Zum Buch
Marina, Sara, Carmela und Viviana haben eins gemeinsam: Ihr Leben ist an einem Wendepunkt angelangt. Marina ist von ihrem Mann verlassen worden. Carmela erfährt, dass sie nicht mehr lange zu leben hat und verabschiedet sich von ihrem Sohn. Sara hadert mit der geplanten Ehe und beginnt eine besondere Art der Psychotherapie. Viviana kämpft mit einem belastenden Familiengeheimnis. Und so hinterlassen sie unzählige Nachrichten auf Anrufbeantwortern. Kleine und große Geständnisse, so schonungslos offen wie heilsam.
Zur Autorin
ARANTZA PORTABALES, 1973 in San Sebastián geboren, ist eine der interessantesten Stimmen Spaniens. Mit Flash Fiction – extrem kurzen Geschichten – hat die ausgebildete Juristin bereits früh für Aufregung gesorgt. Für ihren ersten Roman »Sobrevivindo« wurde sie mit dem Premio de Novela por Entregas ausgezeichnet. Mit »Mehr als das Leben« hat sie das spanische Lesepublikum sofort für sich begeistert.
Arantza Portabales
Alles, was geschieht, hat seinen Grund
Roman
Aus dem Spanischen
von Michaela Meßner
Die spanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Deje su mensaje después de la señal« bei Lumen, Penguin Random House Grupo Editorial, Barcelona.
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Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2020
Copyright © 2017 Arantza Portabales
Die Autorin wird von der Literaturagentur Rolling Words, Barcelona, vertreten.
Copyright © der deutschen Ausgabe 2020 btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: semper smile, München
Umschlagmotive: © Plainpicture/Onimage/Mareen Fischinger; Plainpicture/Design Pics/Ben Welsh; Plainpicture/Michael Monteaux; Getty Images/Andriy Onufriyenko
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Alle Rechte vorbehalten.
KLÜ · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-23786-8
V001
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
MARINA
Galaxien im Kaffee
Teleshoppingliebe
Achtzehn Wörter
Gewohnheiten
Etappen
Dschihadisten
Gegenseitige Verpflichtungen
Ein Montag wie früher
Leidseligkeit
Rodrigo, Kater Milan und das Tintenfisch-Sandwich am Strand von Agrelo
Zivilisiert
Die Nachbarin, die ihre Wäsche in den Hof hängt, obwohl es regnet
Diego, Kater Milan und ein Eistee auf der Plaza de la Herrería
Schuld und Sardinen
Noch mehr Sardinen
Anrufe um Mitternacht
Dinge, von denen ich nie gedacht hätte, sie könnten geschehen
Chancen
Wörterbücher, Diaphanoskopien und neun Pappkartons
Rodrigo, Oh my God!
Diego und die Heisenberg’sche Unschärferelation
Ich bin nicht mehr die Frau, die der Kater Milan nicht ausstehen kann
Lektionen von Graf Dracula
Excusatio non petita, accusatio manifesta
Der Katzenhimmel
Dinge, von denen ich nie gedacht hätte, sie könnten geschehen (Zweiter Teil)
Der Tag ist gekommen
Alles, was geschieht, hat seinen Grund
Antibrexit
Warum Oxford?
Wonnepein
CARMELA
Du hörst mir nicht zu
Angst, Lacón und Rübstiel
Zum Teufel, Manuel!
Jesus retten
Bilanz ziehen
Kaffee, Zuckerkringel und eine Flasche Anís del Mono
Die Liste der unerfüllbaren Wünsche
Eine Frage der Prozente
Eine liegende Acht am Handgelenk
Die Schatztruhe
Von Lügen und Wahrheiten und Dingen, über die nie geredet wurde, die aber geschehen sind 8
Warum ich Caride geheiratet habe
Von Einsamkeitsgefühlen, Haustieren und Frauen, die nicht schlafen können
Geständnisse
Gesellschaft
Freiheit
Testament
Wie ich Vicente kennenlernte
Was in den Briefen stand
Erfindungen
Fünf Jahre an einem Tag
Schwarzer Schatten
Freundinnen und Nudelsuppe mit Venusmuscheln
Reden, ohne was zu sagen
Wer trifft für wen die Entscheidungen?
