Wir alle wissen seit Langem: Frauen sind anders. Dass dies aber auch für das Thema Stress gilt, ist neu. Frauen stecken in einem delikaten Zwiespalt: Sie sollen festgelegten Erwartungen entsprechen und dabei ganz sie selbst sein. Sie sollen ihren Körper lieben, während ihnen tagtäglich suggeriert wird, dass er nicht schlank, fit und sexy genug ist. Sie sollen sich voll entfalten, während sie bereits 110 Prozent geben und dafür kaum Wertschätzung erfahren. Aus all dem resultiert: Stress. Die Zwillingsschwestern Emily und Amelia Nagoski zeigen in diesem Buch, wie Frauen den typisch weiblichen Burnout-Fallen entkommen und zu wahrer Ausgeglichenheit finden.
Die Psychologin Dr. Emily Nagoski ist seit 1995 als Gesundheitserzieherin tätig. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf Sexualberatung und Stressmanagement. Sie leitete acht Jahre den Fachbereich Wellness Education am Smith College in Northampton und arbeitet heute hauptberuflich als Autorin und Rednerin. Ihre Zwillingsschwester Amelia Nagoski ist Dirigentin und Assistenzprofessorin an der Western New England University. Sie hält unter anderem regelmäßige Fortbildungen für Berufsmusiker zum Thema Burnout-Prävention.
Emily Nagoski Amelia Nagoski
Stress
Warum Frauen
leichter ausbrennen
und was sie für sich
tun können
Aus dem Amerikanischen
von Astrid Gravert
Kösel
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Deutsche Erstausgabe
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Burnout. The secret to unlocking the stress cycle
bei Ballantine Books, New York.
Copyright der deutschen Ausgabe © 2019 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © 2019 Emily Nagoski, Ph. D., und Amelia Nagoski, DMA
Alle Rechte vorbehalten.
This translation published by arrangement with Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House L. L. C.
Umschlag: Weiss Werkstatt, München
nach einer Originalvorlage von Penguin Random House US
Umschlagdesign: Faceout Studio
Art direction: Joseph Perez
Umschlagmotive: Bildmontage unter Verwendung von
© shutterstock/Fabrika Simf, borzywoj und Kues
Redaktion: Birthe Vogelmann
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-24031-8
V001
www.koesel.de
Für die Gebenden
Einleitung
Teil 1 Was du mitnimmst
Beende den Zyklus
#Persist (Monitor)
Sinn
Teil 2 Der wirkliche Feind
Das Spiel ist manipuliert
Der Bikini-Industrie-Komplex
Teil 3 Wachsen und polieren
Geh Beziehungen ein
Was dich stärker macht
Werde stark
Nachwort: Freudig bis ans Lebensende
Dank
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Register
Dies ist ein Buch für alle Frauen, die sich schon einmal erschöpft und von den zahlreichen Herausforderungen des Alltags überfordert gefühlt haben, und die trotzdem befürchten, nicht »genug« getan zu haben. Das trifft auf jede Frau zu, die wir kennen – uns eingeschlossen.
Du hast immer wieder dieselben Tipps gehört: Sport, grüne Smoothies, Selbstmitgefühl, Malbücher, Entspannungsbäder, Dankbarkeit … Du hast wahrscheinlich viel davon probiert. Wir auch. Und manchmal hilft es, zumindest eine kleine Weile.
Aber dann streiten sich die Kinder, oder unser Partner braucht Unterstützung in einer Angelegenheit, oder ein neues Projekt landet in unserem Schoß, und wir denken: Ich tue etwas für mich, wenn das hier abgeschlossen ist.
Das Problem ist nicht, dass Frauen es nicht versuchen. Im Gegenteil, wir bemühen uns die ganze Zeit, all das zu tun und zu sein, was man von uns erwartet. Und wir probieren alles – jeden grünen Smoothie, jede Atemübung, jedes Malbuch, jede Badeessenz, jeden Retreat oder Urlaub, den wir in unserem Terminkalender unterbringen können –, um das zu sein, was Arbeit, Familie und Umwelt von uns erwarten. Wir versuchen, unsere Sauerstoffmaske aufzusetzen, bevor wir anderen helfen. Und dann kommt ein in Tränen aufgelöstes Kind, ein schrecklicher Chef oder ein schwieriges Semester daher.
