Buch
London, 1853. Annie Stride steht vor dem Nichts – sie ist pleite, obdachlos und dazu noch schwanger. Kurz bevor Annie sich in die eiskalte Themse stürzen kann, spricht Francis Maybrick Gill sie an. Der attraktive, erfolgreiche Künstler überzeugt sie, ihn zu begleiten, und bewahrt sie so vor dem Selbstmord. Als Francis’ Muse beginnt für die ungewöhnlich schöne Annie ein neues Leben im Luxus. Sie wird zum Star der Londoner Kunstszene, trägt die schönsten Kleider und begleitet Francis auf Partys und in sein idyllisches Haus in den Bergen vor Florenz. Doch hinter Francis’ schillernder Kulisse lauert ein dunkles Geheimnis – und es gibt jemanden, der nicht vergessen hat, wo Annie wirklich herkommt …
Die Autorin
Marina Fiorato studierte Geschichte, Kunst und Literatur in Oxford und Venedig. Sie arbeitete als Illustratorin, Schauspielerin und Filmkritikerin. Mit ihren Bestsellern »Die Glasbläserin von Murano« und »Das Geheimnis des Frühlings« begeisterte sie die Leser auch in Deutschland. Sie heiratete ihren Mann, einen englischen Filmregisseur, auf dem Canal Grande und lebt mit ihrer Familie im Norden von London.
Von Marina Fiorato bereits erschienen
Das Geheimnis des Frühlings
Das Herz von Siena
Die Heilerin von San Marco
Das Herz der Kriegerin
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MARINA FIORATO
DAS
PURPUR
MÄDCHEN
Historischer Roman
Aus dem Englischen
von Nina Bader
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»Crimson & Bone« bei Hodder & Stoughton, London.
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Copyright © der Originalausgabe 2017 by Marina Fiorato
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019
by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Barbara Müller
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: Magdalena Russocka/Arcangel Images
JB · Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-23950-3
V001
www.blanvalet.de
Für Charlie Rablin, einen wahren Gentleman
ERSTER TEIL
London
PROLOG
London, 1853
Man nannte sie die Seufzerbrücke, weil kaum eine Nacht ohne Selbstmord verging. In dieser Nacht verhielt es sich nicht anders.
Genau in der Mitte der Waterloo Bridge, jener neun grimmigen Bögen aus frisch gehauenem Granit, die sich über der eisigen Themse erhoben, kletterte eine Gestalt auf die Brüstung. Eine junge, sehr schlanke Frau. Der gierige Wind entriss ihr ihre Haube, und ihr rotgoldenes Haar wehte wie ein zerfetzter Wimpel hinter ihr her. Wie Christus am Kreuz breitete sie die Arme aus. Ein zufälliger Passant, der durch den wabernden Nebel einen Blick auf ihre erhobenen Arme und den Glorienschein goldenen Haares erhaschte, hätte sie für einen Engel halten können. Aber sie war kein Engel. Sie war eine Prostituierte, und ihr Name lautete Annie Stride.
Annie Stride warf ohne Bedauern einen letzten Blick auf London. Ihre Atemzüge bildeten Wölkchen vor ihrem Gesicht, doch die Ausdünstungen wurden vom Nebel verschluckt. Durch die sich verlagernden Schwaden konnte sie das Wasser unter sich sehen – grau wie Stahl und so kalt wie die Wohltätigkeit, das Spiegelbild des Mondes war bereits darin ertrunken. Diejenigen, die hier heruntersprangen, überlebten nicht lange, nicht im Januar. Es war die Kälte, die einen tötete, hieß es, nicht so sehr das Wasser. Nun, kalt war ihr bereits. Der einzige Mensch auf der Welt, aus dem sie sich etwas machte, die einzige Gefährtin, die ein freundliches Wort für sie übrig gehabt, eine Schale Haferbrei mit ihr geteilt oder ihr eine Haube geliehen hatte, hatte sich vor drei Monaten just von dieser Brücke gestürzt. Und das, mutmaßte Annie, musste um die Zeit herum gewesen sein, als sie schwanger geworden war.
Anfangs hatte sie gedacht, ihre Blutung wäre wegen dem, was Mary Jane widerfahren war, ausgeblieben – der Schock und die Polizisten und der Coroner und das Armenbegräbnis. Doch dann hatte sie begonnen, sich zu übergeben und dicker zu werden, und da wusste sie Bescheid.
