Zum Buch
Peter Wittkamp ist ein lustiger Mensch. Er schrieb bereits Gags für Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf und ist seit Jahren Hauptautor der »heute show online«. Außerdem verhalf er den Berliner Verkehrsbetrieben mit der Kampagne #weilwirdichlieben zu einem ganz neuen Image. Doch es gibt etwas, das nur sehr wenige Menschen über ihn wissen: Er leidet seit mehr als 20 Jahren unter Zwangsstörungen. Und zwar deutlich heftiger, als »noch kurz mal schauen, ob der Herd wirklich aus ist«. Und da er selbst nun mal nicht ganz unwitzig ist, gerät das neben den wissenschaftlichen Fakten, die in einem solchen Buch nicht fehlen dürfen, bisweilen sehr humorvoll, ohne das Thema der Lächerlichkeit preiszugeben.
Zum Autor
PETER WITTKAMP, Jahrgang 1981, ist erster Autor und Gagschreiber der »heute show online«. Außerdem ist er der Texter und Ideengeber der mehrfach preisgekrönten Kampagne #weilwirdichlieben der Berliner Verkehrsgesellschaft. Ab und an schreibt er auch ein Buch oder eine Kolumne in der Business Punk. Daneben berät er Unternehmen und Agenturen, wenn sie etwas Kreatives, Humorvolles oder Digitales machen möchten. Oder alles zusammen. Er twittert regelmäßig als @diktator und lebt mit seiner Familie in Berlin.
Peter Wittkamp
Für mich
soll es
Neurosen regnen
Mein Leben mit Zwangsstörungen
Alle Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Das Lesen dieses Buchs ersetzt jedoch keinesfalls den Besuch bei einem Arzt oder Therapeuten. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.
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Originalausgabe Oktober 2019
Copyright © 2019 by btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: semper smile, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-23931-2
V004
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Für mich soll es Neurosen regnen,
mir sollten sämtliche Wunder begegnen, die Welt sollte sich umgestalten und ihre Sorgen für sich behalten.
– frei nach Hildegard Knef
Die erste Regel des Zwangsstörungs-Clubs:
Es muss eine zweite Regel geben,
damit es keine ungerade Zahl von Regeln gibt.
– Unbekannt
Vorwort
Mein erster Zwang
Wildwuchs im Neurosengarten
Begleiten Sie mich ein Stück
Das Loch
Komik ist Tragik in Spiegelschrift
Was ist eigentlich eine Neurose?
Und was sind Zwänge?
Übertrieben und sinnlos, oder: Was ist eine Zwangsstörung?
Denken oder handeln?
Häufig gestellte Fragen
Der schmale Grat, oder: Wann wird eine Macke zum Zwang?
Das Leben der anderen
Mein erster Zwang, Reloaded
Spiel auf Zeit
Mangelhaft
Die Luft ist raus
Klimawandel
Von nun an ging’s bergab
Zehn Dinge, die ich in der Psychiatrie erlebt habe – Nummer sieben wird Sie überraschen!
Was hilft gegen die Zwänge?
Einfach sein lassen
Zehn persönliche Tipps
Windeln wechseln
Ich war noch niemals in New York
Dank
Literaturhinweise
Informationen
Erfahrungsberichte
Niemand braucht ein Vorwort, oder? So was ist doch nicht mehr als der unnötige Teil eines Buches, in dem erklärt wird, was im Rest des Buches passieren wird. Oder zumindest, warum man den Rest lesen sollte. Ich habe nie verstanden, wozu das genau gut sein soll. Außer, das Buch ist sehr schlecht, dann ist das Vorwort so eine Art Puffer, bevor es so richtig schlimm wird. Wie das Wartezimmer bei einem Zahnarzt. Wenn das Buch hingegen gut ist, will man doch eigentlich sofort loslegen!
