Buch
Eine niedrige Decke aus dunkelgrauen Wolken hängt über der Stadt, als Kommissarin Naia Thulin und ihr neuer Partner Mark Hess an einen entsetzlichen Tatort gerufen werden: einen Spielplatz, auf dem eine leblose Frauengestalt im Gras sitzt, an den Pfosten eines Kletterhäuschens gelehnt, zusammengesunken wie eine Stoffpuppe. Sie hat nur eine Unterhose an und ein Hemd, das von Regen durchnässt und mit dunklen Blutflecken übersät ist. Der Frau fehlt eine Hand, und an einem Balken hinter ihr hängt eine kleine Figur aus Kastanien, die vom Wind hin- und hergeschaukelt wird. Als Thulin diese scheinbar harmlose Figur sieht, bleibt ihr instinktiv für einen Augenblick das Herz stehen. Nicht zu Unrecht, wie sich später herausstellen wird, denn sie entdecken einen Fingerabdruck an dem Kastanienmännchen, der von einem Mädchen stammt, das ein Jahr zuvor verschwunden ist und als tot gilt – die Tochter der Politikerin Rosa Hartung. Kurz darauf wird eine weitere Frau ermordet aufgefunden, zusammen mit einem weiteren Kastanienmann. Thulin und Hess kämpfen gegen die Zeit, denn es ist klar, dass der Mörder auf einer Mission ist, die noch lange nicht vorbei ist ...
Autor
Søren Sveistrup ist ein dänischer Drehbuchautor. Bekannt wurde er durch die Serie ›Nikolaj und Julie‹ und den mehrteiligen TV-Thriller ›Kommissarin Lund: Das Verbrechen‹, der unter dem Namen ›The Killing‹ für den US-Markt adaptiert wurde, zahlreiche Preise gewann und zu einem weltweiten Phänomen wurde.
Søren Sveistrup
Der Kastanienmann
THRILLER
Aus dem Dänischen
von Susanne Dahmann
Die dänische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Kastanjemanden« bei Politikens Forlag, Kopenhagen.
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Deutsche Erstveröffentlichung August 2019
Copyright © der Originalausgabe 2018 by Søren Sveistrup and JP/Politikens Hus A/S
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Buch wurde vermittelt von Politiken Literary Agency.
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: nach einer Gestaltung von Kenneth Schultz
Redaktion: Gabriele Zigldrum
AG · Herstellung: Han
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-24051-6
V005
www.goldmann-verlag.de
Für meine geliebten Söhne
Silas und Sylvester
Gelbe und rote Blätter segeln durch das Sonnenlicht auf den feuchten Asphalt, der wie ein dunkler, spiegelglatter Fluss den Wald durchschneidet. Als der weiße Dienstwagen vorüberfährt, werden sie für einen kurzen Moment durch die Luft gewirbelt, um sich dann auf zusammengeklebten Haufen entlang der Straße zurechtzulegen.
Marius Larsen nimmt den Fuß vom Gas, geht langsamer in die Kurve und versucht sich zu merken, dass er dem Straßenamt der Gemeinde Bescheid geben sollte, dass sie mal mit der Kehrmaschine hier rauskommen müssen. Wenn die Blätter zu lange liegen bleiben, hat man keinen sicheren Grip auf der Straße, und so was kann Leben kosten. Marius hat das schon oft gesagt. Seit 41 Jahren ist er im Dienst, die letzten 17 als Leiter des Polizeireviers, und in jedem Spätherbst muss er sie daran erinnern. Doch heute wird nichts daraus, denn heute muss er sich auf das Gespräch konzentrieren.
Marius Larsen dreht verärgert am Sender des Autoradios, kann aber nicht finden, was er sucht. Nur Nachrichten über Gorbatschow und Reagan und Spekulationen über den Mauerfall in Berlin. Er stehe kurz bevor, heißt es. Möglicherweise bricht eine völlig neue Epoche an.
Er hat schon lange gewusst, dass dieses Gespräch kommen muss, und trotzdem hat er sich bisher nicht dazu durchringen können. Jetzt ist es nur noch eine Woche, bis er, so denkt seine Frau, in Pension geht, es ist also höchste Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen. Dass er nicht ohne seine Arbeit sein kann. Dass er das Praktische schon geregelt und die Entscheidung rausgeschoben hat. Dass er noch nicht bereit ist, nach Hause aufs Ecksofa zu kommen und »Glücksrad« zu kucken, im Garten die Blätter zusammenzufegen oder mit den Enkelkindern Schwarzer Peter zu spielen.
Wenn er das Gespräch in seinem Kopf durchspielt, ist alles ganz einfach, aber Marius weiß nur zu gut, dass sie traurig sein wird. Sie wird sich betrogen fühlen, vom Tisch aufstehen und rausgehen. Den Herd in der Küche wischen, ihm den Rücken zudrehen und sagen, dass sie das gut verstehen kann. Doch das kann sie nicht. Deshalb hat er, als vor zehn Minuten die Meldung über den Polizeifunk kam, im Revier Bescheid gegeben, dass er die Sache selbst übernehmen wird. So kann er das Gespräch noch ein wenig rausschieben. Normalerweise wäre er verärgert darüber, den ganzen langen Weg durch Felder und Wald zu Ørums Hof fahren zu müssen, um denen da zu sagen, dass sie besser auf ihre Tiere aufpassen müssen. Schon mehrmals waren entweder Schweine oder Kühe aus der Umzäunung ausgebrochen und über die Felder der Nachbarn gestreift, bis Marius selbst oder einer seiner Leute Ørum dazu gebracht hatte, sich darum zu kümmern. Doch heute macht ihm das nichts aus. Selbstverständlich hat er das Revier angewiesen, erst einmal anzurufen, sowohl bei Ørum zu Hause als auch bei seinem Teilzeitjob an der Fähre, doch da bisher keine Rückmeldung kam, hat er oben auf der Hauptstraße gewendet, um persönlich hinzufahren.
