Zum Buch
Eine Bildhauerin, die auf die eigenen Werke schießt, eine Musikerin, die ihr Publikum beschimpft, eine Fotografin, die die Geschlechter vermengt, ein Model, das mit den abendländischen Schönheitsidealen bricht, eine Dichterin, die vorgibt, im alten Ägypten zu leben, eine Anthropologin, die sich für den Weißen verbotene afrikanische Mysterien interessiert. Die Frauen dieses Buches sind durchweg »böse Mädchen«. Mit ihrem Gefühlsleben, ihren sexuellen Vorlieben, ihrer Denk- und Schaffensweise, ihrem Schönheitsverständnis, ihrer Art, sich zu kleiden und Klartext zu reden, haben sie im Lauf des 20. Jahrhunderts für Skandale gesorgt, deren Nachhall bis heute nicht verklungen ist.
Tallulah Bankhead, Louise Bourgeois, Pearl S. Buck, Lydia Cabrera, Claude Cahun, Marguerite Duras, Elsa von Freytag-Loringhoven, Tove Jansson, Toto Koopman, Else Lasker-Schüler, Clarice Lispector, Mina Loy, Grace Metalious, Nahui Olin, Jean Rhys, Niki de Saint Phalle, Albertine Sarrazin, Annemarie Schwarzenbach, Nina Simone, Violet Trefusis.
Zur Autorin
CRISTINA DE STEFANO ist Journalistin und Autorin. Sie lebt in Paris und arbeitet als Literaturscout für große Verlage auf der ganzen Welt. Für ihre Biographie über die 2006 verstorbene italienische Journalistin Oriana Fallaci erhielt sie große Anerkennung.
Cristina De Stefano
SKANDALÖS
Das Leben freier Frauen
Aus dem Italienischen
von Franziska Kristen
Die italienische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Scandalose. Vite di donne libere« bei Rizzoli Libri S. p. A., Mailand.
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Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2020
Copyright © der Originalausgabe 2017 by Cristina De Stefano
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Published by arrangement with Agenzia Santachiara
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © Getty Images/Hulton Archive, Jack Robinson, Lipnitzki/Roger Violet, LE TELLIER Philippe
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
SL · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-23952-7
V001
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»Komm zu mir / Da ist etwas / Das ich dir sagen muss / und ich kann es nicht sagen«, schreibt sie. Aber auch: »Schwein Amor, sein rosiger Rüssel / wühlt im erotischen Müll.« Sie ist eine der großen Vertreterinnen der modernistischen Literatur, sie spricht von Liebe und Sperma, von Sternennächten und Schleimhäuten, von Speichel und sauren Ausdünstungen und schockiert damit den braven Bürger. Gegen Männer zieht sie mit der Waffe der Ironie zu Felde, sie spottet über ihre Aufgeblasenheit und ihre Marriage boxes, die »Eheschachteln«, in die man sie zwängen will. Sie erfindet die moderne Frau, auch wenn es ihr selbst nicht immer gelingt, diese zu verkörpern, und ohne sich zu scheuen, zahlt sie ihren Preis dafür, lässt sich in all ihrer Widersprüchlichkeit vom Schicksal leiten. Sie sieht umwerfend gut aus, ist weltgewandt und zartbesaitet; sie hat zwei Ehemänner, vier Kinder und zahlreiche Talente, von denen sie mit der Freigiebigkeit einer Königin Gebrauch macht: zunächst als Malerin, dann als Dichterin und schließlich als Designerin kleiner kunstvoller Objekte, mit denen sie hätte reich werden können, stattdessen jedoch – wie stets in ihrem Leben – auch diesmal auf ganzer Linie scheitert.
1882 kommt sie unter dem Namen Mina Gertrude Lowy in London zur Welt. Ihre Eltern könnten unterschiedlicher kaum sein: er, ein aus Ungarn stammender jüdischer Kaufmann mit einer Künstlerseele; sie, eine schlichte, streng religiöse, zur Rettung ihrer Ehre in die Ehe gezwungene Frau. Mit 18 Jahren kann sich Mina dank der Kunst dem Elternhaus entziehen und den Vater davon überzeugen, sie im Ausland studieren zu lassen: 1901 zunächst in München und anschließend 1902 in Paris. Rasch entwickelt sie sich zu einer betörend schönen jungen Frau, die, Tonpfeife rauchend, stets purpurrote Kleider und riesige, von ihr selbst entworfene und genähte Hüte trägt.