Der Brief
Rübstiel und anderes
Vermächtnisse
SARA
Der Deal
Shoppingtour am Nachmittag
Das Versehen
Einmal volltanken, bleifrei
Küsse und Joints
Running
Die ersten Male
Je suis Emma
Resilienz
Hilferufe
Exil
Psychoanalyse
Home sweet home
Küsse ohne Joints
Pontevedra ist schließlich nicht New York
Therapeutische Freundschaft
Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt
Eheverträge
Chaos
Die Ursache des Chaos
Buntstifte und Kichererbsen
Geständnisse und Fairy
Selbst gewähltes Exil
Allein
Was das letzte halbe Jahr gebracht hat
Tausend Buntstifte
Insekten, Hitze und Stille
(Vorübergehende) Geistige Klarheit
Wahrheiten
Der neue Deal
VIVIANA
Lügen
Perücken
Träume
Vorherbestimmung
8. März
Schweigen
Wenn ich groß bin, dann werde ich …
Geburtstage
Was man vom Busfenster aus so alles sehen kann
Fahrräder
Buchstabenspiel
Was ich dir nie gesagt habe, du aber wissen solltest
Regenschirme
Galizier
Abigaíl
Wüsten
Filme, Namen und Batidas de Piña
Nach Hause gehen
Dorna (Gedanken an einem Samstagnachmittag, zwei Tage, nachdem ich mich nicht traute, nach Hause zu fahren)
Vaterland
Big Brother
Hypotheken
Über die Liebe und den Sex
Teufelskreis
Abschiede
Nachrichten
Piep, piep, piep, der Klang der Geräte
Heimkehren (zweiter Versuch) oder was die Yankees den Murmeltiertag nennen
Zwei Monate
Offene Rechnungen
Lügen (oder nicht)
Für Nando, meine »Kontaktperson im Notfall«.
Für Xoana.
Für Sabela. Immer F. F.
Nichts lässt sich mit dem Wort und dem Gespräch vergleichen. Nichts kommt dem gleich, im richtigen Moment mit der richtigen Person zu sprechen, solange die Person, mit der man spricht, zuhören mag, und die Person, die spricht, reden mag.
CARMEN MARÍA GAITE
Von dem Tag, an dem du mich verlassen hast, habe ich nur noch das Lied in Erinnerung, das gerade im Radio lief. Und dass ich Kaffee trank. Das heißt, eigentlich trank ich ihn gar nicht, ich malte Schaumspiralen in die Tasse. Die Spiralen sahen aus wie eine winzige Milchstraße. Daran erinnere ich mich. Und daran, dass du mich verlassen hast.
Das ist gelogen. Ich erinnere mich außerdem daran, dass ich dir ebenfalls einen Kaffee angeboten habe. Obwohl du nie Kaffee trinkst. Schon gar nicht sonntags. Und das ist wohl das Problem. Was ich dir zu bieten habe, ist nicht das, was du dir wünschst.
Ich erinnere mich, dass ich unsere Nachbarin im Hof Wäsche aufhängen sah. Und dass ich noch dachte: Wie dämlich, es wird doch sowieso gleich regnen. »Kaffee?«, fragte ich noch einmal ganz leise und fühlte mich klein dabei. Wie ein winziges Teilchen dieser Kaffeegalaxie, an der ich beharrlich weitermalte, indem ich den Löffel wieder und wieder in der Tasse kreisen ließ.
Ich war klein, und dein Koffer war riesengroß. Es passten alle deine Sachen hinein. Kleider. Bücher. CDs. Sieben Jahre, in einem gigantischen grauen Koffer verstaut. In dem Koffer, den wir nie benutzt haben, denn wenn er voll war, konnte ihn niemand mehr tragen, du nicht und ich nicht.
Und dann hast du geredet. Aber ich kann mich nicht erinnern, was du gesagt hast, weil ich dir nicht zuhören wollte, deshalb habe ich auf die Schaumspirale gestarrt und mir gedacht, wenn ich mich nur fest genug konzentriere, falle ich in einen tiefen Schlaf und wache noch einmal in dieser Küche auf, an einem x-beliebigen Sonntag, und trinke Kaffee, während du zum Joggen hinausgehst. Wie jeden Sonntag. Aber so kam es nicht. Das Radio spielte weiter. A sky full of stars, von Coldplay. Wie passend, dachte ich und starrte in die Tasse.
Sonst erinnere ich mich an nichts. Nicht einmal an den Moment, als du gingst. Vielleicht hast du die Tür hinter dir zugeknallt. Oder du bist lautlos gegangen. Vielleicht hat es am Ende geregnet. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hat die Nachbarin Glück gehabt. Wenigstens sie.
Hallo, mein Sohn!
Ich spreche mit deinem Anrufbeantworter. Nein, ich bin nicht verrückt geworden. Ich weiß schon, wenn ich mit dir reden will, dann muss ich dich auf dem Handy anrufen, das du von der NGO bekommen hast. Du wirst dir diese Nachricht erst anhören können, wenn du aus dem Ausland zurück bist. Du wirst nach Hause kommen und die vielen Nachrichten finden, die deine Mutter dir hinterlassen hat. Ich weiß, dass du dich erst ein bisschen aufregen wirst, aber ich glaube, es ist trotzdem besser so. Du bist da unten und rettest kranke Kinder, und ich bin zu stolz, um den entscheidenden Anruf zu machen.
Also diesen Anruf hier, den mach ich ja. Nur den anderen nicht. Das Telefonat mit dir persönlich, das dazu führen würde, dass du sofort in den Flieger steigst. Das wäre mir nicht recht. Ich kann einiges aushalten. Tu ich jetzt ja auch. Aber nicht das. Nicht dass du leidest. Deshalb bin ich hier und rede mit deinem Anrufbeantworter. Mir ist das wichtig, dass du weißt, was mit mir ist, aber auch, dass du es jetzt noch nicht erfährst. Ich habe mir gedacht, ich ruf bei dir an und erzähle, wie es steht. Und wenn du dann zurück bist, kannst du dir alles in Ruhe anhören.
