Buch
Die Welt schaut gebannt nach Rom, denn dort, in der Sixtinischen Kapelle, wird ein neuer Papst bestimmt. Doch ein Platz in den Reihen bleibt leer – einer der Kardinäle ist auf dem Weg nach Malta, um dort ein Dokument zu finden, das die jahrtausendealte Ordnung umstürzen könnte. Währenddessen sucht Cotton Malone am Comer See nach den legendären Briefen zwischen Churchill und Mussolini, die 1945 verschwanden. Doch seine Suche weckt die Aufmerksamkeit der mysteriösen Ritter des Malteserordens. Und die haben ihre Finger auch in der anstehenden Papstwahl und sind bereit, für ihre Ziele über Leichen zu gehen …
Der Autor
Steve Berry war viele Jahre als erfolgreicher Anwalt tätig, bevor er seine Leidenschaft für das Schreiben entdeckte. Mit jedem seiner hochspannenden Thriller stürmt er in den USA die Spitzenplätze der Bestsellerlisten und begeistert Leser in über 50 Ländern. Steve Berry lebt mit seiner Frau in St. Augustine, Florida.
Von Steve Berry bereits erschienen
Die Napoleon-Verschwörung, Das verbotene Reich, Die Washington-Akte, Die Kolumbus-Verschwörung, Das Königskomplott, Der Lincoln-Pakt, Antarctica, Geheimakte 16, Plan Zero, Der Goldene Zirkel, Das Memphis-Dossier, Die Vatikan-Intrige
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Steve Berry
DIE
VATIKAN-INTRIGE
Thriller
Aus dem Amerikanischen
von Wolfgang Thon
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
»The Malta Exchange« bei Minotaur Books, New York.
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Copyright © der Originalausgabe 2019 by Steve Berry
Published by Arrangement with MAGELLAN BILLET INC.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Hannover.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Blanvalet Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Werner Bauer
Umschlaggestaltung © Johannes Frick unter Verwendung von
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JB · Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-24142-1
V001
www.blanvalet.de
Für Elizabeth. Meine Frau. Mein Leben.
Hinweis:
Sämtliche kursiv gesetzten »Zitate« entstammen der nach dem Schweizer Prediger Franz Eugen Schlachter (1859–1911) benannten Schlachter-Bibel; dieser hat die Heilige Schrift zu Beginn des 20. Jahrhunderts neu übersetzt. (Die zitierte Bibel-Ausgabe ist 1951 erschienen.)
Man muss nicht an Gott glauben, um ein guter Mensch zu sein.
Das traditionelle Gottesbild ist in gewisser Weise in die Jahre gekommen.
Es ist möglich, spirituell, aber nicht religiös zu sein.
Es ist nicht nötig, zur Kirche zu gehen und Geld zu spenden.
Vielen kann die Natur eine Kirche sein.
Im Laufe der Geschichte gab es unter den besten Menschen etliche, die nicht an Gott glaubten. Andererseits wurden einige der schlimmsten Verbrechen in seinem Namen begangen.
Papst Franziskus I.
Prolog
Samstag, 28. April 1945
Comer See, Italien
15.30 Uhr
Benito Amilcare Andrea Mussolini wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Er wusste es, seit Partisanen der 52. Garibaldi-Brigade am Tag zuvor seinen Zug nach Norden blockierten und den deutschen Wehrmachtskonvoi stoppten, der ihn bei seiner Flucht in Richtung Schweiz eskortiert hatte. Der kommandierende Zugführer hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass er des Kämpfens müde war und beabsichtigte, den näher rückenden amerikanischen Truppen aus dem Weg zu gehen, um ohne weitere Zwischenfälle ins Dritte Reich zurückzukehren. Was erklärte, wie es möglich war, dass ein gefällter Baum und dreißig zerlumpte Partisanen ausreichten, um 300 voll bewaffnete deutsche Berufssoldaten gefangen zu nehmen.
Einundzwanzig Jahre lang hatte er über Italien geherrscht, doch als die Alliierten Sizilien einnahmen und danach das Festland besetzten, nutzten seine faschistischen Mitstreiter sowie König Viktor Emanuel III. die Gelegenheit, ihn zu entmachten. Um ihm das Gefängnis zu ersparen, brauchte es einen Hitler, der ihn als Chef der italienischen Sozialrepublik mit Sitz in Mailand einsetzte. Es war nichts weiter als ein deutsches Marionettenregime, das den Anschein von Macht aufrechterhalten sollte. Aber auch damit war es jetzt vorbei. Die Alliierten waren nach Norden vorgerückt und hatten Mailand eingenommen, was ihn dazu gezwungen hatte, noch weiter nach Norden an den Comer See zu fliehen, nur wenige Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt.
»Es ist ein ruhiger Tag«, sagte Clara zu ihm.
In seinem Leben hatte es unzählige Frauen gegeben. Seine Frau fand sich mit den Geliebten ab, weil eine Scheidung keine Option für sie war. Vorwiegend aus religiösen Gründen, aber was hätte sie auch davon gehabt, die Exfrau des Duce zu sein?
Nicht viel.
Unter all seinen Affären nahm Claretta Petacci jedoch einen besonderen Platz ein. Altersmäßig trennten sie achtundzwanzig Jahre, aber irgendwie verstand sie ihn. Stellte ihn nie infrage, hinterfragte ihn nie, liebte ihn unbeirrt. Sie war aus eigenem Antrieb nach Como gekommen, um ihn ins Exil zu begleiten.
Doch das Schicksal arbeitete gegen sie.
Die Russen beschossen Berlin; die Briten und Amerikaner marschierten durch Deutschland, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. Das Dritte Reich lag in Trümmern. Hitler hockte in einem Bunker unter den Trümmern seiner Hauptstadt. Die Achse Rom – Berlin war zusammengebrochen. Dieser verdammte Krieg, den man gar nicht hätte führen dürfen, näherte sich dem Ende.
Und sie hatten verloren.
