Cover

Todd Calgi Gallicano

Krieg der Meere

Aus den Akten des

Instituts für Magische Wesen

Aus dem Englischen

von Ulla Höfker

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© 2018 by Todd Calgi Gallicano

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

»The Selkie of San Francisco – A Sam London Adventure«

bei Delacorte Press, einem Imprint von Random House Children’s Books,

Teil von Penguin Random House LLC, New York

This translation published by arrangement with Random House

Children’s Books, a division of Penguin Random House LLC

© 2019 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Ulla Höfker

© Innenillustrationen 2018 by Kevin Keele

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Shutterstock

(gustavoquiroga, Arif Supriyadi, Alted Studio)

ml • Herstellung: uk

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-24057-8
V001

www.cbj-verlag.de

Für Mongo und den Kleinen

ANMERKUNG DES AUTORS

Der nachfolgende Bericht basiert auf einer Fallakte aus dem Institut für Magische Wesen (IMW). Im Bestreben, die Öffentlichkeit über diese bislang unbekannte Behörde zu informieren, ließen meine Quellen mir Kopien aus den IMW-Archiven zukommen. Meinen Informationen entsprechend ist »Krieg der Meere« der zweite Fall des Instituts, an dem Sam Londo,n beteiligt war.

Die IMW-Fallakten beinhalten Zeugenbefragungen, Ermittlungsvermerke, Recherchematerial sowie Berichte, die fallübergreifende Informationen zu den Ereignissen bieten. Da dieses Informationsmaterial oft trocken und faktenüberladen war, habe ich mir eine spannendere Interpretation der Akteninhalte erlaubt. Sämtliche Details wurden in meine Schilderung übernommen, doch ich habe sie so ausgeschmückt, dass der Leser Spaß daran hat. Ich habe im Text außerdem mehrfach auf das Quellenmaterial hingewiesen und eine Liste von Abkürzungen, Codes und Ausdrücken angefügt, um die Entschlüsselung des vom IWM angewandten Codierungssystems zu erleichtern.

Da diese Akten als geheim eingestuft wurden, habe ich Datumsangaben geschwärzt und einige Namen verändert, um die Identität von Zeugen und Personen, die noch immer im Institut beschäftigt sind, zu schützen.

T.C.G.

PROLOG

Lynnae, die vom Baikalsee in Russland stammte, hatte nie eine Aufführung von Schwanensee gesehen, und doch fühlte sie sich auf seltsame Art und Weise hingezogen zu dem klassischen Ballett. Zu der Musik, die Pjotr Iljitsch Tschaikowski im späten 19. Jahrhundert geschrieben hatte. Sie besaß sogar ein kleines Plakat, das die berühmte Londoner Inszenierung von 1964 bewarb und auf dem das legendäre Tanzpaar Rudolf Nurejew und Margot Fonteyn de Arias zu sehen war. Sie hatte das verknitterte, altmodische Plakat am Ufer der verborgenen Bucht gefunden, in der sie hier, am ältesten See der Welt, wohnte. Lynnae nahm an, dass ein ballettliebhabender Urlauber es zurückgelassen hatte.

In ihrer Fantasie lebte sie die Geschichte von Schwanensee oft aus – besonders den Teil, in dem die Protagonistin die Liebe ihres Lebens findet. Das war ihre absolute Lieblingsstelle. Lynnae hatte die Geschichte als Kind einmal gehört, und obwohl sie nie erfahren hatte, wie sie endete, ging sie davon aus, dass das Mädchen und ihr Prinz bis an ihr Lebensende glücklich waren. Leider würde Lynnae niemals selbst eine solche Liebe erleben, da ihr der Kontakt zu Menschen und auch allen anderen Lebewesen untersagt war.

Lynnae war eine Schwanenmaid, ein Mädchen in der Gestalt eines Schwans. Und als solches musste sie ihr Leben abgeschieden von der Welt jenseits des Sees verbringen.

Aus diesem Grund war es ein ziemlicher Schock für sie, als die Nachricht die Runde machte, dass ein Fremder angekommen sei, um mit dem Rat der Maiden – den mütterlichen Beschützerinnen der Schwanenmädchen – zu sprechen. Sofort malte sich Lynnae aus, wie dieser Fremde sie nur einmal anschauen und sich dann unsterblich in sie verlieben würde, genau wie in Schwanensee. Diese Möglichkeit war einfach zu verlockend, um sie zu ignorieren, und so schlichen Lynnae und zwei andere neugierige Schwanenmädchen zum Versammlungsort des Rats, um einen Blick auf den unerwarteten Gast zu werfen.

»Glaubt ihr, es ist ein Menschenmann?«, fragte Lynnae. Ihre beiden Begleiterinnen schnappten nach Luft, als wäre ein solcher Gedanke unvorstellbar. Lynnae musste selbst zugeben, dass es sehr unwahrscheinlich war. Der Rat hatte die Bucht gut abgeschirmt und ließ die Grenzlinie von der furchteinflößenden Baba Yaga bewachen, einer Waldbewohnerin mit übernatürlichen Kräften und einem unstillbaren Appetit auf die Seelen von Eindringlingen. Sie hatte die strikte Anweisung, keine Menschen hereinzulassen – vor allem keine männlichen Menschen.