Marius landet bei einem Sender mit alter Schlagermusik. »Ein knallrotes Gummiboot« tönt in den Fond des alten Ford Escort hinaus, und Marius dreht auf. Er genießt den Spätherbst und die Straße da draußen. Der Wald mit den gelben, roten und braunen Blättern, vermischt mit dem Immergrün. Die Vorfreude auf die bevorstehende Jagdsaison. Er kurbelt die Fensterscheibe herunter, die Sonne wirft ihr fleckiges Licht durch die Baumkronen auf die Straße, und für einen Moment vergisst Marius, wie alt er ist.
Auf dem Hof ist es still, als er ankommt. Er steigt aus und schlägt die Autotür zu, und mit einem Mal fällt ihm ein, dass es lange her ist, seit er das letzte Mal hier draußen war. Der große Hof wirkt vernachlässigt. Die Stallfenster sind zerbrochen, an den Hauswänden ist der Putz abgeblättert, und das leere Schaukelgestell im hohen Gras des Rasens scheint von den großen Kastanienbäumen, die das Grundstück säumen, fast verschluckt zu werden.
Nachdem Marius dreimal geklopft und nach Ørum gerufen hat, sieht er ein, dass ihm keiner öffnen wird. Er kann auch kein Lebenszeichen entdecken, und so zieht er einen Block heraus, schreibt einen Zettel und schiebt ihn in den Briefschlitz, während ein paar Krähen über den Hof fliegen und hinter dem Ferguson-Traktor verschwinden, der vor dem Schuppen steht. Nun ist Marius den ganzen Weg hierhergefahren und muss den Hof unverrichteter Dinge wieder verlassen und auch noch den Umweg zum Fähranleger machen, um Ørum zu erwischen. Doch das kann ihn nicht betrüben. Auf dem Weg zurück zum Auto kommt ihm eine Idee. Diese Sorte Ideen hat Marius eigentlich nie, es muss also eine glückliche Fügung sein, dass er hier rausgefahren ist anstatt gleich zum Gespräch nach Hause. Wie ein Pflaster auf die Wunde will er seiner Frau eine Reise nach Berlin anbieten. Sie könnten sich eine Woche dafür nehmen, ja, oder zumindest ein Wochenende, sobald er frei machen kann. Selbst hinfahren, den Flügelschlag der Geschichte verspüren, die neue Epoche, Knödel mit Sauerkraut essen, wie sie es damals vor allzu langer Zeit getan haben, auf der Campingtour mit den Kindern im Harz. Erst als er fast wieder am Auto ist, entdeckt er, warum die Krähen hinter dem Traktor hocken. Sie trippeln um etwas Weißes und Bleiches und Unförmiges herum, und als er näher kommt, wird ihm klar, dass es sich um ein Schwein handelt. Die Augen sind tot, doch der Körper zittert und strampelt, als wolle er versuchen, die Krähen zu erschrecken, die dahocken und aus der großen, offenen Schusswunde im Hinterkopf picken.
Marius öffnet die Haustür. Im Flur ist es dunkel, und er vernimmt einen Geruch von Feuchtigkeit und Schimmel und noch von etwas anderem, von dem er nicht so richtig sagen kann, was es ist.
»Ørum, hier ist die Polizei.«
Es kommt keine Antwort, aber er kann weiter drinnen im Haus das Wasser laufen hören und betritt die Küche. Das Mädchen ist ein Teenager. Vielleicht 16 oder 17 Jahre alt. Ihr Körper sitzt immer noch auf dem Stuhl am Esstisch, und das, was von ihrem zerschossenen Gesicht übrig ist, liegt in einer Schale mit Haferbrei. Auf der anderen Seite des Esstischs kauert auf dem Linoleumfußboden noch ein lebloses Wesen. Ein Junge, auch Teenager, etwas älter, mit einer großen, klaffenden Schusswunde in der Brust, sein Hinterkopf lehnt linkisch am Herd. Marius Larsen erstarrt. Natürlich hat er schon öfter Tote gesehen, aber noch niemals etwas wie das hier, und einen kurzen Augenblick ist er gelähmt, bis er seine Dienstwaffe aus dem Holster im Gürtel holt.
»Ørum?«
Marius geht weiter, während er ruft, jetzt hält er die Pistole vor sich. Immer noch keine Antwort. Die nächste Leiche findet er im Badezimmer, und diesmal muss er sich die Hand vor den Mund halten, um sich nicht zu übergeben. Das Wasser läuft aus dem Hahn in die Badewanne, die schon längst bis an den Rand gefüllt ist. Es fließt weiter auf den Terrazzofußboden zum Ablauf und vermischt sich mit dem Blut. Die nackte Frau, vielleicht die Mutter, liegt in einer verdrehten Stellung auf dem Fußboden. Ein Arm und ein Bein sind vom Torso abgetrennt. Später im Obduktionsbericht wird stehen, dass sie mit einer Axt abgeschlagen wurden, die sie mehrmals getroffen hat. Erst, während sie in der Badewanne gelegen hat, und danach, als sie in dem Versuch wegzukommen, auf dem Boden gekrochen ist. Dort wird auch stehen, dass sie anfänglich versucht hat, sich mit Händen und Füßen zu verteidigen, die deshalb große Wunden aufweisen. Ihr Gesicht ist nicht mehr zu erkennen, weil die Axt benutzt wurde, um ihr den Schädel zu zerschmettern.
Marius erstarrt beinahe bei dem Anblick, doch plötzlich nimmt er aus dem Augenwinkel eine schwache Bewegung wahr. Halb unter einem Duschvorhang verborgen, der in die Ecke geworfen ist, erahnt er einen Menschen. Marius zieht den Vorhang ein klein wenig beiseite. Es ist ein Junge. Zerzaustes Haar, ungefähr zehn, elf Jahre alt. Er liegt leblos im Blut, aber ein Fetzen vom Vorhang bedeckt den Mund des Jungen und vibriert schwach und stoßweise.
Marius beugt sich schnell über den Jungen, entfernt den Vorhang ganz, nimmt seinen leblosen Arm und sucht nach einem Puls. Der Junge hat Schnittwunden und Kratzer an Armen und Beinen, T-Shirt und Unterhose sind blutig, und direkt bei seinem Kopf liegt eine Axt. Marius findet den Puls des Jungen und erhebt sich rasch.
