FEDERICA BOSCO arbeitet als Autorin und Drehbuchautorin und hat schon zahlreiche Bestseller veröffentlicht. In Und vor uns liegt das Glück erzählt sie von einer wunderbaren Freundschaft, der großen Liebe und dem Schicksal, das alles verändern kann. Sie lebt in Mailand.
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Federica Bosco
Und vor uns liegt das Glück
Roman
Aus dem Italienischen
von Sigrun Zühlke
Die italienische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Ci Vediamo un Giorno di Questi bei Garzanti S.r.l., Mailand.
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Copyright © 2017 by Federica Bosco
© 2017 by Garzanti S.r.l., Milano
Gruppo editoriale Mauri Spagnol
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Penguin Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlag: bürosüd
Umschlagmotiv: bürosüd unter Verwendung einer
Illustration von www.buerosued.de
Redaktion: Sylvia Spatz
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-23800-1
V001
www.penguin-verlag.de
Für Cristiano
Wir sehen uns die Tage.
Es ist nur schwer vorstellbar, dass es jemals zwei Menschen gegeben hat, die gegensätzlicher waren als Cate und ich.
Nicht einmal bei langem Überlegen konnten wir eine Gemeinsamkeit finden: Sie hatte absolutes Vertrauen in ihren Nächsten, ich misstraute sogar meinem eigenen Schatten; sie strahlte wie ein Leuchtfeuer, ich höchstens wie ein Glühwürmchen; sie war auf jeder Party die Rose, ich das Gänseblümchen.
Und doch waren wir seit unserer ersten Begegnung auf dem Schulhof, als wir uns nebeneinander auf dem Mäuerchen wiederfanden und lustlos unsere Pausenbrote betrachteten, unzertrennlich geworden.
»Was hast du auf deinem Brot?«, hatte sie mich gefragt.
»Schinken …«, antwortete ich niedergeschlagen. »Wie immer.«
»Würdest du gegen zuckerfreie Hirsekekse tauschen?«, fragte sie mich halbherzig. »Backt meine Mama selber.«
Ich gab ihr mein Schinkenbrötchen und sie reichte mir mit schuldbewusster Miene ihre Papiertüte.
»Ich warne dich … die schmecken echt eklig!«
»Macht nichts, ich hab sowieso keinen Hunger«, versicherte ich ihr.
Ihre großen Augen leuchteten glücklich auf, als sie in das Schinkenbrötchen biss.
»Aber wenn meine Mama dich fragt, hab ich niemals Schinken gegessen, okay?«, sagte sie mit vollem Mund. »Sie ist Makrobiotin, und wenn sie erfährt, dass ich totes Tier gegessen hab, dann lässt sie mir den Magen auspumpen!«
Ich nickte stumm, ohne die geringste Vorstellung davon, was das war, eine Makrobiotin, aber unendlich stolz darauf, mit jemandem ein Geheimnis zu teilen.
Dann öffnete ich die Papiertüte, steckte die Hand hinein, zog einen Keks heraus und steckte ihn in den Mund.
Eine fade schmeckende, zähe Masse klebte an meinen Zähnen.
»Die schmecken wirklich eklig!«, nuschelte ich mit vollem Mund.
Wir mussten gleichzeitig lachen und prusteten Keks- und Brötchenkrümel heraus.
Von diesem Augenblick an waren wir Freundinnen.
Ich hatte nicht viele Freundinnen.
Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich überhaupt keine.
Vielleicht weil ich rote Haare hatte und bleich wie ein Gespenst war, vielleicht aber auch nur, weil ich schüchtern und unscheinbar war, ein Gänseblümchen eben. Jedenfalls gehörte ich keiner Gruppe an, wurde nie zu Geburtstagen eingeladen und beim Volleyball immer als Letzte und mit einem resignierten Seufzer in ein Team gewählt.
Cate war die Erste gewesen, die mich angesprochen hatte, ohne ein brüskes »Rück mal!« oder »Lass mich mal abschreiben!«, die typische Anrede, seit ich in die Mittelstufe gekommen war. Plötzlich für eine Mitschülerin sichtbar zu sein, war eine vollkommen neue Erfahrung für mich.
Ab dem 18. April 1990 war ich nicht länger ein Geist.