Das Problem ist nicht, dass wir uns nicht bemühen, für uns selbst zu sorgen. Das Problem ist auch nicht, dass wir nicht wissen, wie das geht. Das Problem ist, dass Wellness auch wieder in ein Ziel verwandelt wurde, nach dem jeder streben sollte. Aber nur Menschen, die Geld, Zeit, Kindermädchen, Jachten und Oprahs Telefonnummer haben, können es erreichen.
Dieses Buch ist anders als alles, was du bisher über Burnout gelesen hast. Wir wollen herausfinden, wie Wellness in deinem täglichen Leben aussehen kann, und wir werden uns mit den Hindernissen beschäftigen, die zwischen dir und deinem Wohlbefinden stehen. Wir werden diese Hindernisse im Zusammenhang betrachten wie Punkte auf einer Landkarte, damit wir Wege finden, sie zu umgehen, zu überwinden und hindurchzukommen – oder sie in Stücke zu sprengen.
Mithilfe der Wissenschaft.
Emily ist Sexualpädagogin mit einem Doktorgrad und hat ein Buch geschrieben, das auf der Bestsellerliste der New York Times stand: Komm, wie du willst. Das neue Frauen-Sex-Buch. Während der Lesereise erzählten ihre Leserinnen immer wieder, dass es nicht die Informationen über Sex waren, die ihr Leben am meisten verändert hätten, sondern die Abschnitte über die Verarbeitung von Stress und Emotionen.
Als sie das ihrer Zwillingsschwester Amelia, einer Chorleiterin, erzählte, schaute diese, als sei das vollkommen offensichtlich. »Natürlich. Niemand bringt uns bei, unsere Gefühle wahrzunehmen. Klar, mir wurde es beigebracht. Jeder ausgebildete Musiker, der auf einer Bühne singt oder auf einem Podium steht, lernt, etwas zu spüren. Aber deshalb wusste ich noch lange nicht, wie es im wirklichen Leben funktionierte. Und als ich es endlich lernte, hat es mir wahrscheinlich das Leben gerettet«, sagte sie. Und fügte hinzu: »Zweimal.«
Emily, die sich noch gut daran erinnerte, wie es sich angefühlt hatte, die Schwester weinend in einem Krankenhaushemd zu sehen, sagte: »Wir sollten ein Buch darüber schreiben.«
Amelia stimmte zu: »So ein Buch hätte mir sehr geholfen.«
Dies ist das Buch.
Es ist viel mehr geworden als ein Buch über Stress. Vor allem wurde es ein Buch über Beziehung. Wir Menschen sind nicht dafür geschaffen, große Dinge allein zu tun, sondern dafür, zusammenzuarbeiten. Darüber haben wir geschrieben und so haben wir unser Projekt gemeinsam verwirklicht.
Als wir Frauen erzählten, dass wir ein Buch über Stress und Burnout schreiben, fragte keine einzige: »Was genau meint ihr damit?« (Meistens erkundigten sie sich: »Ist es schon erschienen? Kann ich es lesen?«) Wir alle wissen intuitiv, was Stress und Burnout sind; wir wissen, wie sie sich körperlich anfühlen und wie unsere Gefühle dabei zerbröckeln. Aber als der Fachbegriff »Burnout« 1975 von Herbert Freudenberger geprägt wurde, war er durch drei Merkmale definiert:
Und hier kommt eine Untertreibung: Burnout ist weit verbreitet. 20 bis 30 Prozent der Lehrer in Amerika sind von Burnout mittleren bis hohen Schweregrades betroffen.2 Ähnliche Raten finden sich bei Universitätsprofessoren und humanitären Helfern.3 Bei Menschen in medizinischen Berufen liegt die Rate bei bis zu 52 Prozent.4
Fast die gesamte Forschung über Burnout beschäftigt sich mit Job-Burnout – besonders bei Menschen in helfenden und sozialen Berufen wie Lehrer und Krankenschwestern –, aber ein wachsender Forschungsbereich ist »Eltern-Burnout«.5
In den vierzig Jahren seit Prägung des Begriffs hat die Forschung herausgefunden, dass das Hauptmerkmal des Burnouts, emotionale Erschöpfung, besonders negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit, unsere Beziehungen und unsere Arbeit hat – besonders bei Frauen.6
Also was genau ist ein Gefühl, und wie erschöpft man es?
