeiden. Um näher an die Leiche zu gelangen, musste er in die große Blutlache treten. Auch dort war Pappe ausgelegt, aber sie war bereits mit Blut vollgesogen und brachte nicht viel. Vorsichtig setzte er seinen Fuß auf, spürte das gerinnende Blut schwer an seiner Schuhsohle. Eine Plane peitschte laut im Wind, und er schreckte zusammen. Sein Herzschlag normalisierte sich wieder, als er sah, wie sie sich löste und in die Dunkelheit davonflatterte.
Er holte ein paarmal tief Luft und trat nun fest auf, zog seinen Mantel hoch über die Knie und ging in die Hocke. Ignorierte möglichst Kälte und Regen, die unfassbaren Massen an Blut, und konzentrierte sich auf das, was er vor sich sah. Ein junger Mann um die zwanzig. Er saß an aufgestapelte Gerüststangen gelehnt, die Beine vor sich ausgestreckt, die Arme hingen seitlich herunter. Am Ende seines linken Beins befand sich eine Masse aus Blut und Knochen, der Fuß hing gerade so noch daran.
Was auch immer er angehabt hatte, es war verschwunden. Jetzt trug er nur noch eine Unterhose, die bleiche Haut seiner Beine und seines Oberkörpers wirkte bläulich im grellen Licht. In seine Brust waren die Worte »BYE BYE« geritzt, das Blut war ihm über den Torso gelaufen.
McCoy zählte erneut von zehn herunter, so wie der Arzt es ihm geraten hatte, und schaute dem Mann ins Gesicht. Trotz allem lag sein Haar noch ordentlich an der Seite gescheitelt, Regentropfen glänzten darauf. Wenige Zentimeter tiefer allerdings fehlte ein Auge, aus der leeren Höhle hing eine Ader heraus, getrocknetes Blut klebte an seiner Wange. Die Kinnlade hing herunter, sah aus wie gebrochen. Irgendwas steckte in seinem Mund. McCoy wusste, was es war, noch bevor er es genauer betrachtete, was er aber trotzdem tat. Und er hatte sich nicht getäuscht.
Er richtete sich auf, rannte los, wäre beinahe ausgerutscht, schaffte es gerade noch zur Dachkante, bevor er kotzen musste. Als er fertig war, spuckte er noch einmal aus, versuchte den Geschmack von Magensäure und abgestandenem Bier aus dem Mund zu bekommen, schaute seiner Spucke hinterher.
Murray tippte ihm auf die Schulter und reichte ihm einen Flachmann. Er nahm einen Mund voll, spülte den scharfen Whisky von einer Backe in die andere und schluckte. Murray schüttelte den Kopf, sah ihn an, als wäre er ein junger Streifenpolizist an seinem ersten Tag. McCoy gab ihm den Flachmann zurück, Murray schaute ihn immer noch missbilligend an.
»Hör bloß auf, Murray. Dir macht so was Spaß, oder? Die beschissenen Riesenscheinwerfer einschalten, genau wenn ich auftauche? Verdammt noch mal, die haben ihm seinen eigenen Schwanz ins Maul gestopft.«
»Stimmt genau, McCoy. Der Tatort wurde so inszeniert, dass du einen Scheißschrecken kriegst.«
McCoy nickte zu der Leiche rüber. »Wie haben wir davon erfahren?«
»Anonymer Anruf in der Zentrale«, sagte Murray.
»Der Täter?«
Murray nickte. »Wer sonst? Weiß doch sonst kein Schwein, dass er hier oben ist.«
»Sir?«
Sie drehten sich um. Wattie stand mit einer transparenten Asservatentüte in der Hand vor ihnen. »Das hat einer der Kollegen hier gefunden.« Er reichte Murray die Tüte.
Murray zog seine Taschenlampe heraus, schaltete sie ein und leuchtete hinein. Zwei benutzte Blitzwürfel, die Birnen verschmort, außerdem die Rückseiten zweier Polaroidfotos, das dünne Stück Pappe, das übrig blieb, wenn man die Bilder abzog. Er drehte die Tüte um, und sie sahen ein Gespensterbild darauf. Die spiegelverkehrte Ansicht eines zerstörten, toten Gesichts.
»O Gott«, sagte McCoy. »Bilder für später. Reizend. Könnten da Fingerabdrücke drauf sein?«
Murray nickte.
»Wie meinst du das, für später?«, fragte Wattie.