Mit 23 Jahren debütiert sie erfolgreich im Salon d’Automne in Paris, doch dann holt sie ihr Schicksal als Frau ein. Von ihrem ersten Liebhaber – dem kleinen, wenig selbstbewussten Stephen Haweis, einem angehenden Maler wie sie – wird sie schwanger und heiratet ihn, um der Schande zu entgehen, obwohl sie nicht im Geringsten verliebt in ihn ist und ihn stets nur »den Zwerg« nennen wird. Der Vater gewährt ihr eine bescheidene finanzielle Unterstützung, der Ehemann nimmt sie, einer Trophäe gleich, überall hin mit und wird nicht müde, sie zu fotografieren: seine zauberhaft schöne Gattin mit dem langen dunklen, zu einem lockeren Knoten gesteckten Haar und den von der Schwangerschaft gerundeten Formen.
Nach einer äußerst schwierigen Geburt – die sie zu dem Gedicht Parturition animiert – ist sie ein Jahr lang glückliche Mutter eines entzückenden Mädchens, bis die Kleine an Meningitis stirbt und sie fast wahnsinnig vor Schmerz zurücklässt. Als sie sich in den Arzt, der sie heilt, verliebt und von ihm schon bald ein weiteres Kind erwartet, bricht es ihr erneut das Herz. Der Geliebte ist bereits mit einer anderen Frau verlobt. Um den Rivalen fernzuhalten, erklärt ihr Ehemann sich bereit, das Kind als sein eigenes anzuerkennen, unter der Bedingung, dass sie mit ihm nach Italien zieht.
In Florenz, das ihr von Anfang an verhasst ist – es ist ihr zu klein und zu klatschsüchtig und voller englischer Ladys –, kommen die außerehelich gezeugte Tochter Joella und wenig später John zur Welt. Ihr Mann hält sie im Haus gefangen, bedroht sie mit der Pistole. Sie fühlt sich wie ein »Einsiedlerkrebs« und beginnt, verrückte Gedichte zu schreiben, wobei sie Versmaß und Reime über den Haufen wirft. Einige Jahre später wird Mabel Dodge, eine reiche Amerikanerin auf Tournee, sie erlösen. Sie verspricht Mina, dass sie ihr bei der Scheidung von ihrem Mann, der immer öfters auf den Spuren von Gauguin im Pazifik unterwegs ist, beisteht, und lädt sie zu sich nach New York ein, nachdem sie die Kinder bei einer italienischen Gouvernante untergebracht hat.
Als Mina Loy 1916 nach New York kommt, steht sie kurz vor dem Durchbruch. Ihre Gedichte erregen großes Aufsehen. Die Männer liegen ihr zu Füßen, bezaubert von ihrem mit rotem Chiffon eingerahmten Dekolleté. Ihre Lesungen sind stets restlos ausverkauft. Man Ray fotografiert sie, Duchamp bittet sie, für seine Gemälde Modell zu stehen. Eigentlich glaubt sie nicht mehr an die Liebe, schreibt über sie als etwas, das ohnehin niemals eintreten wird, doch dann begegnet ihr Arthur Cravan, und sie gibt sich ein weiteres Mal ihrem wechselhaften Schicksal hin.
Cravan ist eine Naturgewalt. Der Boxer, Skandaldichter und stolze Neffe von Oscar Wilde hatte zuvor in Paris eine avantgardistische Zeitschrift gegründet, die er mit einem Handkarren in den Buchhandlungen verteilte. Den Saum seiner Hemden hat er farblich gestaltet, indem er sich bei Delaunay auf den Maltisch setzte. Er entzieht sich dem Wehrdienst und dem Krieg, ist ein ungehobelter Riese, der zu viel trinkt, lautstarke Zoten reißt und immer wieder hinter Gittern landet. Er hat kein Geld, keine eigene Wohnung, er schläft in den Betten seiner jeweiligen Geliebten oder in öffentlichen Parks, aber kaum lernt er Mina Loy kennen, macht er ihr einen Heiratsantrag: »Du solltest mit mir in ein Taxi ziehen. Wir könnten eine Katze halten«, raunt er ihr zu.