Auf einem biochemischen Level beinhalten Emotionen die Freisetzung von Neurotransmittern im Gehirn als Reaktion auf einen Stimulus. Du siehst den Menschen, in den du verliebt bist, auf der anderen Seite des Raums, dein Gehirn setzt eine Menge an Botenstoffen frei, und das löst eine Kette körperlicher Reaktionen aus – dein Herz schlägt schneller, deine Hormone modifizieren sich, dein Magen flattert. Du holst tief Luft und seufzt. Dein Gesichtsausdruck verändert sich; vielleicht wirst du rot; selbst deine Stimme klingt wärmer. Deine Gedanken wandern zu Erinnerungen an deinen Schwarm und entwickeln Fantasien über die Zukunft, und du hast plötzlich das Bedürfnis, den Raum zu durchqueren und Hallo zu sagen. Fast jedes System in deinem Körper reagiert auf die Kaskade von Botenstoffen und elektrischen Impulsen, die durch den Anblick der Person in Gang gesetzt wurde.
Das ist Emotion. Sie entsteht automatisch und augenblicklich. Sie entsteht überall und betrifft alles. Und das die ganze Zeit – wir haben viele verschiedene Emotionen gleichzeitig, auch als Reaktion auf einen einzigen Reiz. Du hast vielleicht das Bedürfnis, dich dem, in den du verliebt bist, zu nähern und dich gleichzeitig umzudrehen und so zu tun, als ob du ihn nicht bemerkt hättest.
Wenn man sie sich selbst überlässt, hören Emotionen – diese augenblicklichen Reaktionen des ganzen Körpers auf einen Reiz – von allein auf. Deine Aufmerksamkeit wird auf etwas anderes gelenkt, und der Anflug von Schwäche vergeht, bis du wieder an diese bestimmte Person denkst oder sie deinen Weg kreuzt. Dasselbe gilt für den plötzlichen Schmerz, den du empfindest, wenn jemand dich grausam behandelt, oder den Anflug von Ekel, wenn du etwas Unangenehmes riechst. Sie hören auf.
Kurz: Emotionen sind Tunnel. Wenn du ganz durchläufst, kommst du am Ende ans Licht.
Erschöpfung entsteht, wenn wir in einer Emotion stecken bleiben. Das kann etwa passieren, wenn wir ständig einer Situation ausgesetzt sind, die diese Emotion auslöst – unser Schwarm ist ständig da, den ganzen Tag, jeden Tag. Selbst wenn er nur in unseren Gedanken anwesend ist, sind wir in unserer Sehnsucht gefangen. Oder wir kehren jeden Tag zu unserer stressigen Arbeit zurück. Kein Wunder, »helfende Berufe« beispielsweise sind sehr anstrengend – jeden Tag bist du mit bedürftigen Menschen konfrontiert, den ganzen Tag, Woche für Woche. Elternsein ist ebenfalls erschöpfend – sobald du Mutter oder Vater bist, hört es nie mehr auf. Du gehst immer wieder durch den Tunnel.
Manchmal bleiben wir stecken, weil wir den Weg nach draußen nicht finden. Die meisten problematischen Gefühle – Wut, Trauer, Verzweiflung, Hilflosigkeit – können zu tückisch sein, um sie allein zu überwinden. Wir verlieren uns darin und brauchen jemanden, der uns hilft hinauszufinden.
Und manchmal stecken wir fest, weil wir an einem Ort gefangen sind, an dem wir nicht die Freiheit haben, durch den Tunnel zu gehen.
Viele von uns sind auf diese Weise gefangen. Der Grund dafür ist das, was wir »Gebersyndrom« nennen.
In Down Girl. Die Logik der Misogynie beschreibt die Philosophin Kate Manne ein System, in dem von einem Teil der Menschen7, den »human givers«, erwartet wird, dass sie ihre Zeit, Aufmerksamkeit, Zuneigung und Körper, all ihre menschlichen Fähigkeiten, bereitwillig und friedlich dem anderen Teil der Menschen, den »human beings«, opfern.8 Letztere haben das (moralische) Recht, Mensch zu sein, während die »human givers« die moralische Pflicht haben, ihre Menschlichkeit den dominierenden »human beings« zu geben. Rate, zu welchem Teil Frauen gehören.
