Cover

Buch

Sofia Bauman, einst Anhängerin von ViaTerra, glaubt sich endlich in Sicherheit. Dank ihr sitzt der teuflische Sektenführer Franz Oswald hinter Gittern – und doch erreicht dessen Rachedurst Sofia sogar aus dem Gefängnis. Ununterbrochen erhält sie Nachrichten, die ihr Angst machen, und findet ihre Kontaktdaten auf dubiosen Internetseiten angegeben. Die Polizei vermag sie vor Oswalds Terror nicht zu schützen. Als sie auch noch in ihrem eigenen Heim eine Kamera findet, die jeden ihrer Schritte aufzeichnet, erkennt Sofia, dass sie in Schweden nicht mehr sicher ist – und flüchtet nach San Francisco. Doch Oswald bekommt stets, was er begehrt, und findet einen Weg, sich Sofia zurückzuholen …

Autorin

Mariette Lindstein war fünfundzwanzig Jahre lang Mitglied bei Scientology. Sie arbeitete unter anderem im Hauptquartier der Kirche in Los Angeles, bis sie die Gemeinschaft 2004 verließ. Heute ist sie mit dem Autor und Künstler Dan Koon verheiratet. Die beiden leben mit ihren drei Hunden in einem Wald außerhalb von Halmstad. »Die Sekte – Es gibt kein Entkommen« ist ihr erster Roman und wurde in Schweden mit dem Crimetime Specsavers Award für das beste Debüt ausgezeichnet und für den CWA Dagger Award 2019 nominiert. Aktuell wird ihre Reihe für das Fernsehen verfilmt. Neben dem Schreiben hält Mariette Vorträge über die Gefahren von Sekten.

Von Mariette Lindstein bereits erschienen

Die Sekte – Es gibt kein Entkommen

Die Sekte – Deine Angst ist erst der Anfang

Die Sekte – Dein Albtraum nimmt kein Ende (in Vorbereitung)

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MARIETTE LINDSTEIN

DIE SEKTE

DEINE ANGST IST ERST DER ANFANG

THRILLER

Aus dem Schwedischen

von Kerstin Schöps

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Sekten som återuppstod« bei Mörkersdottir Förlag, Rättvik.

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Copyright der Originalausgabe © Mariette Lindstein 2016

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Joern Rauser

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Arcangel Images (Collaboration JS; Nik Keevil); Wil Immink

BL · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-24373-9
V004

www.blanvalet.de

WAS BISHER GESCHAH:

Sofia hat eine missglückte Beziehung hinter sich, ihr fehlt die Ruhe, nach dem Studium an der Uni zu bleiben. Es muss noch etwas anderes geben! Als sie eine Anfrage bekommt, ob sie eine Bibliothek für die Organisation ViaTerra aufbauen will, die auf einer Insel residiert, greift sie zu. Denn sie hat nichts zu verlieren. Und die Tatsache, dass ihr das Angebot von einem attraktiven und äußerst charismatischen Mann unterbreitet wird, macht ihr die Entscheidung noch leichter.

Auf der Insel angekommen, fällt es ihr nicht schwer, sich mit der Lebensweise der Organisation anzufreunden: Schlaf in absoluter Dunkelheit, Essen nur aus selbst produzierten Lebensmitteln und Handyverbot. Ihr einziges Problem ist, dass sie nicht weiß, wie sie sich dem Anführer von ViaTerra, Franz Oswald, gegenüber verhalten soll. Sie spürt eine fast animalische Anziehungskraft, und auch er scheint nicht uninteressiert zu sein.

Eines Tages lernt sie Benjamin kennen, einen fröhlichen und unbekümmerten jungen Mann, der ganz anders als Franz Oswald wirkt. Sie verlieben sich ineinander. Da aber physische Liebe verboten ist, wenn man nicht verheiratet ist oder zusammenlebt, wissen sie nicht, wie sie die Liebe leben können. Eines Tages muss Sofia ihren Job als Bibliothekarin aufgeben und wird zu Franz Oswalds persönlicher Assistentin. Es folgt eine emotionale Berg-und-Tal-Fahrt. Sie entdeckt, dass Oswald auch andere, dunkle Seiten hat. Um zur Ruhe zu kommen, ziehen Benjamin und sie schließlich zusammen.