Sie presste die eisigen Finger auf ihren Bauch. Noch war nichts zu sehen. Noch konnte sie ihr Korsett schließen. Und noch immer konnte sie Geld verdienen, wenn ihr nicht zu übel war. Aber das würde nicht mehr lange anhalten. Und dann? Sollte sie mit all den anderen Frauen, die sie dort gesehen hatte, unter den Bögen des Adelphi sitzen, mit diesen zerlumpten Vogelscheuchen mit Babys unter ihren Röcken, und um Münzen betteln, statt sie auf dem Rücken liegend zu erarbeiten?
Ohne Mary Jane war es eine schlimme Adventszeit und ein noch schlimmeres Weihnachtsfest gewesen. Annie hatte fröstelnd in ihrem kleinen kalten Loch über dem Haymarket gesessen und sich zu elend gefühlt, um Kapital aus der Freigiebigkeit der Feierlustigen zu schlagen – sie konnte weder einen Kanten weißen Brotes noch ein paar schwarze Kohlen erstehen. Am Ersten des Monats hatte sie ihre letzten Münzen in die behandschuhte Hand ihres Vermieters zählen müssen, und wegen der zu geringen Mietzahlung hatte er sie auf die Straße gesetzt. Sie hatte ihm gesagt, sie könnte sonst nirgendwo hin, aber das hatte nicht der Wahrheit entsprochen. Es gab einen Ort, an den sie gehen konnte. Sie konnte Mary Jane in die Themse folgen.
Es gab jetzt keine Seele mehr, der sie fehlen würde, und sie ihrerseits würde diese erbarmungslose Stadt nicht vermissen. Sie würde weder die spitzen Konturen des Neuen Parlaments vermissen, wo Big Ben letzte Nacht das neue Jahr eingeläutet hatte, noch die Inns of Court oder die Bank oder das Change. Diese noblen Etablissements waren für sie nichts als Gasthäuser für ihre vielen Kunden; Orte, wo sie sich tagsüber aufhielten, wenn sie ihre Betten verließen. Selbst der Laternenanzünder, der seine Arbeit entlang des Flusses verrichtete, konnte sie mit seiner funkelnden Perlenschnur aus Licht nicht zum Bleiben verlocken. Annie Stride schloss die Augen und ließ sich vornüber ins Leere fallen.
Einen nicht enden wollenden Moment lang kippte und stürzte sie – dann packte eine Hand sie hart am Arm und riss sie zurück. Ihre abgewetzten Stiefel glitten auf der Brüstung aus, und sie wäre dennoch gefallen, wenn sie nicht hochgehoben und auf die Füße gestellt worden wäre. Ein Gesicht unter einem schmucken Zylinder blickte ernst in ihres. Außer zwei dunklen Flecken als Augen und einem Strich als Mund konnte sie nichts erkennen.
»Madam«, sagte der Mund. »Was haben Sie vor? Solch eine Verzweiflungstat!«
Sie konnte sich nicht erinnern, in ihrem ganzen Leben je Madam genannt worden zu sein. Die letzten drei schweren, entbehrungsreichen Monate hatte sie mit trockenen Augen durchgestanden, aber nun reichte ein einfaches Wort aus, dass ihr die Tränen kamen.
Er ließ sie sofort los, auf gute Manieren bedacht, als würde die Schicklichkeit es ihm nicht gestatten, sie zu berühren. Aber Annie war an Männerhände auf ihrem Körper gewöhnt, erst sanft, dann rauer, schmerzhafter. Und ohne diese stützenden Hände gaben ihre Knie irgendwie unter ihr nach, und sie sackte gegen den kalten Stein der Balustrade.
»Es geht Ihnen nicht gut«, sagte der Fremde. »Heda! Droschkenkutscher!« Mit seinem Stock hielt er einen vorbeifahrenden Hansom an und riss die Tür der Kutsche weit auf. »Bitte, Madam. Ruhen Sie sich etwas aus. Die Nacht ist kalt, und Sie sind halb erfroren.«
Benommen ließ Annie sich in die Droschke helfen und sank dankbar auf den Buckramsitz. Der Gentleman nahm seinen Hut ab – denn dieser war so hoch, dass er damit schwerlich einsteigen konnte – und nahm ihr gegenüber Platz.
Der Kutscher beugte sich von seinem Bock herunter. Sein Atem bildete Wölkchen in der Luft. »Wohin, Sir?«
»Seien Sie bitte so gut und halten Sie Ihr Pferd einen Moment an«, erwiderte sein Fahrgast.
Der Kutscher hüllte sich fester in seinen Mantel und schob die Hände unter die Achselhöhlen. Das Pferd stampfte auf der Stelle und schnaubte. Der Verkehr floss an ihm vorbei, die kalte Themse strömte still unter ihnen dahin, und Annie musterte den Mann, der sie vor einem nassen Grab bewahrt hatte.