Im alltäglichen Leben ist die »giver/taker«-Dynamik komplizierter und subtiler, aber stellen wir uns einmal die Cartoon-Version vor: Die Gebenden sind »attentive, loving subordinates«, aufmerksame, liebevolle Untergebene.9 Ihre Aufgabe ist, ihre ganze Menschlichkeit den anderen zu geben, damit diese vollkommen Mensch sein können. Von den Gebenden wird erwartet, dass sie auf alle Ressourcen oder Macht, die sie erwerben, verzichten – ihre Jobs, ihre Liebe, ihre Körper. Das alles gehört denen, die zum Menschsein berechtigt sind. Die Gebenden schulden es ihnen.
Dazu müssen sie jederzeit hübsch, glücklich, ausgeglichen, großzügig und aufmerksam für die Bedürfnisse anderer sein, das heißt, sie dürfen niemals hässlich, wütend, traurig oder ehrgeizig sein oder auf ihre eigenen Bedürfnisse Rücksicht nehmen. Die Gebenden sollten möglichst keine Bedürfnisse haben. Wenn sie es wagen, um etwas zu bitten oder gar etwas zu fordern, ist das ein Verstoß gegen ihre Rolle und könnte bestraft werden. Und wenn ein Gebender einem privilegierten Menschen nicht bereitwillig das gibt, was immer dieser will, kann er bestraft, an den Pranger gestellt oder sogar zerstört werden.
Wenn wir es darauf angelegt hätten, ein System zu entwickeln, um bei der Hälfte der Bevölkerung Burnout hervorzurufen, hätten wir nichts Effizienteres erfinden können.
Emotionale Erschöpfung entsteht, wenn wir in einer Emotion stecken bleiben und nicht durch den Tunnel gehen können. Das Gebersyndrom erlaubt es einem Gebenden nicht, jemanden mit seinen verwirrenden Emotionen zu behelligen, deshalb sind die Gebenden in einer Situation gefangen, in der sie nicht die Freiheit haben, durch den Tunnel zu gehen. Sie könnten sogar dafür bestraft werden.
Dein Körper mit seinem Selbsterhaltungstrieb weiß auf irgendeiner Ebene, dass dich das Gebersyndrom langsam umbringt. Deshalb probierst du es weiter mit Achtsamkeit und grünen Smoothies und einem Selbsthilfe-Trend nach dem anderen. Aber der Selbsterhaltungstrieb kämpft gegen ein Syndrom, das auf dem Glauben beruht, Selbsterhaltung sei egoistisch. Deine Bemühungen, dich um dich selbst zu kümmern, könnten also tatsächlich alles noch schlimmer machen, noch mehr Bestrafung durch die Umwelt provozieren, denn wie kannst du es wagen?
Unsere Krankheit ist das Gebersyndrom. Dieses Buch ist unser Rezept.
Wir haben unser Buch in drei Teile geteilt. Teil 1 behandelt »Was du mitnimmst«. In dem Film Star Wars Episode V. Das Imperium schlägt zurück sieht Luke Skywalker eine Höhle des Bösen. Während er voller Angst zum Eingang blickt, fragt er seinen Lehrer Yoda: »Was ist da drin?«
Yoda antwortet: »Nur das, was du mitnimmst.«
Der erste Teil des Buches lautet entsprechend: »Was du mitnimmst«. Hier werden drei innere Ressourcen erklärt, die wir mitnehmen, wenn wir unsere Heldinnenreise unternehmen: der Stressreaktionszyklus, der »Monitor« (der Mechanismus im Gehirn, der das Gefühl der Frustration kontrolliert) und der Lebenssinn. Sinn ist nicht, »was wir am Ende des Tunnels finden«, wie häufig angenommen wird, sondern vielmehr der Grund, warum wir durch den Tunnel gehen, egal, was wir am Ende finden. (Spoileralarm: Sinn ist gut für uns.)
Das führt uns zu Teil 2. Wir nennen ihn »Der wirkliche Feind«. Wir beziehen uns dabei auf Die Tribute von Panem, eine Science-Fiction-Romantrilogie, in der die jugendliche Protagonistin Katniss Everdeen gezwungen wird, bei einem vom Schreckensregime organisierten »Spiel« mitzumachen, in dem sie andere Kinder töten muss.
Ihr Mentor sagt zu ihr: »Denk dran, wer der wirkliche Feind ist.« Es sind nicht die Menschen, die sie töten soll und die versuchen, sie zu töten. Der wirkliche Feind ist die Regierung, die dieses System errichtet hat.