Als Lynnae und ihre Schwestern den Versammlungsort erreichten, versteckten sie sich hinter ein paar dichten Sträuchern voll blauer Beeren. Zwischen den Zweigen hindurch erspähten sie nicht nur einen, sondern gleich zwei Fremde auf der Lichtung. Der größere war ein grässliches, riesenhaftes Wesen mit grüner Haut und einem Geweih, das wie krumme Ranken aus seinem Kopf wuchs. Neben ihm stand eine Frau in einer weiten weißen Robe und mit langem, pechschwarzem Haar. Sie war atemberaubend schön, hatte aber einen sehr grimmigen Gesichtsausdruck.

Lynnae beobachtete, wie neun Schwäne aufs Ufer zuschwammen. Die Wasservögel mit ihren langen, eleganten Hälsen hatten orangefarbene Schnäbel und ein schneeweißes Gefieder. Als die majestätischen Tiere sich näherten, verwandelten sie sich alle gleichzeitig. Im Gegensatz zu Lynnae und den anderen Schwanenmädchen, die für ihre Arbeit am Seeufer menschliche Gestalt annahmen, behielten die Mitglieder des Rats immer gewisse Aspekte ihrer Schwanengestalt bei, so zum Beispiel die Flügel, die sie hinter ihrem Körper falteten. Außerdem hatten sie anstelle von Haaren Federn auf dem Kopf und orangefarbene Augen mit schwarzen Pupillen. Auch ihr Körper war mit Federn bedeckt, alles bis auf die Arme, das Gesicht und den Hals. Die Haut dort war hauchzart und schimmerte sanft, wenn die Wasseroberfläche wie in dieser Nacht das Mondlicht reflektierte.

Uravasi, Caer, Melusine, Manto, Sibyl, Undine, Palatina, Melior und Faye wirkten gelassen und strahlend wie immer. Für Lynnae war es, als hätte sie neun Mütter. Obwohl alle in ihrer Persönlichkeit einzigartig waren, kümmerte sich jede von ihnen liebevoll um Lynnae und die anderen Schwanenmädchen. Jetzt stellten sich die neun ein paar Schritte vom Ufer entfernt im hüfthohen Wasser auf. Die immer neugierige Uravasi sprach als Erste.

»Welch unerwarteter Besuch, Cernunnos«, begann sie in ihrer zarten, engelsgleichen Stimme.

»Lord Cernunnos«, korrigierte die griesgrämige Frau sie. Die neun Maiden wechselten irritierte Blicke. Dann meldete sich die höfliche Melusine in sachlichem Ton zu Wort.

»Der Rat der Maiden erkennt solche Titel nicht an. Falls diese Anerkennung der Grund eures Besuchs ist, könnt ihr wieder gehen.« Damit zogen die Maiden sich ins Wasser zurück.

»Phylassos hat euch betrogen!«, bellte das gehörnte Wesen plötzlich. Seine tiefe Stimme hallte in der Bucht wider. Die Maiden blieben stehen. Sibyl, die Klügste unter ihnen, blickte die beiden Fremden kritisch an.

»Es gibt Gerüchte, die behaupten, dass du es warst, der den Greif zusammen mit dem Kynokephalus Chase betrogen hat«, erwiderte sie mit fester Stimme.

»Wenn ihr diese Gerüchte gehört habt, habt ihr dann nicht auch von dem Jungen gehört?«, fragte Cernunnos.

»Von dem Jungen?«, wiederholte die respekteinflößende Faye fragend.

Cernunnos nickte. »Sam London. Er war mit dem Menschen Vantana unterwegs. Der Greif selbst hat sich Sam gezeigt. Es war dieser Junge, der mitgeholfen hat, die Greifenklaue zu retten.«

»Das wäre ein Verstoß gegen das Gesetz«, bemerkte Palatina, die Ratsvorsitzende. Cernunnos nickte zustimmend. Die Maiden wandten sich einander zu und flüsterten aufgebracht. Lynnae beugte sich reflexartig vor, um die leise geführte Debatte zu verstehen, und dabei passierte es: Der Busch, hinter dem sie sich versteckte, raschelte. Ganz leise nur, aber das Geräusch blieb nicht ungehört. Die fremde Frau drehte den Kopf in Lynnaes Richtung.

»Sind eure Mädchen etwa nicht nur Schwäne, sondern auch Spione?«, zischte sie.

Die neun Rats-Maiden blickten hinüber zu den Sträuchern, als Lynnae und ihre Freundinnen sich hastig zurückzogen. Lynnae hoffte, dass ihre Mutter-Maiden sie nicht erkannt hatten, und falls doch, betete sie, dass die Strafe nicht so schlimm ausfallen würde. Eilig setzte sie sich in ihr Nest, das dank vieler kleiner leuchtender Pilze im Mondlicht glitzerte. Sie versuchte sich Ausreden für ihr Lauschen auszudenken, doch das Gehörte ging ihr nicht aus dem Sinn.