Ohne den Zylinder sah er jünger aus; jetzt konnte sie auch sehen, wie anziehend er war. Er hatte dichte, braune, leicht gewellte und zum abendlichen Ausgehen mit Pomade gebändigte Haare, klare graue Augen, eine gut geschnittene Adlernase und einen seltsam femininen Mund über einem kräftigen Kinn. Seine Kleidung war formell: Frack und Abendumhang. Er sah aus, als wäre er auf dem Weg zu einem Schauspiel oder etwas Ähnlichem. Manchmal hatten Mary Jane und Annie ein Spiel zusammen gespielt, bei dem es zu erraten galt, welchen Beruf die Männer ausübten, die zum Haymarket kamen, um ihnen dort etwas zu trinken zu spendieren, bevor sie zu anderen Freuden übergingen. Sie wurden Experten auf diesem Gebiet und erkannten rasch die Bankiers, Anwälte und rangniedrigeren Edelleute, die sich unter die Viehtreiber und Küfer mischten, um ihren Vergnügungen nachzugehen. Die feinen Pinkel machte man sofort aus, weil sie es nicht unterlassen konnten, selbst mit einer gemeinen Hure wie ein Gentleman zu sprechen, so sehr waren ihnen ihre Manieren in Fleisch und Blut übergegangen. Sie vergaßen sie erst an der Tür zur Schlafkammer.
Der Bursche, der ihr in der Droschke gegenübersaß, gehörte zu dieser Sorte. Ein Geck. Man sah es an der Art, wie er seine Lederhandschuhe Finger für Finger auszog, sie an der Spitze fasste und abstreifte. Er legte sie übereinander und bot sie ihr an. Sie waren so warm, als lebte noch immer ein Tier in der weichen Haut.
»Ich werde Sie nicht noch einmal fragen, was Sie gerade tun wollten, weil mir das bereits klar geworden ist. Was hat Sie zu diesem Schritt getrieben? Kann Sie denn nichts von diesem schrecklichen Entschluss abbringen?«
Da Annie fürchtete, ihre Stimme würde ihr nicht gehorchen, zwinkerte sie nur. Tränen tropften auf die Handschuhe in ihrer Hand und hinterließen dunkle Flecken auf dem leichten Leder. Sie blickte auf ihre abgekauten, schmutzigen Nägel hinunter. Über solche Finger konnte sie die Handschuhe nicht streifen. Sie war es nicht wert, mit diesem Gentleman zusammenzusitzen. Sie war ein Nichts.
»Wie ist Ihr Name?«
Sie schüttelte den Kopf. »Hat keinen Sinn, ihn Ihnen zu sagen. Ich werd nicht lange genug da sein, dass wir Bekanntschaft schließen können.«
»Sagen Sie doch so etwas nicht«, tadelte er. »Kann ich Sie irgendwo hinbringen? Nach Hause?«
Sie lachte bitter auf. Ein hässliches Geräusch. »Ich hab kein Zuhause.«
Auch ihre Stimme klang in ihren Ohren hässlich, ihr East-End-Akzent verriet ihre wahre Herkunft, ihr erstes Zuhause. Die Schäbigkeit der St. Jude’s Street in Bethnal Green. Sie hatte dort mit ihren zahlreichen Brüdern und Schwestern gelebt; mit ihrer Mutter, die jedes Jahr ein Baby bekam, und einem Vater, der die Babys in Ma pflanzte und sie dann grün und blau schlug, weil sie schon wieder schwanger war. Als Annie dreizehn war, hatte sie elf Brüder und Schwestern und konnte sich kaum alle Namen merken. Damals hatte ihr Pa ihr ihr Sonntagskleid angezogen und sie in den oberen Raum des Old George gebracht, eines Pubs, wo ein Gentleman wartete. Der Gentleman sagte, er wäre ihr Onkel und forderte sie auf, sich auf sein Knie zu setzen. Pa war dabei gewesen, also hatte sie gedacht, das ginge schon in Ordnung.
Es war nicht in Ordnung gewesen. Danach hatte sie Pa die Hälfte des Geldes ausgehändigt, das ihr »Onkel« ihr gegeben hatte, und war in derselben Nacht mit der anderen Hälfte davongelaufen. Aber sie hatte schnell festgestellt, dass es für ein Mädchen in London keine Möglichkeit gab, alleine zu leben, ohne das zu tun, was sie mit dem Gentleman im oberen Raum des Old George in Bethnal Green getan hatte. Dann hatte sie Mary Jane kennengelernt, sie hatten gemeinsam auf der Straße gearbeitet, und sie hatte sich nie gestattet, zurückzuschauen.