Errätst du, wer in diesem Buch der Feind ist? (Einsatz unheilvoller Musik) Das Patriarchat. Puh.
Die meisten Selbsthilfebücher für Frauen lassen dieses Kapitel aus und beschäftigen sich nur mit den Dingen, auf die die Leserin Einfluss hat. Aber das ist so, als würde man jemandem die beste Gewinnstrategie beibringen, ohne zu erwähnen, dass das betreffende Spiel manipuliert ist. Zum Glück können wir nach unseren eigenen Regeln spielen, wenn wir die Art der Manipulation durchschaut haben.
Teil 3 – der erfreuliche Schluss – ist ein Konzept, wie der Krieg gegen diese »wirklichen Feinde« zu gewinnen ist. Es stellt sich heraus, dass wir jeden einzelnen Tag konkret etwas tun können, um stark zu werden und den Feind zu erobern.
Wir nennen diesen Teil »Wachsen und polieren.« Im Originalfilm Karate Kid lehrt Mr. Miyagi Danny LaRusso Karate, indem er ihn sein Auto wachsen lässt.
»Trag Wachs auf«, sagt Mr. Miyagi und bewegt seine Handfläche im Uhrzeigersinn. »Poliere«, sagt er und bewegt die andere gegen den Uhrzeigersinn. Und er fügt hinzu: »Vergiss nicht zu atmen.« Er lässt Danny auch die Veranda schleifen, den Zaun beizen und das Haus streichen.
Wozu die monotonen, profanen Arbeiten?
Weil unseren alltäglichen Aufgaben die schützenden Gesten innewohnen, die uns stark machen, sodass wir uns selbst und die Menschen, die wir lieben, verteidigen und mit unseren Feinden Frieden schließen können. »Wachsen und polieren« stärkt dich, deine Beziehungen, dein Selbstmitgefühl und fördert deine Erholung.
Durchs ganze Buch verfolgst du die Geschichten zweier Frauen: Julie, eine überforderte Lehrerin, deren Körper revoltiert und sie zwingt, ihm Beachtung zu schenken; und Sophie, eine Ingenieurin, die beschließt, nicht mehr dem Patriarchat zu dienen. Diese Frauen sind Montagen. Wie ein Film aus Tausenden von Bildern besteht, die zusammen eine Geschichte erzählen, sind sie aus Fragmenten Dutzender realer Frauen zusammengefügt. Das machen wir zum Teil, um die Identitäten der Frauen zu schützen, und zum Teil, weil der größere Erzählbogen systematische Zusammenhänge besser veranschaulicht als kurze Skizzen. Wissenschaftliche Forschung kann nicht annähernd der Erfahrung jeder einzelnen Frau Rechnung tragen, aber wir hoffen, dass diese Geschichten dir ein Verständnis dafür vermitteln, dass jede individuelle Erfahrung einmalig und gleichzeitig universal ist.
Jedes Kapitel schließt mit einer tl;dr-Liste, einer Zusammenfassung der wichtigen Punkte. Tl;dr ist im Internet die Abkürzung für »too long; didn’t read«, also »zu lang; nicht gelesen«. Wenn du bei Facebook einen aus 500 Wörtern bestehenden Text postest oder einen aus mehreren Absätzen bestehenden Kommentar bei Instagram, antwortet vielleicht jemand: »tl;dr.« Unsere tl;dr-Listen beinhalten Erkenntnisse, die du an deine beste Freundin weitergeben kannst, wenn sie dich weinend anruft, Fakten, die du benutzen kannst, um in einer Diskussion Mythen zu widerlegen, und Gedanken, die dir hoffentlich helfen, wenn du dich in einem Gedankenkarussell befindest und nicht einschlafen kannst.
In diesem Buch benutzen wir wissenschaftliche Erkenntnisse als Mittel, um Frauen zu helfen, ein besseres Leben zu führen. Wir haben uns verschiedener Wissenschaften bedient, darunter Affektive Neurowissenschaft, Psychophysiologie, Positive Psychologie, Spieltheorie, Bioinformatik und viele andere. Deshalb ein paar warnende Worte zu Theorie und Forschung.
