Buch
Die 37-jährige Georgie hat sich innerhalb ihrer Familie schon immer etwas fremd gefühlt. Während ihre extrovertierte Schwester Kate früh ausgezogen ist und seit Jahren die Welt erkundet, hat sich die schüchterne Georgie nie getraut, die Heimat zu verlassen, sondern sich stattdessen um ihre kranke Mutter Jane gekümmert. Als Georgie nun das erste Mal eine Fernreise unternehmen soll und daher ihre Geburtsurkunde benötigt, stößt sie auf dem Dachboden ihres Elternhauses auf ein Geheimnis, das alles, woran sie bisher geglaubt hat, auf den Kopf stellt – und vor allem die Geschichte ihrer Mutter in ein völlig neues Licht rückt …
Autorin
Clare Swatman arbeitet als Journalistin und schreibt für erfolgreiche Frauenmagazine wie »Bella«, »Woman’s Own« und »Real People«. Nach ihrem Debüt »Before you go – Jeder letzte Tag mit dir« ist »Das Geheimnis meiner Mutter« ihr zweiter Roman bei Blanvalet. Clare Swatman lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in Hertfordshire, England.
Von Clare Swatman bereits erschienen
Before you go – Jeder letzte Tag mit dir
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Clare Swatman
Das Geheimnis meiner Mutter
Roman
Deutsch von
Sonja Rebernik-Heidegger
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
»The Mother’s Secret« bei Pan Books,
an imprint of Pan Macmillan, London.
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Copyright der Originalausgabe © 2018 by Clare Swatman
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Margit von Cossart
Umschlaggestaltung: Favoritbüro
Umschlagmotiv: © Nikaa/Trevillion Images
JF · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-23734-9
V001
www.blanvalet.de
Für Andrew, Lisa, Will und Megan
Ich biege um die Ecke und merke sofort, dass etwas nicht stimmt. Mein Zuhause liegt vollkommen im Dunkeln, es wirkt im warmen Licht der Nachbarhäuser einsam und verloren.
Langsam gehe ich die Steintreppe vor der Eingangstür hoch und stecke den Schlüssel ins Schloss. Er lässt sich mühelos drehen, die Tür öffnet sich mit einem Klicken. Ich trete in den kühlen Flur, wo mich Stille umfängt, nur die Heizung gibt das gewohnte Ticken von sich. Als ich aus meinem Mantel schlüpfe und ihn an die Garderobe hänge, fällt mir auf, dass keine anderen Jacken zu sehen sind, was seltsam ist. Entlang der Wand stehen auch keine Schuhe. Ich trete meine Stiefel aus und lausche nach einem vertrauten Geräusch. Schritte, Atmen, das Blubbern des Wasserkochers. Irgendetwas. Doch da ist nichts.
Der Teppich verschluckt die Geräusche, als ich auf die angelehnte Wohnzimmertür zugehe. Ich drücke sie vorsichtig auf. Der Raum dahinter liegt ebenfalls im Dunkeln, nur das orangefarbene Licht der Straßenlaterne vor dem Haus sickert durch die schweren Vorhänge. Der Kamin ist kalt, und es sieht nicht so aus, als ob vor Kurzem jemand hier gewesen wäre. Ich erschaudere und mache mich auf den Weg den Flur hinunter. Die Tür der Küche steht offen, niemand ist darin. Ich tappe über den Fliesenboden und lege meine Hand auf den Wasserkocher, auf die Herdplatte und schließlich auf die Pfanne, die danebensteht. Kalt.
Auf dem Tisch sehe ich eine leere Kaffeetasse mit einem herzförmigen Lippenstiftabdruck am Rand. Ein angebissenes Plätzchen liegt auf einem Porzellanteller, um den Teller liegen Krümel verstreut. Es sieht so aus, als hätte jemand plötzlich erkannt, dass es Wichtigeres zu tun gab, worauf er einfach aufgestanden und gegangen ist.
Ich gehe die Treppe ins obere Stockwerk hoch, und mir stockt der Atem, als ich plötzlich ein Geräusch höre. Die Dachluke! Ich bleibe stehen, wage es nicht, nach oben zu sehen. Stattdessen lausche ich erneut. Nichts. Die Stille dröhnt in meinen Ohren.
Ich drücke die Tür zum Schlafzimmer meiner Mutter auf. Das Bett ist sorgfältig gemacht, auf dem Kopfkissen liegt ein pinkfarbenes Zierkissen. Mum legt viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres, auch ihr Schlafzimmer ist immer sauber und aufgeräumt, doch als ich mit dem Finger über den Frisiertisch streiche, stelle ich fest, dass er von einer dicken Staubschicht überzogen ist. Genau wie alles andere. Es sieht aus, als wäre seit Jahren niemand mehr hier gewesen, obwohl wir doch erst am Morgen alle zusammensaßen.
Oder etwa nicht?
Ich eile ins nächste Zimmer, das ich mir mit meiner Schwester Kate teile, und drücke die Tür auf. Keine Ahnung, was ich erwartet habe, aber als ich einen Blick hineinwerfe, setzt mein Herz kurz aus. Normalerweise stehen zwei Betten an den Wänden, und dazwischen drängt sich ein kleiner Nachttisch – doch das Zimmer ist leer, als hätte seit einer Ewigkeit niemand mehr darin geschlafen. Auch hier ist alles von einer dicken Staubschicht bedeckt. In der Mitte des Raumes steht ein Tapeziertisch mit einer Tapetenrolle, darauf liegt ein eingetrockneter Pinsel. Ich gehe unsicher auf den Tisch zu und strecke die Hand nach der Tapete aus. Sie ist brüchig, zerfällt beinahe, aber es ist dieselbe, die in meinem Zimmer klebt, solange ich mich zurückerinnern kann.
Meine Knie werden weich, ich weiß nicht, wie lange ich noch aufrecht stehen kann, also hocke ich mich hin und presse die Hände auf die Augen, bis ich Sterne sehe.
Als ich sie wieder öffne, hat sich nichts geändert.