»Haben Sie niemanden, der sich um Sie kümmert?«
»Ich hatte eine … Gefährtin. Ein Mädchen wie ich. Sie starb hier, vor drei Monaten.«
»Bei der Waterloo Bridge? Am … warten Sie, am ersten Oktober?« Er schien von ihrer Enthüllung ehrlich erschüttert zu sein, als berührte sie ihn irgendwie persönlich. Als handelte es sich um eine Familienangehörige, dachte Annie. »Gütiger Himmel.«
Er schien aufrichtig betroffen zu sein, viel betroffener, als Annie es gewesen war, als sie von Mary Janes Tod erfahren hatte. Annie war wütend gewesen. Sie konnte sich nicht erklären, warum Mary Jane sie verlassen hatte. Sie waren nicht glücklich gewesen, das nie, aber gut zurechtgekommen waren sie, während sie von einem besseren Leben träumten. Abends tranken sie etwas, warfen ihre Münzen zusammen und sprachen von ihren Kunden, den Männern, die dafür bezahlt hatten. Sie nannten sie die »Bastarde« und lachten über sie alle: die Schreier, die Schwätzer und sogar über die Schläger. Sie mit Schimpfnamen zu belegen und über sie zu lachen war alles, was sie tun konnten; es war die einzige Macht, über die sie verfügten, und ließ alles etwas weniger schrecklich erscheinen.
Mary Jane war wie eine Schwester gewesen, mehr als jede ihrer eigenen Schwestern. Sie beide hatten immer genug zu essen und zu trinken und konnten sich zu Weihnachten ein Quart Ale oder einen Posset, manchmal eine neue Haube und manchmal ein Federkissen leisten. Zu Weihnachten kauften die Bastarde ihnen vielleicht billige Schmuckstücke oder Geschenke – nichts Großartiges, weit gefehlt; Dinge, die für ihre Ehefrauen nicht gut genug waren, aber nicht so viel Geld kosteten, dass es in der Haushaltskasse fehlte: auffällige Broschen oder billige Handschuhe. Weihnachten war eine einträgliche Zeit für ein Straßenmädchen, und Annie und Mary Jane hatten sich auf eine geschäftige Saison vorbereitet. Mary Jane hatte zufrieden gewirkt; sie war die meisten Nächte mit einem Stammkunden ausgegangen. Dann war sie eines Morgens einfach nicht nach Hause gekommen, und statt des Kratzens des Schlüssels hatte es frühmorgens an der Tür geklopft, und ein Konstabler hatte dort gestanden, wo Mary Jane hätte stehen sollen.
Unbewusst hatte Annie die Lederhandschuhe in den Händen zerknüllt. Vorsichtig strich sie sie glatt und legte sie auf den Sitz neben sich. Plötzlich hatte sie es eilig, fortzukommen – hinaus aus dieser Kutsche, weg von dieser Welt. Dieser Gentleman hatte nichts geändert. Seine Freundlichkeit hatte die Dinge nicht besser gemacht, sondern das Ende nur aufgeschoben. Sie streckte die Hand nach dem Griff der Kutschentür aus.
»Warten Sie.« Er legte seine warme Hand über ihre kalten Finger. »Es bereitet mir großen Kummer, dass Sie so am Leben verzweifeln, vor allem, weil Sie noch so jung zu sein scheinen. Sie sind – verzeihen Sie mir – siebzehn? Achtzehn?«
Sie hatte gelegentlich bezüglich ihres Alters gelogen. Sie war zierlich und nicht sehr groß, deshalb hatte sie oft ein paar Jahre unterschlagen, da einige der Bastarde sehr junge Mädchen zu bevorzugen schienen. Aber jetzt sah sie keinen Grund, zu flunkern. »Ich werde im Juni achtzehn.« Rasch berichtigte sie sich: »Das heißt, ich würde achtzehn werden.«
Sie konnte sehen, dass ihm ihr Versprecher nicht entgangen war und dass er Hoffnung daraus zog. In den grauen Augen lag eine wache Intelligenz. »Ich werde nicht versuchen, Sie davon abzuhalten. Aber wenn ich Sie bitten dürfte … würden Sie mir eine Stunde Ihrer Zeit schenken?«
Annie kniff die Augen zusammen. Sie war nicht übermäßig eitel, aber sie wusste nur zu gut, dass ihr Aussehen ihr ihren Lebensunterhalt sicherte. Glaubte dieser Gentleman wirklich, sie würde ihre letzte Stunde auf dem Rücken verbringen? Sie hob das Kinn. Jetzt musste sie keine solche Angebote mehr annehmen; sie würde ihr Leben nicht mit diesem Kerl in irgendeiner Pension aushauchen, so attraktiv er auch war. Sie musterte ihn scharf.