McCoy machte eine Wichsbewegung. Wattie ächzte.
»Mr. McCoy … schön, dass Sie wieder da sind.«
Er drehte sich um und sah Phyllis Gilroy, die Gerichtsmedizinerin. Unter ihrer Regenhaube schien sie eine Art Diadem zu tragen, dazu Perlen am Hals, und unter ihrer schwarzen Regenjacke lugte der Saum eines rosa Chiffonkleids hervor.
»North British Hotel?«, fragte McCoy.
Sie nickte. »Mrs. Murray war verhindert, deshalb war Hector so nett, mich als seine Begleitung mitzunehmen. Leider konnten wir nicht lange bleiben. Mussten vor der Darbietung schon weg. Moira Anderson. Schade, sie hat eine ganz hervorragende Stimme, finde ich.«
»Sie haben sich ja mächtig …«, McCoy suchte nach Worten, »… aufgedonnert.«
»Ich will das mal als Kompliment verstehen«, sagte sie, »oder so was in der Art.«
»Haben Sie ihn sich angesehen?«, fragte Murray.
»Allerdings.«
»Und?«
»Vorläufig?«, fragte sie. Wie immer.
Murray seufzte. Wie immer. »Vorläufig.«
»Pistolenschuss von vorne in den Kopf, genauer gesagt, das linke Auge. Wie Sie gesehen haben, wurde dadurch mehr oder weniger der gesamte Hinterkopf abgesprengt. Es gibt eine weitere Schussverletzung am linken Fußknöchel, scheinbar post mortem zugefügt. Abgesehen davon wurde er geschlagen und getreten, er weist Kratz-, Schürf- und Platzwunden auf. Und natürlich noch der amputierte …«
Sie zögerte kurz.
»… Penis«, fuhr sie fort. »Die Worte auf seiner Brust scheinen ebenfalls post mortem eingeritzt worden zu sein, aber das werde ich noch einmal überprüfen.«
»Warum trägt er keine Kleidung?«, fragte McCoy.
»Das, Mr. McCoy, ist eine Frage, die besser Sie beantworten, nicht ich. Müsste ich allerdings eine Vermutung anstellen, würde ich sagen, weil der Täter wollte, dass das ›BYE BYE‹ auf der Brust gesehen wird, und zwar zuallererst. Wie gesagt, ist nur eine Vermutung. Wenn Hector uns grünes Licht gibt, hole ich die Jungs vom Rettungsdienst, damit sie ihn einpacken, ja?«
Murray nickte, und sie ging über das Dach davon, machte den Rettungssanitätern Zeichen, dass sie loslegen konnten.
McCoy sah ihr hinterher, schaute Murray an und grinste.
»Aha, Hector also? Wusste gar nicht, dass du und die hochgeschätzte Madame Gilroy so eng befreundet seid.«
»Meine Geheimwaffe. Sie ist perfekt, um mir die ganzen hohen Tiere vom Hals zu halten. Sie ist klüger, reicher und vornehmer als die alle zusammen. Ich verstecke mich einfach hinter ihr und lächle. Dann machen die keinen Druck mehr wegen Central Scotland.«
McCoy blies sich in die Hände. Er fror, der strömende Regen hatte ihn mehr oder weniger durchweicht. Der eisige Wind, der oben auf dem Gebäude wehte, machte es kaum besser. »Wissen wir, wer er ist? Ein Nachtwächter oder so?«
Murray hielt ein transparentes Tütchen mit einer blutigen Brieftasche hoch. »Weiß nicht, aber das lag neben der Leiche. Wer auch immer es getan hat, wollte, dass der Mann schnell identifiziert wird.«
McCoy nahm ihm das Tütchen ab und fischte die Brieftasche heraus, versuchte möglichst, kein Blut an die Finger zu bekommen. Er klappte sie auf, entzifferte den Namen auf dem Führerschein.
»Auf keinen Fall«, sagte er. »Das gibt’s doch nicht.«
Er suchte weiter in der Brieftasche, fand einen zusammengefalteten Zeitungsartikel. Faltete ihn auseinander. Las, was dort stand. Konnte es nicht fassen.
»O Gott, das ist er. Er ist es.«
Er hielt den Artikel hoch. Murray schaute drauf, aber seine Augen waren zu schlecht, um ihn im Dunkeln lesen zu können. Er nahm seine Taschenlampe. Leuchtete auf die Überschrift.
