Cover

Christoph Biemann

Thomas Montasser

Buchstabenzauber

Wie Sie Ihr Kind
fürs Lesen begeistern

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Originalausgabe September 2019

Copyright © 2019: Mosaik Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: *zeichenpool, München

Umschlagmotiv: © privat (Autorenfoto), © shutterstock/Squirrell (Bücher)

Vignetten im Buch: © shutterstock

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

JE ∙ SH

ISBN 978-3-641-24312-8
V002

www.mosaik-verlag.de

Inhalt

Willkommen im Club

1. Die Welt erobern

Was Lesen mit uns macht und warum wir Bücher brauchen

2. Der beste Mannschaftssport aller Zeiten

Warum Ihr Kind Sie fürs Lesenlernen braucht und wie die Aufgabe allen Spaß macht

3. Das eigene Märchenland

Wie Sie die perfekte Lektüre für Ihr Kind finden

4. Ein Feuerwerk an Ideen

Wie Lesen zum Ereignis wird – und warum das so wichtig ist

5. Zaubern lernen

Warum beim Lesen der Weg das Ziel ist – und der Erfolg garantiert

6. Bücherwürmer überall

Wo Sie noch mehr übers Lesen erfahren und wo sich Ihrem Kind noch mehr Türen öffnen

Quellen

Über dieses Buch

Register

Willkommen im Club

Ihre Kinder lesen nicht?

Jedenfalls keine Bücher?

Willkommen im Club!

Ihre Erfahrungen decken sich mit denen unzähliger anderer Eltern, die sich wundern, die betroffen oder besorgt sind, weil der Nachwuchs partout nicht mehr zum Buch greifen will. In manchen Fällen ist es eine Art notorischer Leseunlust, die schon im frühen Alter anfängt, in anderen – den meisten – Fällen ist die Lust, ein Buch zur Hand zu nehmen, irgendwann im Kindes- oder Jugendalter plötzlich weg.

Was ist passiert? Ist Ihr Kind zu dumm, zu faul, zu bequem, sich mal mit ein wenig Lektüre Mühe zu geben? Oder haben Sie etwas falsch gemacht? Na ja, nicht sehr wahrscheinlich, oder? Das heißt aber nicht, dass hier ein unabänderliches Naturgesetz am Werk wäre. Lesen ist nichts, was man verlernt. Die Lust an Büchern ist nicht unwiederbringlich verloren! Es ist einfacher, Kindern, die schon einmal Leser waren, den Reiz der Lektüre wieder näherzubringen – aber auch vermeintlich hoffnungslose Leseverweigerer können die Freude am Buch entdecken, wenn man ihnen dabei ein wenig unter die Arme greift.

Dazu muss man kein strenges Regiment führen. Es braucht keinen Zwang – im Gegenteil! Freude am Lesen lässt sich nur nach dem Lustprinzip wecken. Dazu haben wir uns ausgiebig Gedanken gemacht. Natürlich haben wir auch geforscht und uns bei anderen Eltern, bei Lehrern, Buchhändlern und anderen Bibliophilen umgehört. Das Ergebnis ist dieses uneingeschränkt optimistische Buch, von dem wir hoffen, dass es auch für Sie manch erhellende Erkenntnis bereithält und dass es auch Ihnen vielleicht noch mehr Lust aufs Lesen macht – übrigens eine vorzügliche Hilfestellung für den Nachwuchs. Doch dazu später. Jetzt erst einmal:

Lesen Sie!

1.
Die Welt erobern

Was Lesen mit uns
macht und warum wir
Bücher brauchen

Medizin für Geist und Seele

Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Buch, genauer: ein Kinderbuch. Da liegen Sie nun, seit Tagen warten Sie darauf, dass jemand Sie zur Hand nimmt. Immerhin versammeln sich in Ihnen ein Haufen großartiger Geschichten, die natürlich dringend gelesen werden wollen. Die Monster und Hexen beschweren sich schon, die Abenteurer und Feen halten es kaum noch aus. Magische Orte, finstere Winkel, legendäre Häuser wollen entdeckt werden. Zwischen Ihren Deckeln jagt ein witziger Gedanke den nächsten, ein atemberaubendes Ereignis folgt aufs andere. Die komischsten Situationen hätten Sie zu präsentieren. Nur dass es niemanden zu interessieren scheint.

So ungefähr geht es zurzeit Millionen von Kinderbüchern in Buchhandlungen, Bibliotheken und sogar in Kinderzimmern! Wie kann das sein?