Ein weiterer Hinweis auf die Überflüssigkeit eines Vorworts: So etwas gibt es bei anderen Kulturgütern gar nicht erst! Filme zum Beispiel verzichten auf ein Vorwort. Die funktionieren auch ohne ein einleitendes:
»Guten Tag und willkommen bei Jurassic Park. In den folgenden 123 Minuten wird es viel um menschliche Fehlentscheidungen, kaputte Zäune und Dinosaurier gehen. Vor allem der T-Rex, genauer sein doch recht scharfes Gebiss, wird Gegenstand unserer Betrachtungen sein. Ein kleiner Tipp noch, bevor es gleich wirklich losgeht: Gewöhnen Sie sich nicht zu sehr an die im Film auftauchenden Darsteller. Wie gesagt, das recht scharfe Gebiss des T-Rex …«
Doch mein Lektor, dem wir auf den folgenden Seiten immer mal wieder begegnen werden, besteht auf ein Vorwort. Der Vogel! Wobei ich seinen Beruf auch noch nicht so ganz verstanden habe. Denn ein Lektor ist jemand, den ein Verlag für gutes Schreiben bezahlt, weil die Leute, die der Verlag eigentlich für gutes Schreiben bezahlt, manchmal nicht gut genug schreiben. Na, dann soll er das Buch halt direkt selbst schreiben. Das will er aber auch nicht. Zu wenig Neurosen, sagt er. Also gut. Dann schreibe ich das Buch eben, und auf seinen ausdrücklichen Wunsch nun auch endlich ein Vorwort. Hier kommt es:
Guten Tag! Mein Name ist Peter Wittkamp, ich bin Autor, Werber und Gagschreiber. Ich habe bereits Scherze für das Fernsehen, für das Internet, für die Berliner Verkehrsbetriebe und für eine sehr bekannte Politikerin mit Doppelnamen geschrieben (nein, nicht die, eine andere). Ich bin Ende dreißig, trinke ab und an zu viel Alkohol, mache zu wenig Sport, liebe Musik und leide – hier bitte aufpassen, das wird später noch mal wichtig – seit über 20 Jahren an einer Zwangsstörung.
Das kennen Sie aus Serien und Filmen und von Bekannten, die ihren Herd zwanzig Mal kontrollieren müssen. Aber ich muss sie enttäuschen: Ich bin nicht so wie die Menschen in den Filmen. Ich zähle wenig, kann nahezu alles ohne Probleme berühren, darf jede Fuge auf dem Gehweg so betreten, wie ich es mag, und ich wasche mir nicht übertrieben häufig die Hände. Nun ja, um ehrlich zu sein: Ich wasche mir mittlerweile nicht mehr übertrieben häufig die Hände. Gleich im ersten Kapitel (geht bald los, versprochen!) erfahren Sie, wie ich das geschafft habe. Die Sache mit dem Herd hingegen mache ich tatsächlich. Und noch so einiges mehr. Sehr viel mehr. Der Satz, der am wenigsten zu mir passt, ist »Tu dir keinen Zwang an«. Also der und »Ich war heute Morgen um halb sieben schon zehn Kilometer Laufen«.
Aber zurück zur Zwangsstörung: Eine Zwangsstörung ist ungefähr wie (hier bräuchte ich einen guten Vergleich … ah, ich hab was …) ein T-Rex! Wenn man nicht aufpasst, hat sie dich schnell zwischen ihren Zähnen und lässt dich nie wieder los. Dafür ist sie immerhin ganz gut therapierbar, was man von einem T-Rex nicht gerade behaupten kann. »Lassen Sie uns heute mal über ihr Aggressionsproblem sprechen, Herr Rex! Ich vermute, es liegt an den Komplexen wegen Ihrer kurzen Ärmchen.«
Ich schreibe in diesem Buch darüber, welche Komplexe und Zwänge mich plagen, was Zwänge überhaupt sind, was der Unterschied zwischen harmlosen Macken und ernsthaften Zwängen ist, und darüber, wie ich versuche, mich immer und immer wieder aus ihren scharfen Zähnen zu befreien.
Mitunter versuche ich, obwohl es eine sehr ernste Krankheit ist, ein wenig humorvoll darüber zu berichten. Glück im Unglück: Meine Zwänge sind sehr stark, aber nie so stark, dass ich nicht über sie lachen möchte. Wenn Sie das nicht mögen oder es Ihnen unpassend erscheint, ist dieses Buch nicht das ideale Buch für Sie. Das ist nicht schlimm, ich bin Ihnen nicht böse. Es gibt viele andere gute Bücher. Und die haben sicher alle ein besseres Vorwort als dieses.
Wenn Sie selbst von der Krankheit betroffen sein sollten und dazu neigen, Zwänge von anderen zu übernehmen, müssen Sie sich ebenfalls überlegen, ob Sie jetzt weiterlesen wollen. Es wird viele Beispiele geben.