TRAUMSTART FÜR CELTIC-NEUZUGANG
Zwei
»Ernsthaft? Du weißt nicht, wer das ist?«, fragte McCoy.
»Woher denn? War in meinem ganzen Leben noch in keinem Fußballstadion«, erwiderte Murray.
»Hast du ihn nie in der Zeitung gesehen? Oder im Fernsehen? Charlie Jackson?«
»Zwei Tee. Einer mit Zucker?«
Die Frau beugte sich aus der Wagenklappe, schob ihnen zwei angeschlagene Becher entgegen. McCoy nahm den mit Zucker, gab den anderen an Murray weiter. Der Teewagen parkte draußen vor Tiffany’s in der Sauchiehall Street, wo man die Leute erwischte, die vom Tanzen kamen. Der Wagen stand seit Jahren dort, die Frau verkaufte Tee, Kaffee und Würstchen im Schlafrock. McCoy erinnerte sich noch, wie er an seinem ersten Abend auf Streife hier Station gemacht hatte. Er nahm einen Schluck Tee. Noch genauso beschissen wie damals.
»Also, für wen hat der Junge gespielt?«, fragte Murray.
McCoy schüttelte den Kopf, konnte kaum glauben, was er da hörte. Ihn beschlich der Verdacht, dass Murray ihn ärgern wollte. »Celtic. Wahrscheinlich sogar noch heute Nachmittag. Unentschieden gegen Partick Thistle.«
»Heute?«, fragte Murray.
»Ja, in Parkhead. Er wurde vor ungefähr einem Jahr in die Stammelf aufgenommen und hat seitdem kaum ein Spiel verpasst. Sehr begabt. Wenn der gut drauf ist, kann er verdammt noch mal zaubern, der geht besser mit dem Ball um als sonst jemand. Wird bestimmt bald verkauft, oder wäre bald verkauft worden, muss man wohl sagen. Wär zu Liverpool gegangen, zu Clough oder so.« Er sah Murray erneut an, nahm es ihm noch immer nicht so richtig ab. »Komm schon, du musst von ihm gehört haben.«
Murray schüttelte den Kopf, tastete seine Jackentaschen auf der Suche nach Tabak ab. »Nein. Der Scheiß sollte verboten werden. Liefert bloß den ganzen Idioten in der Stadt einen Vorwand, sich gegenseitig aufs Maul zu hauen, so was können wir überhaupt nicht gebrauchen.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Jetzt ist es Viertel nach neun. Der Anruf kam um sieben. Wann war das Spiel zu Ende?«
»Wie immer … Viertel vor fünf«, sagte McCoy.
»Nicht viel Zeit für das alles hier«, sagte Murray, nickte das Bürogebäude entlang nach oben. »Er muss ihn sich gleich nach dem Spiel geschnappt haben.«
»Die arme Sau«, sagte McCoy. Er dachte kurz nach. »Weißt du was? Ich kapier’s nicht. Warum will jemand Charlie Jackson erschießen, ihm irgendeinen Scheiß in die Brust ritzen? Der hat doch keinem was getan. Wie alt wird er sein, zweiundzwanzig? Der hat nie was anderes gemacht als Fußball gespielt.«
Sie stellten sich seitlich an den Wagen, ließen eine Gruppe Mädchen auf Keilabsätzen vorbei und durch die Pfützen klappern. Sie trugen knappe Kleidchen, Trägeroberteile, hielten sich Mäntel über die Köpfe, damit ihre Haare nicht nass wurden. Es regnete zwar in Strömen und war eiskalt, trotzdem war’s Samstagabend. Und an einem Samstagabend in Glasgow ließ sich niemand von schlechtem Wetter aufhalten.
»Dieser Fotograf Andy scheint ein bisschen was über ihn zu wissen«, sagte Murray, beobachtete die Mädchen, die sich jetzt in die Schlange vor dem Tiffany’s stellten.