Clara stand gedankenverloren am offenen Fenster. Von ihrem hochgelegenen Aussichtspunkt aus sah sie in der Ferne den See und die Berge auf der anderen Seite. Sie hatten die Nacht in diesem bescheidenen Haus verbracht, ihr Zimmer hatte einen Steinfußboden und war mit einem einfachen Bett und ein paar Stühlen ausgestattet. Kein Feuer brannte im Herd, das einzige Licht stammte von einer nackten Glühbirne, die blendend hell vor der gekalkten Wand strahlte. Sein Leben war für lange Zeit von Luxus und Genuss erfüllt gewesen, deshalb entbehrte es für ihn nicht einer gewissen Ironie, dass er und Clara – die einst im opulenten Überfluss des Palazzo Venezia Trost in den Armen des anderen gefunden hatten – sich schließlich im Bett eines Bauernhauses mitten in den einsamen italienischen Bergen wiederfanden.
Er ging zum Fenster und stellte sich neben sie. Auf dem Fensterbrett lag eine dicke Staubschicht. Sie hielt seine Hand, als ob er ein Kind wäre.
»Vor sieben Jahren«, sagte er auf Italienisch, »war ich ein interessanter Mensch. Jetzt bin ich nicht viel mehr als eine Leiche, ein Kadaver.«
Seine Stimme klang unheilschwanger und apathisch.
»Du bist immer noch wichtig«, erklärte sie.
Er lächelte matt. »Ich bin fertig. Mein Stern ist gesunken. Ich habe keine Kraft mehr zum Kämpfen.«
In letzter Zeit war er immer wütender und aggressiver geworden, dabei aber ganz untypisch unentschlossen gewesen. Nur hier und da hatte sich seine Überheblichkeit voller Zorn Luft gemacht. Niemanden interessierte mehr, was er tat, was er dachte oder sagte.
Ausgenommen Clara.
Am Nachmittag war es bedeckt, in der Ferne waren Schüsse zu hören. Die verdammten Rebellen machten einen Schießstand aus der ländlichen Gegend und säuberten alle Rückzugsorte der Faschisten. Weiter unten entdeckte er einen Wagen, der, aus Richtung Azzano kommend, die gewundene schmale Straße herauffuhr. Er und Clara waren in den frühen Morgenstunden hergebracht worden. Warum? Er wusste es nicht. Aber zwei bärtige Partisanen, die Schirmmützen mit einem roten Stern trugen und Maschinengewehre schwenkten, hatten sie seitdem streng bewacht.
Als ob sie auf etwas warteten.
»Du hättest nicht herkommen sollen«, sagte er zu ihr.
Sie drückte seine Hand. »Mein Platz ist an deiner Seite.«
Er bewunderte ihre Loyalität und wünschte sich, seine Schwarzhemden besäßen auch nur einen Bruchteil davon. Unter seinem Fenster ging es etwa fünf Meter in die Tiefe, doch er stellte sich vor, viel höher zu stehen, wie 1936 auf dem Balkon des Palazzo Venezia zur Feier des grandiosen italienischen Sieges über Abessinien. An jenem Tag hatten sich vierhunderttausend Menschen auf der Piazza gedrängt. Stürmisch, ausgelassen und fanatisch. Duce, Duce, Duce, schrien sie damals, und er hatte sich in der Hitze ihrer Massenhysterie gesuhlt.
Was für ein Lebenselixier!
Doch wie wenig Cäsarenhaftes hatte er jetzt noch in sich?
Seine Markenzeichen – Kahlkopf und Schmerbauch – waren ihm geblieben, doch seine Augen waren gelblich geworden und sein Blick immer gehetzter. Er trug seine Uniform. Ein schwarzes Hemd, ein grauer Umhang, Kniebundhosen mit roten Streifen an den Seiten, Schaftstiefel und eine einfache graue Feldmütze. Gestern, bevor die Partisanen ihn festsetzten, war er in den Mantel eines deutschen Gefreiten geschlüpft und hatte sich dessen Stahlhelm übergestreift – ein kläglicher Versuch, sich zu verkleiden.
Und dazu ein Fehler.
Das verriet Furcht.
Manche nannten ihn einen Clown, andere einen Abenteurer der Machtpolitik oder einen Hochstapler in einem riskanten, reaktionären Spiel. Die Europäer hatten ihn als den Mann bezeichnet, der dafür sorgte, dass die Züge pünktlich fuhren.
Doch er war nur Il Duce.
Der Führer.
Der jüngste Mann, der jemals über Italien herrschte.
»Ich erwarte das Ende dieser Tragödie«, sagte er. »Ich fühle mich auf eine seltsame Weise all diesen Dingen entrückt, bin kein Akteur mehr, sondern eher der letzte Zuschauer.«
Die Depressionen, unter denen er in letzter Zeit gelitten hatte, wallten wieder auf, und es kostete ihn große Mühe, sich nicht von ihnen überwältigen zu lassen.
Doch jetzt war keine Zeit für Selbstmitleid!
Das Auto röhrte die steilen Serpentinen zwischen dichten Zedern- und Tannengehölzen herauf, und sein Motor brummte immer lauter, je näher es dem Haus kam.
Er war müde, blass im Gesicht, und er brauchte eine Rasur. Auch war er ungewöhnlich nachlässig gekleidet, seine Uniform zerknittert und ungepflegt. Schwerer wog jedoch, dass er sich den Ereignissen ausgeliefert fühlte und panische Fluchtgedanken hegte.
Er hatte die Kontrolle verloren.
Unten stoppte der Wagen.
Auf der Fahrerseite stieg ein Mann in der blassblauen Uniform eines Hauptmanns der Luftwaffe aus. Sein brauner Kragen ließ erkennen, dass er zum Fernmeldebataillon gehörte. Seit gestern hatte ihn nur das unorganisierte Chaos der Partisanen umgeben. Dass es ihnen an Führung fehlte, hatte er am eigenen Leib im Rathaus von Dongo erlebt, wo man ihn zum ersten Mal verhaftet hatte. Keiner seiner Häscher wusste eigentlich, was man mit ihm anstellen sollte. Er hatte in einem verrauchten Raum gesessen, in dem alle durcheinanderredeten, und zugehört, wie über Radio Mailand das Ende des Faschismus verkündet und gefordert wurde, sämtliche Regierungsmitglieder festzusetzen.