Und wenn Sie denken: Jurassic Park habe ich schon lang nicht mehr gesehen. Hätte ich eigentlich mehr Lust drauf, als über einen leicht dicklichen, eher unwitzigen Werbefuzzi mit seltsamen psychischen Störungen zu lesen. Nur zu. Ist auf Netflix verfügbar.
Wenn Sie allerdings jetzt noch immer dabei sind: Sehr schön! Ich freu mich. Wir legen gleich los. Machen Sie sich also bereit. Stellen Sie Ihre Tasse Tee mit dem Henkel genau parallel zur Tischkante ab und schauen Sie bitte noch mal schnell nach, ob der Wasserkocher auch wirklich ganz, ganz sicher aus ist. Wir haben das Vorwort überstanden. Das Buch beginnt genau jetzt.
Ich wünsche Ihnen ein ungezwungenes Lesevergnügen!
Das klingt fast schön. So wie »Mein erstes Pony«, »Mein erster Computer« oder »Mein erstes Auto«. Ein Zwang ist aber leider nichts sonderlich Schönes. Wobei der Vergleich mit dem ersten Auto gar nicht so verkehrt ist: Denn genau wie die Rostlaube – für nur 800 Tacken, aus vierter Hand, nur noch 10 Monate TÜV – macht so ein Zwang vor allem eines: ständig Ärger.
Mein erster richtiger Zwang war ein Waschzwang. Ein solcher Waschzwang nimmt bei vielen Betroffenen ein ganz ähnliches Schema an und verläuft folgendermaßen: Der Zwangskranke hat Angst, sich selbst oder andere mit Bakterien, Viren oder Ähnlichem anzustecken oder gar Schlimmeres. Praktischerweise schlägt der Zwang direkt eine passende Gegenmaßnahme vor: Waschen und Desinfizieren. Möglichst oft.
Ich muss zugeben: Ganz schön unkreativ »gewählt« von meinem neurotischen Kopf. Denn ein Waschzwang ist für Zwangskranke so etwas wie ein Rückenleiden für Möbelpacker: Ziemlich verbreitet. Gehört quasi zum Beruf. Und ebenso, wie sich ein Rückenleiden bei Menschen, die viel schleppen, leicht erklären lässt, ist auch der Waschzwang einer der Zwänge, der für Außenstehende noch einigermaßen nachvollziehbar ist.
Denn sehr viele ganz »normale« Menschen haben Angst vor Keimen und Ähnlichem und waschen sich lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Der Unterschied zu Personen mit einem Waschzwang ist: Bei Letzteren nimmt das Waschen enorme Ausmaße an. Häufig sind vor allem die Hände und Arme betroffen. Und so war es auch bei mir.
Ich war vielleicht 16 oder 17 Jahre alt und begann aus irgendeinem Grund, die Angst zu entwickeln, ich könnte mich selbst oder jemand anderen mit irgendetwas anstecken, wenn ich mir nicht oft genug die Hände wasche. Was das denn konkret sein könnte, war mir damals wie heute nicht so ganz klar, aber dem Zwang war das relativ egal. Da draußen gibt es sicher Hunderte oder Tausende gefährlicher Viren und Bakterien – wird schon was Passendes dabei sein …
Ich erinnere mich noch gut daran, dass es besonders schlimm war, wenn ich mit Blut in Kontakt kam. Denn obwohl ich aus dem Biounterricht wusste, dass der HI-Virus gar nicht so einfach übertragen wird, schwang die Angst vor AIDS mit.
Was ist, wenn an meinen Händen ein bisschen Blut von jemandem mit HIV ist? Und ich jemand anderen anfasse, der eine kleine Wunde an der Hand hat? Und dann stecke ich den an … und so weiter. Kram, den Zwangskranke gerne denken. Die Angst vor HIV und AIDS war damals, wie ich später lernte, bei Zwangskranken sehr verbreitet. Sie ist es heute noch – aber vor zwanzig Jahren war die Immunkrankheit noch deutlich mysteriöser, weniger erforscht und auch schlechter zu behandeln. Ich war mit meiner Furcht also nicht alleine, vielen anderen Menschen ging es ganz ähnlich wie mir – nur wusste ich das leider nicht. Ich war ein wenig isoliert. Ich lebte auf dem Dorf, im Internet stand noch nicht so viel drin wie heute, und außerdem begriff ich gar nicht so richtig, dass ich nicht gesund war. Selbst wenn, mit wem sollte ich darüber reden?