Ich weiche langsam in den Flur zurück und mache mich auf den Weg die Treppe hinunter, klammere mich ans Treppengeländer, um nicht zu fallen. Meine Beine zittern, und mein Herz schlägt so heftig, dass ich das Gefühl habe, es springt mir aus der Brust. Ich versuche, die Panik hinunterzuschlucken, bevor sie mich mit sich reißt. Im unteren Flur angekommen, sehe ich noch einmal in die Küche. Ich trete näher. Meine Augen spielen mir doch sicher einen Streich!
Wie angewurzelt bleibe ich in der Tür stehen. Es sieht aus, als hätte das Haus eine Zeitreise in die 1970er hinter sich. Die Küchenschränke sind blassblau, auf der Arbeitsplatte steht ein Aschenbecher mit einer brennenden Zigarette. Eine Rauchsäule steigt auf und verliert sich in der eiskalten Luft.
Mein Atem geht stoßweise, als ich auf die Hintertür zugehe, die jetzt sperrangelweit offen steht. Ich trete in den Garten hinter dem Haus hinaus. Die eiskalte tiefschwarze Winternacht umfängt mich. Langsam wage ich mich weiter, meine Füße versinken im feuchten Gras. Trotzdem bleibe ich nicht stehen. Etwas zieht mich in den hinteren Winkel des Gartens, wo der Schuppen steht. Auch seine Tür steht offen, sie bewegt sich knarrend im Wind.
Ich bleibe stehen und senke den Blick. Es sieht so aus, als ob hier ein Loch ausgehoben und die Erde anschließend wieder festgedrückt worden wäre.
Wurde hier etwas gepflanzt? Oder eingegraben?
Ich sehe zum Haus zurück, das noch immer vollkommen im Dunkeln liegt, die Fenster scheinen wie schwarze Augen in die Nacht hinauszustarren.
Warum ist niemand hier? Wo sind die anderen?
Was zum Teufel ist hier los?
Ich hole tief Luft und versuche zu schreien, aber es kommt kein Ton heraus. Und so stehe ich mitten im Garten, brülle lautlos um Hilfe und hoffe doch verzweifelt, dass jemand mich rettet.
Das Bettlaken fühlt sich an wie eine Zwangsjacke, ich kann mich kaum bewegen. Ich bin schweißgebadet und warte darauf, dass sich mein Herzschlag beruhigt. Dann befreie ich meine Arme aus der Decke und stemme mich hoch. Ich werde einfach so lange sitzen bleiben, bis alles wieder okay ist.
Matt liegt schlafend neben mir, dem Wecker am Nachttisch zufolge ist es drei Uhr morgens.
Ich versuche weiter, ganz ruhig ein- und auszuatmen. Ich muss mich beruhigen! Es war nur ein Traum!
Auch wenn er in den letzten paar Jahren immer wiederkehrt und sich die Panik jedes Mal sehr real anfühlt.
TEIL EINS
Georgie
Georgie tritt nach einem Stein und beobachtet, wie er über den feuchten Sand davonrollt, an ein paar größeren Felsbrocken abprallt und schließlich gerade außer Reichweite der Brandung liegen bleibt. Sie bleibt stehen und sieht aufs Meer hinaus. Auf diese endlose graue Weite, die sich bis ins Nirgendwo erstreckt. Selbst der Horizont ist nur eine verschwommene, undeutliche Linie in weiter Ferne.
Sie schließt die Augen und legt den Kopf in den Nacken. Da ist nur noch das Pfeifen des Windes, der das Meer aufwirbelt. Die Wellen schlagen an die Küste, die Gischt spritzt ihr ins Gesicht.
Georgie öffnet die Augen wieder. Die Fahnen flattern im Wind, leere Chipspackungen und benutzte Taschentücher jagen über den beinahe menschenleeren Strand. Sie betrachtet ihre Füße. Ihr Blick gleitet über die Fußspuren, die sie im Sand hinterlassen hat und die ihr nun wie ein unheimlicher Schatten folgen, dem sie niemals entkommen wird.
Jemand hakt sich bei ihr unter, es ist ihre Schwester Kate.
»Hallo, du!«
»Hey.«
Sie gehen ein paar Schritte schweigend nebeneinander her. Die Sonne versteckt sich hinter den dichter werdenden Wolken, der Wind wird immer stärker. Er bläst ihnen die Haare ins Gesicht und treibt ihnen Tränen in die Augen. Georgie stemmt sich dagegen, bis sie beinahe vornüberkippt. Sie sieht, dass Kate in ihrem viel zu dünnen Mantel friert.
»Ist verdammt kalt, oder?« Georgie richtet sich wieder auf und rückt näher an Kate heran.
»Ja. Aber was erwartest du, wenn du immer solche Klamotten anziehst?«
»Hey!«
»Stimmt doch. Das ist nicht mehr als eine Jacke, die sich als Mantel ausgibt. Und deine Strumpfhose ist auch nur hauchdünn.«
Georgie wagt einen grinsenden Blick auf ihr Outfit. Sie liebt ihre Schnäppchen aus dem Secondhandladen wie die wild gemusterte Strumpfhose und die übergroße Jacke. Kate dagegen trägt am liebsten zweckmäßige Schuhe, schlichte einfarbige Oberteile und Bootcut-Jeans. Sie versteht Georgies Vorliebe für verschrobene Klamotten einfach nicht.
»Gutes Argument! Aber an deiner Stelle würde ich nicht zu sehr darauf herumreiten. Du zitterst doch selbst wie Espenlaub.«
»Stimmt.«
Sie sind unbewusst stehen geblieben, blicken aufs Meer hinaus. Sie sehen zu, wie sich Schaumkronen auf den Wellen bilden und wieder verschwinden. Derselbe Kreislauf. Immer und immer wieder. Kate stemmt ihre Füße in den Boden, um nicht umgeweht zu werden, und Georgie klammert sich an ihr fest.
»Ich wünschte, Dad wäre hier.«
Es kommt wie aus dem Nichts, und Georgie ist sich nicht sicher, ob sie ihre Schwester richtig verstanden hat. Sie drückt sie kurz an sich.