Schwachköpfe. Allesamt.
Aber nichts im Vergleich zu den Deutschen.
Er hatte es so lange wie möglich vermieden, einen Pakt mit ihnen einzugehen. Hitler war ein Rohling. Mein Kampf – nichts als Unfug. Er mochte den verrückten Österreicher ebenso wenig, wie er ihm vertraute.
Schließlich war der Druck der öffentlichen Meinung jedoch zu stark geworden, um sich weiterhin darüber hinwegzusetzen, und so hatte er 1940 dem Kriegseintritt zugestimmt.
Ein schrecklicher Fehler.
Zum Teufel mit diesen arischen Mistkerlen. Nie wieder wollte er einen von ihren Uniformträgern sehen.
Doch da kam schon der nächste.
Der Uniformierte trat ins Haus und stieg die Treppe zum ersten Stock herauf. Er und Clara blieben am Fenster stehen, doch sie drehten sich um, als die Schlafzimmertür geöffnet wurde und der Uniformierte eintrat. Er erwartete, dass der Mann die Hacken zusammenschlug und salutierte, doch ihm wurde kein Respekt erwiesen. »Ich möchte mit Ihnen reden«, sagte der Neuankömmling stattdessen leise auf Italienisch. »Allein.«
Der Besucher war ein groß gewachsener dünner Mann mit einem langen Gesicht, großen Ohren und einem blassen Teint. Sein schwarzes Haar war mit Pomade zurückgekämmt, und den schmallippigen Mund zierte ein gestutzter Schnurrbart. Mussolini ging im Kopf der Reihe nach sämtliche miserablen Aspekte der Situation durch und überlegte sich eine Reaktion. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hätte es niemand gewagt, ihn so anzusprechen. Wer gefürchtet werden wollte, musste absolute und uneingeschränkte Autorität ausstrahlen. Deshalb war sein erster Gedanke, dem Neuankömmling die Tür zu weisen, doch das ungewisse Vakuum seiner gegenwärtigen Situation war stärker als sein Stolz.
»Warte draußen«, sagte er zu Clara.
Sie zögerte und wollte protestieren, doch er brachte sie mit erhobener Hand zum Schweigen. Sie widersetzte sich nicht länger, nickte und verließ das Zimmer.
Der Uniformierte schloss hinter ihr die Tür.
»Die Zeit ist knapp«, sagte der Mann. »Das Nationale Befreiungskomitee und das Freiwilligen-Freiheitskorps sind hinter Ihnen her.«
Beide bedeuteten Schwierigkeiten, insbesondere Letzteres, weil es vorwiegend aus Kommunisten bestand, die Italien schon seit Langem für sich selbst beanspruchten.
»Man hat beschlossen, Sie zu erschießen. Es ist mir gelungen, ihren Emissären zuvorzukommen, aber sie sind nicht mehr weit weg.«
»Und das ist alles Ihnen und Ihren Deutschen zu verdanken, die mich im Stich gelassen haben.«
Der Mann wühlte mit der rechten Hand in seiner Jackentasche und holte etwas heraus.
Einen Ring.
Er streifte ihn über den Mittelfinger seiner linken Hand und zeigte ihm die Inschrift. Sie bestand aus fünf Reihen mit Buchstaben, die in das mattierte Zinn geätzt waren.
SATOR
AREPO
TENET
OPERA
ROTAS
Jetzt begriff er.
Dies hier war kein gewöhnlicher Besucher.
Er hatte zu Zeiten seiner uneingeschränkten Herrschaft mit zwei Päpsten zu tun gehabt: Pius XI. und Pius XII. Der eine war entgegenkommender als der andere gewesen, aber beide waren ihm auf die Nerven gegangen. Bedauerlicherweise brauchte man, um Italien regieren zu können, die Rückendeckung der katholischen Kirche – was keine geringe Herausforderung darstellte. Doch es war ihm gelungen, sich mit der Kirche zu arrangieren und eine brüchige Allianz zu schmieden, die sich nun ebenfalls ihrem Ende näherte.
»Dieser Ring dürfte Ihnen bekannt sein«, sagte der Mann. »Er ist genau wie jener, den Sie dem Mann gestohlen haben, den Sie umbringen ließen.«
Jetzt wurde es noch klarer.
Eine kleine Gruppe von Europäern hatte im Jahr 1070 am Rand des christlichen Abendlandes ein Hospital gegründet und es Johannes dem Täufer gewidmet. So wurden sie zum Hospitalorden vom Heiligen Johannes von Jerusalem. Nach 850-jähriger Geschichte war der volle Name des Ordens inzwischen grotesk lang geworden:
Souveräner Ritter- und Hospitalorden vom Heiligen Johannes zu Jerusalem von Rhodos und von Malta.
Nicht gerade uneitel.
»Ich spreche für Seine Durchlaucht, den Prinzen und Großmeister persönlich«, sagte der Uniformierte. »Er bittet Sie noch einmal herauszugeben, was sich in Ihrem Besitz befindet.«
»Sind Sie wirklich ein deutscher Offizier?«, fragte er.
Der Mann nickte. »Doch ich war schon lange ein Ordensritter, bevor so etwas wie das Dritte Reich überhaupt existierte.«
Er lächelte.
Endlich ließ der Fremde die Maske fallen.
Dieser Mann war nichts weiter als ein Spion, was erklärte, warum seine Feinde diesen Abgesandten überhaupt zu ihm durchgelassen hatten.
»Sie behaupten, es seien Leute zu mir unterwegs. Für die Partisanen bin ich bedeutungslos. Den Deutschen mache ich nur Scherereien. Mein Tod nützt nur den Kommunisten. Also sagen Sie mir: Was haben Sie zu bieten, um denen ihr Vergnügen streitig zu machen?«
»Die Täuschungsmanöver, die Sie gestern versuchten, sind allesamt gescheitert.«
Es tat ihm leid, das zu erfahren.