Wissenschaft ist die beste Idee, die die Menschheit jemals hatte. Es ist die systematische Erforschung der Wirklichkeit, durch Prüfen und Beweisen oder Widerlegen von Ideen. Aber sie ist letzten Endes auch eine spezialisierte Form des Irrtums. Jedenfalls versucht jeder Wissenschaftler, sich (a) ein bisschen weniger zu irren als seine Vorgänger, indem er nachweist, dass etwas, das wir für wahr gehalten haben, falsch ist, und (b) sich auf eine Weise zu irren, die überprüft und nachgewiesen werden kann, was wiederum den nächsten Wissenschaftler auf den Plan ruft, der sich ein bisschen weniger täuscht. Forschung ist ein ständiger Prozess des Lernens, der uns ein bisschen mehr über Dinge lehrt und aufzeigt, wo wir uns geirrt haben, und er ist niemals »abgeschlossen«. Wenn du also die Überschrift liest »Neue Studie zeigt …« oder »Neueste Forschungen beweisen …«, lies es mit Skepsis. Eine Studie ist kein Beweis für irgendetwas. In diesem Buch haben wir uns nur auf Erkenntnisse gestützt, die seit vielen Jahrzehnten erwiesen sind und durch zahlreiche Ansätze bestätigt wurden. Trotzdem liefert Wissenschaft keine absolute Wahrheit, nur die bestmögliche Wahrheit, über die wir verfügen. Wissenschaft ist in gewissem Sinne keine exakte Wissenschaft.
Eine zweite Einschränkung: Die Methode der Sozialwissenschaften besteht im Allgemeinen im Erfassen und Messen vieler Daten von Versuchsteilnehmern und in der Ermittlung des durchschnittlichen Maßes all dieser Probanden, denn Menschen sind unterschiedlich. Nur weil etwas auf eine Gruppe von Menschen zutrifft – zum Beispiel »Amerikanische Frauen sind im Durchschnitt 1,63 Meter groß« –, bedeutet es nicht, dass es auf jedes einzelne Individuum der Gruppe zutrifft. Wenn du also eine amerikanische Frau triffst, die kleiner oder größer als 1,63 Meter ist, bedeutet das nicht, dass mit ihr etwas nicht stimmt, sie weicht nur vom Durchschnitt ab. Auch die wissenschaftliche Aussage ist nicht falsch; es ist wahr, dass amerikanische Frauen im Durchschnitt 1,63 Meter groß sind – aber das sagt uns nichts über jede einzelne Frau, die wir treffen. Wenn du im Buch also etwas Wissenschaftliches über »Frauen« liest, das auf dich nicht zutrifft, bedeutet es weder, dass die wissenschaftliche Aussage falsch ist, noch, dass etwas mit dir nicht stimmt. Menschen weichen vom Durchschnitt ab, und sie verändern sich. Wissenschaft ist ein zu stumpfes Instrument, um die Situation jeder Frau zu erfassen.
Eine dritte Einschränkung: Wissenschaft ist oft teuer, und wer dafür bezahlt, kann die Ergebnisse beeinflussen und bestimmen, ob sie veröffentlicht werden oder nicht. So begeistert wir von empirischen Belegen für Praktiken sind – es ist wichtig zu bedenken, woher die Belege stammen und warum wir vielleicht gegenteilige Belege nicht sehen wollen.10
Wissenschaft ist noch in weiterer Hinsicht begrenzt, die in einem Buch über Frauen erwähnt werden muss: Wenn in einem Forschungsbericht gesagt wird, dass »Frauen« untersucht wurden, dann bedeutet das fast immer, es wurden Frauen untersucht, die in einem Körper geboren wurden, der alle Erwachsenen um sie herum veranlasste zu sagen: »Es ist ein Mädchen«. Und dann wurde die Person als Mädchen erzogen und wuchs zu einer Erwachsenen heran, die sich in der psychologischen Identität und sozialen Rolle der »Frau« wohlfühlte. Es gibt viele Menschen, die sich als Frau fühlen und für die mindestens eines davon nicht zutrifft, und es gibt viele Menschen, die sich nicht als Frau fühlen, für die eines oder mehr davon zutrifft. Wenn wir hier das Wort »Frau« benutzen, dann meinen wir meistens »Menschen, die sich als Frau fühlen«, aber wir sollten uns im Klaren sein: Wenn wir uns auf wissenschaftliche Aussagen beziehen, beschränken wir uns auf Frauen, die bei der Geburt als solche identifiziert und entsprechend erzogen wurden, denn sie wurden meistens in der Forschung untersucht. (Sorry.)