Die gemeinsamen Freunde sind aufrichtig erstaunt über das Glück ihrer unglaublichen Verbindung: er, fünf Jahre jünger und von Verehrerinnen umringt – doch »die anderen Frauen sind wie Butter«, sagt er –, sie, in Erwartung der Scheidung und mit zwei in Italien zurückgelassenen Kindern. Ihre Tage verbringen sie im Bett oder mit Streifzügen durch die Museen. »Unser gemeinsames Leben bestand darin, Hand in Hand durch die Straßen zu schlendern. Es war gleichgültig, was wir taten: ob wir miteinander schliefen, ob wir die Schaufensterauslagen der Lebensmittelgeschäfte betrachteten oder an einer Straßenecke etwas aßen. Wir hatten den Quell der Glückseligkeit gefunden«, erinnert sie sich Jahre später. Von den Behörden wegen der alten Wehrpflichtangelegenheit verfolgt, flüchtet Arthur Cravan ohne Papiere nach Mexiko. Sie folgt ihm wenig später und lässt sich von einem zwielichtigen Priester mit ihm trauen.
In Mexiko sind sie glücklich, nagen jedoch buchstäblich am Hungertuch. »Lass uns gemeinsam in den Freitod gehen«, schlägt er ihr eines Tages vom Hunger geschwächt vor. »Wir dürfen nicht sterben«, wendet sie ein, »wir haben noch nicht alles gesagt.« Ab und zu schickt ein Freund etwas Geld, und hin und wieder nimmt Cravan an einem bezahlten Boxwettkampf teil.
Als ihnen klar wird, dass es so nicht weitergehen kann, hecken sie einen aberwitzigen Plan aus, um das Land zu verlassen: Mina, die gültige Papiere hat, soll mit einem Linienschiff nach Buenos Aires reisen, und Cravan soll ihr auf illegalem Weg folgen. Er richtet ein Boot her, belädt es mit Lebensmitteln und Wasser und sticht dann, nachdem er seine Frau zum Abschied leidenschaftlich geküsst hat, in Puerto Ángel für eine Probefahrt in See. Er kehrt nie zurück. Die vor Kummer fast wahnsinnige Mina wird von einem befreundeten Paar gegen ihren Willen auf ein Schiff verfrachtet und nach England zu ihrer Mutter geschickt, um dort Fabienne, die Tochter, die sie von Cravan erwartet, zur Welt zu bringen.
Mina, davon überzeugt, dass ihr Mann noch am Leben ist und ohne Papiere in irgendeinem finsteren südamerikanischen Gefängnis einsitzt, lässt nichts unversucht, ihn aufzuspüren. Erst nach jahrelanger Suche findet sie sich damit ab, dass sie ihn verloren hat. »Wir hätten miteinander leben können / und sprechen, solange es Sprachen gab / um zu sprechen«, schreibt sie in einem ihrer Gedichte. In Florenz trifft sie nur noch Joella an, da ihr Exmann den Sohn John mit in die Tropen genommen hat, der dort kurz darauf stirbt, ohne sie noch einmal in die Arme schließen zu können.
Nach diesem erneuten Schlag zieht Mina, betäubt vor Schmerz, mit den beiden ihr verbliebenen Töchtern durch Europa. Sie gelangt nach Wien, wo sie Freud porträtiert, dann nach Berlin, wo sie bei Archipenko Design studiert und mit einem geheimnisvollen blutjungen russischen Dichter zusammenlebt, der eines Tages so plötzlich, wie er aufgetaucht ist, wieder verschwindet. Schließlich landet sie in Paris, wo sie mit kunstvoll gestalteten Lampenschirmen zu handeln beginnt. Täglich unternimmt sie lange Streifzüge über den Flohmarkt und beschafft Materialien, die in ihren Händen zu bunten, ungeahnten Kunstobjekten werden und bei der Kundschaft großen Zuspruch sowie reißenden Absatz finden. Peggy Guggenheim leiht ihr Geld, damit sie expandieren kann, Joella ist ihre Assistentin, und die kleine Fabienne wächst in der Atelierwohnung in Montparnasse zwischen beweglichen, an der blauen Sternendecke befestigten Pappwänden, Türen aus schimmerndem Glas, Fenstern aus farbigem Cellophan und kleinen Käfigen voller bunt gefiederter Vögel frei wie eine Wilde auf.