Unsere Recherchen haben ergeben, dass offenbar ein sehr aggressives und hartnäckiges Lesemüdigkeitsvirus umgeht, das Kindern die Lust darauf nimmt, die tollsten Dinge zu erleben. Einige vermuten, dieses Virus springt aus Smartphones auf den Menschen über. Andere verorten es in immer volleren Kalendern oder auch nur im Fernseher. Inzwischen haben sich schon sehr viele Kinder damit angesteckt, und es scheint kein Ende der Epidemie erkennbar. Doch hier kommt die gute Nachricht: Es gibt Mittel gegen dieses Virus! Man kann es bekämpfen – und man sollte es bekämpfen. Denn was als allgemeine Schlappheit im Umgang mit Texten beginnt, kann sich im Laufe der Kindheit und Jugend zu einer gefährlichen Fantasielosigkeit auswachsen und auch sonst allerlei Nachteile im Leben mit sich bringen.

Wichtig ist, dass diese Mittel regelmäßig und in möglichst hohen Dosen verabreicht werden. Anders als bei anderer Medizin gilt hier die einfache Faustregel: Je mehr Sie geben, umso besser! Man kann eigentlich gar nicht überdosieren.

Hinzu kommt, dass es sich um eine Medizin handelt, die besser schmeckt, je mehr man davon zu sich nimmt. Gut, was sich nicht ausschließen lässt, ist, dass Ihr Kind danach süchtig wird. Ja, es ist sogar anzunehmen, dass nicht nur Ihr Kind, sondern dass auch Sie im Laufe der Zeit gewisse Suchtanzeichen spüren werden. Aber auch in dieser Hinsicht können wir Entwarnung geben: Die Sucht, die sich einstellt, ist – anders als alle anderen Süchte – eine gute! Sie fördert ihr geistiges Wohlbefinden, wirkt sich positiv auf das allgemeine Lebensgefühl und sogar auf Selbstwertgefühl und Mitgefühl aus! Sie ist intelligenzfördernd, trägt zum persönlichen Wohlstand und ganz generell betrachtet zum Gemeinwohl bei.

Deshalb haben wir uns die Bekämpfung des Lesemüdigkeitsvirus auf die Fahnen geschrieben und uns entschieden, einen üppigen Cocktail an Rezepten für Sie aufzuschreiben. Denn es gibt eine Menge zur Anwendung der Medizin zu sagen, vielleicht auch einiges, worauf Sie selbst noch nicht gekommen sind, auch wenn Sie natürlich längst wissen, welches Mittel gegen das Virus hilft. Nämlich ein köstliches, ebenso vielfältiges wie einzigartiges, überall erhältliches und garantiert ungefährliches:

Bücher, Bücher, Bücher.

Was uns am Lesen fasziniert

Bücher? Natürlich gibt es Sachbücher, Ratgeber und Kochbücher, Fachbücher aller erdenklichen Disziplinen und gebundene Gebrauchsanweisungen für technische Geräte, es gibt Bildbände und Lexika. Alles wichtig, alles unverzichtbar. In diesem Buch aber geht es hauptsächlich um literarische Bücher, um »Fiction«. Denn anders als Sachbücher, Lexika oder Bildbände bieten diese Bücher etwas, dessen Bedeutung für unser Leben man gar nicht überschätzen kann: Geschichten.

In A. A. Milnes Weltbestseller Pu der Bär gibt es einen kleinen Dialog ganz am Anfang, der lautet:

»›Wie wär’s mit einer Geschichte? … Könntest du bitte so lieb sein, Winnie-dem-Pu eine zu erzählen?‹

›Ich glaube, das könnte ich‹, sagte ich. ›Welche Sorte von Geschichten mag er denn?‹

›Über sich selbst. Denn diese Sorte von Bär ist er.‹

(…)

›Ich werde es versuchen‹, sagte ich.

Also versuchte ich es.«

Man liest schnell über diese kleine Szene hinweg, dabei enthüllt sie eines der großen Geheimnisse der Kinderliteratur. Die meistgeliebten Geschichten von allen nämlich sind die Geschichten, in denen sich die Leser selbst wiederfinden. Viele von uns machen es – meist unbewusst – ganz ähnlich, wenn sie anfangen, ihren Kindern Geschichten zu erzählen: Da tauchen plötzlich Heldinnen und Helden auf, die rein zufällig genau den gleichen Namen haben, die gleiche Haarfarbe, noch ganz klein sind, im selben Haus wohnen, in denselben Kindergarten gehen und so weiter. Wir tun das, weil wir Identifikationsfiguren für unsere Kinder erschaffen. Und das tun auch die Autorinnen und Autoren der Kinderliteratur. Sie mögen die einzelne Leserin oder den einzelnen Leser nicht kennen, aber sie wissen, wie Kinder ticken, was sie bewegt, was sie amüsiert, was Kinder spannend, komisch oder gruselig finden.