Es war ein Mittwoch, um genau zu sein.
Am Nachmittag jenes Tages fuhren wir zufällig im selben Bus, und sie lud mich tatsächlich ein, mich neben sie zu setzen.
Ich war vom Typ her eher still und zurückgezogen, aber zum Glück war Cate ein Mädchen, das munter drauflosplapperte, und als sie an ihrer Haltestelle ausstieg, rauschte die plötzliche Stille mir förmlich in den Ohren.
Ich klebte mit der Nase an der Scheibe und lächelte ihr zu, bis der Bus wieder anfuhr, und sie winkte mir zum Abschied. Dann rollte sie die Schultern, um die Träger ihres Rucksacks zurechtzurücken und entfernte sich.
Cate brachte mich zum Lachen.
Sie polsterte meine ungemütlich harte und kantige Welt ab.
Bislang hatte ich mich in meinem Leben immer nur als Gast gefühlt und wollte um Gottes willen nicht auffallen, während Cate sich über nichts Gedanken machte.
Keine Ahnung, was uns an der jeweils anderen anzog.
Besser gesagt, ich habe nie verstanden, was sie an mir so anziehend fand, aber ich glaube, dass sie sich diese Frage nicht einmal gestellt hat: Cate war wie Schwarz, sie passte einfach zu allem.
In den folgenden Jahren machten wir fast jeden Nachmittag zusammen Hausaufgaben, entweder bei mir oder bei ihr.
Selbstverständlich war von uns beiden ich die Streberin, von der sie abschrieb, und sie diejenige, die mich auf Partys schleifte. Ich war die, die sie auf dem Mofa nach Hause fuhr, wenn sie zu viel getrunken hatte, während sie mir flotte Klamotten zum Ausgehen lieh. Ich war diejenige, die den Anstandswauwau spielte, wenn sie mit einem Jungen ausging, während sie sich für mich in die Bresche warf, wenn jemand unhöflich zu mir war.
Und auch wenn sie mit ihrem dunklen Teint, hochgewachsen, mit breiten Schultern und einem schönen Busen, allen sofort ins Auge fiel und ich, zerbrechlich und mit zartem Teint, immer aussah, als erholte ich mich gerade von einer Tuberkulose …, waren wir ein kleines Team.
Gemeinsam mit ihr überstand ich die Stürme der Adoleszenz wesentlich heiterer, als ich es allein je gekonnt hätte.
Sie war wie eine große Schwester.
Meine Eltern hatten mich spät bekommen, vielleicht hatten sie die Hoffnung auch schon bereits aufgegeben. Und so brachte diese so inständig herbeigesehnte Schwangerschaft ihre Pläne durcheinander.
Sie standen kurz vor dem Rentenalter, ich war ein Teenager – da waren Konfrontationen vorprogrammiert, mit denen sie nicht umzugehen wussten.
Im Zweifelsfall lebten sie deshalb einfach so weiter, wie sie es immer getan hatten.
Sie arbeiteten viel und redeten wenig, sie hatten im Leben Opfer gebracht und vermittelten mir indirekt das Gefühl, dass jede Art von Zerstreuung und Muße eine Todsünde war. Höchstens gelegentlich und in Maßen, denn im Grunde sind wir nur auf Erden, um zu leiden, und da stört jede Form von Annehmlichkeit und Genuss.
Und das bedeutete, dass man sich nur einmal im Jahr etwas Neues zum Anziehen kaufte, dass man nur einmal im Monat in eine Pizzeria ging und in den Ferien immer wieder an den gleichen Ort fuhr.
Während um mich herum die Technowelle tobte und alle quietschbunte Rucksäcke von Invicta trugen, lebte ich in einem neorealistischen Schwarz-Weiß-Film.
Meine Eltern verboten mir nie etwas, und ich bat sie nie um irgendetwas, aber wir waren ganz sicher alles andere als eine Musterfamilie.
Was hätte ich dafür gegeben, offen mit meiner Mutter über meine Träume und Wünsche sprechen zu können oder Brüder und Schwestern zu haben, mit denen ich Stockbetten und Geheimnisse hätte teilen können. Als Cate in mein Leben trat, war das so aufregend wie der erste Farbfernseher im Wohnzimmer.
Wie eine überraschende Antwort auf meine Gebete.