Er war zunächst von Mailand nach Como geflohen, über die schmale, gewundene Straße, die sich am Seeufer entlangzog, und durch Dutzende winziger Dörfer gefahren, die sich an das stille Gewässer schmiegten. Cernobbio, Moltrasio, Tremezzo, Menaggio. Normalerweise leicht an einem halben Tag zu schaffen, aber diesmal hatte es viel länger gedauert. Er hatte damit gerechnet, dass ihn fünftausend Schwarzhemden erwarteten. Seine Soldaten. Doch nur zwölf hatten sich blicken lassen. Dann tauchte ein deutscher Konvoi aus achtunddreißig Lkw und dreihundert kampferprobten Soldaten auf, der sich nordwärts in Richtung Österreich bewegte. Er hatte die Karawane dazu gebracht, ihn aufzunehmen, und hoffte, sich so bis nach Chiavenna durchschlagen zu können. Dort wollte er sich von dem Zug trennen und die Schweiz ansteuern.
Aber so weit kam er gar nicht.
Die verdammten Deutschen wollten ihn jetzt im Tausch gegen eine sichere Passage ans Messer liefern.
Glücklicherweise war er nicht ohne Sicherheiten unterwegs. Gold und Juwelen aus dem italienischen Staatsschatz, dazu bündelweise Devisen und zwei Ledermappen voller wichtiger Papiere, Dossiers und Briefwechsel.
»Die Partisanen haben einen Teil Ihres Goldes«, sagte der Mann. »Das meiste davon haben die Deutschen in den See gekippt. Ihre beiden Mappen sind allerdings verschwunden. Befindet sich das, was ich haben will, in einer davon?«
»Weshalb sollte ich Ihnen das erzählen?«
»Weil ich Ihr erbärmliches Leben retten kann.«
Mussolini konnte nicht abstreiten, dass er gern weiterleben wollte. Doch etwas anderes war noch wichtiger: »Und Clara?«
»Sie kann ich auch retten.«
Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schob den Unterkiefer vor – eine so vertraute Geste. Dann lief er durchs Zimmer, und seine Stiefelsohlen schrammten über den rauen Steinfußboden. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er eine Aufwallung von Stärke in den Knochen.
»Der ruhmreiche Orden wird niemals untergehen«, sagte er. »Er ist wie die Tugend selbst, wie der Glaube. Ist das korrekt?«
»Das ist es. Der Comte de Marcellus hat vor der französischen Deputiertenkammer eine elegante Rede gehalten.«
»Ich erinnere mich, dass es ihm um die Rückgabe eines großen Landstriches ging, den die Krone den Rittern abgenommen hatte. Sein Vorhaben scheiterte, doch es gelang ihm, einen Souveränitätsstatus zugebilligt zu bekommen. So konnten die Ordensritter einen eigenen Staat in Frankreich gründen.«
»Und wir sind nicht untergegangen«, sagte der Mann.
»Sehr zu meinem Glück.« Er warf seinem Besucher einen finsteren Blick zu. »Bringen Sie mich von diesen Partisanen weg, dann können wir uns über Nostra Trinità unterhalten.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Sie verkennen womöglich den Ernst Ihrer Lage. Sie sind ein zum Tode Verurteilter und rennen mit jeder Lira und jeder Unze Gold, die Sie stehlen konnten, um Ihr Leben.« Er hielt inne. »Leider sind Sie damit gescheitert. Sie werden kommen, um Sie zu töten. Ich bin Ihre einzige Hoffnung. Ihnen bleibt keinerlei Spielraum zum Feilschen, es sei denn, Sie geben mir, was ich verlange.«
»In den beiden Ledermappen, die Sie erwähnten, habe ich Korrespondenzen, von denen die Briten ganz bestimmt nicht möchten, dass sie an die Öffentlichkeit gelangen.«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Das ist deren Problem.«
»Stellen Sie sich doch einmal vor, was die Ritter mit solch belastenden Informationen bewirken könnten.«
»Wir haben exzellente Beziehungen mit London. Ich will nur den Ring und die Dokumente, die Sie gestohlen haben.«
»Den Ring? Das ist doch nur ein Stück Metall.«
Der Uniformierte hob die Hand. »Uns bedeutet er viel mehr.«
Er schüttelte den Kopf. »Ihr Ritter seid doch nichts als Parias. Man hat euch aus Jerusalem hinausgeworfen, aus Zypern, Rhodos, Russland und Malta. Jetzt verkriecht ihr euch in zwei Palazzi in Rom und klammert euch an einen Ruhm, den es schon lange nicht mehr gibt.«
»Dann haben wir etwas gemeinsam.«
Mussolini grinste unwillkürlich. »Das stimmt.«
Durchs offene Fenster hörte er ein weiteres Fahrzeug näher kommen.
Sein Besucher bemerkte es ebenfalls.
»Sie sind da«, sagte der Mann.
Plötzlich wurde er von einer Entschlossenheit erfüllt, die noch durch die Tatsache verstärkt wurde, dass selbst den Kaisern des Heiligen Römischen Reiches, Napoleon und sogar Hitler persönlich verwehrt geblieben war, was ihm gelungen war.
Er hatte den Papst bezwungen.
Dass sich dieser Mann jetzt hier befand, war der handfeste Beweis seines Sieges.
»Fragen Sie Pius XII., wie es sich angefühlt hat, vor mir auf die Knie zu gehen«, sagte er.
»Ich bezweifle, dass das geschehen ist.«
»Nicht wortwörtlich. Doch im übertragenen Sinne hat er gekniet. Er wusste, was ich für seine kostbare Kirche tun konnte. Und was ich immer noch tun kann.«
Dies erklärte, weshalb sich der Vatikan nach außen niemals seiner Machtergreifung widersetzte. Selbst nachdem er die totale Kontrolle erlangt hatte, hatte die Kirche weiterhin geschwiegen und ihren immensen Einfluss nie genutzt, um das italienische Volk zum Aufstand zu bewegen – ein Glück, das keinem anderen König, keiner Königin und keinem Kaiser jemals so zuteilwurde.
Er deutete auf den Ring des Mannes. »Nicht anders als Sie sehe ich mich in meinen Stärken in der Tradition Kaiser Konstantins. Nur ihm und mir gelang der Sieg, wo alle anderen scheiterten.«
Draußen hatte das Fahrzeug inzwischen das Haus erreicht. Er hörte Türen knallen, als Leute ausstiegen.