Zu dieser Zeit entwickelte ich auch eine Abneigung gegen Münzen aller Art. Groschen, 50-Pfennig-, Markstücke – wer weiß, in wessen Händen die schon überall gewesen waren und welche schrecklichen Keime und Krankheiten auf ihnen lauerten?
Aber ich hatte ja bereits die Lösung für meine Ängste: Händewaschen. Und nach dem Händewaschen lieber noch mal Händewaschen, falls sie beim ersten Mal nicht richtig sauber wurden. Das große Misstrauen gegen sich selbst, das ganz bezeichnend für viele Zwangskranke ist, hat sich schon damals gezeigt. Also lieber noch ein drittes Mal die Hände waschen, dieses Mal mit noch etwas mehr Seife, nur zur Sicherheit, falls bei den ersten beiden Waschgängen doch irgendetwas schiefgelaufen ist und die Hände nicht komplett gereinigt wurden. Hinfort mit den bösen Keimen, Viren und Bakterien. Hinfort!
Menschen, die unter einem Waschzwang leiden, wissen, dass sich solche Handlungen nicht nur zwei oder drei Mal wiederholen können, sondern auch zehn Mal oder sogar dreißig Mal. In manchen Fällen ist der Waschzwang auch verknüpft mit einem Zählzwang oder anderen Ritualen, was die Aufgabe noch komplizierter macht. Diese lautet dann zum Beispiel so: Die Hände müssen absolut sauber werden, und zusätzlich darf die Zahl der Waschgänge auf keinen Fall ungerade sein. Sonst ist es »nicht richtig«. Im Extremfall steht der Zwangskranke dann einen halben Vormittag lang am Waschbecken.
Bei mir war es damals glücklicherweise nicht so extrem. Aber extrem genug, dass sich körperliche Folgen einstellten. Denn wenn Hände sehr oft mit Seife in Kontakt kommen, werden sie rau und rissig – da kann auch die beste Handcreme nicht mehr helfen. Besonders schlimm wurde es, wenn es draußen kalt war, oder bei starker Belastung der Hände. Ich hatte damals häufig Volleyball gespielt und musste ansehen, wie die Haut meiner durch das viele Waschen trocken gewordenen Hände regelmäßig einriss und immer wieder ein wenig Blut zum Vorschein kam, wenn ich einen Ball annahm. Da es beim Volleyball leider von großem Interesse ist, den Ball häufig anzunehmen, zeigten sich schnell zarte rote Risse auf meinen Händen. Zum Glück konnte ich die feinen Blutspuren unauffällig abwischen, so dass niemand der Mitspieler etwas davon mitbekam. Denn wenn man an einem Zwang leidet, möchte man ihn meist möglichst gut verstecken. Weil man ja selbst am besten weiß, dass man sich sehr irrational verhält. Das ist der Kern jeder Zwangserkrankung. Der Zwangskranke weiß, dass er etwas übertrieben macht, doch er kann sich nicht dagegen wehren.
Also Verstecken. Das gelang mir ganz gut. Niemand bekam so richtig etwas mit. Vielleicht ab und an ein überraschtes »Wäschst du schon wieder die Hände?«, sonst nichts. Das lag auch daran, dass mein damaliger Waschzwang verhältnismäßig schwach ausgeprägt war. Verhältnismäßig bedeutet: Für eine normale Person habe ich meine Hände wirklich deutlich zu oft gewaschen (wenn ich schätzen müsste, bis zu vierzig Mal am Tag). Jemand, der unter einem sehr starken Waschzwang leidet, wird darüber aber nur lachen können.
Bei mir war es meist so, dass ich vor allem dann unbedingt die Hände waschen musste, wenn ich mit etwas »Unreinem« in Kontakt kam. Urin, Fäkalien, Blut. Klingt also erst mal nachvollziehbar und nicht sonderlich verrückt: Bei Kontakt mit Urin Hände waschen. Keine komplett abwegige Idee. Möchte man ab und an auch mal gerne einigen Kollegen auf der Herrentoilette hinterherrufen.