Jetzt fragte ich meine Eltern, ob ich abends weggehen durfte, zog Jeans mit Rissen darin an und hängte ein Poster von Take That in meinem Zimmer auf.
Und auch wenn ich nicht mehr war als »die Freundin von Cate«, deren Namen sich niemand merken konnte und die man nicht grüßte, wenn man sie allein traf, wusste ich selbst jetzt zumindest, dass es mich gab.
Dank ihrer blieben mir Essstörungen und andere Abstürze erspart.
Alles in allem ging es mir gar nicht so schlecht.
Ohne tolle Anekdoten, aber auch ohne Narben an den Handgelenken.
Dann beschloss Cates Mutter eines Tages, dass Cate groß genug sei, um allein zurechtzukommen, und verschwand mit ihrem aktuellen Partner, einem Tantra-Yogalehrer, nach Goa.
Um niemals zurückzukehren.
Cate brauchte sie nicht mehr.
Sie nahm die Nachricht mit vollendeter Würde auf, als wäre sie die große Schwester ihrer Mutter, der sie nun mal keine Vorschriften darüber machen konnte, wie sie ihr Leben zu führen hatte.
Sie nahm sie einmal fest in die Arme, sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, sie käme schon zurecht und sah ihr nach, wie sie für immer aus ihrem Leben verschwand.
Die letzten Worte ihrer Mutter zum Abschied waren: »Und denk dran, mein Schatz, kein Fleisch essen.«
Und daran hielt sie sich. Als hätte sie ein Gelübde abgelegt.
Cate verlor nie den Mut. Nachdem sie ihre Ausbildung zur Buchhalterin abgeschlossen hatte, nahm sie einen Job in einer Export-Importfirma an und besserte ihr Gehalt mit Nachhilfestunden, Babysitter-Tätigkeiten und Kellnern am Wochenende auf.
Immer mit einem Lächeln auf dem Gesicht, immer optimistisch, immer ermutigend.
Ich betete sie an.
Abends kam sie oft zu uns zum Essen, und ich betrachtete sie mit derselben Bewunderung wie ein Groupie den Lieblingssänger.
Inzwischen waren wir fast zwanzig Jahre alt. Ich lebte immer noch bei meinen Eltern und arbeitete seit dem Abitur in einer Bank, und wahrscheinlich hätte ich auch nie etwas daran geändert, wenn Cate mich nicht eines Tages dazu überredet hätte, bei ihr einzuziehen, damit ich endlich anfing, mein eigenes Leben zu führen und mit ihr die Miete zu teilen.
Ich ließ mir das nicht zwei Mal sagen, packte die paar Sachen, die mir wichtig waren, in einen Koffer und verabschiedete mich von meinen Eltern, um zusammen mit meiner besten Freundin in einen anderen Teil der Stadt zu ziehen.
Meine Eltern waren nicht begeistert.
Sie wären weniger schockiert gewesen, wenn ich ihnen verkündet hätte, dass ich am Tag zuvor einen unbekannten Seemann aus dem Hafen geheiratet hatte.
Sie konnten Cate leiden; aber sie taugte eben nicht als Vorbild für ihre einzige Tochter.
Doch sie leisteten auch keinen großen Widerstand: Ich war erwachsen, verdiente mein eigenes Geld und war zweifellos ein anständiges Mädchen.
Es waren wunderschöne Jahre, das Haus immer voll mit Freunden und Tieren, die Cate adoptierte oder zur Pflege hatte, und um die selbstverständlich ich mich kümmerte, wenn sie nicht da war.
Sie hatte so ihre eigene Art, einen von solchen Aufgaben zu überzeugen: Eigentlich ging sie schlicht und einfach davon aus, dass man zur Verfügung stand.
Indirekt bat sie um ein bisschen mehr Raum, wenn ihr eigener gerade aufgebraucht war.
Sie ging wirklich ganz unschuldig davon aus, dass alle sich so für andere aufrieben wie sie, und war jedes Mal wie vor den Kopf gestoßen, wenn sie ein Nein zur Antwort bekam. Dann verzog sie das Gesicht wie eine Figur aus einem Zeichentrickfilm, wie ein riesiges Fragezeichen, kratzte sich am Kopf, als könnte sie damit eine Idee hervorlocken und hatte meist sofort einen Plan B. Und vor allem war sie niemals nachtragend.