»Sagen Sie Ihrem Großmeister, dass er es bedauern wird, mich nicht gerettet zu haben«, sagte er.
»Sie sind ein Narr.«
Er drückte den Rücken durch. »Ich bin der Duce.«
Der Mann in der deutschen Uniform wirkte unbeeindruckt und schüttelte den Kopf. »Leben Sie wohl, großer Führer«, sagte er und verließ mit diesen Worten den Raum.
Mussolini richtete sich kerzengerade auf und blickte zur offenen Tür. Wie viele Männer hatte er in den Tod geschickt? Tausende? Eher Zehntausende. Jetzt begriff er, wie hilflos sie sich in dem Moment gefühlt haben mussten, als ihr Schicksal besiegelt war.
Jemand stapfte die Treppe herauf.
Ein ihm unbekannter Mann betrat den Raum, ein drahtiger Kerl mit dunklen Augen und düsterer Miene, der eine Maschinenpistole in den Händen hielt. »Ich bin hier, um Sie zu befreien.«
Er glaubte ihm kein Wort, spielte aber mit. »Welch ein Glück.«
»Wir müssen hier weg. Sofort.«
Jetzt erschien Clara. Sie kam ins Zimmer, ging zum Bett und suchte zwischen den Laken.
»Was suchen Sie da?«, fragte der Mann.
»Meinen Schlüpfer.«
»Lassen Sie das. Dafür ist keine Zeit. Wir müssen gehen.«
Mussolini nahm sie sanft am Arm und signalisierte ihr, dass sie aufbrechen mussten. War ihr überhaupt bewusst, was gleich geschehen würde? Er bezweifelte es, weil sie sich, wie stets, mehr um ihn als um sich selbst zu sorgen schien.
Sie stiegen hinunter ins Erdgeschoss, verließen das Haus und setzten sich auf die Rückbank eines lädierten Fiats. Hinter dem Steuer saß schon ein Fahrer. Der Mann mit der Maschinenpistole stieg nicht ein, er stellte sich rechts aufs Trittbrett und richtete seine Waffe in den Innenraum.
Langsam fuhr das Auto die steile Straße zum Dorf hinunter. Weiter hinten folgten zu Fuß die beiden Wachen von letzter Nacht. Sie alle umrundeten im Schritttempo eine Haarnadelkurve, doch beschleunigte der Fiat, als die Straße danach geradeaus weiterging. Die Reifen zischten auf der feuchten Straße. Der Mann, der sich draußen ans Fahrzeug klammerte, befahl dem Fahrer, auf der schmalen und steilen Straße in der Aussparung vor einem Eisentor zu halten, die etwa fünf Meter breit und zwei Meter tief war. Das Tor blockierte eine Einfahrt und war an zwei großen Betonpfeilern eingehängt, links und rechts davon verliefen nach innen gebogene, etwa hüfthohe Mauern, die oben mit Buschwerk bewachsen waren.
Der Mann mit der Maschinenpistole sprang vom Trittbrett und öffnete die Wagentüren. Der Fahrer stieg aus. Befehle wurden geschrien und zwei andere bewaffnete Männer gingen in Position, einer vorne und einer hinten an der Straße. Bäume und die scharfe Kurve verhinderten, dass die Szene von den Häusern in Azzano aus beobachtet werden konnte.
»Aussteigen«, befahl jemand.
Claras Gesicht bekam einen gequälten Ausdruck, ihre Blicke irrten umher wie bei einem verängstigten Vogel.
Mussolini stieg aus.
Sie folgte ihm.
»Dorthin!«, sagte der Mann und schwenkte den Lauf seines Gewehrs in Richtung des Eisentors.
Mussolini ging gleich zur Wand und baute sich davor auf. Clara kam und stellte sich an seine Seite. Er wollte nicht denselben Fehler wie gestern begehen. Er würde keine Angst haben. Wenn später von dem berichtet wurde, was gleich geschehen sollte, würden sie lügen müssen, um ihn als Feigling dastehen zu lassen.
»Benito Mussolini, Sie sind ein Kriegsverbrecher. Das italienische Volk hat Sie dafür zum Tode verurteilt.«
»Nein. Das dürfen Sie nicht«, schrie Clara. »Das können Sie nicht machen.«
Sie klammerte sich an seinen Arm.
»Gehen Sie von ihm weg!«, befahl der Mann. »Gehen Sie weg, oder Sie sterben auch.«
Sie wich nicht von der Stelle, und der Mann drückte den Abzug.
Nichts geschah.
Der Schütze rüttelte am Schussbolzen und versuchte die Ladehemmung zu beseitigen. Clara schrie erneut, warf sich nach vorn und packte den Lauf der Maschinenpistole mit beiden Händen.
»Sie können uns doch nicht einfach so umbringen«, kreischte sie.
»Gib mir dein Gewehr!«, brüllte der Mann.
Eine der beiden anderen Wachen kam zu ihm gerannt und warf ihm eine Waffe zu. Der Schütze ließ das Gewehr los, das Clara festhielt, und fing die Ersatzwaffe auf.
Mussolini begriff, dass seine Stunde gekommen war.
Energie durchströmte ihn, und er versuchte gar nicht erst, wegzulaufen oder sich zu wehren.
Stattdessen riss er mit beiden Händen seine Jacke auf und schob die Brust nach vorn wie einen Schiffsbug. Hinter den drei Männern, die gekommen waren, um ihn umzubringen, sah er den Ritter in der deutschen Uniform die Straße hinuntergehen. Ganz entspannt, ohne Hast. Die drei anderen kümmerten sich nicht um ihn. Der Uniformträger blieb stehen und beobachtete die Szene. Gut so. Sollte er doch zusehen.
»Magnus ab integro saeclorum nascitur ordo!«, rief Mussolini.
Er bezweifelte, dass einer dieser Narren Latein verstand.
Die große Ordnung der Zeitalter wird von Neuem geboren.
Die Maschinenpistole ratterte.