Als der Journalist Magnus Strid für eine Reportage auf die Insel kommt, tut Franz Oswald alles, damit die Organisation eine gute Publicity bekommt. Mit seinem Besuch zufrieden, reist Strid wieder ab, und Sofia kann erleichtert aufatmen. Darum ist es für alle ein Schock, als der vernichtende Artikel über ViaTerra veröffentlicht wird. Franz Oswald gibt den Angestellten die Schuld und dreht vollkommen durch. Das ist der Anfang vom Ende.

Die Stimmung bei ViaTerra schlägt um. Immer weniger Gäste kommen, Franz Oswalds Laune wird zunehmend labil, und das Personal traut sich gegenseitig nicht mehr über den Weg. Für die banalsten Dinge – zum Beispiel für Ungeschicklichkeit – führt Franz Oswald Strafen ein, und jeder Kontakt zum Festland wird verboten. Zu spät begreift Sofia, dass etwas gewaltig schiefläuft, aber da ist es fast zu spät, noch zu fliehen.

Franz Oswald zwingt Benjamin dazu, sich von einer Klippe zu stürzen. Sofia ist am Boden zerstört, denn sie ist von Benjamins Tod überzeugt. Bei dem gutherzigen Simon, der sich rührend um seine geliebten Pflanzen im Gewächshaus kümmert, sucht sie Trost. Auch er teilt ihre Ansicht, dass etwas geschehen muss.

Sofia flieht. Es gelingt ihr, dank einiger Wohltäter bis zu der alten Hütte ihrer Großmutter in Norrland zu kommen, um sich dort zu verstecken. Hier erfährt sie mehr über die schreckliche Kindheit von Franz Oswald und erschreckt entsetzlich, als sie begreift, dass Benjamin noch lebt. Gemeinsam wenden sie sich an die Polizei, die eine Razzia auf der Insel durchführt und die Organisation zerschlägt.

Sofia hat Franz Oswald zwar aus ihrem Leben verbannt, aber kann man sich wirklich ganz von ihm befreien?

PROLOG

Schon wieder derselbe Alptraum. Ihr Herz rast, die Haut ist mit einer Schweißschicht überzogen. Ihr Körper fühlt sich schwer und leblos an, schier unmöglich ist es, sich aus dem stickigen Dämmer des Schlafes loszureißen. Doch endlich gelingt es ihr, und mit keuchendem Atem wacht sie auf.

Sie kann sich nicht orientieren. Etwas fehlt hier, die Erleichterung, wenn die Augen das Licht einfangen und die Gegenstände im Zimmer erkennen. Vollkommene Dunkelheit. Keine Konturen, kein Schatten. Es riecht nach Erde und Schimmel, und es zieht, als stünde ein Fenster offen.

Auch mit ihrem Körper stimmt etwas nicht. Ihr Kopf und die Augenlider sind so schwer. Schwindel und Übelkeit. Ihr Kopf streikt, kann keinen logischen Zusammenhang herstellen. Eine schleichende Angst packt sie, mit jedem Atemzug kommt sie näher, nimmt aber noch keine Form an. Es juckt im Gaumen und sticht in den Augen. Ihre Erinnerung ist leer. Eine Weile kämpft sie gegen diese Leere an, bis die Bilder allmählich zurückkehren. Das Bett in der Wohnung. Der Wein, die Schläfrigkeit. Eine Hand auf ihrer Stirn. Entspann dich! Das waren die letzten Worte, bevor sich der Raum auflöste und verschwand. Später folgte dann ein kurzer Moment der Wachheit. Bewegung, Erschütterung und schreiende Möwen. Ein kurzer Blick nach oben, Nebel, überall nur Nebel. Dann spürte sie einen Stich im Oberschenkel und tauchte wieder in die Dunkelheit ab.

Ein verdrängtes Gefühl meldet sich in ihrem Inneren. Jetzt weiß sie Bescheid. Wehrt sich gegen weitere Bilder. Will gar nicht begreifen müssen, was passiert ist. Trotzdem weiß sie es längst. Tief in ihr hatte sie immer befürchtet, dass dies hier ihr eigentliches Ziel gewesen ist.