Im Grunde ist es wie bei diesen Morgensendungen im Radio, wo man anrufen kann, wenn man etwas auf der Seele hat. Die Leute reden drauflos, als würde ihnen nicht die halbe Welt zuhören. Dass sie eine Geliebte haben. Dass sie schon seit Jahren in ihren Schwager verliebt sind. Dass sie sich nichts mehr wünschen, als eines Tages das Meer zu sehen.
Das kann ja nicht so schwer sein. Man braucht sich bloß vorzustellen, dass einem am anderen Ende der Leitung niemand zuhört. Muss bloß allen Mut zusammennehmen und es aussprechen.
Ich habe Krebs.
Und Metastasen.
So. Jetzt ist es raus.
Es ist zehn Uhr abends. Du arbeitest zwar viel, trotzdem gehe ich mal einfach davon aus, dass du um diese Zeit nicht mehr in der Praxis bist. Wenn es dir recht ist, würde ich unsere Sitzungen ab jetzt lieber auf diesem Weg abhalten. Über deinen Anrufbeantworter. Mach dir keine Gedanken ums Geld, ich sage Papa, er soll dir wöchentlich was überweisen. Du kannst mir per E-Mail antworten (saraviñas.1992@gmail.com). Ich weiß, du hast gesagt, dass du derjenige bist, der die Regeln unserer Sitzungen festlegt. Aber jetzt mal im Ernst. Wir machen das so oder gar nicht. In den vergangenen drei Tagen ist mir das klar geworden. Ich kann mich unmöglich in deine Praxis setzen und dir mein Leben erzählen. Allein schon, weil es darin gar nicht aussieht wie bei einem Psychologen. Es gibt keine Couch, nicht mal ein bequemes Sofa. Nur dich und mich, getrennt durch einen kleinen Tisch. Das ist mir zu nah. Du schüchterst mich ein. Du bist ein sehr großer Mann. Ich denke, wenn wir nicht mehr diese körperliche Nähe haben, die wie eine Barriere wirkt, kann ich freier reden. Und reden müssen wir, denn wenn ich nichts erzähle, dann können wir auch nicht analysieren, was mit mir los ist. Wobei ich gar nicht glaube, dass grundsätzlich was nicht stimmt. Ich bin nur ein bisschen durcheinander.
Ich finde das gut so. Ich spreche mit dem Anrufbeantworter in deiner Praxis, und du antwortest mir per Mail. Und wenn du mit meinem Vater sprichst, dann sagst du ihm, dass ich eine brave Tochter bin und immer persönlich zu dir komme.
Du erzählst ihm nichts von unserem Deal. Und ich verspreche dir, dass es keinen weiteren Versuch mehr geben wird. Auch wenn das mit den Tabletten ein Versehen war. Aber darüber sprechen wir am Mittwoch. Und du kannst beruhigt sein. Es geht mir gut.
Sehr gut.
Ich bin nur ein bisschen durcheinander.
Lügen ist einfach. Das Schwierige daran ist, es gut zu machen. Das ist mir immer schwergefallen. Vielleicht stimmt das auch gar nicht. Vielleicht konnte ich gut lügen, aber du warst einer dieser Superhelden-Papas. Mit Geheimkräften. Du wusstest immer, ob ich die Wahrheit sage oder nicht, da genügte ein kurzer Blick. Und trotzdem hast du mich nie bei Mama angeschwärzt.
Ich musste gerade an die morgendliche Folter denken. Die Frühstücksfolter, damals, als ich noch ein Kind war. Ich war ein elend schlechter Esser, Papa! Ich erinnere mich, wie du mir zugeblinzelt hast, wenn Mama mich vom ersten Stock herunter fragte, ob ich meinen Kaba schon getrunken hätte. Wir sollten uns beeilen. Sonst kämen wir noch zu spät zur Schule. Inés sei schon draußen. Ich habe immer mit lauter Stimme »Bin schon feeeeertig!« gebrüllt. Aber wir wussten beide, wo die Milch landen würde. Im Ausguss.
Lügen war leicht. Als ich noch ein Kind war, war alles leicht.
Heute habe ich Inés getroffen. Hier. In Madrid. Kaum zu glauben, oder? Sie hatte einen ganzen Haufen Kinder dabei. Sie waren für einen einzigen Tag in der Stadt und wollten sich ein Musical anschauen. Ich vermute, das war der Grund, warum sie in der letzten Woche nie ans Telefon gegangen ist. Ich traf sie in der Metro, zur Stoßzeit. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit einer solchen Begegnung? Nicht größer als die Wahrscheinlichkeit damals, dass du nicht merken würdest, dass ich meine Frühstücksmilch nicht getrunken hatte. Inés umarmte mich und erzählte mir, letzte Woche hätte sie Mama im Heim besucht. Das war mir schon zu viel, also wechselte ich das Thema, ich habe sie sogar angelogen (lügen ist leicht) und ihr gesagt, sie sähe jünger aus, hübscher, schlanker.