Clara wurde als Erste getroffen und stürzte zu Boden. Ihm brach das Herz, als er sie sterben sah. Die nächsten Schüsse galten ihm. Drei trafen ihn in den Bauch, vier weitere in die Beine. Seine Knie gaben nach, und er sackte in eine sitzende Position.
Er richtete den Blick auf den Ritter und sagte mit der letzten Kraft, die er aufbieten konnte: »Es ist … noch nicht … vorbei.«
Blut strömte aus seinem Mund.
Seine linke Schulter senkte sich, und er fiel auf das feuchte Kopfsteinpflaster. Er starrte in den Wolkenhimmel hinauf. Noch lebte er. Der Korditgestank hing schwer in der feuchten Luft. Eine der Wachen baute sich über ihm auf und richtete den Lauf der Waffe nach unten.
Er konzentrierte sich auf das schwarze Loch.
Es war wie der Punkt am Ende eines Satzes.
Dann fiel der Schuss.
GEGENWART
1
Dienstag, 9. Mai
Comer See, Italien
08.40 Uhr
Cotton Malone betrachtete den Ort, an dem die Exekution stattgefunden hatte.
Am Nachmittag des 28. April 1945 wurden kurz nach 16 Uhr Benito Mussolini und seine Geliebte Claretta Petacci nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, an der er jetzt stand, erschossen. Im Laufe der Jahrzehnte, die seither vergangen waren, war aus dem Eingang der Villa Belmonte am Rand einer schmalen Straße, die von Azzano aus etwa eine halbe Meile steil nach oben verlief, ein Wallfahrtsort geworden. Das Eisentor, die niedrige Mauer, selbst die gestutzte Hecke war noch dort; der einzige Unterschied zu damals war ein Holzkreuz auf einer Seite des Tores, auf dem Mussolinis Name und sein Todestag geschrieben standen. Auf der anderen Seite entdeckte er eine weitere Ergänzung: ein kleines verglastes Holzkästchen mit Fotografien von Mussolini und Claretta. Ein riesiger Kranz aus frischen Blumen hing am Eisenzaun über dem Kreuz. Auf dem Band stand: Egli vivrà per sempre nel cuore del suo popolo.
Er wird auf ewig im Herzen seines Volkes leben.
Unten im Dorf hatte man ihm den Weg zu der Stelle erklärt und ihm erzählt, dass es immer noch loyale Anhänger gab, die dem Ort die Ehre erwiesen, was erstaunlich war, wenn man bedachte, wie viel Brutalität man Mussolini nachsagte und dass seit seinem Tod bereits etliche Jahrzehnte vergangen waren.
In welch einer Zwickmühle hatte Mussolini gesteckt!
Italien quälte sich durch eine Übergangszeit. Die Deutschen hatten sich zurückgezogen, und die Partisanen strömten aus den Bergen herunter. Die Alliierten machten aus südlicher Richtung Druck und befreiten eine Stadt nach der anderen. Einzig der Norden und die Schweiz hatten Fluchtmöglichkeiten geboten.
Doch dazu war es nicht mehr gekommen.
Cotton stand in der kühlen Brise eines herrlichen Frühlingsmorgens.
Gestern war er mit der Nachmittagsmaschine aus Kopenhagen auf dem Flughafen Mailand-Malpensa gelandet und von dort aus mit einem gemieteten Alfa Romeo nordwärts an den Comer See gefahren. Er hatte sich den Sportwagen gegönnt, und es gab wohl niemanden, dem es nicht gefiele, einen Wagen mit einem 237-PS-Motor zu fahren, der es in vier Sekunden von null auf hundert schaffte. Im Rahmen einer verdeckten Operation des Magellan Billet war Cotton vor Jahren schon einmal in Como gewesen und damals in der hinreißenden Villa d’Este untergebracht worden, einem der besten Hotels der Welt. Diesmal würde sein Logis nicht annähernd so üppig ausfallen.
Er war als freischaffender Mitarbeiter mit einem Spezialauftrag des britischen Geheimdienstes unterwegs. Seine Zielperson war ein ortsansässiger Antiquitätenhändler, der kürzlich ins Visier des MI6 geraten war. Ursprünglich bestand seine Aufgabe aus einer einfachen An- und Verkaufsaktion. Weil er selbst mit seltenen Büchern handelte, brachte er eine gewisse Expertise mit, was Preisverhandlungen bei alten und raren Schriftstücken anbetraf. Doch neue Informationen, die erst im Laufe der vergangenen Nacht aufgekommen waren, hatten auf ein mögliches Versteck hingewiesen, weshalb die Aufgabe modifiziert worden war. Falls sich diese Informationen als zutreffend erwiesen, hatte er nun den Befehl, die Gegenstände zu stehlen.
Er wusste, wie es lief.
Ein Ankauf hinterließ zu viele Spuren und war bis zum gestrigen Tag die einzige Option des MI6 gewesen. Sofern sich das, was sie wollten, ohne Bezahlung in Besitz nehmen ließ, war dies der klügere Schachzug. Insbesondere, wenn man bedachte, dass sie etwas haben wollten, das dem Italiener, der es anbot, gar nicht gehörte.
Cotton machte sich keine Illusionen.
In den zwölf Jahren beim Magellan Billet und ein paar weiteren, in denen er als freier Mitarbeiter für verschiedene Geheimdienste tätig gewesen war, hatte er eine Menge gelernt. In diesem Fall wusste er, dass er dafür bezahlt wurde, einen Auftrag zu erledigen und alles auf die eigene Kappe zu nehmen, falls etwas schiefging. Grund genug, keine Fehler zu begehen.
Die Sache wirkte allerdings durchaus reizvoll.
Im August 1945 war Winston Churchill unter dem Decknamen Colonel Warden in Mailand eingetroffen. Angeblich, um an den Ufern des Comer Sees, am Gardasee und in Lugano Urlaub zu machen. Was an sich keine schlechte Entscheidung war, weil die Menschen bereits seit Jahrhunderten zu den kristallklaren Alpenseen fuhren. Der Gebrauch eines Decknamens sicherte zwar ein gewisses Maß an Privatheit, zu jenem Zeitpunkt war Churchill allerdings nicht mehr britischer Premierminister, weil er die Wahlen schmählich verloren hatte.