Als die Tür geöffnet wird und das Licht in den Raum fällt, keimt kurz Hoffnung auf, aber dann hört sie die Schritte, ein vertrautes Geräusch. Der Geruch seines Rasierwassers liegt in der Luft. Seine Nähe löst einen irrsinnigen Juckreiz auf ihrem Körper aus. Sie spürt den starken Impuls, aufzuspringen und wegzurennen. Er ist so stark, dass er ihr die Luft nimmt. Der Druck auf der Brust brennt, so stark ist er. Atemnot. Die Kraft wird aus ihren Muskeln gesogen. Das Herz schlägt laut und unregelmäßig. Kleine schwarze Punkte tanzen über ihre Augen.

Seine Stimme ist freundlich und ruhig.

»Willkommen zurück.«

Mit einem lauten Knall fällt die Tür hinter ihm zu.

Ihr entfährt ein beinahe animalisches Wimmern. Der Schrei beginnt seinen Weg als ein Kitzeln im Gaumen, steigt aus der Lunge nach oben, drängt sich durch den Kehlkopf und erzeugt ein Crescendo, so laut, dass es die Ohren betäubt.

Dann wird es still. Und dunkel. Es gibt nur noch ihn und sie.

Vermerk/ Notizen

Untersuchungshaft, Justizvollzug, Göteborg

Aus Asche bist du entstanden, zu Asche wirst du werden.

Der Vogel Phönix verbrennt, und aus der Asche wird ein neuer Vogel geboren, jünger und stärker als der vorherige. Ein Phönix lebt fünfhundert Jahre lang und zerstört sich dann in einem großartigen Ritual selbst. Und ersteht erneut, in einer noch mächtigeren Gestalt.

Schwebt hoch oben am Himmel.

Sein scharfer Blick gleitet über die karge Landschaft der Erde.

Mit seiner strahlenden Schönheit erzeugt er starkes Verlangen und schenkt unerschöpfliche Inspiration.

Auch ich und meine Ideale werden auferstehen, wie Phönix aus der Asche.

Alles, wonach der Mensch sucht und sich sehnt, ist hier, in mir.

Die dicken Betonwände, der Gestank des Putzmittels, der Dreck an den Wänden und die Fliegen in den Lampenschirmen.

Nichts davon berührt mich.

Im Gegenteil, ich sehe die Möglichkeiten, die ich mir nicht einmal in meinen dunkelsten Träumen hätte vorstellen können.

Ich kann mich aus Zeit und Raum bewegen und dieses Gefängnis von oben betrachten. Das Loch.

Dieser kurze Moment in Gefangenschaft ist nicht mehr als ein einziger Herzschlag in dem unendlichen Puls der Ewigkeit.

In wenigen Monaten schon werde ich zurück sein. Stärker. Mächtiger.

Ich sehne mich bereits nach ihr.

Der zarte Duft des Parfums auf ihrer Haut.

Die Haarsträhnen, die sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst haben und in ihren weißen Nacken fallen.

Die weiche Kontur ihres Kinns.

Das Zucken ihrer Mundwinkel, wenn sie aus dem Konzept gebracht wurde.

Die dunklen Wolken, die ihren Blick manchmal verdunkelten.

Ihr Gähnen, das sie nicht immer unterdrücken konnte.

Die witzige Art, wie sie »Ja, Sir!« sagte, ohne es zu meinen.

Ihre Frechheit, die ich nicht ausmerzen konnte.

Ich war immer schon ein Meister darin, Details zu entdecken. Und ihre Details, die ihr Ganzes ausgemacht haben, waren unwiderstehlich.

Sie ist so bezaubernd natürlich gewesen.

Ich spüre, dass mein Herz schneller schlägt, wenn ich nur an sie denke.

Aber ich spüre auch eine quälende Wut, mit der ich mich noch nicht beschäftigt habe. Denn wenn ich das tue, werde ich die aufgestaute Kraft gegen sie wenden. Ich tauche ab in diesen Gedanken und halte mich für eine ganze Weile an einem besonders dunklen Ort auf.

Als wäre ich im Schatten von etwas Unheilverkündendem gelandet.