Ich musste mich ziemlich anstrengen, um mit ihr mitzuhalten, denn ich war, leider, anders als sie.
Mein Zimmer, zum Beispiel, zu dem Katzen und Hunde striktes Zugangsverbot hatten, sah aus wie aus einem Schweizer Internat, sauber und bis auf den Millimeter genau geordnet, während ihres aussah wie das eines hyperaktiven Teenagers auf dem Weg zum Messie.
Ich hatte einen Putzplan aufgestellt, der natürlich nie eingehalten wurde, weshalb in sieben von zehn Fällen ich es war, die den Müll herunterbrachte, das Bad putzte und das Geschirr abwusch, wenn Teller und Gläser anfingen, sich auf dem Kühlschrank oder dem Fernseher zu stapeln.
Ich konnte ihr das einfach nicht zum Vorwurf machen, denn sie hatte ja tatsächlich immer so viel zu tun, nur fiel es mir manchmal wirklich sehr schwer, mit ihrem unermüdlichen Enthusiasmus mitzuhalten.
Nach einer Weile konnte ich nicht mehr und sehnte mich nach mentaler Ordnung, Ruhe und Stille. Ich sehnte mich danach, acht Stunden am Stück zu schlafen, ohne dass die Musik voll aufgedreht war oder es zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten an der Tür klingelte. Ich wollte nicht länger über irgendwelche Schüsseln mit Trockenfutter stolpern, wenn ich nachts aufstand, um etwas zu trinken zu holen, und auch keine fremden Übernachtungsgäste auf unserem Sofa antreffen.
Und so kam es, dass wir eines Tages über irgendeine Kleinigkeit, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, in einen hässlichen Streit gerieten.
Ich war vollkommen erledigt von der Arbeit nach Hause gekommen, aufgerieben von Überstunden und frustriert, dass es mit der Anerkennung immer noch haperte, während sie beschlossen hatte, in unserer Küche einen Catering-Service aufzumachen, obwohl unsere Küche bequem in ein Puppenhaus gepasst hätte.
Ein Wort ergab das andere, der Ton wurde immer schriller, die Vorwürfe immer heftiger, bis es für keine von uns noch ein Zurück gab. Ein unendliches Hin und Her aus »Genau wie damals, als du …« und »Das ist so typisch für dich …«.
Als hätten sich alle unsere Schwächen und Fehler gleichzeitig manifestiert und zu einem unüberwindbaren Berg aufgetürmt, als spielte die Tatsache keine Rolle, dass wir länger als fünf Jahre friedlich zusammengewohnt hatten.
Und das Unvermeidliche geschah.
»Gut, dann wär wohl alles gesagt.«
»Ja, seh ich auch so.«
»Prima! Bis übermorgen pack ich meine Sachen und zieh aus!«, rief ich und knallte die Tür zu meinem Zimmer hinter mir zu.
»Brauchst du nicht«, rief sie mir hinterher. »Ich hab sowieso einen Job im Ausland angenommen. Ich zieh aus!«
Ich riss die Tür wieder auf. »Einen Job im Ausland? Und das sagst du mir erst jetzt?!«, rief ich und klang dabei mehr wie eine gekränkte Verlobte als die beste Freundin.
»Ich wollte es dir ja erzählen, aber dann hab ich es wieder vergessen«, antwortete sie mit verschränkten Armen und ohne mir ins Gesicht zu sehen.
»Na, prima!«, sagte ich noch einmal und starrte sie an, sauer wie noch nie in meinem Leben, bevor mir der schlimmste Satz aus dem Repertoire beleidigter Freundinnen herausrutschte: »Du bist genau wie deine Mutter! Das Einzige, was du gut kannst, ist dich drücken!« Und als ob das noch nicht reichte, setzte ich hinzu: »Und iss bloß kein Fleisch!«, bevor ich noch mal die Tür zuknallte, endgültig dieses Mal.
In der Nacht bekam ich kein Auge zu, und in der folgenden und vielen Nächten danach auch nicht.
Und ich hörte für lange Zeit nichts mehr von Cate.
Beinahe ein Jahr lang, um die Wahrheit zu sagen.