In der Wohnstube sucht er fieberhaft das Telefon und findet es neben dem vollen Aschenbecher, der auf den Teppich fällt, aber da hat er schon das Revier dran, und er ist klar genug im Kopf, um einen ordentlichen Bericht durchzugeben. Ambulanz. Verstärkung. Eile. Keine Spur von Ørum, macht den Leuten Beine. Sofort! Als er auflegt, ist sein erster Gedanke, schnell wieder zu dem Jungen zu kommen, als ihm plötzlich klar wird, dass da noch ein Kind sein muss, denn der Junge hatte doch eine Zwillingsschwester.
Marius sieht sich um und geht zum Eingang und der Treppe zum oberen Stockwerk zurück. Als er an der Küche und der offenen Tür zum Keller vorbeikommt, hält er abrupt an und sieht nach unten. Da war ein Geräusch. Schritte oder ein Kratzen, aber jetzt ist es still. Marius holt seine Dienstwaffe wieder hervor. Öffnet die Tür sperrangelweit und bewegt sich vorsichtig die Stufen hinunter, bis seine Füße behutsam auf dem Betonboden landen. Seine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, und dann sieht er die offene Tür am Ende des Ganges. Sein Körper zögert und sagt ihm, dass er hier stehen bleiben sollte. Auf die Ambulanz und die Kollegen warten, aber Marius denkt an das Mädchen.
Als er sich der Tür nähert, kann er sehen, dass sie gewaltsam aufgebrochen wurde. Schloss und Stahlbeschläge liegen auf dem Boden. Marius betritt einen Raum, der von den schmutzigen Kellerfenstern nur schwach erhellt ist. Dennoch ahnt er mit einem Mal das kleine Wesen, das sich ganz hinten unter einem Tisch in einer Ecke versteckt. Marius eilt hin, senkt die Pistole, beugt sich herab und sieht unter den Tisch.
»Es ist okay. Es passiert nichts mehr.«
Das Mädchen kauert zitternd in der Ecke und verbirgt sein Gesicht in den Händen.
»Ich heiße Marius. Ich bin von der Polizei, und ich bin hier, um dir zu helfen.«
Das Mädchen bleibt ängstlich hocken, als würde es ihn nicht hören, und plötzlich wird Marius auf den Raum aufmerksam. Er sieht sich um, und ihm geht allmählich auf, wofür er benutzt worden ist. Marius erschauert. Da fällt sein Blick durch die Tür auf die schiefen Holzregale im angrenzenden Raum. Für einen Augenblick vergisst er das Mädchen und tritt über die Schwelle. Er kann nicht abschätzen, wie viele es sind, aber es sind viele, mehr als er zählen kann. Kastanienmänner und Kastanienfrauen. Auch Tiere. Große und kleine, kindliche und gruselige, viele von ihnen unfertig und deformiert. Marius starrt sie an, ihre Anzahl und Verschiedenheit, und die kleinen Figuren auf den Regalen verwirren ihn für einen Moment, als der Junge hinter ihm durch die Tür tritt.
Im Bruchteil einer Sekunde denkt Marius, dass er nicht vergessen darf, die Techniker untersuchen zu lassen, ob die Tür zum Keller von außen oder von innen aufgebrochen wurde. Im Bruchteil einer Sekunde erkennt er, dass hier etwas Schreckliches ausgebrochen sein könnte, wie die Tiere aus ihrer Umhegung, aber als er sich dem Jungen zuwendet, flimmern seine Gedanken nur vorbei wie kleine, verwirrte Wölkchen am Himmel. Und dann trifft die Axt seinen Kiefer, und alles wird schwarz.
Die Stimme ist überall in der Dunkelheit. Sie flüstert leise und verhöhnt sie – sie hebt sie auf, wenn sie fällt, und wirbelt sie im Wind herum. Laura Kjær kann nicht mehr sehen. Sie kann nicht mehr das Rascheln der Blätter in den Bäumen hören oder das kalte Gras unter ihren Füßen spüren. Sie hört nur noch die Stimme, die zwischen den Schlägen mit dem Stock und der Kugel flüstert. Sie denkt, wenn sie aufhört Widerstand zu leisten, dann wird die Stimme doch irgendwann schweigen, doch das tut sie nicht. Die Stimme bleibt, und die Schläge gehen weiter, und am Ende kann sie sich nicht mehr rühren. Zu spät bemerkt sie die scharfen Zacken von einem Werkzeug auf ihrem Handgelenk, und bevor sie das Bewusstsein verliert, hört sie das elektrische Geräusch der Säge, die angeworfen wird und beginnt, durch ihren Knochen zu schneiden.
Hinterher weiß sie nicht, wie lange sie weg war. Es ist immer noch dunkel. Dieselbe Stimme, und es ist, als habe sie darauf gewartet, dass Laura wieder bei Bewusstsein ist.
»Laura, bist du okay?«
Der Klang ist sanft und zärtlich und viel zu dicht an ihrem Ohr. Doch die Stimme wartet nicht auf Antwort. Vor einer Weile ist das entfernt worden, was über ihrem Mund klebte, und Laura Kjær hört sich selbst bitten und flehen. Sie versteht nichts. Sie will alles tun. Warum sie – was hat sie denn nur getan?
Die Stimme sagt, das wüsste sie sehr genau. Sie beugt sich herab, ganz dicht, und flüstert es in ihr Ohr, und Laura kann spüren, dass die Stimme sich auf diesen besonderen Augenblick gefreut hat. Sie muss sich konzentrieren, um die Worte zu hören. Sie versteht, was die Stimme sagt, doch sie kann es nicht glauben. Der Schmerz ist größer als alle Qualen zusammengenommen. Das kann es nicht sein. Das darf es nicht sein.