Aber dann denke ich wieder an die Zukunft, die wie ein taunasses, glitzerndes Spinnennetz in der Morgensonne vor mir liegt.

Ich höre Schritte, die sich nähern. Die hohen Absätze knallen auf den Betonboden.

Ich weiß sofort, wer da kommt.

Ein anderes vergängliches Wesen, das mein ewiges Leben durchquert.

Anna-Maria Callini.

Oh, Anna-Maria, du hast nicht die geringste Ahnung, wie meine Pläne für dich aussehen.

Gleich stehst du dort in der Tür vor mir.

Und ich werde mein schönstes Lächeln aufsetzen.

Die Vorstellung kann beginnen!

KAPITEL 1

Anna-Maria Callini legte die Kleidungsstücke auf die Ottomane. Glatt und ordentlich. Die Bluse ganz nach oben, darunter den Rock. Der BH kam auf die Bluse, die Unterhose auf den Rock, die halterlosen Strümpfe in voller Länge ausgestreckt daneben. Sie stellte die Schuhe auf den Boden davor und hängte das Jackett auf den Kleiderständer. Die Handtasche legte sie auf den Tisch. Dann inspizierte sie das Ensemble mit kritischen Augen. Der schmale, eng anliegende stahlgraue Rock von Armani, die weiße Bluse, das graue Jackett von Prada und die rote Handtasche von Louis Vuitton. Dazu die Schuhe – von Manolo Blahnik – mit den Metallabsätzen. Das Set hatte sie sich auf ihrer letzten Reise in New York für gut fünftausend Euro gekauft. Merkwürdigerweise fühlte sie sich bei dem Anblick all der Sachen jetzt irgendwie billig. Als würde er ihre luxuriöse Fassade sofort durchschauen können. Aber wenigstens war sie für morgen vorbereitet. Und spürte, wie sich der Stress allmählich legte.

Sie zog die Tagesdecke vom Bett, kroch unter die Decke und legte sich mit einem Seufzer auf den Rücken. Wichtig war nur, dass sie schlafen konnte. Sie brauchte ihren Schönheitsschlaf. Sie stellte sich den Wecker, überprüfte ihn zweimal und schaltete dann das Licht aus. Sie wollte nur diese Nacht hinter sich bringen. Und ihn dann endlich wiedersehen. Eine Weile kämpfte sie gegen die innere Unruhe und Ungeduld an, aber dann gelang es ihr, sich zu entspannen. Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrer ersten Begegnung. Dort blieben sie hängen. Wie immer. Ihre Haut kribbelte, Erregung pochte im Unterleib. Sie schob ihre Hand unter die Decke und befriedigte sich. Aber auch das half nicht.

Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie sich dumm angestellt. Ihr waren die Knie weich geworden, und sie hatte gezittert. Das würde ihr dieses Mal ganz bestimmt nicht passieren. Damals hatte sie keine Chance gehabt, sich vor dem Sturm in Sicherheit zu bringen, mit dem Franz Oswald in ihr Leben eingedrungen war. Trotzdem beschlich sie das unruhige Gefühl, dass sie sich veränderte. Diese quälende Stimme im Hinterkopf. Sie war zur fiesen Bitch im Gerichtssaal geworden, zu einer Unerbittlichen. Sie hatte die Zeugin, die vor Oswald zu einem zitternden Angsthäschen wurde, vor allen demontiert.

Alles hatte damit angefangen, dass sie die Verfahrensakte durchgelesen hatte und ihr in den Unterlagen ein Foto von ihm in die Hände gefallen war. Dieser Blick. Natürlich kannte sie ihn aus der Zeitung, sein Foto war überall zu sehen gewesen. Die Tatsache, dass sie seine Anwältin sein sollte, machte daraus aber etwas Persönliches.

Schon vor ihrem ersten Treffen hatte sie sich wie magnetisch von ihm angezogen gefühlt. Dieses Gefühl hatte auch noch im Wagen auf dem Weg in die Untersuchungshaft angehalten. Vor Anspannung hatte sie Kopfschmerzen bekommen, die nicht verschwinden wollten. Wie ein warnendes Flüstern in der Peripherie.