Wer immer dieser Sam London war, die Neun kannten ihn anscheinend. Wobei seine Existenz den Rat andererseits auch überrascht zu haben schien. Wer war dieser Junge, und weshalb bereitete er ihren Müttern solche Sorgen? Als Lynnae Caer herankommen hörte, schob sie das Schwanensee-Poster schnell unter ihren mit glitzernden Pilzen besetzten Ast und tat, als schliefe sie. Im Moment war es Lynnae wichtiger, dem mütterlichen Zorn der Maiden zu entgehen, als ihre Neugier zu befriedigen. Ihre Fragen würden wie so viele andere, die sich über die Jahre angesammelt hatten, ganz einfach unbeantwortet bleiben müssen.

KAPITEL 1 – MITTENDRIN

Der zwölfjährige Sam London war der Meinung, dass die Bezeichnung »Mittelschule« die Klassenstufen zwischen Grundschule und Highschool geradezu perfekt beschrieb. Es waren Übergangsjahre, in denen aus verspielten Kindern rebellische Jugendliche wurden. Aber natürlich war es in der Schule genauso wie im Leben nie wirklich angenehm, in der Mitte von irgendetwas zu sein. Mittendrin zu sein bedeutete, dass man weder gerade erst mit etwas anfing noch bald damit fertig war. Man steckte sozusagen zwischen zwei Lebensstufen fest – alt genug, um es besser zu wissen, aber immer noch zu jung, um Verantwortung für wirklich wichtige Dinge übernehmen zu dürfen.

Für Sam London hatte die Mittelschule jedoch ein ganz neues Stadium in Sachen »unangenehm« erreicht. Vielleicht lag es an all den fantastischen Dingen, die er vor gerade mal ein paar Wochen erlebt hatte, als er nach einer abenteuerlichen Reise die Greifenklaue gerettet hatte. Vielleicht auch daran, dass die Wächterin Tashi seitdem in Sams Klasse ging und als sein geheimer Bodyguard fungierte. Oder vielleicht lag es daran, dass Sams neues Haustier und Freund ein gestaltwandelnder Marderhund namens Nuks war, der, wann immer sich die Notwendigkeit ergab, als Sam auftreten konnte. Vielleicht lag es aber auch an der Tatsache, dass Sams neuer Lehrer ein alter Freund war, der als Mensch wiedergeboren wurde, ohne etwas von seinem früheren Leben als mythischer Hundemensch zu wissen. Kurz gesagt: Das Leben war für Sam London in letzter Zeit ziemlich aufregend gewesen – und jetzt war es alles andere als das.

Schule, Hausaufgaben und Schlafen wurden zu einem ewigen Kreislauf, tagein, tagaus. Natürlich hatte Sam auch so etwas wie ein soziales Leben. Er ging zu Geburtstagsfeiern, zu denen er eingeladen wurde, oder unternahm ab und zu etwas mit seiner Mom. Einfach so mit anderen Jungs abzuhängen, war nicht Sams Ding. Er war noch nie der Typ gewesen, der einen großen Freundeskreis hatte, mit dem er Videospiele oder Basketball spielte. Sam hatte Klassenkameraden, aber eigentlich keine besten Freunde. Die meisten seiner Mitschüler hielten ihn für einen schrägen Vogel – sogar die anderen schrägen Vögel.

Sams Mom, Odette London oder Ettie, wie die Leute sie nannten, versuchte Sam ständig zu ermuntern, sich Freunde zu suchen, und in der Vergangenheit hatte er auch ein paar lustlose Versuche in dieser Richtung unternommen. Aber wenn das Freundefinden für Sam schon vor seinem Abenteuer mit Dr. Vance Vantana schwierig gewesen war, schien es jetzt praktisch unmöglich. Denn wie sollte er mit jemandem befreundet sein, dem er nichts von der Leben verändernden Wahrheit erzählen konnte, dass es magische Wesen tatsächlich gab? Dass sie mitten unter den Menschen lebten und durch einen jahrhundertealten Fluch eines Greifen für das menschliche Auge unsichtbar waren? Wie konnte er irgendeine Art von Beziehung zu jemandem aufbauen, der nichts von diesem Geheimnis wusste – nichts davon wissen durfte? Das war einer der Gründe, weshalb er so viel Zeit mit Tashi verbrachte, das und die Tatsache, dass sie ohnehin selten bis nie von seiner Seite wich. Schließlich hatte man sie verpflichtet, sein Leben mit ihrem eigenen zu beschützen, und sie kam dieser Verpflichtung ohne Wenn und Aber nach. Doch wenigstens kannte sie die Wahrheit und Sam musste in ihrer Gegenwart nicht auf jedes Wort achten. Und ganz abgesehen davon lag Sams Fokus nicht darauf, Freunde zu finden, sondern sich auf seine nächste Mission vorzubereiten.