»Was hast du gesagt?«
Kate bringt ihre Lippen an Georgies Ohr. »Ich wünschte, Dad wäre hier. Du nicht auch?«
Ihre Worte wirbeln im Wind, als müssten sie sich erst zurechtfinden. Als es endlich so weit ist, runzelt Georgie die Stirn. »Wo kommt denn das jetzt auf einmal her?«
Kate starrt aufs Meer hinaus und zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich denke in letzter Zeit öfter an ihn.« Georgie folgt dem Blick ihrer Schwester und schweigt. Natürlich denkt sie auch manchmal an ihren Vater. Und sie fragt sich, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn er noch bei ihnen wäre. Wenn er nicht vor ihrer Geburt gestorben wäre. Wie hätte sie sich entwickelt? Wäre sie ein anderer Mensch geworden? Mutiger, stärker, widerstandsfähiger? Würde sie ihrer Mutter und ihrer Schwester so nahe stehen, wenn ihr Vater noch da wäre und ihre Liebe in Anspruch nähme? Doch bevor Georgie die Gelegenheit hat, etwas zu erwidern, redet ihre Schwester weiter. »Mir ist klar, dass ich ihn nicht wirklich vermissen kann. Ich meine, ich erinnere mich ja kaum an ihn. Aber … er fehlt mir trotzdem irgendwie. Vor allem jetzt, da Mum … nun mal so ist, wie sie ist.«
Georgie nickt. »Ja, mir fehlt er auch.« Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
Sie stehen erneut schweigend nebeneinander und lassen ihre Gedanken die Leere füllen, die eigentlich Platz für mehr Worte geschaffen hat. Sie denken beide an den Mann auf dem Foto, das, solange sie sich erinnern können, auf dem Kaminsims in ihrem Elternhaus steht. An den Vater, den sie nie wirklich kennengelernt haben.
»Glaubst du, er wäre stolz auf uns?«
Georgie streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und steckt sie vergeblich hinters Ohr, denn im nächsten Moment bläst der Wind sie erneut in ihr Gesicht.
»Ja, ich glaube schon.« Kate seufzt. »Aber wir beide wären bestimmt nicht dieselben, wenn er nicht gestorben wäre.« Sie dreht sich zu Georgie herum. »Oder?«
»Nein, vermutlich nicht.«
»Ich wette, du hättest dich nicht in den ersten Mann verliebt, den du geküsst hast, wenn wir einen Dad gehabt hätten …«
»Hey, Moment mal!«
»Ich meine es doch nicht böse, Georgie. Wirklich nicht. Ich meine nur … Na ja, Dad hätte Matt vermutlich nicht mal in deine Nähe gelassen. Zumindest nicht mit dreizehn.«
»Mum war auch nicht gerade erfreut darüber.«
»Stimmt. Aber das ist trotzdem etwas anderes. Du hättest Matt vielleicht nicht so dringend gebraucht, wenn Dad da gewesen wäre.« Sie bricht ab und denkt einen Augenblick nach. »Und seien wir mal ehrlich, Georgie. Ich wäre vermutlich auch nicht so ein Freak.«
»Ach, Kate, sag doch so was nicht!«
»Warum denn nicht? Es stimmt doch! Ich hatte keine Freunde in der Schule, und ich war nie mit einem Jungen aus. Du warst meine einzige Freundin, Georgie.«
»Und du meine, Kate.«
»Ich weiß.« Kate zuckt mit den Schultern und wendet den Blick ab. »Vielleicht wäre es mit Dad anders gewesen. Wer weiß das schon? Jedenfalls glaube ich, dass er stolz auf uns wäre. Seien wir mal ehrlich: Es gäbe wirklich eine Menge, worauf er stolz sein könnte.«
Georgie lächelt. »Stimmt!«
Sie bleiben noch einen Augenblick stehen und reden über dies und das. Der Wind trägt ihre Stimmen aufs Meer hinaus.
Dann plötzlich fragt Kate: »Glaubst du, dass die Sache mit Mum anders gelaufen wäre, wenn Dad nicht gestorben wäre?«
Georgie spürt einen Kloß im Hals und legt eine Hand um ihre Kehle. Sie hebt den Blick. »Ich habe keine Ahnung.«
Kate schüttelt den Kopf und wendet sich wieder ab. »Ich auch nicht. Aber mir gefällt der Gedanke, dass es so wäre.« Und nach einem kurzen Moment des Schweigens fügt sie an: »Ich mache mir Sorgen um sie, Georgie.« Georgie nickt. Schon als Kate am Morgen einen Strandspaziergang vorschlug, war ihr klar gewesen, dass so etwas kommen würde. Nun waren die Worte ausgesprochen, und es gab keinen Weg zurück. »Dir ist doch klar, dass es immer schlimmer wird, oder?«
Georgie nickt erneut. »Ja. Ja, das ist mir klar. Ich war vor ein paar Tagen bei ihr, und sie stand total neben sich. Sie wollte sich mit Dad treffen. Ich habe versucht, ihr klarzumachen, dass sie da etwas falsch verstanden hat, aber sie erinnerte sich nicht daran, wer ich war und wovon ich redete.«
Kate hakt sich wieder bei Georgie unter. »Komm, trinken wir einen Kaffee!«, sagt sie und deutet auf das Café oberhalb des Strandes. Die Fenster sind beschlagen – es hat also trotz des miesen Wetters geöffnet.
»Eine gute Idee.«
Sie laufen rasch über den Sand und dann den kleinen Weg zum Café hoch. Es hat zu regnen begonnen, und Kate zieht die Kapuze ihres Mantels über den Kopf. Sie hält sie unterm Kinn fest.
Im Gegensatz zu draußen ist es im Café überheizt. Die Schwestern schlüpfen eilig aus Jacke und Mantel und hängen sie über ihre Stuhllehnen. Zehn Minuten später sitzen sie gemütlich mit Kaffee, heißer Schokolade und Kuchen an ihrem Tisch.
»Die Sache mit Mum macht mir riesige Angst, Georgie«, setzt Kate ihr Gespräch fort. »Es wird immer schlimmer. Und es geht so schnell. Erinnerst du dich an das Grillfest bei mir zu Hause?«
Georgie nickt und denkt an besagten Tag zurück.
Die ganze Familie war da. Kate, ihr Mann Joe, Georgie, Matt, ihre elfjährige Tochter Clementine, Sandy, die beste Freundin ihrer Mutter und viele andere. Die Party hatten Kate und Georgie als Überraschung zu Janes sechzigstem Geburtstag organisiert.