Beschwichtigend hob er beide Hände und spreizte die Finger. »Ich versichere Ihnen, dass meiner Bitte nichts Ungehöriges anhaftet. Es gibt da etwas, was ich Ihnen zeigen will. Und wenn Sie nach dieser Stunde hierher zurückgebracht werden wollen, werde ich den Kutscher anweisen, Sie hier abzusetzen, und ich werde davonfahren und mich nicht noch einmal umblicken.«
Seine grauen Augen blickten ernst, flehend. Annie war an Bitten nicht gewöhnt; für gewöhnlich taten Männer mit ihr, was sie wollten, und setzten voraus, dass ihr Geld sie von solchen Höflichkeitsbezeugungen freikaufte. Sie war gerührt. Und eine Stunde war schließlich nicht so lang. Wenn sie noch ein wenig Zeit auf dieser Erde ausharren musste, dann konnte sie das auch in Gesellschaft eines Mannes tun, der sie freundlich behandelte. »Einverstanden«, willigte sie ein. »Eine Stunde.«
Zum ersten Mal lächelte er, was seinem anziehenden Gesicht einen charmanten, offenen Ausdruck verlieh. Er beugte sich aus dem Fenster und rief dem Kutscher zu: »Trafalgar Square.«
Der Mann zog die Hände aus seinem Mantel, versetzte dem Pferd einen leichten Schlag mit der Peitsche, und der Hansom rumpelte Richtung Norden über die Brücke und ließ den Fluss hinter sich.
ERSTES KAPITEL
Fünf Jahre, sechs Monate und einen Tag zuvor.
Ich gehe zum Strand hinunter, stehe da und starre die dunklen Umrisse der HMS Captivity draußen am Horizont an. Es ist sehr windig, deswegen komme ich mir nicht wie eine Närrin vor, wenn ich das sage, weswegen ich gekommen bin; ich weiß, dass der Wind meine Worte davontragen wird, sobald sie meinen Mund verlassen haben. »Auf Wiedersehen, Dad«, rufe ich Richtung Süden. »Ich mache mich auf den Weg nach London.« Dann füge ich für den Fall, dass der Wind durch irgendeinen vertrackten Zufall meine Worte doch zu ihm hinüberweht, hinzu: »Ich bin es, deine Mary Jane.« Natürlich kann ich ihn nicht sehen, aber ich weiß, dass er dort ist, tief unten in einer rattenverseuchten Schlafkoje des Gefangenenschiffs.
Ich warte auf eine Antwort, und der Wind schüttelt mich durch, aber es schwingen weder Worte noch das Echo von Dads Norfolkakzent darin mit. Wenn er in zehn Jahren zurückkehrt, werde ich zweiundzwanzig sein. Eine Frau und eine Londonerin, und ich werde anders mit ihm sprechen.
Ich hätte nach Dads Deportation hier in Holkham bleiben können, wenn nur Mum nicht irrtümlich gehängt worden wäre. Deshalb muss ich jetzt zu meiner Tante nach Battersea. Die Sterne von Norfolk werden mir fehlen, aber ich nehme an, dass es dort dieselben gibt. Was ich am meisten vermissen werde, ist das Wasser. Zumindest Dad hat Wasser, Unmengen davon. Ich hoffe, dass es in London auch Wasser gibt.
Der Hansom bog auf den Trafalgar Square ein und scheuchte dabei ein paar Tauben auf. Annie betrachtete den neu angelegten Platz ohne wirkliches Interesse. An der Säule in der Mitte des Platzes sollten einmal vier Löwen stehen und auf ihr eine Statue thronen, aber jetzt gab es noch keine Statue, und nur ein Löwe kauerte in einsamer Pracht darunter. Vor der weitläufigen Galerie mit dem Säulenvorbau reihte sich eine Anzahl Kutschen. Der Weg wurde von großen Fackeln erleuchtet, und die hohe Säule warf wie der Zeiger einer Sonnenuhr verrückte Schatten.
»Ist es das, was Sie mir zeigen wollten?«, fragte sie ihren Retter gleichgültig.
»Warten Sie ab«, erwiderte er. »Warten Sie einfach nur ab.«
Während Annie müßig elegant gekleidete Paare beobachtete, die aus den Kutschen stiegen – die Herren im Frack, die Damen in glänzendem Satin –, und sich fragte, was sie hier sollte, hielt der Hansom in der Reihe, und ihr Begleiter sprach den Kutscher an. »Sie können bis vorne vorfahren. Man kennt mich hier.«
Annie war neugierig. »Wo ist hier?«
»Die Royal Academy.«
Annie hatte keine Ahnung, was die Royal Academy war. Soweit sie derartige Dinge zur Kenntnis nahm, war das kürzlich erbaute Gebäude mit dem Kuppeldach am Rand des Trafalgar Square eine Kunstgalerie. Die Royal Academy. Ob dieser Ort etwas mit der Königin zu tun hatte? Einen Moment lang sah sie sich in ihren Lumpen vor Victoria höchstpersönlich knicksen.