Nachdem er von seinem ersten Abenteuer zurückgekehrt war, war Sam jeden Morgen in der gespannten Erwartung aufgewacht, dass das Institut für Magische Wesen ihn um seine Hilfe bei neuen Ermittlungen bitten würde. Er hatte damit begonnen, das Internet nach Hinweisen auf einen möglichen Auftrag zu durchsuchen oder nach irgendeinem Zeichen aus der Welt, von der er wusste, dass sie existierte. Abends schaute er sich deswegen auch besonders aufmerksam die Nachtrichten an, doch er fand nie etwas. Das Geheimnis blieb wirklich sehr geheim. Klar, es gab Dutzende Internetseiten über Kryptide, Wesen und Pflanzen, die von der Wissenschaft nicht als existent anerkannt wurden. Und es gab sogar eine Fernsehshow, die die Heldentaten von Boone Walker, dem »wilden Mann«, dokumentierte. Walker war ein selbsternannter Monsterjäger, der die Welt auf der Suche nach Beweisen für die Existenz legendärer Wesen bereiste, aber nie irgendetwas fand. Es gab auch Berichte von Personen, die behaupteten, Bigfoot oder Chupacabras gesehen zu haben, aber Sam vermutete, dass sie entweder magische DNA besaßen, ohne es zu wissen, oder dass ihnen ihre Augen einen Streich gespielt hatten. Ohne also irgendwelche Hinweise auf aktuelle Sichtungen zu haben und ohne Nachricht von Dr. Vantana hatte Sam sich widerwillig in sein eintöniges Leben gefügt und fragte sich insgeheim schon, ob der ersehnte Anruf überhaupt noch einmal kommen würde.

Es war ein Freitag im Frühjahr, an dem sich endlich etwas änderte. Sam wachte auf und sah, dass Nuks nicht in seinem Bett lag. Einen Augenblick später betrat der Marderhund das Zimmer, in der Gestalt von Sam. Für diesen war es immer noch ein seltsames Gefühl, seinen Doppelgänger so vor sich zu sehen. Vermutlich ging es Zwillingen da ähnlich.

»Warum bist du …«, begann Sam, denn er fand es äußerst ungewöhnlich, dass Nuks an einem Schultag schon so früh auf und noch dazu in Sams Gestalt war.

»Deine Mom macht Großputz«, fiel ihm Nuks ins Wort. »Ich dachte mir, wenn ich ihr helfe, hilft das auch dir.«

»Das musst du doch nicht tun. Das ist gar nicht deine Aufgabe. Frag mich das nächste Mal lieber vorher, ja?«

»Ja. Ja, natürlich. Es tut mir leid, Sam, so leid«, entschuldigte Nuks sich. Er war sofort ganz nervös und zittrig geworden.

»Nuks, du musst echt aufhören, immer gleich auszuflippen, wenn ich dir etwas sage. Ich schicke dich nicht weg, okay?«, beruhigte Sam den Marderhund in seinem freundlichsten Tonfall. »Du wirst hier immer ein Zuhause haben. Immer.« Nuks beruhigte sich und lächelte.

Sam musste dem plüschigen Wesen immer wieder versichern, dass er es nicht wegen irgendwelcher kleinen Versehen im Stich lassen würde. Für Nuks war es der Himmel auf Erden, eine Familie und ein Dach über dem Kopf zu haben, und er war bereit alles dafür zu tun, damit es so blieb. Normalerweise war es einem gestaltwandelnden Marderhund verboten, sich als Haustier eines Menschen auszugeben, doch Nuks hatte ein Schlupfloch gefunden und wurde jetzt von seinen Artgenossen maßlos beneidet.

Dafür war Nuks für Sam zu einem loyalen Freund geworden, der Sams vollstes Vertrauen genoss. Das Beste war, dass er sich nie beklagte und Sams Anweisungen nur zu gern befolgte. Wenn Ettie etwas von Sam wollte, das der aber nicht gern tat, schickte er stattdessen Nuks – in Sams Gestalt, versteht sich. Tashi fand das gar nicht gut. Es lag in der Natur dieser Wesen, es allen recht machen zu wollen, und sie war der Meinung, dass Sam das ausnutzte. Aber Nuks liebte jede Gelegenheit, bei der er etwas Neues ausprobieren konnte. So hatte er zum Beispiel in den letzten Wochen etwas über die Ursprünge der Folkmusik gelernt, einen Anfängerkurs in Balletttanzen gemacht, Holz gedrechselt und sogar Geocaching ausprobiert. Letzteres hatte sich als etwas problematisch erwiesen, da Nuks sich beim Aufspüren des »Schatzes« nur auf seine Nase verlassen hatte anstatt auf den GPS-Empfänger. Das führte zu einem merkwürdigen Gespräch zwischen Ettie und dem Leiter des Tageskurses, der sich einerseits Sorgen um Sams Geisteszustand machte, andererseits aber total begeistert von seinem hundegleichen Geruchssinn war.