Den ersten Halt hatte er an dem Friedhof in Mailand eingelegt, wo man Mussolini hastig verscharrt hatte. Er hatte mehrere Minuten mit dem Hut in der Hand am Grab gestanden, was etwas seltsam war, da es sich bei dem Verstorbenen um einen brutalen Diktator und Kriegsgegner handelte. Danach war er weiter nordwärts nach Como gereist und in einer Villa am Seeufer abgestiegen. Im Laufe der nächsten paar Wochen sahen ihn Einheimische draußen bei der Gartenarbeit, beim Angeln oder beim Malen. Damals verschwendete niemand allzu viele Gedanken darauf, doch Jahrzehnte später sahen sich Historiker die Reise genauer an. Der britische Geheimdienst wusste selbstverständlich schon seit Langem, was Churchill im Schilde führte.
Es ging um Briefe.
Genauer gesagt, um einen Briefwechsel zwischen ihm und Mussolini.
Sie waren zu den Zeiten von Mussolinis Verhaftung verloren gegangen und gehörten zu einer Sammlung von Dokumenten in zwei Ledermappen, die nach dem 27. April 1945 nicht mehr gesehen wurde. Es gab Gerüchte, dass die Mappen von örtlichen Partisanen konfisziert worden waren. Manche behaupten, sie seien den Kommunisten übergeben worden. Andere hatten die Deutschen im Verdacht. Einer weiteren Theorie zufolge waren sie im Garten der Villa vergraben worden, die Churchill gemietet hatte.
Niemand wusste etwas Genaueres.
Doch im August 1945 war etwas vorgefallen, das Winston Churchill dazu gebracht hatte, sich persönlich einzuschalten.
Cotton stieg wieder in den Alfa Romeo und fuhr weiter die steile Straße hinauf. Die Villa bzw. das vermeintliche Bauernhaus, wo Mussolini und seine Geliebte ihre letzte Nacht verbracht hatten, stand noch irgendwo in der Nähe. Er hatte die vielen widersprüchlichen Berichte über die Ereignisse jenes schicksalhaften Samstags gelesen. Die Historiker hatten längst noch nicht alle Fragen geklärt. Insbesondere war der Name des Schützen inzwischen nicht mehr zweifelsfrei bekannt. Inzwischen gab es mehrere Männer, die diese Ehre für sich in Anspruch nahmen, doch niemand wusste genau, wer den Finger am Abzug gehabt hatte. Noch rätselhafter war, was aus dem Gold, den Juwelen, den Devisen und den Dokumenten geworden war, die Mussolini hatte mit in die Schweiz nehmen wollen. Die größte Einigkeit bestand über den Punkt, dass ein Teil des Vermögens im See versenkt worden war, weil ortsansässige Fischer dort nach dem Krieg Gold gefunden hatten. Was allerdings die Dokumente betraf, war niemals ein bedeutender Fund ans Licht der Welt gelangt – bis vor zwei Wochen, als bei der britischen Botschaft in Rom eine E-Mail mit einem gescannten Brief Churchills an Mussolini einging.
Es folgten noch mehr E-Mails mit vier weiteren Scans. Für die fünf Briefe war bisher kein Verkaufspreis genannt worden, deshalb zahlte man Cotton 50.000 Euro für die Reise nach Como, sein Verhandlungsgeschick und die sichere Rückgabe jener fünf Briefe.
Die Villa, die er suchte, befand sich auf einer Felsklippe, nur ein kleines Stück von der Straße entfernt, die weiter bis zur nur sechs Meilen entfernten Schweizer Grenze verlief. Ringsumher erstreckten sich Wälder, in denen sich während des Krieges Partisanen versteckt hielten, die von dort aus einen unerbittlichen Guerillakrieg gegen die Faschisten und die Deutschen führten. Ihre erfolgreichen Aktionen waren legendär, allen voran der unerwartete Erfolg der Gefangennahme von Mussolini persönlich.
Für Italien endete der Zweite Weltkrieg an dieser Stelle.
Er fand die Villa zwischen hohen Bäumen. Ein bescheidener, zweigeschossiger Kasten mit angeschimmelten Wänden und einem spitzen Schieferdach. In den vielen Fenstern spiegelte sich der volle Glanz der frühen Morgensonne, und der gelbliche Kalkstein schien im blendend hellen Licht zu verblassen. Der gepflegte Hof wurde von Zypressen gesäumt, mit einem Formschnitt, wie er bei den Häusern rings um den Comer See obligatorisch zu sein schien.
Cotton parkte vor dem Haus, stieg aus und wurde von einer tiefen Stille empfangen.
Hinter der Villa ging es weiter hinauf ins Vorgebirge, wo die Straße ihren gewundenen Anstieg fortführte. Ostwärts und zwischen den in frischem Frühlingsgrün sprießenden Bäumen entdeckte er die dunkelblaue Oberfläche des Sees, der etwa eine halbe Meile entfernt und eine Viertelmeile tiefer lag. Auf seiner spiegelnden Oberfläche bewegten sich Boote hin und her. Die Luft war hier spürbar kälter, und er roch die Glyzinien aus dem nahe gelegenen Garten.
Er wandte sich zur Eingangstür und wurde hellwach.
Die schwere Holztür stand leicht offen.
Weißer Kies knirschte unter seinen Sohlen, als er die Einfahrt überquerte. Kurz vor dem Eintreten hielt er an. Er versetzte der Tür einen leichten Stoß, um sie weiter zu öffnen, ohne die Türschwelle übertreten zu müssen. Keine Alarmanlage schlug an, und es kam auch niemand. Doch sein Blick fiel sofort auf den Körper, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Terrazzoboden lag. An einer Seite hatte sich eine dunkelrote Lache gebildet.
Cotton war unbewaffnet. Nach Auskunft seines Informanten hätte das Haus leer sein sollen, der Besitzer sollte erst am späten Nachmittag zurückkehren. Der MI6 hatte nicht nur die E-Mails zurückverfolgt, die er bekommen hatte, sondern auch ein kurzes Dossier über den potenziellen Verkäufer zusammenstellen können. Nichts an ihm hatte bedrohlich gewirkt.