Sie schiebt die Worte weg, als wären sie ein Teil des Wahnsinns, der sie umgibt. Sie will aufstehen und weiterkämpfen, aber ihr Körper gibt auf, und sie schluchzt hysterisch. Sie hat es schon eine Weile gewusst, aber irgendwie auch nicht, und erst jetzt, als die Stimme es ihr zugeflüstert hat, begreift sie, dass es wahr ist. Sie will schreien, wie sie nur kann, aber ihre Eingeweide sind bereits auf dem Weg hinauf durch ihren Hals, und als sie spürt, wie der Stock ihre Wange streichelt, stößt sie sich mit aller Kraft ab und stolpert weiter in die Dunkelheit hinaus.
Draußen wird es schon hell, aber als Naia Thulin nach unten greift und ihn in sich einführt, ist er erst allmählich auf dem Weg aus dem Schlaf. Sie spürt ihn in sich und beginnt, vor- und zurückzugleiten. Packt fest seine Schultern, und seine Hände wachen auf, aber nur langsam und linkisch.
»He, warte …«
Er ist immer noch schlaftrunken, doch Naia wartet nicht. Das hier, darauf hatte sie in dem Moment, als sie die Augen aufschlug, Lust, und ihre Bewegungen werden fordernder, sie gleitet mit größerer Kraft zurück und stützt sich mit der einen Hand an der Wand ab. Sie merkt, dass er ungeschickt liegt und dass sein Kopf an den Bettrahmen stößt, und sie hört das Geräusch des Bettgestells, das an die Wand schlägt, doch das ist ihr egal. Sie macht weiter und spürt, wie er nachgibt, und als sie kommt, krallt sie ihre Nägel in seine Brust und verspürt seinen Schmerz und die Befriedigung.
Danach liegt sie einen Moment lang außer Atem da und horcht auf das Müllauto im Hinterhof. Dann rollt sie sich weg und steigt aus dem Bett, während er immer noch dabei ist, ihren Rücken zu streicheln.
»Es ist am besten, wenn du gehst, ehe sie aufwacht.«
»Warum? Sie hat nichts dagegen, dass ich hier bin.«
»Komm schon, hoch mit dir.«
»Nur, wenn ihr mit mir zusammenzieht.«
Sie wirft ihm sein Hemd an den Kopf und verschwindet im Badezimmer, während er sich mit einem Lächeln wieder in die Kissen fallen lässt.
»Ich habe keine Lust es noch mal zu sagen. Ich bin zum Motel zurückgefahren und ins Bett gegangen, und jetzt will ich wissen, wann ich mit Magnus wieder nach Hause kann!«
Der kleine Raum am Ende des langen Flurs im Morddezernat ist grell ausgeleuchtet und muffig, und Hans Henrik Hauge schluchzt und ringt die Hände. Seine Kleidung ist verknittert, und er riecht nach Schweiß und Urin. Sechs Tage sind vergangen, seit Laura Kjær gefunden wurde, und vor knapp zwei Tagen hat Thulin sich entschlossen, ihn in Untersuchungshaft nehmen zu lassen. Das Gericht hat dem Dezernat 48 Stunden gewährt, um die Grundlage für eine Anklage zu finden, was bisher nicht gelungen ist. Thulin ist sicher, dass Hauge mehr weiß, als er sagt, aber der Mann ist nicht dumm. Informatiker von der Süddänischen Universität, in seinen IT-Methoden altmodisch und einschätzbar, aber nicht schlecht. Er ist schon ziemlich oft umgezogen und behauptet, das wäre eben sein Los als freiberuflicher IT-Entwickler gewesen, doch dann habe er Laura Kjær kennengelernt und eine Festanstellung in einem mittelgroßen IT-Unternehmen in Kalvebod Brygge am Meer angenommen.
»Niemand kann bestätigen, dass Sie am Montagabend im Motel geblieben sind, und niemand hat vor sieben Uhr am nächsten Morgen ihr Auto auf dem Parkplatz des Motels bemerkt. Wo waren Sie?«
Als Hauge in Untersuchungshaft genommen wurde, nutzte er sein Recht auf einen Pflichtverteidiger. Eine junge Frau, scharfzüngig, gut duftend und in Klamotten, die sich Thulin nie wird leisten können, ergreift das Wort.
»Mein Klient besteht darauf, dass er die ganze Nacht in dem Motel war. Er hat geduldig wiederholt, dass er nichts mit dem Verbrechen zu tun hat, wenn Sie also keine neuen Informationen besitzen, dann möchte ich beantragen, dass er schnellstmöglich auf freien Fuß gesetzt wird.«
Thulin sieht nur Hauge an.
»Tatsache ist, dass Sie kein Alibi haben, und dass Laura Kjær an dem Tag, an dem Sie auf die Messe gefahren sind, ohne Ihr Wissen die Schlösser im Haus ausgewechselt hat. Warum?«
»Das habe ich bereits gesagt. Magnus hatte seine Schlüssel verloren …«
»Hatte sie einen anderen kennengelernt?«
»Nein!«
»Aber Sie wurden wütend, als sie am Telefon erzählte, dass sie die Schlösser ausgewechselt hat …«
»Sie hat nicht gesagt, dass sie die Schlösser ausgewechselt hat …«
»Und die Krankheit von Magnus hat vielleicht an ihrer Beziehung gezehrt. Ich könnte sehr gut verstehen, dass Sie wütend wären, wenn sie plötzlich sagt, dass sie einen anderen hat, der sie jetzt tröstet.«
»Ich weiß von keinem anderen, und ich war auf Magnus niemals wütend.«
»Aber auf Laura?«
»Nein, ich war nicht wütend auf …«
»Aber sie hat die Schlösser ausgewechselt, weil sie Sie nicht mehr mochte, und das war es, was sie Ihnen am Telefon gesagt hat. Sie fühlten sich betrogen, wo Sie so viel für sie und den Jungen getan haben, also sind Sie zum Haus zurückgefahren …«
»Ich bin nicht zum Haus zurückgefahren …«
»Sie haben an die Tür oder ans Fenster geklopft, und sie hat aufgemacht, weil sie nicht wollte, dass Sie den Jungen wecken. Sie haben versucht, mit ihr zu reden, haben sie an den Ring am Finger erinnert …«
»Das stimmt doch nicht …«
»… den Ring, den Sie selbst ihr geschenkt haben, aber sie verhielt sich kalt und gleichgültig. Sie sind mit ihr in den Garten, aber sie blieb dabei, dass Sie sich zum Teufel scheren sollen. Es sei Schluss zwischen Ihnen beiden, Sie hätten überhaupt kein Recht auf gar nichts, Sie würden auch keine Erlaubnis bekommen, den Jungen zu sehen, Sie würden nämlich nichts bedeuten, und am Ende …«
»Das stimmt nicht, sage ich!«
Thulin spürt den ungeduldigen Blick der Anwältin auf sich, während sie weiterhin Hauge ansieht, der wieder die Hände ringt und an dem Ring zupft.