»In meiner Schreibtischschublade liegt eine Tüte mit Müsliriegeln – bediene dich«, bot Sam Nuks als Belohnung fürs Putzen an. Das Wesen lächelte breit und wollte zum Schreibtisch gehen, doch Sam hob die Hand. »Nicht als ich …«

»Oh, richtig. Natürlich«, erwiderte Nuks, verwandelte sich rasch in seine natürliche Gestalt zurück und lief auf vier Pfoten weiter zum Schreibtisch.

Sam blickte unruhig auf seine Zimmertür. Wenn seine Mom so früh schon auf war und das Haus putzte, konnte das nur eines bedeuten: Etties berühmtes »Frühjahrs-Ding« war wieder angesagt. Sam graute vor dieser jährlichen Tradition, bei der seine Mutter das Haus jedes Mal von oben bis unten putzte. Sie wurde zu einem wahren Aufräum-Tornado, in den Sam unweigerlich hineingezogen wurde. Auch wenn ihm Putzen eigentlich nichts ausmachte, hatte er doch eine Art Hassliebe gegenüber dem »Frühjahrs-Ding« entwickelt, und zwar wegen einer Regel, die Ettie aufgestellt hatte: Alles, was drei Jahre lang nicht gebraucht worden war, kam auf den Spenden-Stapel. Sam war ein unverbesserlicher Sammler und hasste diese Regel deshalb aus tiefstem Herzen.

Um das ungerechte Gesetz seiner Mutter zu umgehen, benutzte Sam alles, was er besaß, mindestens ein Mal innerhalb von drei Jahren. So konnte er, wenn Ettie fragte, ob er etwas benutzt hatte, ehrlich mit Ja antworten. Sam legte das Wort »benutzen« in diesen Fällen natürlich recht frei aus. Oft bedeutete es, dass er den fraglichen Gegenstand lediglich berührt hatte. Diese Taktik hatte bei genau zwei »Frühjahrs-Dingen« funktioniert. Dann war Ettie ihrem Sohn auf die Schliche gekommen und hatte genauer nachgefragt.

»Hast du es tatsächlich benutzt oder nur in die Hand genommen und wieder hingestellt, Sam?«, wollte sie wissen. An dieser Stelle hatte Sam kapituliert und gestanden, wie es wirklich war. Deswegen hatte er sich inzwischen eine neue Methode ausgedacht, um die Ausmist-Wut seiner Mutter zu umgehen: Er behielt jetzt ganz bewusst Dinge, die er eigentlich gar nicht mehr wollte. Das hatte den Vorteil, dass er den Wunsch seiner Mutter, sich von einigen Sachen zu trennen, befriedigen und trotzdem die Dinge behalten konnte, die ihm wirklich etwas bedeuteten. Aber er wusste, dass es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit war, bis sie seine neue Taktik durchschaute und mehr Opfer verlangte.

Sam atmete tief durch und betrat den Flur. Der Anblick, der ihn dort erwartete, war ein echter Schock. Die in die Flurdecke eingelassene Tür zum Dachboden war offen und darunter stand eine Trittleiter. Obwohl seine Mutter jedes Jahr wieder versprochen hatte, den engen, unfertigen Dachboden während des »Frühjahrs-Dings« zu putzen, war sie, bis sie sich daranmachen wollte, immer zu müde gewesen und hatte es aufs nächste Jahr verschoben. Der Abstellraum unterm Dach war gesteckt voll mit Schachteln, alten Staubsaugern und allem möglichen anderen Kram. Und wie es aussah, hatte Ettie jetzt endlich die Zeit und die Kraft gefunden, ihn in Angriff zu nehmen.

»Wunder gibt es immer wieder, was?«, meinte Ettie, als sie Sam wie angenagelt im Flur stehen sah. Sam nickte und blickte immer noch ehrfürchtig nach oben. »Ohne deine Hilfe heute Morgen wäre ich nie bis zum Dachboden gekommen. Ich kann dir gar nicht genug danken. Du bist wirklich ein toller Sohn.« Bei den letzten Worten lächelte sie Sam liebevoll an und wuschelte ihm durchs Haar.

Sam hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn er wie jetzt die Lorbeeren für Nuks’ harte Arbeit einsteckte. Um sein Gewissen etwas zu beruhigen, hatte er sich angewöhnt, auf ausgefallene Art und Weise auf so ein Lob zu reagieren.

»Ich werde es ihm ausrichten«, erwiderte Sam, und seine Mom grinste.

»Ja, tu das.« Ettie lachte. Diese neue Antwort schien sie zu amüsieren. Wahrscheinlich dachte sie, Sam sei einfach mal wieder albern. Und ihm machte es nicht wirklich etwas aus, für albern gehalten zu werden, vor allem, wenn es bedeutete, dass er seinen Freund nicht ganz um sein verdientes Lob brachte. »Oh, und wenn du dir das ausgerichtet hast, kannst du dir auch gleich sagen, dass du spät dran bist. In zehn Minuten fahren wir zur Schule und keine Minute später.« Ettie schlüpfte an Sam vorbei und ging zur Treppe.

