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Idalina sucht einen Weg zwischen Vernunft und Leidenschaft, Luísa ringt um innere Stärke und Tuda um ein Leben ohne Therapeuten. In Kurzprosa von beispielloser Originalität lotet Clarice Lispector die Paradoxien des Daseins und die Grenzen des Sagbaren aus: Wahnsinn wird zu Weisheit, Angst zu Mut, wenn sie das Innerste ihrer nur auf den ersten Blick alltäglichen Figuren – meist Frauen – nach außen kehrt. Poetisch und tiefgründig, gleichen ihre Erzählungen flirrenden Träumen von einer geheimnisvollen Welt … International als einer der Höhepunkte brasilianischer Literatur bekannt, ist Lispectors Kurzprosa im deutschsprachigen Raum noch zu entdecken. Der vorliegende Band mit 40 teils erstmals ins Deutsche übertragenen Geschichten verspricht eine aufregende Begegnung mit der suggestiven Kraft ihrer Sprachkunst. Band II mit allen weiteren Erzählungen Lispectors erscheint im Herbst 2020.

Clarice Lispector wurde 1920 als Tochter jüdischer Eltern in der Ukraine geboren und wuchs im ärmlichen Nordosten Brasiliens auf. Sie studierte Jura, arbeitete als Lehrerin und Journalistin und führte als Diplomatengattin ein ebenso glamouröses wie rebellisches Leben. Bereits ihr erster, vielbeachteter Roman »Nahe dem wilden Herzen« brach 1944 klar mit allen Regeln konventionellen Schreibens. Von Krankheit und Tablettenkonsum zerstört, starb Lispector 1977 mit nur 56 Jahren in Rio de Janeiro.

»Clarice Lispector ist die führende lateinamerikanische Prosaautorin des Jahrhunderts.« New York Times Book Review

»Endlich wird eine der geheimnisvollsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts in all ihren schillernden Facetten wiederentdeckt.« Orhan Pamuk

»Eine wirklich außergewöhnliche Schriftstellerin.« Jonathan Franzen

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Clarice Lispector

Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau

Sämtliche Erzählungen I

Herausgegeben von Benjamin Moser

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby

INHALT

Erste Geschichten

Der Triumph

Obsession

Der Fiebertraum

Ich und Jimmy

Geschichte, die abbricht

Die Flucht

Bruchstück

Briefe an Hermengardo

Gertrudes bittet um Rat

Noch zwei Betrunkene

Familiäre Verbindungen

Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau

Liebe

Eine Henne

Die Nachfolge der Rose

Alles Gute zum Geburtstag

Die kleinste Frau der Welt

Das Abendessen

Kostbarkeit

Familiäre Verbindungen

Anfänge eines Vermögens

Rätsel in São Cristóvão

Das Verbrechen des Mathematiklehrers

Der Büffel

Die Fremdenlegion

Sofias Dramen

Das Brechen der Brote

Die Botschaft

Affen

Die Henne und das Ei

Versuchung

Reise nach Petrópolis

Die Lösung

Entwicklung einer Kurzsichtigkeit

Die fünfte Geschichte

Eine aufrichtige Freundschaft

Die Gehorsamen

Die Fremdenlegion

Ganz hinten in der Schublade

Die Sünderin auf dem Scheiterhaufen und
die harmonischen Engel

Profil auserwählter Wesen

Eröffnungsrede

Mineirinho

Anhang

Nutzlose Erklärung

Bibliografische Notiz

Erste Geschichten

Der Triumph

Die Uhr schlägt neunmal. Ein kräftiges, klangvolles Läuten, gefolgt von einem sanften Nachhall, einem Echo. Dann Stille. Im Garten breitet sich der Fleck hellen Sonnenlichts allmählich über den Rasen aus. Er steigt die rote Hausmauer empor, lässt die Kletterpflanze erglänzen in tausend Lichtern aus Tau. Dann findet er eine Öffnung, das Fenster. Dringt hindurch. Und bemächtigt sich des Zimmers, der Wachsamkeit des leichten Vorhangs zum Trotz.