»Das hier führt zu nichts. Mein Klient hat seine Verlobte verloren, und man muss auch auf den Jungen Rücksicht nehmen, es ist also unmenschlich, ihn noch weiter hierzubehalten. Mein Klient möchte gern so schnell wie möglich ins Haus zurück, damit er dem Jungen einen Alltag bieten kann, sowie der aus …«
»Wir wollen einfach nur nach Hause, zum Teufel! Wie lange wollen Sie noch in unserem Haus bleiben? Verdammt noch mal, Sie müssen doch langsam mit uns fertig sein!«
Etwas an Hauges Ausbruch verwundert Thulin. Es ist nicht das erste Mal, dass der 43-jährige IT-Entwickler sich ungeduldig über die Absperrung der Polizei und die Durchsuchung des Hauses zeigt, und ihr logischer Sinn sagt ihr, dass Hauge stattdessen doch daran interessiert sein sollte, dass die Polizei sich die Zeit nimmt, die Spuren zu sichern, die es geben könnte. Auf der anderen Seite ist das Haus bereits so oft von Grund auf durchsucht worden, dass sie, würde Hauge da etwas verbergen wollen, das längst entdeckt hätten. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich mit dem Gedanken abzufinden, dass es ihm wirklich um das Wohl des Kindes geht.
»Mein Klient zeigt selbstverständlich Verständnis für Ihre Untersuchungen. Aber darf er jetzt gehen?«
Hans Henrik Hauge sieht Thulin angespannt an. Sie weiß, dass sie ihn gehen lassen muss, und gleich wird sie Nylander darüber informieren müssen, dass sie in der Mordsache Laura Kjær immer noch auf der Stelle treten. Nylander wird sie zweifellos kurzerhand bitten, mal den Hintern hochzukriegen, um weitere Zeit- und Personalverschwendung zu vermeiden, und dann wird er sie fragen, wo zum Teufel eigentlich Hess ist. Letzteres weiß Thulin aus gutem Grund nicht. Seit dem Abend, an dem sie sich vor dem Glostrup Hospital getrennt haben, hat Hess so wenig wie möglich gearbeitet und war im Grunde gekommen und gegangen, wie es ihm passte. Am Wochenende hatte er sie angerufen und nach dem Fall gefragt, als er sich gerade scheinbar in so etwas wie einem Baumarkt befand. Zumindest wurde im Hintergrund über Farbe und Farbcodes geredet, und nach dem Anruf hatte sie das Gefühl, dass er sich nur gemeldet hatte, um den Eindruck zu erwecken, dass er noch dabei war. Das waren alles Dinge, die sie selbstverständlich nicht an Nylander weitergeben würde, doch die Abwesenheit des Mannes würde ihn garantiert ebenso wütend machen wie die fehlgeschlagene Untersuchungshaft, und nichts von alldem würde zum Vorteil Thulins sein, wenn sie am Ende des Gespräches versuchen würde, mit Nylander über eine Empfehlung für das NC3 zu sprechen, wozu er auch am letzten Freitag wieder keine Zeit gehabt hatte, obwohl sie das vereinbart hatten.
»Er kann gehen, aber das Haus ist nicht freigegeben, ehe unsere Untersuchungen nicht abgeschlossen sind, Ihr Klient muss also eine andere Lösung finden.«
Die Anwältin schlägt mit befriedigter Miene ihre Mappe zu und erhebt sich. Thulin kann erkennen, dass Hauge einen kurzen Moment protestieren will, doch ein Blick seiner Anwältin bringt ihn zum Schweigen.
Es gießt in Strömen. Lange Reihen von dunkel gekleideten Beamten suchen mit auf den Boden gerichteten Lampen den Wald ab, über ihnen knattert ruhelos ein Helikopter auf Höhe der Baumwipfel und streift sie mit seinem Flutlicht. Hess und die Kollegen sind bald sieben Stunden zugange, und es ist nach Mitternacht. Drei Einsatzleiter haben die Umgebung kartographiert und den Wald in fünf verschiedene Zonen eingeteilt, die je einzeln von Mannschaften mit Maglite-Lampen und Patrouillenhunden abgesucht werden.
Gleich nach dem Fund der Leiche von Anne Sejer-Lassen hat man versucht alle Zufahrtswege abzusperren, und an mehreren Ausfallstraßen wurden Straßensperren errichtet. Autos sind angehalten worden, und Menschen mussten Fragen beantworten, doch Hess fürchtet, das wird alles vergebens sein. Sie sind zu spät gekommen und liegen immer noch weit zurück. Kurz nach ihrer Ankunft im Wald begann es zu regnen, und die Spuren, die vielleicht da gewesen waren – Fußabdrücke, Reifenspuren, was auch immer –, sind nun weggewaschen und haben sie in dem Gefühl zurückgelassen, einem Phantom gegenüberzustehen, das die Wettergötter auf seiner Seite hat. Hess denkt an die Leiche von Anne Sejer-Lassen, er denkt an die kleine Figur auf ihrer Schulter und fühlt sich dabei wie ein widerwilliger Theatergast, der nach dem Ausgang sucht, während sich vor ihm eine bizarre Vorstellung abspielt. Seine Kleider sind durchnässt, und er ist auf dem Weg vom nördlichen Ende des Waldes zu einem der Hauptwege, die der Einsatzleiter auf der Karte eingetragen hat. Ein jüngerer Beamter ist aus einer Kettenformation rausgetreten und steht und pinkelt hinter einen Baum, und Hess macht ihn zur Schnecke, weil er dazu nicht erst das Gelände, das nach Spuren durchsucht wird, verlassen hat. Der Beamte beeilt sich, in die Formation zurückzukommen, und Hess bereut seinen Ausbruch. Er merkt, dass er eingerostet ist. Sein Körper ist außer Form, die Gedanken flimmern verwirrt. Es ist viel zu lange her, dass er mit einer solchen Sache zu tun hatte, oder besser gesagt war er noch nie mit so etwas konfrontiert. Er sollte eigentlich in seiner kleinen, versifften Wohnung in Den Haag sitzen und Fußball kucken oder auf dem Weg zu einer weiteren gleichgültigen Aufgabe in irgendeiner europäischen Stadt sein, aber stattdessen watet er in einem Wald nördlich von Kopenhagen herum, wo der Regen vom Himmel schüttet und alle niederdrückt.