Oft sind es die geheimen Sehnsüchte unserer Kinder, die sich in den Geschichten widerspiegeln, manchmal sind es die Ängste, die Romanheldinnen und -helden zu verarbeiten helfen. Mal indem das Böse besiegt, mal indem es lächerlich gemacht wird. Oder wer hätte im Ernst Angst vor einem finsteren Schurken, der sich wie der Räuber Hotzenplotz von Kasperl und Seppl hereinlegen und dingfest machen lässt? Die Hexe wird entweder – wie bei Hänsel und Gretel – in den Ofen geschubst, oder sie ist – wie Die kleine Hexe – eine gute, die höchstens mal ein bisschen frech ist. Und schon haben wir sie wieder, die Identifikationsfigur! Diese kleine Hexe ist wie Ihre Tochter: lieb und nett und höchstens mal ein bisschen unartig. Aber auch wenn ihr das Ärger einbringt, am Ende wird doch alles gut.

Eines der wichtigsten »Gesetze« der Kinderliteratur überhaupt: Alles wird gut! Wir fiebern und leiden mit den Helden, lachen und weinen mit ihnen. Wir haben Heimweh mit Heidi und Herzklopfen mit Harry Potter. Aber am Ende wird das Mädchen den geliebten Großvater und den Geißenpeter wiedersehen, und Harry wird Voldemort erneut besiegen. Ganz nebenbei und völlig unbemerkt haben wir etwas gelernt: Trennung muss nicht für ewig sein, es gibt immer Hoffnung, und wir lassen uns von den Fieslingen auf diesem Planeten nicht unterkriegen!

Im Grunde lesen wir vieles nur deshalb, weil wir Stellvertreter für unsere eigenen Sorgen und Nöte suchen. Es mag uns nicht bewusst sein, ja nicht einmal bei oder nach der Lektüre auffallen. Aber letztlich ist es eine seelische Entlastung, die wir erleben, weil wir lesen. Die alten Griechen nannten es Katharsis. Ein schwieriges Wort für eine simple Wirkung. In dem Moment, in dem wir ein Buch aufschlagen und eine Geschichte zu lesen beginnen, schlüpfen wir in die Haut eines Anderen und lassen uns auf dessen Leben ein. Oft gelingt das, manchmal gelingt es nicht. Das könnte dann auch daran liegen, dass wir uns mit der Figur einfach nicht identifizieren können! Vielleicht wäre Ihre Tochter lieber Tinkerbell, aber deren Rolle kommt ihr bei Peter Pan zu kurz, und mit Peter kann sie nicht so viel anfangen. Vielleicht ist Die Biene Maja ein bisschen zu kindlich für die Seele Ihres Sohnes, der sich längst an älteren Helden orientieren möchte. Dann muss es eben ein anderes Buch sein! Eine andere Geschichte mit einem anderen Helden.

Denn obwohl es wichtig und wertvoll ist, auch Neues zu entdecken, so muss das Neue doch auch zu Ihrem Kind passen, um seinen ganzen Zauber zu entfalten. Oft, aber längst nicht immer, hängt das an der Identifikationsfigur. In vielen Fällen ist es die Atmosphäre, die ein Kind gefangen nimmt.

Viele Kinder haben durch Harry Potter zum Lesen gefunden. Für manche aber war die Welt, die J. K. Rowling in dieser Romanreihe gezeichnet hat, auch zu hart, zu düster, zu brutal. Ihre Seelen waren dafür nicht geschaffen. Dann sollte man sich auch nicht durchquälen, sondern zu einem anderen Buch greifen, es gibt ja mehr als genug!

Wenn Ihr Kind zartbesaitet ist, gehen Sie weniger danach, was gerade angesagt ist, suchen Sie lieber etwas, was zum Charakter Ihres Kindes passt. Fühlt es sich schon sehr erwachsen, dann lassen Sie die Leinen lockerer: Fordern Sie es auch mal durch anspruchsvollere Lektüren heraus! Nicht zu sehr, um ihm den Spaß nicht zu verderben. Aber doch genügend, um es weiterkommen zu lassen. Denn, siehe oben, am liebsten lesen wir Geschichten »über uns selbst«, also über Heldinnen und Helden, die wir – in einer anderen Welt – sein könnten. Nämlich in der Welt der Literatur.