Sie rutschte auf ihrem Sitz nach hinten, als der Hansom sich vor die anderen Kutschen setzte. Am Fuß der breiten Marmortreppe war ihr ihr Begleiter beim Aussteigen behilflich. Die Leute drehten sich gaffend zu ihnen um, während sie hinter dem Fremden herschlurfte, der den Kutscher bezahlte, aber sie starrten nicht sie an, sondern ihn. Sie nickten und lächelten, sie tuschelten hinter vorgehaltenen Händen, und eine kleine Gruppe klatschte kurz Beifall. Er quittierte dies mit einem Nicken und bot Annie seinen Arm an. »Kommen Sie.«
»Aber …« Sie blickte an ihrem zerlumpten Kleid aus altem braunen, mit Gott weiß was für Flecken übersätem Barchent hinunter. Und der Rest – keine Haube, halb gelöstes Haar, schmutzige Nägel und Tränenspuren auf ihrem schmuddeligen Gesicht.
»Ah.« Taktvoll hakte er seinen Abendumhang auf, legte ihn ihr um die Schultern und verdeckte so das anstößige Kleid. »So.« Er bedachte sie mit seinem gewinnenden Lächeln. »Jetzt sind Sie die Königin von Saba.«
Annie nahm seinen Arm und stieg die Stufen hoch.
Drinnen gab es warme, von Kerzenschein erhellte Marmorhallen, in denen Gelächter vieler Menschen und das Klirren von Kristall widerhallte. Aufwärter mit silbernen Tabletts boten kleine Gläser mit Sherry an. Annie nahm sich eines, leerte es mit einem Zug, stellte es zurück und griff nach einem weiteren, ohne sich um Anstandsregeln zu kümmern. Es war kein Gin, aber er würde es tun. Ihr Begleiter nahm sich ein Glas und nippte daran, dabei beobachtete er sie aufmerksam. Sie lächelte gepresst; sie brauchte den Alkohol, denn die Augen starrten schon wieder, diesmal in ihre Richtung, registrierten die zerschlissenen Kleider unter dem Umhang, das verschmierte Gesicht, das unordentliche Haar. Aber jetzt wärmte der Alkohol ihren leeren Bauch – den Bauch mit dem Baby darin –, und sie starrte trotzig zurück. Es kümmerte sie nicht, was sie dachten.
»Ist es das, was Sie mir zeigen wollten?«, fragte sie, plötzlich kühn geworden. »All diese feinen Pinkel?« Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Stimme zu dämpfen. Ihr Begleiter schüttelte den Kopf.
»Warten Sie«, sagte er wieder. »Warten Sie einfach ab.«
Weitere Stufen, und dann ein weitläufiger Raum, in dem nahezu jeder Zoll der Eichenholztäfelung mit Bildern bedeckt war. Einige waren so groß wie eine Armenhaustür, andere winzig klein. Zuerst konnte Annie nur Farben sehen: rothaarige Frauen in juwelenfarbenem Samt, die an Gobelins stickten, Blumen in den Händen hielten und auf Wiesen ruhten. Die Gemälde waren schön und friedlich, nichts, was die Seele aufwühlte. Doch in der Ecke am anderen Ende des Raumes, ein Stück vom Hauptteil der Menschenmenge entfernt, gab es andere, verstörendere Arbeiten in dunkleren Farbtönen für dunklere Themen. Themen, die ihr nur allzu vertraut waren.