»Okay. Ich muss mich nur noch schnell anziehen und etwas essen«, sagte Sam.

Ettie blieb stehen. »Etwas essen?«, fragte sie überrascht. »Du hast die ganze Packung Doughnuts verdrückt und bist immer noch hungrig? Bei der Menge Zucker, die du gegessen hast, solltest du schneller in die Schule laufen können, als ich dich fahren kann.«

»Oh. Richtig. Natürlich. Sollte ein Witz sein«, sagte Sam rasch, um seinen Ausrutscher zu überspielen. Er ging zurück in sein Zimmer, wo er Nuks zusammengerollt beim Fenster liegend fand.

»Du hast mir keinen einzigen Doughnut übrig gelassen?«, fragte er, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Der Marderhund hob träge den Kopf. »Du wolltest auch welche?«, fragte er treuherzig.

»Natürlich. Aber du hast beim Putzen geholfen – du hast sie dir verdient.« Sam zuckte mit den Schultern. »Ich muss mich dann eben mit einem Müsliriegel begnügen.«

Nuks’ Augen weiteten sich schuldbewusst. »Du wolltest auch einen?«

Nicht zehn, sondern zwanzig Minuten später verließen Sam und Ettie endlich das Haus, um zur Schule zu fahren. Tashi wartete bereits geduldig beim Wagen, so wie sie es jeden Tag tat, seit Sam seiner Mutter vorgeschlagen hatte, das neue Mädchen doch mitzunehmen. Ettie fand diesen Vorschlag süß und dachte seitdem, dass Sam sich verliebt hätte. Sams hartnäckiges Abstreiten bestärkte Ettie nur in ihrer Annahme. Die falsche Vermutung seiner Mutter hatte allerdings auch etwas Gutes, denn jetzt sprach sie zumindest nicht mehr von Nerida Nyx, als wäre sie seine zukünftige Frau. Nerida war eine Sandkastenfreundin von Sam, deren Mutter zufällig Etties beste Freundin war. Ettie hatte Sam immer gnadenlos wegen Nerida geneckt, sodass dies eine nette, wenn auch nervige Abwechslung war.

»Entschuldige die Verspätung, Tashi«, sagte Ettie atemlos, während sie ihren Schlüssel aus der Tasche kramte und den Wagen aufschloss. »Der Morgen war heute schon ziemlich hektisch.«

Tashi setzte sich auf den Beifahrersitz und Sam stieg hinten ein. Als Ettie mit leichtem Reifenquietschen aus der Einfahrt fuhr, blickte Tashi zu Sams Mutter hinüber. »Werden Sie am Montag wieder so spät kommen?«, fragte sie sachlich.

»Wie bitte?«, entgegnete Ettie überrascht.

»Wir werden pünktlich sein, versprochen«, meldete sich Sam rasch in dem Versuch, eine unangenehme Situation zu vermeiden. Seine Mutter schaute ihn im Rückspiegel an und er zuckte mit den Schultern.

»Das ist gut«, meinte Tashi, »denn es ist weder ehrenhaft noch respektvoll, sich zu verspäten.«

»Wie bitte?« Etties Ton klang jetzt deutlich gereizter, weshalb Sam sich erneut einmischte.

»Alles gut, Mom, das ist wieder nur so eine kulturelle Sache.« Das war seine Standardentschuldigung für Tashis merkwürdiges Verhalten.

»Oh, richtig«, erwiderte Ettie. »Natürlich.«

Tashi drehte sich zu Sam um. »Ich glaube nicht, dass es …«

Sam blickte sie bittend an und legte einen Finger auf die Lippen. Tashi verstand. Sie wandte sich wieder an Ettie und versuchte die Wogen zu glätten.

»Danke fürs Mitnehmen, Mrs London«, sagte sie mit ihrem typischen kleinen Lächeln. Und verlegen fügte sie hinzu: »Sie sehen heute … sehr hübsch aus.«

Ettie lächelte. »Danke, Tashi.« Sam gab Tashi mit dem Daumen das Okay-Zeichen, was diese mit einem Nicken quittierte. »Du siehst auch hübsch aus«, fuhr Ettie fort. »Nicht wahr, Sam?«

Sams Erleichterung verpuffte so schnell, wie sie gekommen war, und er musste gegen das Rotwerden kämpfen. Das war ein typischer Ettie-Trick, mit dem sie Sam zwang, einem Mädchen in seinem Alter ein Kompliment zu machen. Früher hatte sie das ständig im Beisein von Nerida getan und immer war daraus eine peinliche Situation entstanden. Was konnte Sam denn anderes tun, als zuzustimmen?

»Ja, stimmt«, bestätigte er deshalb.

Sofort wandte Tashi sich wieder Sam zu. Sie wirkte überrascht und ihr typisches kleines Lächeln wurde etwas breiter. Ettie fing Sams Blick im Rückspiegel auf und zwinkerte ihm zu. Sie glaubte offenbar, sie hätte gerade ihren Teil dazu beigetragen, dass ihr Sohn bei seinem neuen Schwarm Pluspunkte sammeln konnte.