»Für mich ist es heute noch ein Hauptmotiv des Bücherlesens, das sprichwörtliche ›Abenteuer zwischen den Ohren‹ zu erleben: Sicher und gemütlich auf dem Sofa oder im Liegestuhl sitzend, gut versorgt und gänzlich ungefährdet finde ich mich plötzlich inmitten eines nervenzerfetzenden Dramas wieder, werde als Held gejagt oder jage selbst, hetze durch eine abenteuerliche Geschichte, bestehe die gefährlichsten Abenteuer, die man sich nur vorstellen kann – ohne auch nur einmal nasse Füße zu bekommen. Meine Fantasie macht es möglich, mithilfe eines packenden Romans, der mich aus dem Hier und Jetzt entführt und für eine gewisse Zeit, gerade so lange, wie es mir gefällt, mit sich nimmt. Am Ende finde ich mich wohlbehalten und unbeschadet auf meinem Sofa wieder.«

Christoph Biemann

Es gibt viele Aspekte, die uns am Lesen faszinieren. Der faszinierendste von allen ist aber wohl, dass zwischen dem Buch und unserem Inneren eine unsichtbare Verbindung entsteht: Sie wirken zusammen wie zwei Hände beim Klavierspielen. Ein Film, der ohne Publikum läuft, ist identisch mit demselben Film vor Zuschauern. Ein Buch ohne Leser ist tot. Erst beim Lesen erwecken wir es zum Leben – und wie jeder Leser eine ganz eigene Persönlichkeit hat, erzählt das Buch jedem Leser eine einzigartige Geschichte, die es so niemand anderem erzählt. Denn jeder hat ein anderes Bild vor Augen, hört andere Stimmen und Geräusche, erlebt eine ganz eigene Welt. Ein Film, ein Bild, ein Computerspiel – sie gehören allen auf die gleiche Weise. Ein Buch aber, das ich lese, gehört so immer nur mir und niemandem sonst. Deshalb ist die Beziehung, in die wir mit einem Buch treten, immer eine intime, vertraute, einzigartige.

Ohne Papier ist alles nichts – ohne Bücher erst recht

»Ich lese den ganzen Tag. Wenn ich morgens die Augen aufmache, lese ich auf dem Wecker die Uhrzeit ab. Dann lese ich die neuesten Nachrichten auf dem Smartphone. Auf dem Weg zur Arbeit lese ich alles, was man lesen kann. Ich versuche sogar die Schlagzeilen der Zeitungen auf den Zeitungskästen zu lesen, von den Zeitungen, die für Menschen wie mich mit extra großen Buchstaben arbeiten.

Mein Büro ist so etwas wie ein Verdauungsapparat für Lesestoff. Ich lese praktisch den ganzen Tag, wenn ich nicht gerade schreibe oder andere, auch notwendige Dinge tue. Ich lese Mails, Prospekte, Kataloge, Broschüren. Mein Papierkorb ist abends immer voll. Zeitungen und Zeitschriften fasse ich im Büro nicht an. Ich habe Angst, mich zu sehr in die Lektüre zu vertiefen.

Das mache ich abends. Und wenn mir dann ein Artikel auffällt, der für mich beruflich relevant sein könnte, reiße ich ihn heraus und nehme ihn am nächsten Tag mit ins Büro.

Mein Lese-Tag endet abends mit einem Buch im Bett. Nach ein paar Seiten fallen meine Augen zu. Lesepause bis zum nächsten Morgen.«

Christoph Biemann

»Kinder, die mit Büchern aufwachsen, lernen besser lesen und haben später höhere Chancen auf einen erfolgreichen Bildungsweg«, schreibt das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Irgendwie ahnt man es ja. Aber warum ist das eigentlich so?

Lesen ist eine Kulturtechnik, die uns zu vielen anderen wichtigen Dingen befähigt. Wer nicht lesen kann, für den bleibt vieles undurchsichtig. Was steht eigentlich genau in meinem Mietvertrag? Vertrage ich die Zutaten, die in einem Lebensmittel enthalten sind? Wie komme ich in die Stadtmitte? Wann kommt der Zug? In welchem Stockwerk ist welche Behörde untergebracht? – Lesen weist uns den Weg. Das lernen wir früh.