Ich musste sie wirklich tief verletzt haben, damit sie sich so gar nicht meldete.
Das war noch nie vorgekommen.
Ich grübelte lange darüber nach, ob die Dauer des Schweigens nach einem Streit von der Schwere der Kränkung oder von der Tiefe der Beziehung abhing.
Und je mehr Zeit verging, desto weniger erinnerte ich mich daran, worüber wir eigentlich gestritten hatten.
Mein Leben ging weiter wie zuvor: Haus, Büro und schwimmen gehen, entweder im Schwimmbad in Genua oder im Meer, wenn ich im Sommer meine Eltern in Porto Venere besuchte.
Sie hatten mich nicht gefragt, obwohl sie natürlich merkten, dass irgendetwas vorgefallen sein musste, da ich nichts mehr von Cate erzählte.
Aber sie reagierten mit derselben Zurückhaltung, mit der sie reagiert hätten, wenn ich mich von meinem Ehemann getrennt hätte, weil er mich betrogen hatte.
Im Grunde waren wir zwei Dickköpfe, die sich gestritten hatten und zu stolz gewesen waren, sich rechtzeitig beim anderen zu entschuldigen.
In jenem Jahr lernte ich Paolo kennen.
Er war ein Kollege aus der Bank, weder besonders attraktiv noch besonders brillant, der wesentlich älter aussah, als er war, nämlich siebenundzwanzig. Wahrscheinlich eine Folge aus der Kombination von »Buchhaltung« und »Bank«, die sogar einen Patrick Dempsey kleingekriegt hätte.
Hinzu kam, dass meine Kontakte zum anderen Geschlecht, nachdem mein Sozialleben sich zusammen mit Cate in Luft aufgelöst hatte, auf meine überaus treuen Rentner am Bankschalter beschränkt waren.
Paolo war der erste Mann, mit dem ich ins Bett ging, eine einmalige Chance, mit über Mitte zwanzig endlich nicht mehr Jungfrau zu sein.
Wie schade, dass ich das Cate nicht erzählen konnte.
Es war so ziemlich das einzige Interessante in meinem Leben.
Wir hatten uns nicht einmal ausgezogen: Er war noch in Hemd und Socken, und ganz sicher nicht, weil er im Rausch der Leidenschaft nicht dazu gekommen wäre, sie auszuziehen, sondern wohl eher aus Bequemlichkeit.
Und so lief das dann auch die nächsten Male.
Eines schönen Morgens im Frühjahr des darauffolgenden Jahres, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Fensterläden in die Küche drangen, hörte ich, wie die Tür geöffnet wurde.
Ich drehte mich um, eine Pfanne in der Hand, um mich zu verteidigen, und sah Cate hereinkommen.
»Wär es in Ordnung, wenn ich wieder hier wohne?«, fragte sie, als sei sie erst gestern weggegangen.
»Natürlich wär das in Ordnung!«, antwortete ich, als gäbe es gar keine andere Möglichkeit und stellte die Pfanne ab.
Wir fielen einander in die Arme.
»Entschuldigung, dass ich so doof zu dir war!«, sagte ich in ihre Halsbeuge.
»Nein, ich war doof zu dir. Und wie«, antwortete sie.
»Na, dann spring mal unter die Dusche, du stinkst wie ein nasser Hund«, sagte ich lachend, während ich eine Träne abtrocknete.
Sie hob ihre Tasche hoch.
»Übrigens«, setzte sie hinzu, während sie in ihrem Zimmer verschwand, »ich bin schwanger.«
Sechs Monate später hießen wir Gabriel auf dieser Welt willkommen.
Ein kleines Kerlchen von drei Kilo und sechshundert Gramm.
Schön wie ein Engel.
Nach dem Vater fragte ich erst gar nicht, ich wusste, sie würde mir von ihm erzählen, wenn sie Lust dazu hatte.
Doch dieser Tag kam nie, und irgendwann vergaßen wir es schlicht und einfach.
Ein Jahr später zog ich aus.
Ich konnte einfach nicht mehr, mit der Wiege im Wohnzimmer, den Windeln überall und dem ständigen Kommen und Gehen der Nachbarn, die mal hier und mal da aushalfen, aber dieses Mal stritten wir uns nicht, sondern wurden uns einfach nur der Tatsache bewusst, dass wir als zwei Erwachsene Raum für uns selbst brauchten.