Hess kommt zum Fundort zurück, zu den großen Scheinwerfern, die den Windschutzzaun grell erleuchten, sodass die weißgekleideten Techniker, die sich zwischen den Bäumen bewegen, lange Schatten werfen. Die Leiche von Anne Sejer-Lassen ist vor ein paar Stunden abgenommen und in die Gerichtsmedizin gefahren worden, aber Hess sucht nach Thulin. Er sieht sie von der westlichen Seite des Waldes her kommen, ihre Haare sind nass und zerzaust, und sie wischt sich Lehmspuren aus dem Gesicht, während sie gerade ein Telefonat beendet. Sie entdeckt Hess, begegnet seinem fragenden Blick und schüttelt den Kopf zum Zeichen, dass sie auch nichts gefunden hat.
»Aber dafür habe ich gerade mit Genz gesprochen.«
Als der Kriminaltechniker nach dem Auffinden von Anne Sejer-Lassen im Wald auftauchte, hatte Hess ihn beiseitegezogen und gebeten, den Kastanienmann zu sichern und sofort mit ins Labor zu nehmen, damit sie schnell eine Antwort bekommen könnten. Hess blickt durch den Regen zu Thulin und kennt die Antwort von Genz’ Analyse schon, ehe sie etwas sagt.
Es ist früher Morgen, doch Erik Sejer-Lassen weiß nicht, wie spät es ist, denn seine TAG Heuer im Wert von 45.000 Euro liegt seit gestern spätabends zusammen mit seinem Gürtel und seinen Schnürsenkeln in einem Schließfach oben im zweiten Stock des Polizeipräsidiums eingeschlossen. Er selbst hockt in einer Zelle unter der Erde, und als die schwere Eisentür aufgeht, erklärt ihm ein Beamter, dass er wieder verhört werden soll. Erik Sejer-Lassen macht sich auf den Weg. Durch den Keller und die gewundenen Treppen hinauf zu Tageslicht und Zivilisation, während er sich bemüht, seine Wut in den Griff zu kriegen.
Am Abend zuvor war die Polizei unangekündigt in seinem Haus aufgetaucht. Er war gerade dabei, mit den Kindern zu sprechen, die weinend in ihren Betten lagen, als das Au-pair ihn hinunter zur Eingangstür rief, wo zwei Beamte darauf warteten, ihn mit zum Verhör nehmen zu können. Er hatte eingewandt, dass er das Haus jetzt unmöglich verlassen könne, doch die Beamten ließen ihm keine Wahl und überrumpelten ihn damit, dass sie seine Schwiegermutter mitgebracht hatten, damit die sich um die Kinder kümmern konnte. Erik hatte nach Annes Tod noch nicht mit der Schwiegermutter gesprochen. Er wusste, dass sie besorgt nach ihren Enkelinnen fragen und ihre Hilfe anbieten würde, die Erik nicht wollte. Doch jetzt stand sie hinter den Beamten am Fuß der Steintreppe und betrachtete ihn mit furchtsamem Blick, als habe er ihre Tochter totgeschlagen. Es sah aus wie eine Verschwörung. Als Erik zum wartenden Polizeiauto begleitet wurde, war sie über die Schwelle zu seinem Haus getreten, und die Mädchen waren ihr entgegengelaufen und hatten sich an ihre Beine geklammert.
Auf dem Präsidium war er ohne weitere Erklärung über die Ursachen der Unfälle und Verletzungen der Mädchen über die Jahre hinweg ausgefragt worden. Da hatte er gar nichts mehr verstanden, und schon gar nicht, was das mit allem anderen zu tun hatte, und er hatte lautstark verlangt, mit einem Vorgesetzten reden zu können oder alternativ augenblicklich nach Hause gefahren zu werden. Stattdessen war er wegen »Zurückhaltung von Informationen zur Aufklärung des Mordes an Anne Sejer-Lassen« in Untersuchungshaft genommen worden und hatte sich damit abfinden müssen, wie ein Gewohnheitsverbrecher in die Zelle im Keller verfrachtet zu werden.
Erik Sejer-Lassen hatte seine Frau das erste Mal in der Hochzeitsnacht geschlagen. Sie hatten die Suite im D’Angleterre kaum betreten, da hatte er die Arme seiner Braut gepackt und sie im Zimmer herumgeschleudert, während er ihr durch die zusammengebissenen Zähne zugezischt hatte, wie sehr er sie hasste. Die Hochzeit war üppig gewesen. Eriks Familie hatte das Gelage bezahlt, den weltberühmten schwedischen Koch, die 12 exotischen Gerichte, die Räume auf Schloss Havreholm und was noch alles dazugehörte, weil Annes Familie arm wie Kirchenmäuse war. Doch zum Dank hatte Anne sich zu lange und zu intim mit einem seiner alten Kumpel vom Internat Herlufsholm unterhalten, was Erik dermaßen in Verlegenheit gebracht hatte, dass er dann, als sie sich verabschiedet und zur Zweisamkeit ins D’Angleterre zurückgezogen hatten, innerlich vor Wut kochte. Anne hatte sich weinend damit entschuldigt, dass sie nur mit seinem Kameraden gesprochen hätte, um höflich zu sein, doch in seinem Jähzorn hatte Erik ihren Rock zerrissen und sie mehrere Male geschlagen, um sie schließlich zu vergewaltigen. Am nächsten Tag hatte er sich für sein Verhalten entschuldigt und ihr seine große Liebe erklärt. Ihre glühend rote Wange wurde beim Frühstücksbuffet von den Gästen als Folge einer leidenschaftlichen Hochzeitsnacht interpretiert. Damals war wahrscheinlich der Grund zu seinem Hass auf sie gelegt worden – weil sie sich gefügt hatte und ihn weiterhin verliebt ansah, während sie mit ihren langen Wimpern klimperte.