»Du siehst dünn aus«, hat sie zu mir gesagt. Als ob ich das nicht wüsste. »Isst du auch genug?« Mein Gott! Sie ist so alt wie ich und redet wie ihre Mutter. »Na, und ob!«, hab ich ihr geantwortet. Danach hat sie mir das von Tante Albertina erzählt.
Was hätte ich sagen sollen? Dass ich gar nicht wusste, dass sie Alzheimer hat? Wie hätte ich zugeben sollen, dass ich nie mit Mama spreche? Ich habe so getan, als hätte man mir das schon erzählt, und eine ganz bescheuerte Ausrede erfunden, warum ich nicht angerufen habe. Ich hab ihr gesagt, ich hätte auf der Arbeit gerade fürchterlich viel zu tun. Und dann fing sie wieder davon an, ich hätte nicht extra nach Madrid ziehen müssen, um bei IKEA zu arbeiten. Dass in Loira alle denken würden, ich sei hierhergekommen, weil ich einen wichtigen Job hätte. »Die Arbeit bei IKEA ist okay«, hab ich ihr gesagt. Madrid gefällt mir. Die stickige Hitze in der Metro. Die überfüllten Treppen. Es gefällt mir, sechshundert Kilometer von dem Heim weg zu wohnen, in dem meine Mutter lebt. Es gefällt mir, mit diesem Anrufbeantworter zu reden, Papa.
Na ja, so hab ich ihr das nicht gesagt. Man kann ja nicht einfach alles sagen, was einem so durch den Kopf geht.
»Die Arbeit bei IKEA macht mir Spaß«, habe ich noch einmal gesagt.
Dabei hätte ich ihr vielleicht lieber die Wahrheit sagen sollen.
Ich bin eine Nutte.
Dann fiel mir wieder ein, dass lügen leicht ist. Dass das Schwierige ist, gut zu lügen. Also habe ich meiner Cousine in die Augen gesehen und ihr die Wahrheit erzählt. Die andere Wahrheit.
Dass die Montage der Möbel in dieser Woche kostenlos war.
Dass es drei Energiesparleuchten zum Preis von zweien gab.
Dass ich Weihnachten nach Hause kommen würde.
Ich bin immer noch nicht rauf in den ersten Stock. Es ist erst zehn Tage her, noch bin ich nicht imstande, auch nur einen Fuß auf die Treppe zu setzen. Es sind jetzt anderthalb Wochen, dass du fort bist, und schon habe ich mir eine neue Welt geschaffen. Eine dunkle Welt. Und zwar nicht im übertragenen Sinn. Es ist wirklich dunkel. Ich habe alle Rollläden zugezogen und lebe in einem beruhigenden Halbdunkel, in dem nur der Fernsehbildschirm hell flackert. Wann es Tag ist und wann Nacht, erkenne ich am Programm. Ich ernähre mich von Cornflakes und Kräckern. Ich weiß, das muss ein Ende haben. Es ist bloß ein leeres Zimmer. Aber ich werde wohl so weitermachen. Bis ich sie satthabe, diese ewigen Sendungen, in denen mir Hellseherinnen weismachen wollen, dass ich es, nur weil ich im Sternzeichen Widder geboren bin, nicht verdiene, dass du zurückkommst. Und dass nichts so gut schneidet wie ein japanisches Messer – am besten kauft man gleich ein ganzes Set.
Ich weiß, du würdest zu mir sagen, ich soll damit aufhören. Die Rollläden hochziehen. Die Treppe raufgehen. Mich diesem leeren Zimmer stellen. Das ist das Schöne daran, wenn man mit einer Mailbox spricht. Ich rede und rede und stelle mir vor, was du sagen würdest. Dass ich raufgehen soll. Dass ich aus allem ein Drama mache. Und in diesem Fall muss ich dir sogar recht geben. Ich mach’s auch ganz bestimmt. Nur nicht heute, auf keinen Fall. Ich mach’s morgen. Heute kann ich nicht. Noch nicht. Sind ja erst zehn Tage. Und morgen elf. Ich mache es morgen. Versprochen.
Ich stell den Ton lauter. Alles bleibt, wie es war.
Wir haben noch immer keine Regierung.
Auf einen Bauchmuskeltrainer sollte niemand verzichten müssen.
Du fehlst mir.
Hallo, mein Schatz!
Du ahnst ja nicht, was für eine Erleichterung es ist, deine Nummer zu wählen und diese Nachrichten für dich hinterlassen zu können. Denn, ehrlich gesagt, ich hatte schreckliche Angst, mich nicht ordentlich von dir verabschieden zu können. Es gibt so viele Dinge, die ich dir nie sagen konnte, wie wir beide wissen.