Ich wollte mich nicht wieder von der Neigung meiner Freundin zum Chaos überwältigen lassen.
Nachdem ich mich versichert hatte, dass sie auch ohne mich wunderbar zurechtkam, suchte ich mir eine Einzimmerwohnung mit einem kleinen Dachbalkon oberhalb der Festungen von Genua, und genoss zum ersten Mal in meinem Leben echte Freiheit, in Gesellschaft meiner Pflanzen, meiner Bücher und meiner klassischen Musik.
Cate war in Australien gewesen und hatte alles Mögliche gemacht, in Restaurants gearbeitet, in Wasserparks, wo sie Tauchunterricht gab und sich um Tiere in Not kümmerte. Sie hatte Strände gereinigt, Tarotkarten gelegt, Pizza ausgeliefert, Rezitation unterrichtet und hatte als Clown Kinder unterhalten.
Als sie mir ihre Fotos zeigte, brachte sie mich zum Träumen: diese gebräunten Gesichter, diese von der Sonne aufgehellten Haare, die Zöpfchen, die makellosen Gebisse, das Lächeln oder die herausgestreckte Zunge für die Kamera. Sie zusammen mit zahnlosen Kindern, Surfern mit Waschbrettbauch, Aborigines, die am ganzen Körper tätowiert waren.
Cate war all das, was ich nie sein würde, und in meinem gewöhnlichen, grauen Leben war sie der Sonnenstrahl, der durch die Fensterläden hereindrang.
Ich war mir hundertprozentig sicher, dass Gabriels Vater einer der Surfer von den Fotos war, und dass der Kleine an einem Strand gegenüber von einem Leuchtturm bei Vollmond gezeugt worden war, vielleicht sogar mit Gitarrenmusik im Hintergrund.
Anders waren seine hellblonden Haare nicht zu erklären, diese grünen Augen und diese verrückte Liebe zum Wasser, wegen der ich stundenlang mit ihm in der Wanne spielen musste, während Cate im Pub arbeitete.
Er war ein besonderes Kind.
Immer lächelnd, ruhig, hochintelligent und unabhängig.
So unabhängig, dass ihm zuzutrauen war, allein das Haus zu verlassen, um sich Windeln zu kaufen, wenn man nicht gut genug aufpasste.
Zu mir entwickelte er eine ganz besondere Bindung, und das war etwas, worauf ich unglaublich stolz war. Ich fühlte mich wichtig und gebraucht.
Ich wurde seine Tante, die die Monster unter dem Bett verjagte, die ihm ein paar Cent für einen verlorenen Zahn gab und die alle Fragen beantwortete, wenn sie nicht zu heikel waren.
Für die war nämlich Cate zuständig.
Als Gab sie mit sieben Jahren fragte, woher die kleinen Babys kamen, beschränkte sie sich darauf, ihn anzusehen, es ihm unverblümt zu erklären und ihre Rede mit einem »Alles klar?« abzuschließen.
»Früher oder später hätte er es doch sowieso erfahren, nicht?«, antwortete sie mir, als ich sie darauf hinwies, dass sie etwas behutsamer hätte vorgehen können.
Deshalb wandte sich Gab mit schwierigen Themen, Tod oder Jenseits, lieber an mich, denn ich ließ ihnen zumindest noch ein wenig von ihrem Geheimnis.
Er wuchs zu einem starken, ausgeglichenen Menschen heran, und tief in mir wusste ich, dass es auch mein Verdienst war.
Ich hatte ihm etwas von meiner Stabilität und meinen Regeln mitgegeben, und ich muss zugeben, daran hatten auch meine Eltern ihren Anteil. Sie behandelten Gabriel im Übrigen wie ihren eigenen Enkel.
Cate ließ ihm sehr viel Freiheit, damit er Eigenverantwortung entwickelte, aber ich wusste, dass zu viel Freiheit Angst machen konnte: Bei ihr durfte er tun und lassen, was er wollte, es gab kein Richtig und kein Falsch, jede Schuld wurde ihm verziehen, doch dieses Fehlen von Grenzen erschwerte ihm die Orientierung.