Mina setzt ihre Arbeit auch fort, nachdem sie Joella, die einen reichen Kunsthändler geheiratet hat, in die Vereinigten Staaten gefolgt ist. Unermüdlich schreibt sie ihre Erinnerungen nieder, insbesondere die Erinnerungen an die Zeiten mit Cravan, sie entwirft Globen, Weltkarten, Papiersterne, lässt sich ein Spiel zum Erlernen des Alphabets und eine Puppe, die echte Tränen weint, patentieren. Junge Verehrer zollen ihr Bewunderung, so etwa Henry Miller, der oft bei ihr zum Abendessen vorbeischaut, oder Joseph Cornell, der Dichter mit den Schachteln, der sie während ihrer Streifzüge auf der Jagd nach Materialien begleitet.
Sie verbirgt ihren Schmerz hinter provokanten Gedichten, wie dem bekannten The Widow’s Jazz. 1966 stirbt sie unerwartet, nachdem sie dem Altwerden längst schon schonungslos die Stirn geboten hat: »Gehüllt in Lumpen der Erinnerung / dürftig selbst für ein Skelett / Verziert mit unvorhergesehenem Riss / geblümter Baumwolle / schimmert die Hälfte ihres schwarzen Rockes / wie ein fleckiger Spiegel; / reflektiert den Schmutz – / ein Yard Velourchiffon«.
»An einem schwülen Sommertag vor grauen Jahren erhob sich die Jungfer Dingadingá am Mittag von ihrem Lager, suchte ihren Vater auf, der König war, und verkündete ihm: ›Papa König, ich will heiraten.‹« Es ist der Frühling des Jahres 1934. Lydia Cabrera ist jung, kultiviert, und ihre Eleganz zeugt von vergangenen Zeiten. Sie stammt aus einer der reichsten Familien Kubas, lebt jedoch seit Jahren in Europa: in Paris, Rom, Madrid. Ihre Lebensgefährtin, die venezolanische Schriftstellerin Teresa de la Parra, erkrankt tödlich an Tuberkulose, ohne dass die renommiertesten Ärzte und die besten Sanatorien etwas dagegen auszurichten vermögen. Um sie zu zerstreuen, schreibt Lydia für sie ihr erstes Buch, Cuentos Negros de Cuba, alte überlieferte Geschichten, von denen sie einst durch die Lieder der zahlreichen afrikanischen Bediensteten in dem großen Haus ihrer Kindheit gehört hat.
Damals nahm ihre Schriftstellerlaufbahn ihren Anfang, wobei sie es noch weit bringen sollte. Heute kennt jeder an afroamerikanischen Religionen interessierte Anthropologe ihre Bücher, insbesondere El Monte, eine Sammlung mit Glaubensvorstellungen von Schwarzen, die in einer gänzlich eigenen Sprache, einem mit zahlreichen afrikanischen Ausdrücken gespickten Spanisch, verfasst sind. Als dieses Buch 1954 erscheint, rümpfen in Kuba viele die Nase: Es schickt sich nicht, dass eine weiße Frau sich mit solchen Themen befasst. Aber Lydia Cabrera hat sich noch nie um Konventionen geschert. 1899 kommt sie als Tochter eines bekannten Anwalts, Journalisten und Politikers in einer der bedeutendsten kreolischen Adelsfamilien Havannas zur Welt. Als jüngstes von acht Kindern wird sie besonders umsorgt und verhätschelt und genießt das Privileg einer unbeschwerten und freien Kindheit. Sie setzt sich in den Kopf, ein Musketier zu sein, also schenkt der Vater ihr ein Schwert; sie will Journalistin werden, also vertraut er ihr, trotz ihres jugendlichen Alters, eine Rubrik in einer seiner Zeitschriften an; sie will die Welt kennenlernen, also nimmt er sie überallhin mit auf Reisen und abends auch in die Literaturcafés der Stadt.