McCoy schaute überrascht. »Andy? Was hat der kleine Scheißer denn damit zu tun?«
»Meinte, er hätte Bilder von Jackson für die Sportseiten aufgenommen. Und anscheinend war Jackson ein gesprächiger junger Mann, jedenfalls hat er ihm alles über seine Verlobte und die Pläne für ihren gemeinsamen großen Tag erzählt.«
McCoy erinnerte sich dunkel an ein Bild in der Zeitung, auf dem Charlie Jackson mit einem Mädchen bei einer großen Wohltätigkeitsveranstaltung zu sehen gewesen war. »So eine Dunkelhaarige? Gutaussehende? Ist sie das?«
Murray stellte seinen Becher auf die Theke. »Genau die. Laut unserem lieben Andy ist sie die Tochter von Jake Scobie.«
McCoy hatte die Zigarette zum Mund geführt, wollte gerade daran ziehen. Jetzt hielt er inne. »Du verarschst mich.«
Murray schüttelte den Kopf. »Wir müssen es noch überprüfen, aber es scheint zu stimmen.«
»Charlie Jackson war Jake Scobies Schwiegersohn in spe?« McCoy schüttelte den Kopf. »Wieso zum Teufel hab ich das nicht gewusst?«
Murray zuckte mit den Schultern. »Was? Ist Harry McCoy gar nicht so schlau, wie er denkt? Also, Sachen gibt’s …«
»Sehr witzig«, sagte McCoy.
»Vielleicht wusste der Junge nicht, worauf er sich einlässt.«
»Wie soll er das nicht gewusst haben? In Glasgow gibt es niemanden, der nicht weiß, wer Jake Scobie ist.« Dann ging ihm ein Licht auf. »Das muss der Grund sein, weshalb er getötet wurde. Vielleicht hat sich Charlie Jackson ein Auswärtsspiel geleistet, wenn du mir die Ausdrucksweise gestattest, und Scobie hat es mitbekommen. Vielleicht hat er …«
»Vielleicht, vielleicht …! Ich weiß nicht, was passiert ist, und du schon gar nicht. Wir müssen es herausfinden. So was nennt man Polizeiarbeit.«
Aber McCoy hatte einen Lauf.
»Fragt sich, was Jackson seiner Tochter angetan hat? Muss schon was Schlimmes gewesen sein. Vielleicht hat er eine andere geschwängert, das könnte die Inszenierung mit dem Schwanz im Mund erklären.«
Murray sah aus wie kurz vorm Hochgehen. »Rede ich denn mit mir selbst? Verdammt. Wir wissen nicht, wer’s getan hat. Hast du verstanden?«
McCoy nickte. »Ja, Sir.«
»Wir halten uns erst mal an die Richtlinien, nicht an verfluchte Hirngespinste. Okay?«
McCoy nickte erneut.
Murray schien vorläufig zufrieden. Endlich hatte er seinen Tabak gefunden. Er klopfte den Pfeifenkopf am Absatz seines Schuhs aus. »Was meinst du, wie er ihn da hochbekommen hat?«
»Hat sich in der Nähe mit ihm verabredet, ihm eine Pistole in den Rücken gehalten und ist dann mit ihm über die Treppe rauf? Aber warum bis ganz nach oben? Macht eigentlich keinen Sinn. Die Gefahr, dass er abhaut, ist viel zu groß, trotz Waffe. Wieso hat er sich die Mühe gemacht? Warum hat er ihn nicht einfach in seiner Wohnung getötet?«
Sie schauten an dem halb fertigen Gebäude hinauf. »Weil du da oben nicht gesehen wirst«, sagte Murray. »Und auch niemand einen Schuss hört. Weil du da oben machen kannst, was du willst. Deshalb.«
Die Scheinwerfer an der Fundstelle auf dem Dach waren noch eingeschaltet, strahlten wie eine Art Leuchtturm in den Regen hinaus. McCoy wollte nicht darüber nachdenken, was sich dort abgespielt hatte, wie viele von Jacksons Schreien ungehört geblieben waren, wie er gefleht und welche Schmerzen er ausgestanden haben musste. Trotzdem leuchtete ihm das mit dem Bürogebäude nicht so richtig ein. Warum keine Brachfläche oder ein leer stehendes Haus? Davon gab’s hier genug. Wäre viel einfacher gewesen.
»Vielleicht hat Scobie einen Auftrag für das Bürogebäude? Er hat doch eine Sicherheitsfirma, oder?«
Murray nickte. »Unter anderem.«
»Vielleicht hat er die Wachen abbestellt, damit keiner mitbekommt, was hier vor sich geht.«
»Wattie soll das überprüfen, dann hat er wenigstens was zu tun«, meinte Murray.
»Wird erledigt. Ein Kopfschuss, das ist wie eine Hinrichtung.«
»So was machen Auftragskiller«, sagte Murray.
»Okay, flipp nicht gleich wieder aus, aber Scobie hat einen«, sagte McCoy.