Ich habe mich mein Leben lang nur vor einem gefürchtet. Dass du vor mir sterben könntest. Deshalb bin ich jetzt beruhigt. Denn das wird nicht geschehen. Vorm Sterben hab ich keine Angst. Vor dem Tod muss man sich nicht fürchten. Es stirbt nur, wer gelebt hat, mein Sohn. Ich habe Respekt vor dem Tod. Aber … Angst? Angst ist nichts anderes als Unwissenheit. Ich gebe zu, ich bin vielleicht ein bisschen feige, mit Schmerzen habe ich nie gut umgehen können. Denk nur an damals, als ich in der Küche gestürzt bin und mir das Handgelenk gebrochen habe. Sterben tut bestimmt noch mehr weh. Vor allem dir. Du wirst leiden. Ach je … Darüber will ich nicht reden. Ich weiß eigentlich gar nicht so recht, was ich sagen soll. Was soll ich dir aus meinem Leben erzählen? Dass ich nur noch von Arzt zu Arzt hetze? Mal hier hin, mal da hin, und das jeden Tag. Mir bleibt kaum Zeit, darüber nachzudenken, was noch alles auf mich zukommen wird. Der ganze Alltag ist so anstrengend geworden. Das fängt schon mit der Frage an, was ich essen soll. Denn bei so vielen Arztterminen, immer mit dem Bus ins Krankenhaus, da schaffe ich es nicht zur Siesta nach Hause. Ich hab es mir schon zur Gewohnheit gemacht, für mehrere Tage vorzukochen. Heute bin ich erst um vier nach Hause gekommen. Es war noch was vom Vortag übrig, das sehr lecker aussah. Es ist das Rezept mit den Steckrübenblättern von deiner Tante, die hat sie mir am Samstag vorbeigebracht. Aber ich habe gar keinen Appetit, weißt du? Ich habe den Eintopf fast nicht angerührt. So bleibt mir was für morgen. Wie schon so oft.
Scheint so, als hätte ich heute nur langweilige Sachen zu erzählen. Ich will nämlich nicht übers Krankenhaus sprechen. Über die Untersuchungen. Die Gespräche. Die Ärzte versteht ohnehin keiner. Nicht einmal dich versteht man. Übrigens, die ganzen Ergebnisse von den Untersuchungen hab ich dir in die Schublade vom Esszimmerschrank gelegt. Falls du sie lesen möchtest. Du kannst damit bestimmt mehr anfangen als ich. Und der Arzt, der mich behandelt, heißt Carracedo. Falls du mit ihm reden willst, wenn du irgendwann wieder zurück bist.
Ich habe dir auch die Fotografien dagelassen, um die du mich vor deiner Abreise gebeten hast, die von deinen Großeltern und Urgroßeltern. Du musst sie Tante Dorinda dann zurückgeben.
Und im Eisfach hab ich dir ein paar Würste von der Schlachtung aufgehoben, die hat mir deine Tante gebracht.
Zusammen mit den Steckrübenblättern.
1 Galizischer Vorderschinken
Heute bin ich mit meiner Mutter shoppen gegangen. Das war Papas Idee. Er hat gesagt, ich soll wieder ein normales Leben führen. Als ob es in diesem Haus jemals ein normales Leben gegeben hätte. Als wüssten wir nicht alle, dass es alles andere als gesund ist, vier endlose Stunden mit meiner Mutter zu verbringen. Ich habe gefragt, ob ich nicht auch allein gehen könnte, und sofort gab es tausend Einwände. Es sei ja so schwierig, in Vigo einen Parkplatz zu finden. Mama wüsste besser, was ich brauche. Der Klimawandel bringt die Polkappen zum Schmelzen. Was weiß ich. Keine Ahnung, was sie sonst noch für einen Quatsch erzählt haben. Ich hab mich nur darauf eingelassen, weil ich unbedingt rauswollte aus diesem Gefängnis.
»Eine Frauentour«, so der abschließende Kommentar meines Vaters.
Aber meine Mutter ist keine Frau. Sie ist eine Mutter. Der Unterschied ist klar. Eine Mutter ist eine Frau, die vergessen hat, dass sie einmal eine Frau gewesen ist. Eine, die dir sagt, dass sie dich liebt, aber alles dafür tut, dir das Gegenteil zu beweisen. Die sagt, dass sie dich kennt, aber keinen blassen Schimmer hat, was dir alles durch den Kopf geht.
Ein Beispiel.
Unterwäsche.
Was ich will: einen Pyjama und ein schlichtes Hemdchen. Am besten aus Baumwolle. Oder aus Seide. Einfach geschnitten. Weiß. Oder mit viel Beige.
Was sie auswählt: Babydoll-Hemdchen, Spitze, schwarz oder rot.
Ich denke: Sie ist unerträglich. Und selbst wenn Ausflüge wie diese auch in Zukunft meine einzige Gelegenheit sein sollten, an die frische Luft zu kommen, so ziehe ich es doch vor, zu Hause zu bleiben, aus dem Fenster zu gucken und die Fliesen auf der Terrasse zu zählen (es sind achthundertdreiunddreißig).
Sie denkt: Dass der Klimawandel die Pole zum Schmelzen bringt. Na gut, ich weiß nicht, was sie denkt. Oder doch. Sie denkt, dass ich nicht eine Stunde lang allein durch ein Einkaufscenter gehen kann.
Ich hab schließlich den Mund gehalten, mich nicht gewehrt und am Ende dieses schwarze Babydoll-Teil gekauft. Damit ich mir ihr Gejammer nicht anhören muss, verstehst du?