Zwar muss sich Lydia eine Pistole an die Schläfe setzen, ehe der Vater einwilligt, sie in Paris studieren zu lassen, aber 1927 kann sie endlich aufbrechen. An der Académie Moderne studiert sie unter Leitung von Fernard Léger Malerei, legt ihr Diplom an der École du Louvre ab und malt mit Feuereifer in ihrem Atelier in Montmartre. Paris bedeutet für sie Freiheit und Künstlerdasein, auch wenn ihre Kleider durchweg Modelle von Lavin sind. Vor allem aber bedeutet es ein Leben mit der wunderschönen, zehn Jahre älteren venezolanischen Schriftstellerin Teresa de la Parra, die für Schlagzeilen sorgt, weil sie in einem ihrer Romane die Lebensbedingungen der Frauen in Südamerika angeprangert hat. Unter dem Einfluss der an indigenen Kulturen interessierten Künstler besinnt sich Lydia am Ufer der Seine erneut auf Kuba. Sie schreibt ihre ersten Cuentos Negros, die Schwarzen Geschichten aus Kuba, für die sie aus ihrem Erinnerungsschatz schöpft und die sie in Literaturzeitschriften veröffentlicht, bis das Verlagshaus Gallimard sie 1936 in einem Sammelband herausgibt.
Die Liebe zwischen ihr und Teresa bleibt stets ungetrübt, aber als die Gefährtin stirbt, vernichtet Lydia all ihre Gemälde, bis auf zwei, die sie der Portiersfrau schenkt, und kehrt 1938 zurück nach Kuba.
In der Heimat findet Lydia eine neue Partnerin, die junge, von kubanischen Bräuchen begeisterte Historikerin María Teresa de Rojas, mit der sie gemeinsam eine große Villa im Kolonialstil, die Quinta San José, erwirbt und herrichtet, um sich fortan ihrer neuen Leidenschaft, dem Studium der lokalen Volkskunde, zu widmen. Sie sucht erneut den Kontakt zu Schwarzen – dem anderen Gesicht Kubas –, wie bereits als Kind zum Gärtner, dem Kindermädchen und der Köchin mit ihren lächelnden, ebenholzfarbenen runden Gesichtern über den schneeweißen Dienstbotenkleidern. Sie interessiert sich für ihre Bräuche, ihren Glauben, ihre geheimen, für Nicht-Initiierte verbotenen Rituale. Sie erkundet jeden Winkel der Insel, erlernt Yoruba und hört allen mit außergewöhnlicher Geduld zu.
Da Lydia als Frau und als Weiße keinen Zugang zu den örtlichen Geheimbündnissen hat, bedient sie sich eines Netzwerks indigener Informanten, die sie besuchen kommen und ganze Nachmittage lang bleiben, reden oder sich – verschrobenen, uralten Königen in der Verbannung gleich – in Schweigen hüllen. Sie weiß, wie sie sie zu nehmen hat. »Es braucht Zeit, um ihre beschönigenden Umschreibungen und ihren Glauben an die magische Kraft der Sprache zu verstehen«, erklärt sie. »Es gibt Dinge, die niemals klar ausgesprochen werden dürfen, man muss ihre Denkweise erlernen, muss sich auf ihre Launen einlassen, auf ihre Widersprüchlichkeit, ihre Befindlichkeiten, sich auf ihr Zeitempfinden, ihre schreckliche Ungenauigkeit und Langsamkeit einlassen. Man muss hartnäckig, klug und vor allem geduldig sein. Wenn wir zum Beispiel erfahren wollen, weshalb die Göttin Nanà kein Messer aus Metall, sondern eines aus Bambus haben will, müssen wir uns damit abfinden, dass man uns die Geschichte vom Regen machenden Wurm oder von der Spinne erzählt, die sich ihr Körperhaar versengt. Wenn wir zwei oder drei Monate oder auch ein ganzes Jahr später wieder auf die Frage zurückkommen, wird man uns endlich verraten, was es mit dem Eisen auf sich hat.«