Hier hing das Bild einer Frau, die gerade vom Knie eines schnurrbärtigen jungen Mannes aufstand, der an einem Klavier saß. Ihre Hände waren entschlossen gefaltet, und in ihren Augen lag eine plötzliche Erkenntnis. Das Bild gab genau den Moment wieder, wo ein leichtes Mädchen erkannte, dass es auf Abwege geraten war. Dort war ein weiteres von einer Frau, die sich vor Scham krümmte, als ihr liebevoller Bruder sie bei der Arbeit auf der Straße ertappte und mit einem Ausdruck von Entsetzen und Bedauern gegen eine Wand sackte. Ein drittes, das wie ein Altargemälde aus drei Teilen bestand, zeigte alles andere als fromme Szenen. Auf der ersten Tafel sah man eine Frau unter dem anklagenden Blick ihres Ehemannes, der einen Brief in der Hand zerknüllte, auf dem Boden liegen. Ihre beiden kleinen Mädchen, die ein Kartenhaus bauten, blickten zu ihrer Mutter hinüber, als ihr Ehebruch bekannt wurde, und das Haus stürzte unter ihren Händchen zusammen. Die zweite zeigte dieselben Mädchen ein paar Jahre später, sie lebten in einer schäbigen Dachkammer und betrachteten durch ein schmieriges Fenster den Mond über den Dächern. Auf der dritten Tafel saß ihre Mutter, deren Absturz jetzt vollkommen war, unter den Bögen des Adelphi-Theaters. Zerfetzte Plakate wehten über ihrem Kopf, und die Füße eines Babys lugten unter den Röcken ihres zerlumpten Kleides hervor.
Annie betrachtete die drei Elendsszenen und wusste, dass ihre Entscheidung, diese Welt zu verlassen, richtig war. Ihr war klar, warum ihr Retter sie hierhergebracht hatte: er hatte ihr die Falschheit ihres Lebenswandels vor Augen führen wollen. Aber sein Plan war nicht aufgegangen, sondern hatte sie nur daran erinnert, wie ihr Leben weitergehen würde, wenn sie ihm nicht selbst ein Ende setzte. Es war für die Frau am Klavier gut und schön aufzuspringen und zu bereuen und in einem Geschäft oder einer Fabrik zu arbeiten, um ihr altes Leben zu vergessen und eines Tages in einer weit entfernten Stadt, wo niemand sie von einer Straßenecke oder einem Ginladen her kannte, gut zu heiraten. Aber das dritte Gemälde, das in drei Teile unterteilte, bewies ihr, dass es für eine Frau mit Kind keinen Weg aus der Schande gab.
»Es nützt nichts«, sagte sie zu ihrem Retter. »Ich weiß, was für ein Leben ich gewählt habe. Was glauben Sie, warum ich es beenden will?«
»Ich habe Sie nicht deshalb hierhergebracht«, erwiderte er. »Sie sollen das hier sehen.«
Es gehörte zu den größten Bildern, eine riesige düstere Leinwand, die einer Tür in das Dunkel glich. Es zeigte eine trübe Szene der genau wie heute in eisigen Nebel gehüllten Waterloo Bridge. Alles war genau gleich: die wie eine Perlenschnur entlang des Südufers brennenden Laternen, die zinngraue Themse, in der der ertrunkene Mond trieb, die neuen, einem kauernden stachelbewehrten Drachen gleichenden Parlamentsgebäude. Aber während Annie die Szene von oben gesehen hatte, hatte der Künstler sie von unten betrachtet – vom Blickpunkt unterhalb der Bögen auf dem schmutzigen Ufer der Themse aus. Und im Vordergrund, halb im, halb außerhalb des Wassers, lag ein Mädchen in Weiß. Lebensgroß, aber eindeutig tot. Und es handelte sich um Mary Jane.
Annie rang nach Luft, trat einen Schritt darauf zu, starrte ihre tote Freundin an und streckte eine Hand aus, als wollte sie ihr Gesicht berühren und die blicklosen Augen schließen. Im Hintergrund sah man schattenhafte Gestalten, aber Annie hatte nur Augen für Mary Jane. Ihr erster Gedanke war absurderweise, dass sie sie noch nie so sauber gesehen hatte. Ihr Gesicht hatte den grauen Glanz einer Austernschale, ihr braunes Haar wirkte vom Wasser durchnässt noch dunkler, die Arme hatte sie auf dem Kies ausgebreitet, als würde sie den Tod umarmen. Eine Sonntagsschulfloskel kam Annie in den Sinn: Sie war von all ihren Sünden reingewaschen. Mary Jane war immer eher nachlässig gewesen, sie hatte von Seife nicht viel gehalten, aber hier, in ihrem weißen Musselin, hätte sie ein Engel sein können. Annie schlug die Augen nieder, sie konnte nicht länger hinschauen. Und entdeckte auf dem Rahmen ein kleines Messingrechteck mit den eingravierten Worten: Die Seufzerbrücke, von Francis Maybrick Gill.