Luísa liegt weiterhin reglos da, auf den zerwühlten Laken ausgestreckt, die Haare über das Kissen gegossen. Ein Arm hier, der andere dort, von Mattheit gekreuzigt. Die Hitze der Sonne und ihre Helligkeit füllen den Raum. Luísa blinzelt. Sie runzelt die Stirn. Verzieht den Mund. Schlägt endlich die Augen auf und bleibt mit dem Blick an der Decke hängen. Allmählich dringt der Tag in ihren Körper ein. Sie hört ein Geräusch von trockenen Blättern, auf die getreten wird. Schritte in der Ferne, zart und eilig. ›Ein Kind, das die Straße entlangläuft‹, denkt sie. Erneut Stille. Einen Moment lang erfreut sie sich daran. Die Ruhe ist umfassend, es ist geradezu totenstill. Natürlich, das Haus liegt abseits, ganz für sich. Aber … was ist mit den vertrauten Vormittagsgeräuschen? Dem Klappern von Schritten, dem Gelächter und Geschirrklimpern, die die Ankunft des Tages in ihrem Haus verkünden? Langsam kommt ihr der Gedanke, dass sie den Grund für die Stille kennt. Doch sie schiebt ihn hartnäckig beiseite.

Plötzlich werden ihre Augen groß. Luísa findet sich auf dem Bett sitzend wieder, am ganzen Körper erschauernd. Sie blickt mit den Augen, dem Kopf, mit allen Nerven zum anderen Bett im Zimmer. Es ist leer.

Sie dreht das Kissen hochkant, lehnt sich zurück, den Kopf geneigt, die Augen geschlossen.

Also ist es wahr. Sie lässt den vorigen Abend Revue passieren, dazu die Nacht, die qualvolle, lange Nacht, die dem Abend ­folgte, bis in den Morgen hinein. Gestern Abend ist er fortgegangen. Er hat die Koffer mitgenommen, die Koffer, die erst vor zwei Wochen so festlich eingetroffen waren, mit Aufklebern aus Paris, Mailand. Auch den Diener, der mit ihnen eingezogen war, hat er mitgenommen. Damit war die Stille im Haus erklärt. Sie war seit seiner Abreise allein. Es hatte Streit gegeben. Sie wortlos, ihm gegenüber. Er, der feine, überlegene Intellektuelle, der herumschrie, ihr Vorwürfe machte, mit dem Finger auf sie ­zeigte. Dazu dieses Gefühl, das sie schon von früheren Auseinandersetzungen kannte: Wenn er fortgeht, sterbe ich, ich sterbe. Sie konnte seine Worte noch hören.

»Du, du hältst mich nur fest, du machst mich kaputt! Behalt deine Liebe, gib sie, wem du willst, irgendwem, der nichts anderes zu tun hat! Verstanden? Ja! Seit ich dich kenne, kriege ich nichts mehr zuwege! Ich fühle mich angekettet. An deine Fürsorge, deine Zärtlichkeiten, deine übertriebene Aufmerksamkeit, an dich! Ich verabscheue dich! Stell dir das vor, ich verabscheue dich! Ich …«

Solche Ausbrüche waren häufig. Die Drohung, dass er gehen würde, stand immer im Raum. Luísa durchlief bei diesen Worten eine Veränderung. Sie, die so würdevoll war, so ironisch und selbstsicher, flehte ihn an zu bleiben, derart blass und verrückt im Gesicht, dass er bei anderen Gelegenheiten eingelenkt hatte. Und das Glück überspülte sie so intensiv und klar, dass es aufwog, was ihr selbst nie als Demütigung erschien, trotz seiner ironischen Argumente, doch auch die hörte sie nicht. Diesmal hatte er sich, wie auch sonst, fast grundlos geärgert. Luísa, behauptete er, habe ihn in dem Moment unterbrochen, als ihm eine neue Idee kam, ein Geistesblitz. Sie habe die Inspiration in dem Augenblick gestört, da sie am Entstehen war, mit einer dümmlichen Bemerkung über das Wetter und dann auch noch einem abscheulichen: »Nicht wahr, Liebling?« Er brauche die richtigen Umstände, um etwas zu Papier zu bringen, um seinen Roman weiterzuschreiben, der schon im Keim dadurch erstickt worden sei, dass er sich einfach nicht konzentrieren könne. Damit war er verschwunden, an einen Ort, wo er ein »lebendiges Umfeld« finden würde.