In ihrer Heimat veröffentlicht sie die Cuentos Negros, die 1940 auf Spanisch erscheinen und denen 1948 ein weiterer Band folgt. In erster Linie schreibt sie anthropologische Bücher. Lydia interessiert sich für alles: für die Sprache, die Pflanzen- und Tierkunde, die Initiationsriten, den Aberglauben, für die Symbole, Tänze, die Medizin und Magie. Innerhalb weniger Jahre wird sie berühmt. Obwohl sie niemals Ethnologie studiert hat, legt sie ihren Universitätsabschluss auf diesem Gebiet ab und leistet eine Arbeit, die für die Kenntnis der kubanischen Santería – jener aus der Begegnung zwischen europäisch geprägtem Christentum und afrikanisch verwurzelten Glaubenselementen erwachsenen Religion – noch heute von grundlegender Bedeutung ist. Sie vermag es, das lokale Brauchtum literarisch zu erfassen und dabei eine ihr eigene Sprache und Vorstellungskraft zu entfalten. Lydia meidet das Rampenlicht und bezeichnet ihre Bücher als schlichte »Transpositionen«, aber ihre Erzählweise hat nichts mit bloßer anthropologischer Aneinanderreihung zu tun. Für die aus Afrika stammenden einstigen Sklaven hegt sie eine unumstößliche Leidenschaft. »Sie tanzen, wenn sie geboren werden, sie tanzen, wenn sie sterben, und sie tanzen, wenn sie töten. So feiern sie jeden Augenblick ihres Daseins.«
Fidel Castros Revolution bereitet ihrer Feldforschung ein jähes Ende. Lydia ist gegen die Träume des Kommunismus bereits gefeit. Als enge Freundin der russischen Malerin Alexandra Exter war sie in Paris in Kontakt mit Sowjetbürgern gekommen, die den russischen Exilanten hinter vorgehaltener Hand rieten: »Kehrt bloß nicht ins Vaterland zurück. Dort ist es grauenvoll.« Kaum ein Jahr nach der Machtergreifung Castros verlässt sie 1960 gemeinsam mit María Teresa das Land. Das Regime, das ihr den Ruhm nicht gönnt, zerstört die Villa Quinta San José und wirft ihre wertvolle ethnografische Sammlung buchstäblich auf die Straße, um sie Plünderern zu überlassen.
Lydia zieht in eine kleine Wohnung in Miami. Lediglich ihre Notizen hat sie mitgenommen und einen Teil des Familienschmucks, wodurch sie sich einige Jahre lang über Wasser halten kann. Würde sie als Santería-Heilerin arbeiten, könnte sie recht gut verdienen, aber sie will sich ihr immenses rituelles Wissen nicht bezahlen lassen. Unermüdlich verfasst sie weitere ethnografische Bücher und verlegt sie in ihrem eigenen Verlag, den sie – nach einer für die kubanischen Santería-Zeremonien typischen kleinen magischen Zedernholzpuppe – Chicherikú getauft hat. Hin und wieder veröffentlicht sie Romane, vermischt darin Gehörtes mit frei Erfundenem zu einem faszinierenden Fluss, in dem sich alles miteinander vermengt: »Worte sind Blüten, die Früchte, die wiederum Taten sind«, sagt sie. Und wer sie fragt, was sie in ihren Erzählungen vor Ort gehört und was sie erdichtet hat, dem gesteht sie: »Das weiß ich selbst nie.«
Lydia erhält zahlreiche Ehrentitel, unter anderem von der Universität Miami, der sie ihre unschätzbare Materialsammlung hinterlässt. Geistreich und gewandt, doch niemals überheblich, sinniert sie über die Schönheit des Nichtwissens, über das, was sie seit Jahrzehnten unermüdlich zu begreifen sucht: »Es ist wunderbar, unwissend zu sein. Der Unwissenheit ist eine besondere Frische eigen.« Der Besucherfluss ihrer Bewunderer ebbt niemals ab. 1991 stirbt sie, hochbetagt. Die anwesenden Personen hören sie murmeln: »Havanna … Havanna.« »Lydia, denken Sie an Havanna?«, fragt man sie. »Nein«, erwidert sie lächelnd, »ich bin bereits da.«