»Als ich ein Kind war, waren Straßenschilder und Wegweiser überaus wichtig für mich. So konnte ich mir mit meinem kleinen roten Rädchen die Stadt erobern und mir merken, wie ich wieder nach Hause finde. Denn natürlich hatte ich mich ein paarmal umgeschaut und wusste plötzlich nicht mehr, wo ich war. Aber als ich lesen konnte, halfen mir die Straßenschilder. Ich habe mir alle gemerkt und konnte die Stadt entdecken, ohne Angst zu haben, mich zu verirren.«

Christoph Biemann

Wer nicht lesen kann, wird sich in der Welt nicht zurechtfinden. Zumal wir in einer Zeit leben, in der immer mehr Texte verfasst werden! Ein großer Teil des sozialen Miteinanders findet heute – ganz anders als früher – schriftlich statt. Social Media sind nicht nur, aber sehr stark ein schriftliches Phänomen.

Natürlich ist es ein großer Unterschied, ob ich »Bin beim Shoppen« posten beziehungsweise lesen kann oder ob ich Tolstois Anna Karenina verstehe. Aber warum eigentlich? Warum ist es so viel schwieriger, einen komplexen Text nachzuvollziehen als einen ganz schlichten?

Hirnforscher haben herausgefunden, dass wir beim Lesen über eine Aufmerksamkeitsspanne von nur zwei bis drei Sekunden verfügen. Eine kurze Notiz lässt sich in so kurzer Zeit durchaus erfassen. Längere Texte brauchen deshalb eine andere Infrastruktur in unserem Gehirn. Leider ist die nicht von vornherein dort angelegt, sondern muss erst aufgebaut werden. Aber geht das denn? Und können wir das wirklich bewusst selber machen? Wir können! Und zwar, indem wir lesen.

Bei Kindern – aber auch noch bei Erwachsenen! – ändert sich durch das Lesen die Gehirnstruktur. Das haben Forscher des Max-Planck-Instituts in Leipzig nachgewiesen. Wer liest, bildet also seine kleinen grauen Zellen um. Im Grunde ganz ähnlich wie beim Sport, wo Muskeln trainiert werden. Diese sogenannte neuroplastische Veränderung findet bei einem Kind in der Großhirnrinde statt und führt dazu, dass seine kognitiven und sozio-emotionalen Fähigkeiten verbessert werden. Wer jetzt glaubt, das sei etwas für Traumtänzer und Wolkenschlossbauer, im echten Leben brauche es solche Blabla-Talente nicht, der sollte sich eine Studie der Universität Bologna vor Augen führen, die den schönen Titel Books are forever trägt. Dort wird argelegt, dass Menschen, die als Kinder überdurchschnittlich viele Bücher gelesen haben, auch überdurchschnittlich verdienen: und zwar um 21 Prozent mehr!

Aber braucht es dazu Bücher? Schließlich kann ich jeden langen Text genauso gut am Bildschirm lesen. Ja, kann ich, das macht nur leider nicht so klug. Eine Gruppe von 130 renommierten Wissenschaftlern, die sich im sogenannten COST-Forschungsnetzwerk zu einer Studie über die Zukunft des Lesens zusammengefunden haben, stellt in ihrer Erklärung von Stavanger fest: »Die Forschung zeigt, dass Papier weiterhin das bevorzugte Lesemedium für einzelne längere Texte bleiben wird, vor allem, wenn es um ein tieferes Verständnis der Texte und um das Behalten geht. Außerdem ist Papier der beste Träger für das Lesen langer informativer Texte.«

Welt

Also ist doch alles Üben vergebens? Wir wollen hier nicht für die Abschaffung von Schulbüchern plädieren (höchstens für bessere Schulbücher), aber wir wollen einem Missverständnis vorbeugen: Buch ist nicht gleich Buch! Wer bei der Lektüre eines Textes frustriert ist, kann trotzdem einen ganz anderen Text mit dem größten Genuss lesen! Auch unser Zehnjähriger! Wenn er ein Kinderbuch in die Hand bekommt, das ihn wirklich anspricht, wird er seine Freude daran haben können. Oder wie es der Hirnforscher ausdrückt: »Anders ist das beim Lesen von Gedichten, Novellen oder Romanen. Dabei entsteht in mir selber ohne Anstrengung eine individuelle Geschichte mit meinen inneren Bildern. Die kann ich mir dann viel besser merken.« Mit anderen Worten: Fiktive Geschichten zu lesen, ist ein Schlüssel zu mehr Lesefreude.

Deshalb kann man sagen, dass uns das Lesen von Romanen schlauer macht, mitfühlender und auch noch erfolgreicher. Es fördert Konzentration und Gedächtnis, und es erweitert den Wortschatz. Wer sich das für sein Kind nicht wünscht, sollte es dringend von spannenden Geschichten fernhalten.