Und in der Wohnung war es still geworden. Sie stand im Zimmer, als hätte man ihrem Körper die Seele entnommen. Sie wartete darauf, dass er wiederkäme, sich im Türrahmen abzeichnete mit seinem männlichen Profil. Sie würde ihn sagen hören, und die geliebten breiten Schultern würden dabei von Lachen geschüttelt werden, dass all dies nichts als ein Scherz gewesen sei, ein Experiment, um eine Buchseite zu füllen.

Aber die Stille hatte sich endlos hingezogen, einzig durchbrochen durch das monotone Wispern der Zikade. Die mondlose Nacht besetzte allmählich das Zimmer. Die frische Junibrise ließ sie frösteln.

›Er ist fort‹, dachte sie. ›Er ist fort.‹ Nie war ihr dieser Ausdruck so bedeutungsvoll erschienen, auch wenn sie ihn häufig in Liebesromanen gelesen hatte. Mit »Er ist fort« war es nicht so einfach. Dahinter kam eine gewaltige Leere im Kopf und in der Brust. Wenn jemand dort anklopfte, stellte sie sich vor, würde es metallisch klingen. ›Wie sollte sie denn jetzt leben?‹, fragte sie sich plötzlich mit einer übertriebenen Ruhe, als ginge es um irgendetwas Unwichtiges. Sie wiederholte ein ums andere Mal: Und jetzt? Ihre Augen schweiften durch das dunkle Zimmer. Sie drehte den Lichtschalter, sah sich nach der Kleidung um, dem Buch auf dem Nachttisch, Spuren von ihm. Nichts war geblieben. Sie erschrak. ›Er ist fort.‹

Stunde um Stunde hatte sie sich im Bett gewälzt, aber der Schlaf war nicht gekommen. Am Morgen, mürbe vom Wachsein und vom Schmerz, die Augen glühend und Schwere im Kopf, war sie nur halb bei Bewusstsein. Nicht einmal da hörte der Kopf auf zu arbeiten, die verrücktesten Bilder kamen ihr in den Sinn, kaum angedeutet, waren sie schon wieder weg.

Es schlägt elf Uhr, lange und geruhsam. Ein Vogel stößt einen spitzen Schrei aus. ›Seit gestern steht alles still‹, denkt Luísa. Sie sitzt weiter sinnlos im Bett, weiß nicht, was sie tun soll. Sie starrt auf ein Seestück an der Wand, die Farben sind frisch. Noch nie hat sie Wasser gesehen, das derart flüssig und beweglich wirkt. Das Bild ist ihr bisher gar nicht aufgefallen. Auf einmal, wie ein Stachel, der spitz und tief ins Fleisch dringt: ›Er ist fort.‹ Nein, das ist gelogen! Sie springt aus dem Bett. Bestimmt hat er sich geärgert und deshalb im Nebenzimmer geschlafen. Sie läuft hinüber, stößt die Tür auf. Leere.

Sie tritt an den Tisch, an dem er gearbeitet hat, kramt fiebrig in den liegengebliebenen Zeitungen. Vielleicht hat er ja irgendeine Nachricht hinterlassen, zum Beispiel: »Aber eigentlich liebe ich dich doch. Ich komme morgen zurück.« Nein, das heißt »heute«! Sie findet auf dem Tisch nur eine Seite aus seinem Notizblock. Sie dreht das Blatt um. »Jetzt sitze ich seit mindestens zwei Stunden da und kann mich noch immer nicht konzentrieren. Aber gleichzeitig achte ich auch auf keines der Dinge um mich herum. Meine Aufmerksamkeit hat Flügel, aber sie lässt sich nirgends nieder. Ich schaffe es nicht zu schreiben. Ich schaffe es nicht zu schreiben. Mit diesen Worten rühre ich an eine Wunde. Meine Mittelmäßigkeit ist so …« Luísa unterbricht die Lektüre. Das, was sie immer gespürt hat, wenn auch nur vage: Mittelmäßigkeit. Gedankenverloren steht sie da. Und er hat das also gewusst? Was für ein Eindruck von Schwäche, von Kleinmut, auf diesem schlichten Stück Papier … »Jorge …«, murmelt sie schwach. Ihr wäre lieber, sie hätte dieses Geständnis nicht gelesen. Sie lehnt sich an die Wand. Weint stille Tränen. Sie weint, bis sie sich ganz schlaff fühlt.