Es gelang Sam, für den Rest der Fahrt weitere erzwungene Komplimente zu vermeiden, und nach dem Aussteigen ging er schnurstracks zum Schultor. Tashi folgte mit ein paar Schritten Abstand. Er hatte sich damit abgefunden, dass die Wächterin ihm auf diese Weise folgte, da es immer noch besser war als am Anfang, als sie neben ihm hergegangen war und alle dachten, sie wären ein Paar. Seit ausgerechnet Nerida ihn gefragt hatte, ob das stimmte, reagierte er sensibel auf diese Vermutung. Er hätte es nie zugegeben, aber der Gedanke, dass Nerida glaubte, er hätte eine Freundin, gefiel ihm überhaupt nicht. Natürlich war er noch nicht ganz so weit, sich selbst einzugestehen, wieso ihm der Gedanke nicht gefiel.

Leider schienen die paar Schritte Abstand zwischen ihnen nicht allen Spekulationen ein Ende gesetzt zu haben.

»Sam und Tashi sitzen auf ’nem Baum, was seh ich da, ich glaub es kaum, sie k-ü-s-s…«, sangen drei Mädchen frotzelnd. Bevor sie weitersingen konnten, blieb Tashi stehen und unterbrach sie.

»Sitzen auf ’nem Baum?«, wiederholte die Wächterin fragend und fügte dann rasch hinzu: »Wenn ihr auf die Zeit anspielt, als ich an einem Ort, den ihr Stadtpark nennt, in einem Baum gelebt habe, kann ich euch versichern, dass Sam nicht …«

Bevor sie weiterreden und sie beide in Verlegenheit bringen konnte, zog Sam sie schnell weg. Die Wächterin war eine Respekt einflößende Kämpferin, aber sie hatte keine Ahnung von alltäglichem menschlichen Verhalten, und so war ihr absolut nicht bewusst, dass die drei Mädchen sie mit dem Lied nur in Verlegenheit bringen wollten.

»Ignoriere sie einfach, Tashi«, riet Sam ihr. »Sie versuchen nur, dich zu ärgern.«

»Mich ärgern?«, wiederholte sie verwirrt.

»Genau. Sie wollen, du weißt schon, dass du dich schlecht fühlst. Sie wollen deine Gefühle verletzen …«

»Mit Worten?«, fragte sie. Es war offensichtlich, dass sie nicht verstand, was er damit meinte. Sam nickte. »Aber sie sind keine Todesfeen?«

Sam musste ein Lachen unterdrücken. »Nein, Tashi, sie sind keine Todesfeen. Mach dir einfach keine Gedanken darüber, okay? Das ist nur so eine blöde Menschensache.«

Tashi nickte, als verstünde sie plötzlich. »Ah, ja, wie die Mädchen, die ihre Gesichter bemalen, obwohl sie nicht in den Krieg ziehen.«

»Hm … so ähnlich, ja.« Sam arrangierte sich so langsam mit der Tatsache, dass es Dinge in seiner Welt gab, die Tashi nie wirklich verstehen würde. Aber das war in Ordnung. Es gab ja auch jede Menge in Tashis Kultur und Welt, das er wahrscheinlich nie wirklich verstehen würde.

»Hast du etwas von Dr. Vantana gehört?«, fragte Tashi, als sie das Schulgebäude betraten.

»Noch nicht«, antwortete Sam enttäuscht, bevor er sich von Tashi trennte und zu seinem Schließfach ging.

»Sei aufmerksam und wachsam«, rief sie ihm wie jeden Tag nach. Er gab ihr ein müdes Okay-Zeichen, ohne sich noch mal umzudrehen.

Als Sam an seinem Schließfach ankam, war er überrascht – und ein wenig enttäuscht –, dass Nerida nicht da war. Ihr Schließfach war gleich neben seinem und sie stand sonst jeden Morgen zur selben Zeit davor. Bei jeder anderen Schülerin wäre das Fehlen kaum aufgefallen, doch Nerida fehlte nie. So lange Sam denken konnte, war sie jedes Jahr dafür ausgezeichnet worden, dass sie keinen einzigen Tag gefehlt hatte. Vielleicht hatte sie sich heute ja verspätet oder war schon in ihr Klassenzimmer gegangen. Wahrscheinlich würde er sie einfach in der Mittagspause in der Bibliothek sehen. In letzter Zeit hatte er die Mittagspausen dort verbracht und sich über magische Wesen informiert, um für seine nächste Mission optimal vorbereitet zu sein. Und an Fisch-Freitagen war auch Nerida immer dort anzutreffen. Offenbar war sie schrecklich allergisch gegen Meeresfrüchte und machte an diesen Tagen lieber einen großen Bogen um die Cafeteria. Ohne Nerida, die ihn in ein Gespräch verwickeln konnte, schnappte sich Sam nur schnell seine Bücher aus dem Schließfach und ging dann rasch weiter, um seinen Schultag zu beginnen.