Also. Wir versuchen so wissenschaftlich wie möglich vorzugehen, sind uns aber der Grenzen bewusst.
Da kommt die Kunst ins Spiel.
Science-Fiction-Autorin Cassandra Clare schreibt: »Fiktion ist Wahrheit, auch wenn es nicht Realität ist.« Das ist der Sinn von Geschichten – und tatsächlich haben Forschungen ergeben, dass Menschen Wissenschaft besser verstehen, wenn sie durch Geschichten vermittelt wird! Deshalb werden wir parallel zu Neurowissenschaft und Bioinformatik über Disney-Prinzessinnen, Science-Fiction-Dystopien, Popmusik und mehr sprechen, denn Geschichten erzählen mehr, als Wissenschaft erkennen kann.
Hier kommt eine Studie11, die echte Wissenschaftler tatsächlich durchgeführt haben: Den Teilnehmern wurden Labyrinthe vorgelegt – einfach Linien auf Papier –, und sie sollten eine Cartoon-Maus von einer Seite des Labyrinths auf die andere befördern. In einer Version des Labyrinths schwebte eine Eule bedrohlich über der Seite und jagte die Maus. In einer anderen Version erwartete die Maus am Ziel ein Stück Käse.
Welche Gruppe war kreativer – die, die das Tierchen zu einem Stück Käse führen sollte, oder die, die es vor einer Eule aus dem Labyrinth retten sollte?
Die Käsegruppe. Die Teilnehmer durchliefen mehr Labyrinthe und waren schneller, wenn ihre Fantasie durch eine Belohnung beflügelt wurde, auch wenn es nur das Bild eines Käsestücks war, als wenn sie aus einer unangenehmen Lage flohen.
Wenn man darüber nachdenkt, ist das verständlich. Wenn man auf ein bestimmtes ersehntes Ziel hinarbeitet, konzentrieren sich Aufmerksamkeit und Anstrengungen auf dieses einzelne Ergebnis. Wenn man aber vor einer Bedrohung flieht, ist es egal, wo man landet, solange man vor der Bedrohung sicher ist.
Die Moral der Geschichte ist: Wir entwickeln uns, wenn wir ein positives Ziel haben, zu dem wir uns hinbewegen, statt einfach einer negativen Situation zu entkommen versuchen. Wenn wir es dort hassen, wo wir sind, ist unsere instinktive Reaktion oft, ziellos vor der »Eule« der gegenwärtigen Situation wegzulaufen, was uns vielleicht irgendwo hinführt, wo es nicht viel besser ist. Wir brauchen etwas Positives, auf das wir uns zubewegen. Wir brauchen den Käse.
Der »Käse« bei Stress ist nicht allein, sich weniger überfordert und erschöpft zu fühlen oder sich keine Sorgen mehr zu machen, ob man »genug« mache. Der Käse ist es, stark zu werden, so stark, dass wir mit allen Eulen und Labyrinthen fertig werden, denen wir begegnen.
Wir versprechen dir: In welcher Lebenssituation auch immer du dich gerade befindest – ob du mit tiefster Verzweiflung kämpfst und nach einem Ausweg suchst oder ob es dir gut geht und du nach Mitteln suchst, um noch stärker zu werden –, du wirst auf diesen Seiten etwas Brauchbares finden. Wir beweisen dir, dass du ganz normal bist und nicht allein. Wir bieten dir evidenzbasierte Techniken, die du anwenden kannst, wenn du gerade zu kämpfen hast, und die du an liebe Menschen weitergeben kannst, die es ebenfalls gerade nicht leicht haben. Wir überraschen dich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, die dem »gesunden Menschenverstand« widersprechen, der dich bisher begleitet hat. Und wir wollen dich dazu anregen und befähigen, dein Leben positiv zu verändern, genauso wie das derjenigen, die du liebst.
Dieses Buch zu schreiben, hat all das bei uns bewirkt – uns gezeigt, dass wir normal und nicht allein sind. Es hat uns wichtige Techniken gelehrt, die wir anwenden können, wenn wir zu kämpfen haben, und uns überrascht und gestärkt. Es hat unser Leben bereits verändert und wir glauben, es wird auch deines verändern.
Teil 1
Was
du
mitnimmst