Zu Hause habe ich die Kleider alle aus den Tüten geholt und einfach in den Schrank gestopft. Ich brauche sie nicht. Noch nicht.
Noch sind es sechs Monate bis zur Hochzeit.
Seit ich im Xanadú arbeite, trage ich jeden Abend eine Perücke. Gestern hat Irina, die Neue, sich meine Langhaarperücke ausgeliehen, eine mit dunklen Locken, die ich kaum benutze. Ich nehme mal an, mit ihren blonden Haaren und ihrem blassen Teint ist es aufregend und neu für sie, als Dunkelhaarige aufzutreten.
Ich weiß nicht, ob ich dir schon von Irina erzählt habe. Sie ist Rumänin und erst knapp einen Monat hier. Sie spricht fast nicht, aber ich kenne ihre Geschichte. Es ist die Geschichte aller Irinas. Irina möchte ihre Familie aus Rumänien nachholen. Ganz sicher hat sie schon jung ein Kind gekriegt. Wahrscheinlich schuldet sie dem Schlepper, der sie nach Madrid gebracht hat, viel Geld. Oder sie zahlt eine Familienschuld ab. Sie denkt, in vier Jahren wäre sie längst schon weitergezogen. Verheiratet oder untergeschlüpft bei dem Mann, der sie hier rausholt. Sie denkt, sie könnte dann vor den Türen des Xanadú vorbeigehen, ohne daran denken zu müssen, was hinter den Türen vor sich geht.
Sie weiß nicht, dass die Türen des Xanadú so sind wie die Drehtüren im Flughafen. Du läufst immer im Kreis und findest den Ausgang nicht.
Ich versuche, ihr zu helfen, genau wie den anderen. Erste Lektion: Immer vorab kassieren. Zweite Lektion: Keine einzige Minute verschenken. Es gibt tausend Lektionen. Schalte das Chronometer an, bevor du anfängst. Und, ganz wichtig: »Nicht ohne Kondom.« Sprich mir diese drei Worte in meiner Sprache nach. Und wenn sie gewalttätig werden, schütze dein Gesicht. Wenn die Sache aus dem Ruder läuft, drück den Knopf, den es in jedem Zimmer gibt. Roscof vermittelt keine Kunden, die Ärger machen. Lächle viel. Schrei sehr laut. Als würdest du kommen wie eine läufige Hündin. Manche lassen ziemlich viel Trinkgeld dafür springen. Bewahre das Geld an einem sicheren Ort auf. Versuch, möglichst viel zu sparen. Und lass vor allem die Finger von den Drogen.
Ich habe tausend Lektionen für die ganzen Irinas. Lauter Sachen, die mir selbst niemand beigebracht hat.
Sie sieht toll aus mit der Lockenperücke. Mir gefällt die mit dem blonden Pagenkopf besser. Damit sehe ich aus wie Doris Day. Doris Day hat dir immer gefallen, stimmt’s, Papa? Genau deshalb ist es auch meine Lieblingsperücke. Ich setze sie mindestens einmal die Woche auf, auch wenn Roscof sagt, dass den Männern die blonden Langhaarperücken, wie man sie im Playboy sieht, besser gefallen.
Ich habe tausend Perücken.
Es gibt tausend Vivianas.
Tausend Irinas.
Ein Xanadú.
Lieber Jorge,
ich dachte gerade, du solltest mal vorbeikommen und deine Sachen holen. Du hast ziemlich viel dagelassen. Ich habe alles im Gästezimmer auf einen Haufen geschmissen. Und eine Liste gemacht, die les ich dir jetzt mal vor:
Ich hatte keine Lust, noch mehr aufzuschreiben, deshalb ist die Liste unvollständig. Es ist noch so viel mehr da. Du hast dir wahrscheinlich schon gedacht, dass die sieben Jahre unseres gemeinsamen Lebens nicht in den grauen Koffer passen.
Und vor allem hast du diese achtzehn Wörter hier liegen gelassen.
Ich bin grad nicht da! Ruf später noch einmal an oder hinterlass mir eine Nachricht nach dem Signalton.
Ich bin so wütend, mein Sohn, so was von wütend, ich könnte schreien. Ich sitze im Bus. Komme gerade vom Arzt. Ich erzähle dir jetzt aber nicht, was sie mir gesagt haben. Ich leg dir die ganzen Laborergebnisse in die Schublade im Wohnzimmerschrank, da kannst du sie lesen, wenn du wieder da bist. Nichts Neues. Ich werde sterben. Jetzt stellen sie Berechnungen an, wie schnell es gehen wird. Und ich rechne mir aus, wie viele Anrufe mir noch bleiben. Zwanzig, fünfundfünfzig, zweiundachtzig …
Ich muss flüstern. Neben mir sitzt zwar niemand, aber man weiß ja nie. Wie schon gesagt, ich bin so dermaßen wütend …
Heute musste ich lange warten. Die Krankenschwester, die mich ja schon kennt, hat gesagt, ich solle doch einen Kaffee trinken gehen. Und weil ich mich in diesem Krankenhaus schon ganz wie zu Hause fühle, hab ich den Weg durch die Notaufnahme genommen. Und du ahnst ja nicht, wen ich da gesehen habe. Den Bankdirektor mit seiner Frau. Sie war völlig außer sich und hat ihm die ganze Zeit mit den Fäusten auf die Brust getrommelt. Hat geheult und dazwischen immer wieder geschrien, das sei alles seine Schuld. Er hat so getan, als würde er mich nicht erkennen. Ich hab mich ebenfalls dumm gestellt und bin im Wartesaal sitzen geblieben. Na ja, ich wollte da doch nicht weggehen, ohne zu erfahren, was passiert ist.