Cotton trat ein und tastete nach dem Puls des Mannes am Boden.
Nichts.
Er sah sich um.
Die Zimmer waren angenehm und geräumig, an den tapezierten Wänden hingen riesige Ölbilder, vom Alter nachgedunkelt. Der etwas faulige Duft alter Blumen sowie der muffige Geruch von Kerzenwachs und Tabak hing in der Luft. Sein Blick glitt über einen großen Schreibtisch aus Walnussholz, ein Akkordeon aus Rosenholz, mit Seidenbrokat bezogene Sofas und Sessel. An den Wänden standen Schränke mit Glastüren, die mit aufwändigen Intarsien verziert waren. Darin lagen, ausgestellt wie in einem Museum, verschiedenste Objekte.
Aber es herrschte das reinste Chaos.
Schubladen waren halb geöffnet, hingen in seltsamen Winkeln heraus, die Regale waren in Unordnung, einige der Schränke zertrümmert, Sessel lagen umgestürzt auf dem Boden, manche davon zerschlagen, die Bezüge zerrissen. Selbst die Vorhänge waren zum Teil aus den Schienen gerissen worden und lagen in zerknitterten Haufen am Boden.
Da hatte jemand offenbar etwas gesucht.
Der Einzige, der die Stille störte, war ein Papagei in einem vergoldeten Käfig, der einmal auf einem Marmorpodest gestanden hatte. Jetzt lag der Käfig zerschmettert und verbogen auf dem Boden, das Podest war umgestürzt, und der Vogel kreischte laut und aufgeregt.
Cotton drehte die Leiche herum und bemerkte zwei Schusswunden. Das Opfer war ein Mann von Mitte bis Ende vierzig, hatte dunkles Haar und ein glatt rasiertes Gesicht. Der Besitzer der Villa hatte ungefähr das gleiche Alter, doch dieser Tote passte nicht zu der Beschreibung, die er erhalten hatte.
Etwas klapperte.
Hart und laut.
Das kam von oben.
Dann folgten schwere Schritte.
Es war noch jemand hier.
Das Versteck, nach dem er suchte, befand sich im zweiten Stock, deshalb ging er zur Treppe und stieg die Stufen hoch; dabei kam er am Absatz des ersten Stockwerkes vorbei. Auf den Treppenstufen lag ein Läufer, der die Schritte seiner Ledersohlen dämpfte, sodass kein Laut seine Bewegungen verriet. Im dritten Stock hörte er Lärm. Als ob ein schweres Möbelstück auf den Fußboden krachte! Wer auch immer dort auf der Suche war, schien sich völlig ungestört zu fühlen.
Er beschloss, einen kurzen Blick zu riskieren, um die Lage einzuschätzen, und schlich weiter.
Ein schmaler grüner Läufer verlief in der Mitte des Holzfußbodens durch den Korridor. Das halb geöffnete Fenster auf der gegenüberliegenden Seite ließ etwas Morgenlicht herein und sorgte für Durchzug. Er gelangte zu dem Zimmer, aus dem der Lärm kam. Es war der Raum, den er auftragsgemäß suchen sollte. Die Person, die ihm hier zuvorgekommen war, war gut informiert. Er stoppte an der offenen Tür, riskierte einen kurzen Blick.
Und sah einen kräftigen Bären.
Mindestens einige hundert Kilo schwer.
Als Ursache des Lärms war schnell ein Schrank ausgemacht, der umgestürzt dalag. Das Tier untersuchte alles, schob alles Mögliche von den Tischen und schnupperte daran, wenn es zu Boden fiel. Es stand mit abgewandtem Kopf bei einem der beiden halb geöffneten Fenster.
Besser, wenn er schleunigst verschwand!
Der Bär unterbrach seine Nahrungssuche und hob schnuppernd die Nase.
Das war übel.
Das Tier witterte Cotton, wandte sich zu ihm um und knurrte drohend.
Ihm blieb nur der Bruchteil einer Sekunde, um eine Entscheidung zu treffen.
Beim Umgang mit Bären galt es normalerweise, nicht zurückzuweichen und sich ihnen entgegenzustellen. Dieser Ratschlag stammte offensichtlich von Menschen, die niemals so nahe an einen Bären herangekommen waren. Sollte er zurück zur Treppe laufen? Oder ins Zimmer auf der anderen Seite des Flurs springen? Ein einziger Fehler auf dem Weg ins Erdgeschoss, dann hätte ihn der Bär eingeholt. Also entschied Cotton sich für den Raum auf der anderen Seite des Flurs und sprang gerade in dem Moment nach links, als das Tier mit einer für seine Größe überraschenden Geschwindigkeit losstürmte. Er knallte die Tür zu und stand in einem kleinen Schlafzimmer. Ein riesiger Kachelofen nahm eine Ecke des Zimmers ein. Hier gab es zwei halb geöffnete Fenster, die auf die Rückseite der Villa hinausgingen.
Er brauchte einen Moment zum Nachdenken.
Aber der Bär hatte andere Vorstellungen.
Die Tür flog krachend ins Zimmer.
Cotton lief zu einem der Fenster und sah hinaus. Es ging fast zehn Meter in die Tiefe. Das bedeutete mindestens einen gestauchten Knöchel, vielleicht aber auch einen gebrochenen Knochen oder Schlimmeres. Der Bär verharrte in der Tür, dann brüllte er.
Damit stand die Entscheidung fest.
Cotton bemerkte einen Absatz gleich unter dem Fenster, etwa zwanzig Zentimeter breit. Das reichte, um darauf zu stehen. Er stieg hinaus, breitete seine Hände am warmen Stein aus und presste den Rücken ans Haus. Der Bär stürmte zum Fenster, streckte den Kopf hinaus und schlug mit scharfen Klauen nach ihm. Cotton balancierte weiter nach links und brachte sich aus seiner Reichweite.
Er glaubte nicht, dass das Tier herausklettern würde.
Doch damit war sein Problem nicht gelöst.
Was sollte er als Nächstes tun?