Deshalb kam er zu mir, wenn er in der Schule eine schlechte Note bekam, und ich ärgerte mich und hielt ihm eine Standpauke darüber, wie wichtig fundierte Kenntnisse für seine Zukunft waren.
Er hörte sich das alles mit gesenktem Kopf an und murmelte dann kleinlaut, dass er sich mehr anstrengen werde, und ich tat für ein paar Tage, als sei ich böse mit ihm. Am Ende war es ein Spiel, das stets funktionierte.
So gingen fünfzehn Jahre ins Land. Als ich Gab eines Morgens wie immer im Auto zur Schule mitnahm, die auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz in der Bank lag, jammerte er: »Alle in der Klasse haben schon ein Handy. Ich bin der Einzige, der noch keins hat.« Er strich sich ungeduldig die Haare aus dem Gesicht.
»Ist dein Pony nicht inzwischen ein bisschen zu lang, Gab? Die Haare müssen dringend geschnitten werden, du siehst ja schon gar nichts mehr.«
»Komm, Tante, lenk jetzt nicht vom Thema ab!«
»Was sagt denn Mama dazu?«
»Dass ich dich fragen soll!«
Ich lächelte.
Wann immer Cate keine Lust auf Verantwortung hatte, spielte sie den Schwarzen Peter mir zu, und ich musste unangenehme Entscheidungen verkünden.
»Sieh mal zu, dass du dieses Jahr gute Noten schreibst, und dann reden wir noch mal darüber«, sagte ich, während ich anhielt.
Er setzte seinen bettelnden Hundeblick auf, dem ich nicht widerstehen konnte.
»Versuch’s gar nicht erst«, sagte ich und beugte mich an ihm vorbei, um die Beifahrertür aufzumachen.
Er gab mir einen Kuss auf die Wange und stieg aus.
»Lern schön und werde eine Superheld, den alle bewundern und der eines Tages die Welt verändert!«, rief ich ihm nach.
»Bin ich doch schon!«, gab er lachend zurück.
»Ganz die Mutter«, seufzte ich, während ich losfuhr, »ganz die Mutter!«
Wo ist nur all die Zeit hin?, fragte ich mich, als ich in mein Büro kam und flüchtig mein Spiegelbild in der Fensterscheibe sah, während ich den Mantel an den Kleiderständer hängte.
War es nicht erst gestern gewesen, dass ich zum ersten Mal frisch von der Schule hereingekommen war, mit langen Haaren und Mittelscheitel? Jetzt war ich schon fast vierzig, und in all den Jahren hatte mein Leben stillgestanden. Tja, wo waren sie nur hin, all diese Jahre meines Lebens?
Ich schlief immer noch mit Paolo. Wir trafen uns jeden Mittwochabend. Man glaubte es kaum.
Cate zog mich immer damit auf, erklärte mich für verrückt, dass ich in all den Jahren nie einen anderen Mann verführt hatte, in ihren Augen war das krank und bescheuert.
Das sei genau dasselbe, wie sich einmal in der Woche mit Freundinnen zum Kartenspielen zu treffen oder ins Kino zu gehen, erwiderte ich dann. Es kostete keine Mühe, und es machte keinen großen Unterschied, ob man es tat oder unterließ.
Natürlich hatte sie recht, das wusste ich im Grunde meines Herzens genau. Eine Nicht-Beziehung mit einem Mann, von dem man im Grunde nichts weiß – einmal die Woche abends schaut er vorbei, man isst zusammen, sieht ein bisschen fern und geht dann miteinander ins Bett. Angezogen. Langweilig, aber sicher.
Traurig, aber wahr, und doch genügte es mir.
Im Grunde hatte ich auch zu Hause meine Eltern nie Zärtlichkeiten austauschen sehen, sie einander liebevolle Worte zuflüstern hören oder meinen Vater dabei ertappt, dass er meiner Mutter begehrlich nachsah.
Sie hatten geheiratet und ihr Eheversprechen – bis dass der Tod euch scheide – eingehalten. Das war’s.
Und ich war viel zu ängstlich und zu pragmatisch, um einen eigenen Weg zu gehen.
Im Leben blieb ich am Rand und feuerte andere an, aber wagte mich selbst so gut wie nie ins Rennen.
Es können ja schließlich nicht alle aktive Sportler sein, oder?