»Sehen Sie«, sagte Francis Maybrick Gill sanft neben ihrem Ellbogen. »Ich war dort. Ich ging vor drei Monaten über die Waterloo Bridge, so wie ich es heute getan habe. Ich hörte den Tumult und die Schreie und stieg die Stufen zum Ufer hinunter.« Sie drehte sich um, um ihn anzusehen. »Die Gassenjungen hatten sie gefunden. Kleine Kinder. Sie riefen die Konstabler, um sie herauszuziehen. Die Konstabler gaben ihnen einen halben Penny. Als der Gehilfe des Coroners kam, sagte ein Konstabler: ›Wieder eine für Sie, Mr. Brownlow.‹ Einfach so.« Er schüttelte den Kopf. »Wieder eine für Sie. Das werde ich nie vergessen. Ich gab dem Gehilfen des Coroners eine Guinea für einen Sarg, und sie schafften den Leichnam fort.«
Annie erinnerte sich an den Sarg aus gutem Hartholz – der Gehilfe des Coroners hatte den Zimmermann also nicht betrogen. Sie hatte sich bei dem erbärmlichen kleinen Kirchspielbegräbnis in St. Leonard’s in Shoreditch gefragt, wo das Geld hergekommen war. Prostituierte wurden für gewöhnlich auf einer Schindel und nebeneinanderliegend begraben, so wie sie zu Lebzeiten nebeneinandergestanden hatten. Sie wandte sich zu dem Künstler; am liebsten hätte sie ihn umarmt. In diesem Moment liebte sie ihn für diesen letzten Dienst, den er einer toten Hure erwiesen hatte.
Das Gemälde ließ das Blut in ihrem Kopf pochen. Das Schlagen eines sterbenden Herzens, der dahinrauschende Fluss. Wie konnte ein Bild all den Lärm und das Drama heraufbeschwören und gleichzeitig den Frieden am Ufer einfangen, das Plätschern des Wassers, die aufgeregten Rufe der Gassenjungen, den lebensüberdrüssigen Konstabler, der den Gehilfen des Coroners begrüßte. Wieder eine für Sie.
Francis sprach weiter, mit gedämpfter Stimme, aber eindringlich. »Und als ich heute über die Brücke ging und Sie auf der Brüstung sah, nun, da wusste ich, dass ich Sie nicht springen lassen konnte. Für sie bin ich zu spät gekommen«, sagte er voller Bedauern, »aber nicht für Sie. Ich wusste natürlich nicht, dass Sie eine Bekannte von …« Er nickte zu dem Bild hinüber.
»Mary Jane«, flüsterte sie.
»Von Miss Mary Jane waren.« Die Ehrerbietung, mit der er von ihrer toten Freundin sprach, brachte sie erneut dazu, ihn zu lieben. »Ich konnte sie nicht vergessen. Ich ging direkt nach Hause, nahm meine Pinsel, gab meine antiken Sujets, meine Nymphen und meine Dryaden auf und malte zum ersten Mal etwas Reales. Ich konnte nicht von ihr lassen; ich malte eine Studie nach der anderen, und dann dieses Ölgemälde – mit dem Ergebnis, dass dieses das erste Bild von mir ist, das von der Akademie angenommen wurde. Ich stehe tief in der Schuld Ihrer Freundin, und da ich sie bei ihr nicht abzahlen kann, würde ich sie gerne bei Ihnen abzahlen.«
Schuld war ein furchteinflößendes Wort für Annie, es bedeutete Drohungen und Blutergüsse, kalte Finger und Zehen, einen knurrenden Magen und Gefängnisgitter. Sie hatte oft Schulden gehabt, aber noch nie hatte ihr jemand etwas geschuldet. »Wie?«
Jetzt nahm er ihre Hände und sah ihr mit einem glühenden Ausdruck in die Augen. »Ich möchte, dass Sie sich von mir retten lassen.«
»Wie meinen Sie das?«
Er zog seine Taschenuhr hervor. »Unsere Stunde ist um. Ich hoffe, dass mein Werk so zu Ihnen gesprochen hat, wie es meine Worte nicht konnten. Deshalb muss ich Sie fragen: Wollen Sie zu der Seufzerbrücke zurückkehren?«
Sie sah das Bild wieder an. Die Farben verschwammen vor ihren Augen, und sie befürchtete, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Durch irgendeine dunkle Magie war Mary Jane verschwunden, und eine gemalte Annie lag dort auf dem Kies, ihre Augen waren so schimmernd und tot wie die Kiesel, die Haare vom Wasser dunkel, der Mund geöffnet wie das Maul eines Fisches. Sie blinzelte, und das Bild löste sich auf: Mary Jane war wieder da, aber Annie war plötzlich in Schweiß so kalt wie das Themsewasser gebadet.
»Nein«, stammelte sie mit trockenem Mund. »Nein, ich werde nie wieder dorthin zurückkehren. Aber ich weiß nicht, wo ich stattdessen hingehen kann.«
»Sie können mit mir nach Hause kommen«, sagte Francis Maybrick Gill.