Ihre Jahre in Singapur waren die glücklichsten. Er hatte mit ein paar beherzten Investitionen in Biotech-Unternehmen eine Blitzkarriere hingelegt, und Anne und er waren schnell in den Jetset der britischen und amerikanischen Expats aufgenommen worden. Er vergriff sich nur ab und zu an ihr, in der Regel, weil sie seine Loyalitätsforderungen nicht erfüllte, die unter anderem umfassten, dass sie ihm alles berichtete, was sie zu unternehmen gedachte. Im Gegenzug konnte er ihr Dasein mit Spritztouren auf die Malediven und Bergwanderungen in Nepal versüßen. Doch mit der Ankunft der Kinder hatte sich das Leben verändert. Auch da war er zunächst gegen Annes großen Wunsch eingestellt gewesen, doch allmählich hatte die Reproduktion, von der er schon selbst häufig gesprochen und über die er in den Vorstandssitzungen der Biotech-Unternehmen schon manche Diskussion mit angehört hatte, eine patriarchalische Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Es hatte ihn gequält, dass sein Samen von so geringer Qualität war, dass sie die Kinderwunsch-Klinik konsultieren mussten, die Anne vorgeschlagen hatte – eine Idee, für die er sie erst einmal im Penthouse geschlagen hatte, weil sie so etwas überhaupt geäußert hatte. Neun Monate später hatte er keinerlei Freude bei der Geburt des kleinen Mädchens im Raffles Hospital empfunden, doch er dachte, das würde schon noch kommen. Es kam aber nicht. Auch nicht, als Kind Nummer zwei geboren wurde, oder besser gesagt, erst recht nicht, als Kind Nummer zwei zur Welt kam. Die Ärzte mussten Lina rausoperieren, und Annes Unterleib wurde dabei so in Mitleidenschaft gezogen, dass sie zum einen die Hoffnung auf einen Jungen, den Erik sich wünschte, aufgeben mussten und zum anderen ihr Sexleben auf null gestellt wurde.
Die restlichen Jahre in Singapur hatte er sich mit diversen Affären und großem beruflichem Erfolg getröstet, doch da Anne sich wünschte, dass die Kinder in eine dänische Schule gingen, waren sie aus Asien zurückgekehrt und in die große Luxuswohnung auf Islands Brygge gezogen, wo sie das erste Jahr gewohnt hatten, bis das Haus in Klampenborg fertig war. Die Hobbitgesellschaft in Kopenhagen war eng und klaustrophobisch und bedeutete naturgemäß, verglichen mit der internationalen Atmosphäre und Freiheit, an die er sich in Singapur gewöhnt hatte, eine große Veränderung. Schnell war er wieder in den Kreis alter Freunde auf der Bredgade aufgenommen worden, die er eigentlich als provinziell verachtete, mit allen Statussymbolen und den Vorzeigeweibern, die nur von Kindern und Haushalt palaverten. Zu seiner großen Enttäuschung trug auch bei, dass die Töchter immer mehr ihrer Mutter ähnelten. Sie waren grobe, plumpe Klone, die naiv Annes romantisches Gewäsch nachplapperten, und noch schlimmer war, dass sie auch noch denselben Mangel an Rückgrat aufwiesen wie die Frau, die er geheiratet hatte.
Eines Abends zur Schlafenszeit in der Wohnung auf Islands Brygge hatten sie hysterisch über eine Kleinigkeit geheult, und da sowohl Anne als auch das Au-pair-Mädchen Judith außer Haus waren, musste er sich mit ihnen herumschlagen. Am Ende hatte er die Hand erhoben, und das Heulen war verstummt. Ein paar Wochen später hatte das ältere Mädchen beim Essen herumgekleckert, und als mehrere Aufforderungen und pädagogische Maßnahmen nicht gefruchtet hatten, hatte er sie so geschlagen, dass sie vom Stuhl gefallen war. In der Notaufnahme, wo Sofia wegen einer Gehirnerschütterung behandelt wurde, hatte er Judith klargemacht, dass sie ihren Mund halten sollte, wenn sie nicht mit dem ersten Flieger zurück ins Reisfeld befördert werden wollte. Anne war eilig von einem Besuch bei ihrer Mutter zurückgekehrt, und eigentlich hatte es ihn erstaunt, wie einfach es gewesen war, eine Geschichte von dem ungeschickten Kind zusammenzustricken, das trotz seiner spärlichen Begabung doch so viel begriffen hatte, dass es seiner Mutter besser nicht die Wahrheit sagte.
Die Unfälle auf Islands Brygge waren zahlreich, vielleicht auch zu zahlreich, aber sie hatten geholfen. Anne war ihm während der Zeit mit Misstrauen begegnet, doch sie hatte nicht nachgefragt, zumindest nicht bis kurz vor ihrem Umzug nach Klampenborg plötzlich der Sachbearbeiter vom Jugendamt Kopenhagen aufgetaucht war. Bei der Kommune war eine anonyme Anzeige eingegangen, dass die Mädchen schlecht behandelt würden, und eine Zeitlang hatte sich Erik damit abfinden müssen, dass der Sachbearbeiter herumschnüffelte. Mithilfe seiner Anwälte hatte er ihn schließlich rausgeschmissen und ihm untersagt, jemals wiederzukommen, und Erik selbst hatte sich vorgenommen, in Zukunft größere Selbstbeherrschung zu beweisen, zumindest bis er herausbekam, wer es gewagt hatte, diese Anzeige zu erstatten.