Dann ist der Arzt gekommen und hat ihnen gesagt, ihrer Tochter gehe es gut, sie hätten ihr den Magen ausgepumpt. Und sie werde durchkommen.
Weißt du, ich kenne dieses Mädchen. Und du auch. Ja, mein Schatz … Wie hieß sie noch? Sara. Sie ist mit deinem Cousin Manuel befreundet. Sie ist noch ganz jung, aber ich bin mir sicher, dass du dich an sie erinnerst.
Was für eine verrückte Welt! Ich zähle die Tage, die mir noch bleiben. Und würde alles tun, damit es eher dreißig als zwanzig Tage werden. Eher zwanzig als zehn. Und ein junges Mädchen, das alles hat, will sterben. Jung, hübsch, und reich … Und so ein netter Freund! Er kam angerannt, als ich gerade gehen wollte, solche Sorgen hat er sich gemacht, das hat man gleich gesehen, der würde sterben für sie.
Ich begreife das alles nicht. Ich bin so wütend, dass ich mit dem Anruf nicht bis zu Hause warten konnte. Weißt du was, Manuel? Diese Welt steht kopf. Hoffentlich stirbt sie! Sie hat es nicht anders verdient. Das meine ich jetzt nicht ernst, aber … Es ist einfach nicht gerecht! Zum Teufel, Manuel!
Mit dem, was du mir gestern in deiner Mail geschrieben hast, bin ich überhaupt nicht einverstanden. Wenn ich sage, meine Mutter denkt, dass die Polkappen schmelzen, dann ist das ironisch gemeint. Ich bin eine kluge Frau mit einem Hang zum Sarkasmus. Klares Zeichen für eine depressive Persönlichkeit? Wo hast du denn studiert? Bei einer dieser billigen Fernuniversitäten? Oder hast du dir den Titel am Kiosk zusammengekauft, immer schön die Heftchenbeilage der Psychologiezeitschrift gesammelt?
Es ist wegen der Tabletten. Sara hat eine Überdosis Tabletten geschluckt. Sara wollte sich umbringen. Sara ist verrückt, hat Depressionen. Sara ist bipolar, schizophren, neurotisch, dement. Dafür bezahlt man dich doch, oder? Damit du mir sagst, dass etwas in meinem Kopf nicht stimmt, weil ich in der dritten Person von mir spreche. Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass ich in dem Fall schon längst in einer dieser Kliniken gelandet wäre und ein Psychiater mich ruhiggestellt hätte? Wenn es mir wirklich so schlecht gehen würde, wie du behauptest, dann wäre es als Behandlung gar nicht ausreichend, dass ich einmal die Woche mit einem Psychologen telefoniere, noch dazu mit dem Sohn des besten Freundes meines Vaters. Übrigens, darüber haben wir ja noch gar nicht gesprochen. Verbietet dein Ethikkodex es dir eigentlich nicht, Freunde zu behandeln? Na gut, Freunde im engeren Sinne sind wir nicht. Aber wir sind fast gleich alt. Und kennen uns schon von Kind an. Dein Vater und mein Vater spielen zusammen Golf. Was in dem Häuschen geschehen ist, das ist nun mal geschehen. Siehst du? Das ist genau so ein Satz, den ich nicht aussprechen könnte, wenn ich in deiner Praxis sitzen würde. Falls man deine Praxis überhaupt so nennen kann. Du solltest ernsthaft darüber nachdenken, dir andere Räume zu suchen, mit dem Büro wirst du kein Geschäft machen. Ich könnte dir bei der Einrichtung helfen. Das kann ich sehr gut … Wo war ich gerade stehen geblieben? Ach ja, bei meinem kleinen Ausrutscher. Also. Fassen wir zusammen.
Eines Tages stand Sara auf. Trank einen Saft. Ging zum Joggen. Lief fünfmal um den Block. Kam wieder nach Hause. Nahm eine Dusche. Telefonierte mit ihrem Freund. Schluckte eine Packung Alprazolam. Oder waren es zwei?
Und wenn ich dir sage, dass das kein Selbstmordversuch war, würdest du’s mir glauben, Bruno?
Nein.
Also ist es egal.
Sara ist verrückt. Sara hat sich beinahe das Leben genommen.
Denk, was du willst. Und mail mir bitte deine Kontonummer.
Gestern habe ich geträumt, ich wäre wieder ein Kind. Mama und Tante Albertina saßen vor dem Haus meiner Großmutter, und Inés und ich spielten neben dem Laden von Cachón Himmel und Hölle.