Aber ich habe natürlich weitergedacht – ähnlich wie bei den Münzen. Was ist mit den Gegenständen, die mit Urin, Fäkalien oder Blut Kontakt gehabt haben könnten!? Sie merken: Der Zwangskranke liebt den Konjunktiv! Hätte, hätte, Neurosenkette. Der Hahn des Waschbeckens. Das Handtuch. Die Klinke an der Badezimmertür. Alles wurde zur potenziellen Gefahr. Was ist, wenn der, der mir gerade die Hand gegeben hat, eben jemandem die Hand gegeben hat, der davor eine Klinke angefasst hat, die jemand angefasst hat, der gefährliche Viren an der Hand hatte. Also auch dann lieber noch mal die Hände waschen. Und genau an dieser Stelle wird es dann gefährlich. Oder krankhaft. Aber eben ganz typisch für einen Zwang.
Fünf Mal am Tag Hände waschen ist sicher sinnvoll, bei fünfzig Mal wird es schon ein bisschen schwieriger. Immerhin wäre ich damals sofort bereit gewesen, wenn ich spontan eine Notoperation hätte leiten müssen: Ich war durch das viele Händewaschen nahezu keimfrei. Lassen sie mich durch, ich bin zwar kein Arzt, aber ich habe seeeehr saubere Hände.
Mein erster Zwang verschwand dann nach einiger Zeit wieder. An den genauen Grund dafür kann ich mich nach so vielen Jahren nicht mehr erinnern, aber ich vermute sehr stark, es hing damit zusammen, dass ich mich nicht habe unterkriegen lassen. Dass der Zwang, auch wenn er ganz ohne Zweifel einen starken Einfluss hatte, mein Leben nicht vollständig bestimmen konnte. Typisch für einen fortgeschrittenen Zwangskranken wäre es gewesen, einfach nicht mehr zum Volleyball zu gehen und am besten alle Kontakte mit Menschen oder Münzen zu vermeiden, um so die Auswirkungen des Zwangs zu verstecken und keine neuen Keim-Risiken einzugehen.
Aber ich war jung, voller Energie und wollte mich ganz einfach nicht verstecken. Ich wollte verstehen, viel sehen, erfahren, bewahren.
Ich habe Dorffeste auf Wiesen besucht, auf denen es keine Waschbecken gab. Ich habe betrunken auch mal drei Stunden lang vergessen, mir die Hände zu waschen. Ich habe weiterhin Münzen berührt, weil ich mir eben etwas kaufen wollte. Und ich habe mit blutigen Händen weiter Volleyball gespielt. Die Lust auf Abenteuer und Abwechslung war größer als der Zwang.
Damals wusste ich noch nicht, dass ich an einer Zwangserkrankung litt, und ich wusste natürlich noch viel weniger, wie man sie hätte therapieren können. Doch ich habe ganz intuitiv das absolut Richtige gemacht: mich nicht einschränken lassen und weiterhin am Leben teilgenommen. Ich habe mich unangenehmen Situationen gestellt, in denen ich mir nicht so oft, wie ich vielleicht gewollt hätte, die Hände waschen konnte. Erst sehr viel später lernte ich, dass Experten dazu »Konfrontationstherapie« sagen.
So hat mein Kopf langsam wieder gelernt, dass überhaupt nichts passiert, wenn ich für ein paar Stunden auf meine übertriebenen Reinigungen verzichte. Dass ich niemanden anstecke. Dass die Welt nicht untergeht. Und so wusch ich mir wieder deutlich seltener die Hände, bis ich dann später, vielleicht mit 18 Jahren, wieder ein relativ normales Maß erreichte.
So was mag so ein Zwang übrigens überhaupt nicht. Er möchte wie ein nordkoreanischer Diktator regieren. Und er will, dass seine kranken Regeln eingehalten werden – jede Rebellion gegen seine Diktatur ist ihm ein Dorn im Auge.
Zwanzig Jahre später erscheint mir die Episode mit dem aufkommenden und wieder verschwindenden Waschzwang ein wenig wie der Beginn eines Horrorfilms:
Etwas Verstörendes taucht kurz auf der Leinwand auf und irritiert die Protagonisten. Aber sie vergessen es dann wieder und denken sich nichts dabei. Doch der Zuschauer weiß schon: Das kommt garantiert wieder. Und zwar schlimmer. So war es auch mit meinen Zwängen.
Wenn man es weniger dramatisch ausdrücken möchte: Ich fahre bis heute mit der Rostlaube Zwang in der Gegend herum. Und ständig ist irgendwas kaputt.