Sams letzte Stunde vor der Mittagspause war Englisch bei Mr Canis. Er war die menschliche Wiedergeburt von Sams Hundemenschenfreund Chriscanis, der nach einem mutigen, aber tödlichen Kampf mit der Bestie von Gevaudan zu Gaia zurückgekehrt war. Mr Canis war mit der ersten Hälfte seiner Unterrichtsstunde gerade durch, als es endlich geschah.

»Sam?« Eine gedämpfte Stimme riss Sam aus seinem Tagtraum. Mit einem Ruck setzte er sich auf und blickte seinen Lehrer aufmerksam an.

»Ja?«

»Ja, was?«, erwiderte Mr Canis verwirrt.

»Sie haben meinen Namen gesagt«, antwortete Sam. Die ganze Klasse kicherte.

»Das habe ich nicht. Vielleicht hast du mich falsch verstanden.«

»Oh … Entschuldigung«, entgegnete Sam verlegen. Er schob die Verwechslung auf seinen Tagtraum und konzentrierte sich wieder auf den Unterricht.

»Sam?« Die gedämpfte Stimme rief erneut seinen Namen. Dieses Mal klang sie besorgt. Mit einem Schlag war Sam klar, dass die Stimme nicht von seinem Lehrer kam und auch nichts mit seinem Tagtraum zu tun hatte. Sie kam aus der IMW-Dienstmarke in seiner Schultasche. Hastig suchte er nach dem kleinen Gerät, bevor die Stimme von Dr. Vantana erneut ertönen konnte. Leider zog er die Marke genau in dem Moment aus der Tasche, als der Doktor beschloss, es ein drittes Mal zu versuchen, und diesmal sehr laut »Sam London!« rief.

Fast wäre Sam die Dienstmarke aus der Hand gefallen. Vantanas Stimme klang nicht mehr besorgt, sondern ärgerlich. Die ganze Klasse starrte Sam an. Die meisten waren schockiert über diesen ungeheuerlichen Regelverstoß, während einige wenige aufgeregt auf die bevorstehende Konfrontation mit Mr Canis warteten, als wäre das Ganze eine spannende Sportveranstaltung. Sam hob die Marke rasch an seinen Mund und flüsterte: »Moment noch.«

»Mr London – gibt es ein Problem?«, fragte Mr Canis. Er ging um seinen Schreibtisch herum und kam auf Sam zu.

»Nein, Sir, aber kann ich bitte kurz zur Toilette?«

»Was hast du da in der Hand?«, wollte der Lehrer wissen.

»In meiner Hand? Äh … n-n-nichts«, stammelte Sam.

»Zeig es mir, bitte«, verlangte Mr Canis streng. Sam spürte einen Knoten im Bauch, als er dem Lehrer die Dienstmarke reichte und dabei inständig hoffte, dass sie stumm blieb. Mr Canis nahm die Marke und betrachtete sie von allen Seiten.

»Es ist nur ein Spielzeug. Ich muss vergessen haben, es auszuschalten«, erklärte Sam in der Hoffnung, dass der Lehrer das Interesse daran verlor. Doch Mr Canis schien seltsam fasziniert davon.

»Ein Spielzeug?«, wiederholt er zweifelnd. Sein Blick fand die Aufschrift der Marke. »Institut für …«

»Darf ich bitte zur Toilette?«, unterbrach ihn Sam. Er fürchtete, der Doktor könnte sich jeden Augenblick erneut melden. »Es ist wirklich dringend. Alarmstufe drei!«, fügte er leise hinzu.

Das entlockte dem Lehrer ein Lächeln. »Oh je, wenn das so ist, beeilst du dich besser.«

Sam erhob sich und wies auf die Marke. »Darf ich?« Mr Canis betrachtete seinen Schüler skeptisch. »Sie sehen es auch nie wieder. Versprochen. Geben Sie mir eine zweite Chance?«, fügte Sam mit einem flehenden Lächeln hinzu. Mr Canis überlegte kurz und gab die Marke dann zögernd zurück.

»Keine dritten Chancen.«

»Daran würde ich im Traum nicht denken«, erwiderte Sam ernst.

Kaum hatte er die Toilette erreicht, zog Sam die Dienstmarke aus der Tasche und drückte auf die glänzende Metalloberfläche.

»Dr. Vantana? Bist du noch da? Hier spricht Sam London.«

Einen Augenblick später meldete sich der Doktor mit seinem typischen Südstaatenakzent. »Entschuldige, Sam. Ich habe vergessen, dass du in der Schule bist. Soll ich später noch mal anrufen?«

Sam hatte schon viel zu lang darauf gewartet, etwas von dem Doktor zu hören – noch länger würde er auf gar keinen Fall warten.

»Nein, ist okay. Wie kann ich helfen?«

»Na ja, wir haben uns da in eine … Situation hineinmanövriert …«

»Was für eine Art Situation?«

»Die Art, die es bis in die Nachrichten geschafft hat. Wir haben einen neuen Fall, Kleiner, und ich bin auf dem Weg zu dir.«