»Warum tut ihr mir so etwas an?«, schimpfte Jane mit ihren beiden Töchtern, bevor sie lächelnd murmelte: »Ihr seid unmöglich! Ich sagte doch, dass ich keine große Sache daraus machen möchte.«
»Du dachtest nicht wirklich, dass wir dich einfach so sechzig werden lassen, ohne es zu feiern, oder?«
»Doch, das dachte ich! Denn immerhin wollte ich genau das. Ich hab immerhin zwei wohlerzogene Mädchen …«
Georgie grinste. »Ach, Mum, sieh dich mal um …« Sie machte eine ausladende Handbewegung. »Alle sind nur wegen dir gekommen. Weil sie dich mögen. Also sei kein Miesepeter und genieß es.«
Jane nippte an ihrem Drink und stellte das Glas anschließend wieder zurück auf die Anrichte. »Okay, okay. Tut mir leid! Es war ein Schock, das ist alles. Danke, Mädchen, das ist wirklich sehr lieb von euch.«
Georgie drückte ihre Mutter. »Das haben wir wirklich sehr gern gemacht, Mum.«
»Warum gehst du nicht raus und mischst dich unter die Gäste?« Kate half ihrer Mutter vom Barhocker. »Einige haben eine lange Anfahrt in Kauf genommen, um dich heute zu sehen und mit dir zu feiern, und sie haben es sich redlich verdient, dass du sie mit deiner Aufmerksamkeit beehrst.«
»Aber natürlich.«
Jane hakte sich bei ihren Töchtern unter und trat lächelnd auf die Veranda. Es war ein dunstiger Tag, doch die Sonne schien warm auf ihre Arme, eine sanfte Brise sorgte dafür, dass es nicht zu stickig war. Vom Grill stieg Rauch auf, die Gäste standen in Grüppchen im Garten. Ein Kind saß lachend auf der Schaukel, aus der Sandkiste erklang begeistertes Kreischen. Sie machten sich auf den Weg zum Grill und den beiden Männern, die sich hinter einer Rauchwolke miteinander unterhielten.
Matt hielt eine Grillzange in der Hand, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Hallo, du!« Er schlang einen Arm um Georgies Schultern und drückte sie an sich, bevor er Jane einen Kuss auf die Wange gab. »Alles Gute zum Geburtstag! Gefällt dir die Party?«
»Ja das tut sie. Danke, Matthew.« Jane beugte sich über den Grill. »Ohhh, was gibt es denn Leckeres?«
»Wir haben Würstchen, Steaks, gegrillte Garnelen und natürlich auch etwas Halloumi für Clem.« Er wandte sich an seine Frau. »Gibt es hier sonst noch Vegetarier, Georgie?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht.«
Jane sah zu Joe, der gerade einen Schluck Bier trank. »Hallo, ich bin Jane. Und wer sind Sie?«
»Äh …« Joe runzelte die Stirn, er hatte offenbar keine Ahnung, ob das ein Scherz sein sollte oder nicht.
Kate und Georgie warfen sich einen schnellen Blick zu. »Mum, wovon redest du? Das ist Joe!«
»Joe?« Ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
Kate stieß ein nervöses Lachen aus. »Ha, ha! Sehr witzig! Mein Mann Joe. Du kennst ihn seit Jahren.« Sie wollte unbeeindruckt klingen, aber man hörte die Anspannung in ihrer Stimme.
Jane schüttelte verwirrt den Kopf. »Sei nicht albern, Kate! Ich würde mich doch an deinen Ehemann erinnern.« Sie sah Matt an und verdrehte die Augen. »Jetzt mal ehrlich, wollen die beiden ihre alte Mum auf den Arm nehmen?«
»Hm … Ja, vermutlich …« Matts Blick huschte zu Georgie, die hilflos mit den Schultern zuckte.
»Komm, Mum, wir holen dir noch etwas zu trinken.«
Georgie führte ihre Mutter auf die andere Seite des Gartens und ließ sie dort mit ihren Freunden allein. Sie nahm sich vor, später mit Kate über den Vorfall zu sprechen und herauszufinden, was zum Teufel gerade losgewesen war. Doch sie kam nicht dazu, denn kurz darauf kam es zu dem nächsten seltsamen Zwischenfall.
Georgie unterhielt sich gerade mit einigen Nachbarn, die sie schon seit ihrer Kindheit kannte, als sie plötzlich Geschrei hörte.
»Entschuldigt mich bitte einen Moment«, murmelte sie und eilte davon. Ihre Mutter, Kate und Sandy standen vor dem Gartentor hinter dem Haus.
»Ich hab doch gesagt, dass ich einen kleinen Spaziergang machen möchte!«
»Aber Mum, das hier ist deine Geburtstagsparty und außerdem … Na ja … außerdem hast du keine Schuhe an.«
Jane senkte den Blick und schien überrascht, als sie das Loch in ihrer Strumpfhose entdeckte. »Oh, okay! Da hast du natürlich recht. Wie ist denn das passiert?«
»Mum? Kate? Ist alles okay?«
»Ja, ja, alles in Ordnung, keine Angst. Deine Schwester macht nur einen riesigen Aufstand, das ist alles. Mir geht es gut. Ich hole mir jetzt einfach noch einen Drink. Kommst du mit, Sandy?«
Sandy sah Georgie an und zuckte mit den Schultern, woraufhin Georgie kaum merklich nickte. Dann brachte sie Jane zurück zu den anderen Gästen. Ihre Mutter wirkte wieder ganz normal. Glücklich und zufrieden. Was auch immer ihr Unbehagen bereitet hatte, war vorbei.
Kate hingegen sah alles andere als glücklich aus. Ihr Gesicht war gerötet, sie war den Tränen nahe.
»Was um alles in der Welt war denn los, Kate? Was geht hier vor?«, fragte Georgie.
»Ich weiß es nicht. Ich habe gesehen, wie Mum sich aus dem Staub machte, und bin ihr gefolgt, weil ich wissen wollte, was sie vorhat. Aber sie schien es selbst nicht zu wissen. Sie wollte bloß raus und einen Spaziergang machen. Ich habe ihr gesagt, dass sie doch bleiben und sich mit ihren Freunden unterhalten soll, da … wurde sie richtig wütend auf mich.« Georgie umarmte ihre ältere Schwester. »Ich mache mir echt Sorgen um sie, Georgie!«, schloss Kate.