Murray löste seine Fliege, öffnete den obersten Hemdknopf. »Schon besser. Jetzt krieg ich wenigstens wieder Luft.« Er schaute McCoy an. »Kevin Connolly.«
McCoy nickte. »Weiß nicht viel über ihn, nur dass er die Drecksarbeit für Scobie macht.«
»Na ja, ich schon«, sagte Murray, der seine Pfeife anzündete. »Der liebe Connolly ist ein gemeines Dreckschwein.«
»Gemein genug, um Charlie Jackson so was anzutun?«
»O ja. Für Connolly ist so was kein Problem, ich war bei einer seiner Gerichtsverhandlungen, der Staatsanwalt hat ihn als ›wahrhaftig bösen Menschen‹ bezeichnet. So wie Connolly gegrinst hat, schien er’s wohl als Kompliment zu verstehen.«
»Wurde er verurteilt?«, fragte McCoy.
Murray schüttelte den Kopf. »Zu viele Zeugen hatten plötzlich vergessen, was sie eigentlich aussagen wollten, und außerdem hatte er Archie Lomax als Verteidiger. Der mag vieles sein, auf jeden Fall ist er ein verdammt guter Anwalt. Ich glaube, Connolly hat seit Jahren wegen keiner größeren Sache mehr gesessen. Scobie braucht ihn und dafür zahlt er Lomax gerne sein Honorar, der macht das für ihn möglich.«
Er schaute wieder zu dem Gebäude hinauf. »Wir müssen vor allen Dingen erst mal herausfinden, wie er da auf das verfluchte Dach gekommen ist.«
»Warte mal«, sagte McCoy.
Er ließ Murray stehen und eilte über die Straße. Der Zeitungsverkäufer vor der Variety Bar machte gerade Feierabend und packte ein, zog die Titelseite unter den Drähten hervor, mit denen sie an der aufgestellten Holztafel befestigt war – Tragödie in Kirche –, und knüllte sie zusammen. Zum Glück hatte er noch eine Sports Times übrig. McCoy gab ihm vier Pence, blätterte sie auf dem Rückweg bereits durch. Bis er wieder vor Murray stand, hatte er gefunden, was er gesucht hatte.
»Jackson saß heute auf der Bank. Er hat nicht gespielt. Wir müssen herausfinden, was zwischen Spielende und … du weißt schon … passiert ist. Fährst du jetzt auf die Wache?«
Murray schüttelte den Kopf. »Erst mal in die Pitt Street. Muss dem Superintendent Bericht erstatten.«
McCoy nickte. »Ich fahr zur Wache, mal sehen, ob ich Scobie oder seine Tochter irgendwo erwische. Freu mich fast schon darauf, Archie Lomax an seinem gemütlichen Samstagabend zu stören. Wusstest du, dass Jackson Linksfüßer war?«
»Katholik?«, fragte Murray.
»Herrgott! Nein, na ja, ich weiß es nicht, vielleicht auch das, wahrscheinlich sogar, schließlich hat er für Celtic gespielt, aber ich meine, dass er tatsächlich Linksfüßer war. Der hat seine Treffer immer mit dem linken Fuß gemacht.«
»Ah. Denkst du, deshalb hat ihm der Täter ins linke Fußgelenk geschossen?«, fragte Murray.
McCoy zuckte mit den Schultern. »Kann doch sein. Wobei man ja auch mit abgesprengtem Hinterkopf schlecht Fußball spielen kann. Weiß nicht, ob der kaputte Knöchel da noch einen großen Unterschied macht.«
Murray seufzte. »Jemand muss es den Angehörigen sagen, und zwar bald. Sobald sie wieder unten sind, rennen die Uniformierten da oben zur nächsten Telefonzelle und verdienen sich einen schnellen Zehner beim Record. Wenn rauskommt, was er da auf der Brust hat, muss ich die Scheiße auslöffeln. Wir sollten die Information möglichst zurückhalten, damit wir die scheiß Irren aussortieren können. War dieser Jackson von hier?«
McCoy nickte. »Maryhill, glaube ich.«
Murray nahm seinen Hut ab, kratzte sich unter dem spärlichen roten Haar, das ihm geblieben war. »Dann mach ich das wohl. Was für eine verfluchte Scheiße.«
McCoy sah Murray in den wartenden Streifenwagen steigen, kippte den Rest seines miserablen Tees hinunter und stellte den Becher zurück auf die Theke. Allmählich bewegte sich die Schlange vor dem Tiffany’s nach drinnen. Gruppen kichernder Frauen reichten Halbliterflaschen Wodka untereinander herum. Jungs in Leder- und Jeansjacken ließen sich nass regnen, zeigten, wie hart sie drauf waren, weil sie sich nicht um die Witterung scherten.