Danach hatte Anne ihn zum ersten Mal gefragt, ob die Unfälle in Wirklichkeit seine Schuld seien. Das hatte er natürlich von sich gewiesen, doch als sie nach Klampenborg gezogen waren, wo dann die Episode in der Diele passiert war, hatte sie aufgehört, ihm zu glauben. Sie hatte geweint und sich selbst Vorwürfe gemacht und gesagt, dass sie die Scheidung wolle. Darauf war er selbstverständlich vorbereitet. Wenn sie eine derartige Initiative ergriffe, dann würde er seine Anwälte auf sie ansetzen und dafür sorgen, dass sie die Kinder niemals wiedersähe. Schon vor langer Zeit hatte sie einen Ehevertrag unterschrieben, der ihm alles, was er verdient hatte, sicherte, und wenn ihr der goldene Käfig in Klampenborg nicht mehr gefiel, dann wartete ein Leben von Sozialhilfe auf dem Sofa bei ihrer Mutter auf sie.
Die Stimmung war nie wieder richtig gut geworden, aber er hatte geglaubt, dass Anne aufgegeben hatte, bis ihm die Polizei vorgestern erzählte, dass sie gar nicht auf dem Weg zu ihrer Mutter gewesen war, sondern in Wirklichkeit hatte abhauen wollen. Sie hatte vorgehabt, ihn im Wohlstandsreservat zu einem Skandal-Sündenbock zu machen, aber dann war sie selbst wie von Geisterhand von der Landkarte gepflückt worden. Diesen Teil der Geschichte kann er immer noch nicht fassen, aber das Geschehen schenkt Erik ein Gefühl von Gerechtigkeit. Das Verhältnis zu den Kindern, die jetzt ihm ganz allein gehören, wird von jetzt an auch einfacher sein, weil er nun nicht mehr auf die Meinungen anderer Rücksicht nehmen muss.
Mit diesem Selbstvertrauen betritt Erik Sejer-Lassen den Raum, um in der Mordkommission verhört zu werden. Dort sitzen die beiden Ermittler, die er schon kennt. Der Kerl mit der Farbverwirrung in der Iris und die kleine Schickse mit den Rehaugen, der er in einem anderen Zusammenhang einen Ritt geben würde, den sie nie wieder vergisst. Alle beide sehen richtig scheiße aus. Müde und mitgenommen, vor allem der Typ, mit dem Gesicht voller gelber und blauer Flecken, als hätte er kürzlich Prügel bezogen. Erik wird sofort klar, dass er die beiden problemlos plattmachen kann. Er wird augenblicklich freigelassen werden. Die haben nichts gegen ihn in der Hand.
»Erik Sejer-Lassen, wir haben noch einmal mit Ihrem Au-pair-Mädchen gesprochen, und diesmal hat sie uns detailliert erklärt, wie Sie in mindestens vier Fällen Gewalt gegen Ihre Kinder verübt haben.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Wenn Judith behauptet, ich hätte die Kinder geschlagen, dann ist sie eine Lügnerin.«
Erik denkt sich, dass sie nach diesem Argument ein wenig hin und her diskutieren werden, doch die beiden Idioten tun so, als hätten sie nicht gehört, was er gesagt hat.
»Wir wissen, dass sie die Wahrheit sagt. Unter anderem deshalb, weil wir auch telefonischen Kontakt zu den beiden philippinischen Au-pair-Mädchen hatten, die bei Ihnen tätig waren, als Sie in Singapur lebten. Die drei Mädchen berichten unabhängig voneinander dieselbe Geschichte. Deshalb hat die Staatsanwaltschaft nun entschieden, Anklage gegen Sie zu erheben wegen Gewalt gegen Ihre Kinder, auf Grundlage der Fälle, die in den sieben Krankenhausberichten aus Ihrer Zeit in Dänemark beschrieben sind.«
Der Kerl redet weiter, und Sejer-Lassen spürt den kalten Blick aus den Rehaugen, die ihn anstarren.
»Ihre Untersuchungshaft wird vorläufig um 48 Stunden verlängert. Sie haben das Recht auf einen Anwalt, wenn Sie sich den nicht leisten könnten, wird Ihnen ein Pflichtverteidiger zugeteilt werden. Bis zur Urteilsverkündung werden die Sozialbehörden die Interessen Ihrer Kinder vertreten, dies in enger Zusammenarbeit mit der Großmutter der Kinder, die bereits angeboten hat, als ihr Vormund zu fungieren. Für den Fall, dass Sie für schuldig befunden werden und eine Strafe ableisten müssen, wird entschieden werden, ob Sie das Sorgerecht behalten können und ob Ihnen erlaubt werden wird, die Kinder unter Aufsicht zu sehen.«
Die Stimme verschwindet. Erik Sejer-Lassen starrt einen Moment lang leer in die Luft. Dann senkt er den Blick. Auf dem Tisch vor ihm liegen die Krankenhausakten ausgebreitet, mit Arztberichten, Fotos und Röntgenbildern der Verletzungen der Mädchen, und er findet plötzlich, dass sie brutal aussehen. Aus weiter Entfernung hört er die mit den Rehaugen erzählen, dass Judith auch ausgesagt hat, dass sie kurz vor dem Umzug von Islands Brygge Besuch von einem Sachbearbeiter vom Jugendamt Kopenhagen hatten, weil es eine anonyme Anzeige gegeben habe. Das ist das Einzige, worüber sie bei dieser Gelegenheit mit Sejer-Lassen sprechen wollen, denn sein Fall wird in Kürze dann an eine andere Stelle abgegeben werden.
»Wissen Sie, wer die Anzeige erstattet hat?«
»Haben Sie irgendeine Idee, wer es gewesen sein könnte?«
»Wer außer den Au-pair-Mädchen kann gewusst haben, dass Sie Ihre Kinder geschlagen haben?«
Der Ermittler mit den gelben und blauen Flecken betont, wie wichtig es für sie ist, eine Antwort zu bekommen, aber Erik Sejer-Lassen kriegt kein Wort heraus. Er starrt nur auf die Bilder. Einen Moment später wird er rausgeführt, und als die Zellentür hinter ihm zuschlägt, bricht er zusammen, und zum ersten Mal in seinem Leben vermisst er seine Mädchen.