Georgie nickte nur. Ihr ging es ganz genauso.
Obwohl seit diesem Tag nur wenige Wochen vergangen sind, hat sich Janes Zustand dramatisch verschlechtert.
Kate reibt sich seufzend die Augen. »Ich habe sie gestern besucht. Wir saßen mit einer Tasse Tee im Wohnzimmer, doch dann meinte Mum wie aus heiterem Himmel, dass sie später noch ins Rathaus müsse, um mit Mr. Clarke über einen möglichen Zebrastreifen vor der Schule zu sprechen.«
Georgie runzelt die Stirn. »Es gibt doch schon einen Zebrastreifen vor der Schule.«
»Ja, genau. Und zwar seit vielen Jahren. Und Mr. Clarke ist vor drei Jahren in Rente gegangen. Aber Mum war überzeugt, dass das Treffen stattfinden sollte.«
»Und du?«
»Na ja, ich habe ihr gesagt, dass sie sich irrt, und sie hat vollkommen die Nerven verloren. Sie schrie mich an und warf mir vor, mich immer überall einzumischen. Ich hätte von nichts eine Ahnung, sagte sie, und dass sie jetzt gehen müsse. Ich sah hilflos zu, wie sie in ihren Mantel schlüpfte und das Haus verließ. Dann folgte ich ihr. Sie marschierte einmal um den Block und setzte sich im Park auf eine Bank. Ich ließ mich neben ihr nieder. Sie hatte sich ein wenig beruhigt, aber als ich sie fragte, ob alles in Ordnung sei, sah sie mich verwirrt an und wusste anscheinend nicht mehr, warum sie überhaupt auf dieser Parkbank saß. Also habe ich sie nach Hause gebracht und ihr noch eine Tasse Tee gekocht. Danach schien wieder alles okay.«
Georgie weiß nicht, was sie sagen soll. »O Mann!«, ist alles, was sie hervorbringt.
»Ich habe Angst, Georgie.«
»Ich weiß. Ich auch.«
Georgie nippt an ihrem Becher und hält ihn danach noch eine Weile in beiden Händen. Das Gesicht ihrer Schwester verschwimmt hinter dem aufsteigenden Dampf. Kate zeichnet mit ihrem manikürten Finger den runden Abdruck des Bechers auf dem Resopaltisch nach.
»Du hilfst mir doch, oder? Falls Mum Hilfe braucht?«
Georgie betrachtet ihre Schwester, die sie mit flehendem Blick ansieht. »Natürlich.«
»Danke!«
Sie sitzen eine Weile schweigend da und lassen sich von den Geräuschen im Café davontreiben. Das Summen des Kühlschranks, das Zischen und Rattern der Kaffeemaschine, das Klingeln der Glocke über der Tür, die Gespräche der anderen Gäste, die die Luft in dem beengten Raum noch stickiger zu machen scheinen.
Georgie denkt an einen besonders regnerischen Tag zurück, den sie mit Kate und ihrer Mutter zu Hause verbracht hat. Nur sie drei – wie immer.
Die Kindheit der beiden Schwestern ist nicht gerade normal verlaufen, und zwar nicht nur, weil sie ohne Vater aufgewachsen sind.
Es regnete, und sie konnten nicht raus. Wahrscheinlich waren Schulferien, denn Georgie und Kate saßen auf dem Teppich vor dem flackernden Kaminfeuer und spielten Karten. Draußen prasselte der Regen gegen das Fenster, drinnen lief das Kondenswasser die Scheibe hinunter und bildete eine Pfütze auf dem Fensterbrett, die der Kante bereits gefährlich nahe kam. Es war stickig im Wohnzimmer, und die Haare der Mädchen waren feucht vom Schweiß.
Georgies Blick wanderte immer wieder zum Kaminsims, wo halb versteckt zwischen Deko und ein paar Schulfotos von ihr und ihrer Schwester jene Schwarz-Weiß-Aufnahme ihrer Eltern stand, die sie so sehr liebte. Es war das einzige Foto, das sie in ihrem siebenjährigen Leben jemals von ihrem Vater zu Gesicht bekommen hatte und das noch vor Kates Geburt aufgenommen worden war. Ihr Vater und ihre Mutter standen auf einer Brücke. Offenbar war es ziemlich windig gewesen, denn Janes Haare waren ganz zerzaust. Dad grinste glücklich, er hatte den Arm um sie gelegt. Beide blickten auf einen Punkt jenseits der Kamera, als würde hinter dem Fotografen gerade etwas wirklich Witziges passieren.
Es war seltsam. Georgie hatte das Foto schon so oft angesehen, dass sie es mittlerweile gar nicht mehr richtig wahrnahm, doch jedes Mal, wenn ihr Blick darauffiel, überlegte sie, warum die beiden damals so gelacht hatten. Was hatten sie an diesem Tag unternommen? Wo waren sie gewesen? Was hatten sie zu Abend gegessen? Sie malte sich ein ganzes Leben für die beiden aus. Natürlich hatte sie ihre Mutter schon oft nach dem Bild gefragt, doch keine wirklichen Antworten bekommen.
»Worüber habt ihr gelacht?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»Hat Dad etwas Lustiges gesagt?«
»Vermutlich.«
»Wie war er so?«
»Liebevoll. Und wild.«
»Wie meinst du das?«
»Er war einfach verrückt. Albern.«
Diese Beschreibung gefiel Georgie. Es klang, als hätte ihre Mutter viel Spaß mit ihm gehabt.
»Hast du ihn geliebt?«
»Ja …«
Und dann begannen die Tränen zu fließen. Georgie stellte keine weiteren Fragen, um ihre Mutter nicht noch mehr aus der Fassung zu bringen.
Georgie riss ihren Blick von dem Bild los, bevor ihre Mutter bemerkte, dass sie es wieder einmal anstarrte, und betrachtete stattdessen Jane. Sie stand wie immer am Bügelbrett, sprengte den Stoff mit Wasser ein, strich ihn glatt und glitt anschließend mit dem leise fauchenden, dampfenden Bügeleisen darüber. Ihre Mutter runzelte mal wieder die Stirn, die Falten hatten sich tief in ihre Haut gegraben. Irgendwann würde sie aufschauen, Georgies Blick auffangen und seufzen. Das anschließende Lächeln erreichte jedoch nie ihren Blick.