Jackson musste ungefähr im selben Alter gewesen sein. Eine hübsche Verlobte, ein toller Fußballer, ein gut aussehender junger Mann. Hatte alles noch vor sich. Aber jetzt nicht mehr. McCoy zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und ging Richtung Innenstadt davon.
Wie sich herausstellte, war ihm Lomax zuvorgekommen. Als McCoy auf der Wache eintraf, lag schon ein Zettel auf seinem Tisch, er möge Mr. Lomax so bald wie möglich zu Hause anrufen. McCoy fluchte, zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Papierkorb. Dann wählte er die Nummer. Eine vornehme Stimme mit Akzent aus Edinburgh meldete sich, Lomax verlor keine Zeit.
»Zehn Uhr morgen Vormittag in meinem Büro. Mr. Scobie wünscht ein Gespräch.«
McCoy legte den Hörer auf, setzte sich auf den Stuhl und sah sich um. Anscheinend hatte sich in den drei Wochen seiner Abwesenheit nicht viel verändert. Papierstapel, Unterlagen, volle Aschenbecher, Akten und schmutzige Teetassen überall auf den Schreibtischen. Der kleine Elektroofen in der Ecke tat sein Bestes, konnte den Raum aber nicht vollständig heizen. Abgesehen von dem Sergeant an der Anmeldung war McCoy der Einzige hier. Samstagabends war immer am meisten los. Alle waren unterwegs, hatten mit dem üblichen Mist zu tun. Prügeleien, Besoffene, Messer und zu Schrott gefahrene Autos. Geschlagene Frauen und abgestochene Jugendliche.
Er nahm die beiden Speckbrötchen, die er sich unterwegs gekauft hatte, aus der fettigen Papiertüte und begann zu essen. Merkte dabei, dass er kurz vorm Verhungern war.
Er war so vertieft in seine Brötchen und die Ausgabe der Titbits, die er auf Watties Schreibtisch gefunden hatte, dass er aufschreckte, als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Er nahm ab.
»Glasgow Police Central. McCoy am Apparat.«
»Harry, mein kleiner Liebling! Höchstpersönlich am Telefon. Was kannst du mir über einen gewissen jungen Fußball…«
Er legte auf, bevor sie weitersprechen konnte. Mary vom Record befand sich auf einer heißen Spur. Hatte nicht lange gedauert. Das Telefon klingelte erneut, woraufhin er sich bückte, den Stecker aus der Wand zog und sich wieder zurücklehnte. In diesem Moment fiel sie ihm ins Auge. Thomsons Korktafel. Die hing schon so lange dort, dass er sie normalerweise gar nicht mehr wahrnahm. Bilder von dickbusigen Frauen, die er aus der Sun oder Men Only ausgeschnitten hatte, ein Plakat, das Hobbygärtner vor Kartoffelkäfern warnte, und eine Titelseite von vor einigen Wochen.
POLIZEIHELD STELLT MÖRDER AUF HAUSDACH
Er ging hin, zog die Nadeln ab und betrachtete sie genauer. Keine Ahnung, woher die das Bild bekommen hatten. Er sah ungefähr zehn Jahre jünger darauf aus. Gar nicht mal schlecht, hätte ihm nicht jemand einen Schnurrbart und eine Nickelbrille ins Gesicht und eine Sprechblase daneben gemalt: Ich scheiß mir ins Hemd!
Er schüttelte den Kopf, heftete die Seite wieder an, und da sah er es, angepinnt zwischen einem Bild von George Best und einem von Jinky Johnson. Charlie Jackson im grün-weißen Trikot lief dem Fotografen mit hoch erhobenen Händen entgegen, hinter ihm das Tor, ein Ausdruck reiner Freude im Gesicht, seine Mannschaftskollegen rannten ihm hinterher, wollten ihn beglückwünschen. Er schien wie im Rausch, völlig unbeschwert. McCoy nahm das Bild ab, steckte es sich in die Brieftasche, ging zu seinem Stuhl zurück, schloss das Telefon wieder an, wählte Susans Nummer und sagte, er würde später kommen.
11. Februar 1973