Sie tritt ans Waschbecken und spritzt sich Wasser ins Gesicht. Das Gefühl von Frische, Erleichterung. Sie wird allmählich wach. Munter. Sie nimmt die Haare zusammen und steckt sie hoch. Seift sich das Gesicht ein, bis die Haut spannt und glänzt. Sie betrachtet sich im Spiegel und sieht aus wie ein Schulmädchen. Sie greift nach dem Lippenstift, aber dann fällt ihr rechtzeitig ein, dass sie ihn nicht mehr braucht.

Im Esszimmer ist es dunkel, feucht und stickig. Sie reißt sämtliche Fenster auf. Und die Helligkeit dringt in den Raum wie ein Schwall. Die unverbrauchte Luft fließt rasch herein, fasst alles an, reißt an dem hellen Vorhang. Es ist, als würde sogar die Uhr kräftiger schlagen. Luísa hält überrascht inne. Da ist so viel Zauber in diesem fröhlichen Zimmer. In diesen plötzlich erhellten und neu belebten Dingen. Sie beugt sich aus dem Fenster. Im Schatten der Bäume, die bis dort hinten die lehmrote Straße säumen … Tatsächlich hatte sie nichts davon bemerkt. Sie hatte dort immer nur mit ihm gelebt. Er war alles. Es gab nur ihn. Nun war er fort. Aber die Dinge hatten nicht allen Zauber verloren. Sie hatten ein Eigenleben. Luísa fuhr sich über die Stirn, sie wollte die Gedanken verscheuchen. Mit ihm hatte sie die Qual der Ideen kennengelernt, hatte sich in deren kleinste Einzelheiten versenkt.

Sie kochte Kaffee und trank ihn. Und da sie nichts zu tun hatte und Angst davor, zu denken, nahm sie ein paar Kleidungsstücke, die zum Waschen bereitlagen, und ging ans Ende des Hofs, wo ein großes Becken stand. Sie krempelte die Ärmel und Hosenbeine ihres Schlafanzugs auf und begann, die Wäsche einzuseifen. Nach vorne gebeugt, so heftig zupackend, dass sie sich vor Anstrengung auf die Unterlippe biss, während ihr das Blut im Körper pochte, überraschte sie sich selbst. Sie hielt inne, hörte auf, die Stirn zu runzeln, und blickte nach vorne. Sie, so vergeistigt durch die Gesellschaft dieses Mannes … Ihr war, als hörte sie sein ironisches Lachen, wenn er Schopenhauer zitierte, Platon, die gedacht und gedacht hatten … Eine sanfte Brise stellte die Härchen in ihrem Nacken auf, trocknete ihr den Schaum von den Fingern.

Luísa schloss ab, was sie angefangen hatte. Von dem rauen, schlichten Geruch der Seife duftete sie am ganzen Leib. Ihr war heiß geworden bei der Arbeit. Sie sah auf den großen Hahn, aus dem klares Wasser tropfte. Was für eine Hitze … Auf einmal kam ihr eine Idee. Sie streifte die Kleidung ab, drehte den Hahn ganz auf, und das eisige Wasser floss ihr über den Körper, entriss ihr vor Kälte einen Schrei. Die ungeplante Dusche ließ sie lachen vor Lust. Von ihrer Wanne aus hatte sie einen wundervollen weiten Blick, unter einer Sonne, die bereits glühte. Einen Moment lang verharrte sie ernst, bewegungslos. Der unvollendete Roman, das Geständnis, das sie gefunden hatte. Sie stand gedankenverloren da, eine Falte auf der Stirn und in den Mundwinkeln. Das Geständnis. Doch das Wasser floss ihr eisig über den Körper und forderte geräuschvoll ihre Aufmerksamkeit. Durch die Adern kreiste schon eine angenehme Wärme. Plötzlich überkam sie ein Lächeln, ein Gedanke. Er würde zurückkommen. Er würde zurückkommen. Sie betrachtete den makellosen Morgen ringsum, atmete tief durch und spürte fast stolz ihren Herzschlag, gleichmäßig und voller Leben. Ein lauer Sonnenstrahl hüllte sie ein. Sie lachte. Er würde zurückkommen, denn sie war die Stärkere.