»Alles okay, mein Liebling?«
»Ja, Mummy.«
Georgie drehte sich wieder zu Kate herum, die schweigend Patience spielte und die Karten der Reihe nach auf dem geblümten Wohnzimmerteppich auslegte. Denn eigentlich war überhaupt nichts okay. Nicht wirklich. Sie war zu einer Geburtstagsparty eingeladen, und ihre Mutter erlaubte ihr nicht hinzugehen. Was allerdings wenig überraschend war. Jane ließ sie im Grunde nie irgendjemanden besuchen.
Georgie war sich sogar ziemlich sicher, dass Kate und sie ihr ganzes Leben im Haus verbringen müssten, wenn es nach ihr ginge. Lediglich Sandy, die beste Freundin ihrer Mutter, die sie »Tante« nannten, sorgte dafür, dass die Schwestern ab und zu mal rauskamen. Und auch an diesem Tag war es die Tante, die sie schließlich rettete.
Das Dampfbügeleisen fauchte erneut, und Georgie hatte das Gefühl, als würde dieser Tag niemals enden. Doch dann wurde die Langeweile Gott sei Dank durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen, und sie und Kate sprangen auf und folgten ihrer Mutter in den Flur, um nachzusehen, wer sie besuchen kam. Jane öffnete die Tür, und ein vertrautes Gesicht strahlte ihnen entgegen.
»Tante Sandy!«, schrie Georgie, warf sich auf die Tante und umklammerte ihr Bein, während diese aus dem Regen in das Haus trat.
»Georgie, lass Tante Sandy herein, du Dummchen! Sie kann sich doch kaum bewegen, wenn du dich wie ein Äffchen an sie klammerst.«
Georgie ließ zögernd los.
»Ach du meine Güte, hier dampft es ja wie im Regenwald!« Sandys Locken hafteten wie eine Nonnenhaube an ihrem Kopf. Sie wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und schob sich die Haare aus den Augen.
»Komm und setz dich an den Kamin. Ich lege noch mal Holz nach.«
Wenige Minuten später loderte das Feuer erneut, und Jane hatte das Bügeleisen ausgemacht und die Wäsche in die Küche gebracht. Jane und Sandy setzten sich und tranken Kaffee aus zwei unterschiedlichen Tassen, Georgie und Kate bekamen Fruchtsaft. Georgies Blick huschte zu dem Teller mit knusprigen Plätzchen auf dem Couchtisch, sie wartete ungeduldig darauf, dass jemand zuerst zugriff.
»Also, was macht ihr Mädchen bei diesem Regenwetter denn so? Ich wette, ihr wart noch nicht im Garten, oder?«
Georgie schob die Unterlippe vor. »Nein, es ist echt langweilig.«
»Wie nett!« Jane lächelte und nippte an ihrem Kaffee, bevor sie sich an Sandy wandte. »Ich habe bis jetzt gearbeitet. Morgen wird ein ganzer Stapel Hemden abgeholt, deshalb hatten die Mädchen wohl leider einen ziemlich eintönigen Tag.« Sie zuckte mit den Schultern. »Du weißt ja, wie das ist.«
»Ach, Jany! Warum hast du nicht angerufen? Ich hätte sie dir einen Tag lang abgenommen.« Sandy zwinkerte den Mädchen zu. »Wir hätten uns schon amüsiert, nicht?«
»Ja!«, kreischten die Schwestern.
»Ich weiß, aber ich … Na ja, ich will dich nicht andauernd damit nerven, und du weißt ja, wie ich bin …«
»Wenn es darum geht, dass die Mädchen ohne dich unterwegs sind? Ja, das weiß ich, Jany, allerdings …«
Sie brach ab. Ganz offensichtlich wollte sie nicht mehr sagen. Georgie und Kate wussten ohnehin, dass Sandy der Meinung war, ihre Mutter sollte sie viel öfter unter Leute schicken. Ihre Schulkameraden besuchten sich an den Nachmittagen gegenseitig, und Sandy hatte schon einige Male angeboten, auf sie aufzupassen, doch Jane nahm keine Notiz davon. Bis jetzt hatte sich jedenfalls nichts geändert.
»Weißt du, Tante Sandy, Georgie wurde zu einer Party eingeladen, aber Mum lässt sie nicht hingehen«, erklärte Kate plötzlich.
Georgie wurde rot. Mum hatte doch bereits Nein gesagt. Sie wusste nicht, warum Kate jetzt noch einmal davon anfing.
»Aha, ich verstehe.«
Sandy nippte an ihrem Kaffee und griff dann – endlich – nach einem Plätzchen. Beinahe im selben Moment schoss auch Georgies Hand vor, und sie biss ein Stück ab, sodass die Füllung darin zum Vorschein kam. Das Krachen dröhnte in ihren Ohren.
Die Tante hatte scheinbar nicht mehr zu Kates Vorwurf zu sagen, doch offensichtlich hatte ihre Mutter das Bedürfnis, ihre Entscheidung zu rechtfertigen. »Ich glaube einfach, dass sie noch zu jung für solche Dinge ist, das ist alles. Das verstehst du doch, mein Liebling, oder?«
Georgie nickte kauend, und Krümel flogen aus ihrem Mund auf den Teppich. Sie schluckte. »Ja, wenn ich größer bin, darf ich sicher gehen.«
Sandy ließ Georgie keine Sekunde aus den Augen. Langsam fühlte sie sich unter dem starren Blick der Tante unwohl. Endlich wandte diese sich ab.
»Wenn sie erst mal groß ist, darf sie auf alle Fälle auf Partys gehen, nicht wahr, Jany?«, fragte sie.
»Ja, ganz bald. Versprochen.«
Aber sie wussten alle, dass das nur ein leeres Versprechen war. Jane würde ihre Meinung niemals ändern.
»Erde an Georgie …«
Georgie zuckt zusammen. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie vergessen hat, wo sie ist, und Kate mustert sie besorgt. Sie ringt sich ein Lächeln ab.