Es war heiß. Sehr heiß. Inés und ich wollten an den Strand, aber das wurde uns nicht erlaubt, weil wir erst unsere Siesta machen sollten.
Wenn ich es recht bedenke, kam es mir gar nicht wie ein Traum vor. In Träumen passiert immer etwas Seltsames. Etwas, das einen daran zweifeln lässt, dass das, was passiert, echt ist. Kleine geheime Botschaften. Zum Beispiel schwimme ich jedes Mal, wenn ich vom Strand von Loira träume, in Strandnähe über die felsigen Untiefen, die eigentlich im dunklen Meer lauern. Und die manchmal Menschenleben fordern. Sie sehen aus wie Monster. Loira ist voll davon. Ich träume auch von Riesenwellen. Oder dass ich im Wasser versinke und nicht wieder herausfinde. Und von dir. Ich träume davon, dass du mit Großvater am Strand bist und Netze knüpfst. Und das ist ein klares Zeichen, dass es ein Traum ist … Du hast nie Netze geknüpft, Papa. Vom Meer wolltest du nichts wissen.
Aber in diesem Traum, der mich noch einmal einen ganz gewöhnlichen Tag im August meiner Kindheit erleben ließ, geschah nichts Seltsames. Inés ärgerte mich so, dass ich sie an den Haaren zog. Tante Albertina gab mir eine Ohrfeige, und Mama sah weg, wie immer. Dann kamst du und hast mich heulend auf dem Boden sitzen sehen, vor der Tür von Cachóns Laden, und du hast mir fünfzig Peseten gegeben, damit ich mir zwei Zitroneneis am Stiel kaufen kann. Eins für mich und das andere für Inés.
Ist das so gewesen, Papa? Erinnerst du dich? Ich glaube schon. Wenn du jetzt am anderen Ende wärest, könntest du mir antworten. Wenn Tante Albertina nicht Alzheimer hätte, könnte sie mir antworten. Wenn ich eines Tages Mama besuchen gehe, kann ich sie fragen.
Wenn, wenn, wenn …
Wenn ich wieder ein Kind wäre.
Wenn ich wirklich bei IKEA arbeiten würde.
Wenn ich nach Loira zurückgehen würde.
Wenn ich nicht in zwei Stunden wieder ins Xanadú zur Arbeit müsste.
Heute bin ich vor die Tür gegangen. Ich hatte es satt, mir meine Sachen immer nur im Internet zu bestellen. Ich hatte das kalte Essen satt und die in der Mikrowelle aufgewärmte Lasagne. Ich wollte auf keinen Fall irgendjemandem aus meinem Viertel begegnen. Also habe ich das Auto genommen und bin ganze fünfzig Kilometer gefahren. In Santiago bin ich dann einkaufen gegangen. Erst wollte ich in Caldas oder in Padrón anhalten, aber das Autofahren und Musikhören tat mir gut. Und kaum hatte ich michs versehen, war ich auch schon angekommen.
Eingekauft hab ich in einem Supermarkt, einem Mercadona. Um dich ein bisschen zu ärgern, weißt du. Du kannst den Mercadona nicht ausstehen. Ich kann Cornflakes nicht ausstehen. Gelinde gesagt. Und ich habe eingekauft, als hätte ich zu Hause fünfzig Leute zu bekochen. An der Kasse fiel mir auf, dass ich Kaba im Einkaufswagen hatte. Du bist der Einzige, der Kaba trinkt. Also bat ich die Kassiererin, ihn zu stornieren. Und die laktosefreie Milch auch. Und das alkoholfreie Bier. Und viele andere Sachen, die »frei von« waren. Die Macht der Gewohnheit.
Ich wurde nervös und nahm meinen ganzen Einkauf wieder vom Band. Ich stellte alles wieder zurück ins Regal, während ein sehr sympathischer Typ mir hinterherging und immer wieder betonte, das sei nicht nötig, das würden sie schon machen.
Eigentlich weiß ich nicht, wieso du diesen Supermarkt nicht leiden kannst, Jorge. Doch, ich weiß es. Nicht der Supermarkt ist es. Ich bin es, die du nicht leiden kannst. Oder nein. Vielleicht liebst du mich nur nicht. Ich weiß nicht, ob das aufs Gleiche herauskommt. Vielleicht passiert Letzteres viel leichter. Vielleicht ist unsere Ehe ganz einfach »frei von« etwas gewesen.
Beim zweiten Anlauf habe ich den Wagen vollgeladen mit tiefgefrorener Lasagne, Cornflakes und Crackern.
Und dann bin ich noch ein drittes Mal losgegangen. Um eine Packung Kaba zu kaufen. Für den Fall, dass du zurückkommst.
Auf der Rückfahrt habe ich geweint, die ganzen dreiundsechzig Kilometer. Weißt du was? Es geht mir besser. Morgen gehe ich wieder raus. Vielleicht schreibt der Arzt mich gesund. Dann kann ich wieder arbeiten gehen. Im Viertel einkaufen. Meine Frühstücksgewohnheiten ändern. Kaba trinken statt Kaffee. Kaba Zero. Kalorienfrei. Frei von dir.