»Wo warst du denn gerade, um Himmels willen?«
»Ich hab bloß nachgedacht. Über dich und mich. Und unsere Kindheit.«
»Aha.«
»Erinnerst du dich an die Ferien? Wir mussten all die langen Wochen im Haus bleiben, während Mum bügelte, und wir hatten nur uns beide zum Spielen.«
Kate nickte. »Aber es war nicht jeden Tag so. Wir sind auch ab und zu raus.«
»Mit Mum.«
»Ja, normalerweise schon.« Kate schiebt die letzten Kuchenkrümel mit der Gabel zusammen und steckt sie sich in den Mund.
»Was glaubst du, warum sie immer so überfürsorglich war?« Georgie fährt mit dem Finger durch die Buttercreme, die auf dem Teller klebt, und leckt sie ab. »War sie so, weil sie mit uns allein war?«
»Ich weiß es nicht, Georgie. Und mal ehrlich – so wie es im Moment aussieht, werden wir den Grund wohl nie erfahren. Wir können Mum ja leider nicht mehr fragen. Sie kann sich nicht mal mehr erinnern, was sie vor dreißig Sekunden getan hat. Und das alles ist mittlerweile über dreißig Jahre her.«
»Wäre Mum mit Dad glücklicher gewesen?«
Kate zuckt mit den Schultern. »Vermutlich.«
»Eigentlich … war Mum doch glücklich. Oder nicht?«
Kate betrachtet ihre Nägel und schweigt. Dann atmet sie tief durch. »Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass sie sonderlich glücklich war. Mum hat unsere ganze Kindheit über um Dad getrauert. So, als wäre ein Teil von ihr ebenfalls gestorben.«
»Oh.« Georgie streicht sich die Haare aus dem Gesicht. »Und deshalb gab es auch keinen neuen Mann in ihrem Leben?«
»Ja, ich denke.«
Georgie reibt sich die Schläfe. »Mein Gott, das ist so traurig. Und jetzt verliert sie sich vollständig.«
»Sag das nicht.«
»Wir sollten mit ihr zum Arzt gehen. Was meinst du?«
Kate sieht auf. »Oh … Ich war mit ihr beim Arzt. Das habe ich dir noch gar nicht erzählt. Sie hat noch keine offizielle Diagnose erhalten, aber ich schätze, es ist wohl nur noch reine Formsache. Ihr Arzt ist sich ziemlich sicher, dennoch hat er mir geraten, einen Spezialisten aufzusuchen. Der wird uns mehr sagen können. Es ist einfach schrecklich, Georgie! Ich hasse es, wenn sie total verwirrt reagiert, weil sie etwas nicht mehr weiß, obwohl sie es schon eine Million Mal getan hat. Es bricht mir jedes Mal das Herz.«
Georgie nickt. Sie hat ihre Mutter in letzter Zeit nicht oft genug besucht. Es fällt ihr nicht leicht, sie in diesem Zustand zu erleben. Ihr wird allerdings klar, dass es selbstsüchtig war, Kate sämtliche Verantwortung aufzubürden.
»Neulich am Telefon«, beginnt Georgie zu erzählen, »war sie ziemlich aufgewühlt. Sie hat ganz wirres Zeug geredet. Sie wollte nicht, dass irgendeine Frau etwas irgendwovon erfährt und hat geschworen, nichts zu sagen. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, und als ich sie einige Zeit später noch einmal anrief, erinnerte sie sich kaum noch daran. Du hast also ganz sicher recht. Ihr Zustand verschlechtert sich definitiv. Es tut mir so leid.«
»Was denn?«
»Dass ich mich nicht mehr gekümmert habe. Ich habe so getan, als wäre alles in Ordnung, während du sie besucht und dich um sie gesorgt hast. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben.«
»Sei doch nicht albern, Georgie! Du hast nichts falsch gemacht. Außerdem hilft auch Tante Sandy, so gut sie kann. Allerdings werde ich dich öfter brauchen, wenn Mum erst mal bei dem Spezialisten war und wir eine Diagnose haben. Wir müssen sie dann vermutlich ständig im Auge behalten und dafür sorgen, dass sie alles hat, was sie braucht. Und wir müssen auf eventuelle Verschlimmerungsanzeichen achten. Denn schlimmer wird es auf alle Fälle.«
»Ich weiß.« Der Druck in Georgies Kopf wird immer größer, und sie presst sich die Fingerspitzen an die Schläfen.
»Wir müssen sicherstellen, dass ihr nichts zustößt.«
»Okay. Ich werde tun, was ich kann, das verspreche ich dir. Du brauchst es nur zu sagen.«
»Das werde ich. Danke, Georgie. Ich weiß echt nicht, wie ich das ohne dich schaffen würde.«
Das Café leert sich langsam, kurz darauf beginnt der Kellner, die Krümel zusammenzufegen, die sich allerdings jedes Mal, wenn sich die Tür öffnet, erneut im ganzen Raum verteilen.
»Wir sollten gehen.« Kate steht auf und schlüpft in ihren Mantel. »Kommst du?«
Georgie nickt und steckt die Hände in ihre Jackentaschen. Sie zahlen und verlassen das Café, und wenig später sitzen sie in Kates Auto. Sie hat die Scheibenwischer angemacht und die Lüftung eingeschaltet und wartet darauf, dass die Scheiben wieder klar werden.
Als sie endlich ausparkt und auf die Straße biegt, meint Georgie: »Ich habe einen Entschluss gefasst.«
»Was denn?«
»Ich werde verreisen. Ins Ausland.«
»Wie bitte?« Kate fährt zu Georgie herum und das Auto kommt dem Randstein gefährlich nahe, bevor sie das Steuer gerade noch rechtzeitig herumreißt. »Woher kommt denn das jetzt so plötzlich?«
Georgie zuckt mit den Schultern. »Ich glaube einfach, dass es langsam Zeit wird.«
»Okay.« Kate dreht die Lüftung zurück und riskiert einen weiteren Blick auf ihre Schwester. »Aber warum gerade jetzt?«
»Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht wegen Mum. Was, wenn mir irgendwann dasselbe passiert und ich mein Leben lang nur zu Hause hocke? Es muss doch noch mehr geben als Norfolk, und ich würde es für immer bereuen, wenn ich nichts von der Welt gesehen hätte, nur weil ich zu große Angst davor hatte.«
Die Worte hängen zwischen ihnen, und es sind nur das Prasseln des Regens auf der Windschutzscheibe und das Schaben der Scheibenwischer zu hören, die verzweifelt gegen die Wassermassen ankämpfen. Kate setzt den Blinker, fährt an den Straßenrand und macht den Motor aus. Die vorbeirasenden Autos begraben sie unter einem Wasserschwall, und die Welt um sie herum scheint zu versinken.
Kate lehnt sich zu Georgie hinüber und schlingt unbeholfen einen Arm um sie, Georgie erwidert die Umarmung. Sie ist dankbar für Kates Verständnis.
Als sie sich voneinander lösen, hat Kate Tränen in den Augen. »Ach, Georgie, das sind wunderbare Neuigkeiten! Und du meinst, dass du das schaffst?«
Georgie nickt. »Ja. Ich muss es versuchen, Kate. Sonst werde ich mir mein Leben lang wünschen, ich hätte es getan.«
»Denkst du an … Übersee?«
Georgie erschaudert merklich. »Ja. Ich kann … ich kann es mir nur nicht richtig vorstellen. Dass ich einfach so in ein Flugzeug steige und in den Himmel hinauffliege.« Sie hebt den Blick, doch durch die wassernasse Scheibe ist kaum etwas zu erkennen. Also versucht sie, sich einen Metallkoloss vorzustellen, der dort oben schwebt – mit ihr als Passagierin. Es gelingt ihr nicht. »Es scheint total unmöglich. Furchteinflößend. Und gleichzeitig magisch. Es ist schwer zu erklären.«
»Aber du weißt doch, dass es nicht gefährlich ist, oder? Dass es sicherer ist als in diesem Ding hier.« Kate macht eine ausladende Handbewegung.
Georgie nickt. »Ja, das weiß ich. Theoretisch. Das heißt trotzdem nicht, dass ich es auch glaube.«
»Und hast du schon genauere Pläne?«
Georgie schüttelt den Kopf. »Nein. Wohin genau ich will, darüber muss ich mir erst noch Gedanken machen. Ich weiß, dass ich das schon mal gesagt habe, aber dieses Mal bin ich fest entschlossen. Es ist nicht fair gegenüber Matt und Clementine, wenn ich mich wieder drücke. Wir sollten irgendwohin fliegen, wo es warm ist, wo wir am Strand in der Sonne liegen können, anstatt in Cromer zitternd unter einem Windsegel zu sitzen.« Sie stellt sich Clementines Gesicht vor, wenn sie ihr eröffnet, dass sie eine Flugreise machen werden.
»Glaubst du …« Kate bricht ab. Sie will Georgie nicht beunruhigen. »Glaubst du, dass du deine Flugangst wirklich überwinden kannst? Ich meine … beim letzten Versuch … na ja … da hat es nicht geklappt.«
»Ich weiß.« Der Gedanke zu fliegen ist vollkommen absurd, aber in Wahrheit wollte sie bis jetzt auch nirgendwo hin. Zu Hause fühlt sie sich am sichersten. Kate hat die ganze Welt bereist und Orte gesehen, von denen Georgie nur gelesen hat. Zuerst ist sie allein unterwegs gewesen, später mit Joe. Georgie ist stets zu Hause geblieben und hat sich um ihre Mutter gekümmert, die so zerbrechlich schien, dass man sie nie lange allein lassen konnte. »Aber ich will nicht so enden wie Mum. Gefangen in meinem eigenen Ich, ohne dass ich jemals irgendwo war.«
»Ich verstehe dich so gut.«
»Es gibt da nur noch eine Sache …« Kate sieht Georgie fragend an. »Ich habe keinen Reisepass.«
»Stimmt.«
»Und ich habe keine Ahnung, wo meine Geburtsurkunde ist.«
»Was meinst du damit? Ist sie nicht bei deinen anderen Dokumenten?«
Georgie fährt sich mit der Hand durch die Haare. »Nein. Ehrlich gesagt habe ich sie überhaupt noch nie gesehen.«
»Was?«
»Ja, du hast richtig gehört. Ich habe Mum zwar danach gefragt, aber sie hat sie mir nie gegeben.«
»Oh.«
»Dann hast du deine also?«
»Ja. Ich hatte immer schon eine Kopie. Mum hat sie mir vor Jahren gegeben, als ich meine erste große Reise gemacht habe. Und ich habe sie natürlich auch für die Trauung gebraucht.«
»Matt und ich haben ja nicht geheiratet, und weil ich nie ins Ausland gereist bin, hab ich mich nicht mehr darum gekümmert. Vermutlich hat Mum sie irgendwo. Aber ich kann sie kaum danach fragen – nicht in ihrem derzeitigen Zustand.«
»Nein, das kannst du nicht.« Kate überlegt einen Augenblick. »Ich schätze, du musst selbst danach suchen.«
»Diese Idee hatte ich auch schon. Wirst du mir dabei helfen?« Georgie sah ihre Schwester flehend an.
»Wie denn?«
»Du weißt, dass sie es nicht leiden kann, wenn jemand in ihren Sachen wühlt. Also musst du Mum aus dem Haus locken, während ich suche.«
»Aber sie verlässt das Haus doch so ungern für längere Zeit.«
»Ich weiß, Kate, ich bitte dich auch wirklich nicht gern darum. Trotzdem muss ich das durchziehen, bevor ich kalte Füße bekomme. Hilfst du mir?«
Kate seufzt und trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad. »Klar helfe ich dir. Ich lade sie einfach zum Essen ein, das sollte dir genügend Zeit verschaffen, oder?«
»Hoffentlich.«
»Okay. Ich gebe dir dann Bescheid.«
»Danke. Aber, Kate?«
»Ja.«
»Was ist, wenn ich die Geburtsurkunde nicht finde?«
»Ich würde sagen, dass wir uns darüber erst Gedanken machen, wenn es so weit ist, okay? Allerdings wäre es besser, wenn wir das alles erledigen könnten, ohne Mums gewohnten Ablauf zu stören. Einverstanden?«
Georgie nickt. »Ja, auf jeden Fall.«
»Gut.«
Kate startet den Wagen und reiht sich wieder in den Verkehr ein. Georgie lehnt sich in ihrem Sitz zurück. Ihre Hände sind schweißnass vor Aufregung. Sie hat den ersten Schritt gemacht, nun muss sie es wirklich durchziehen. Sie muss ihre Angst überwinden.
Es gibt kein Zurück mehr.