Ihr blieb der Atem weg, als sie die Tür zum Besprechungszimmer öffnete. Er saß mit ausgestreckten Beinen auf seinem Stuhl. Das schwarze Haar lag auf seinen Schultern und verlieh ihm etwas Adonishaftes. Der Geruch seines Rasierwassers lag in der Luft und überdeckte den Gestank des Putzmittels.

Sie trat ins Zimmer und ging auf ihn zu, als plötzlich ihre Beine nachgaben und sie sich an der Lehne des Besucherstuhles festhalten musste. Was dann passierte, spielte sich in der Folge immer und immer wieder in ihrem Kopf ab. Sie sah, wie sich der Stoff seines T-Shirts über die breiten Schultern spannte, während er sich erhob. Ihr Blick klebte an seinem Körper und konnte sich nicht losreißen. Sie fühlte sich unbeholfen und linkisch, gleichzeitig fuhr ihr ein unangenehmer Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf. Es ging um die Wahrung des professionellen Abstands zu einem Klienten.

Nachdem sie sich hingesetzt hatte, erklärte er ihr detailliert, wie der Ablauf für sie beide aussehen würde. Das Gerichtsverfahren und die Zeit seiner Gefängnisstrafe, sofern es dazu kam. Danach würden sie sich privat häufiger sehen. Das hatte er ihr versprochen. Dazu kam das schwindelerregende Honorar, das er mehr oder weniger im Vorbeigehen erwähnte. Eine Summe, bei der sie um ein Haar einen Herzstillstand bekommen hätte. Sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Es rauschte in ihren Ohren, ihr brach der Schweiß aus, ihr Mund war wie ausgetrocknet.

»Alles in Ordnung?«, hatte er besorgt gefragt.

»Ja, natürlich, alles in Ordnung … Ich glaube, ich hab mich erkältet.«

»Das glaube ich nicht.«

»Wie bitte?«

»Hier ist gerade etwas anderes passiert.«

»Ich verstehe nicht?«

»Ich glaube, Sie verstehen es sehr gut. Was Sie gerade empfunden haben, werden Sie so niemals bei einem anderen Mann empfinden.«

Dann wandte er den Blick ab und betrachtete die staubige Wand des Besucherzimmers. Sie konnte förmlich sehen, wie es in seinem Gehirn arbeitete. Sie liebte seinen Blick. Intensiv. Als würde er jeden Augenblick einen Geistesblitz haben und alle Probleme dieser Erde lösen können.

»Ja, wenn wir unsere beiden Köpfe zusammenstecken, können wir dieses Verfahren hier gewinnen«, presste sie mühsam hervor.

»Oder es kommt zum Kurzschluss.« Er packte ihre Hand. »Ach was, das war nur ein Scherz. Natürlich wird das alles gut gehen.«

Seine Hand war warm und trocken. Lange Finger. Sein Daumen zitterte wie ein Schmetterling auf ihrer Handfläche.

Nur mit einer enormen Kraftanstrengung gelang es ihr, sich zusammenzureißen und drauflos zu plappern, wie sie diesen Prozess angehen sollten. Wie sie diese Sofia Bauman ausschalten und beweisen würde, dass sie eine unzuverlässige Zeugin ist.

Aber Oswald lächelte sie nur nachsichtig an.

»Nein, so werden wir das nicht machen.«

»Aber warum nicht?«

»Haben Sie schon einmal einer Spinne in ihrem Netz zugesehen, Anna-Maria?«

Unsicher schüttelte sie den Kopf.

»Na ja, also in diesem Spinnennetz haben sich Fliegen und andere Insekten verfangen. Zuerst denkt man, sie sind schon längst tot. Aber sie sind nur betäubt, verstehen Sie? Dann bewegt sich plötzlich eine von ihnen. Einer der Fäden zittert. Und die Spinne, die ganz oben am Rand des Netzes sitzt, krabbelt schnell dorthin. Man denkt, jetzt wird sie die Fliege fressen, aber so ist es nicht. Die Spinne betäubt die Fliege noch einmal. Lähmt sie. Denn die Spinne bestimmt, wann und wen sie isst. Alles in diesem Netz geschieht nach ihrem Willen. Verstehen Sie?«

Sie nickte, wollte um keinen Preis begriffsstutzig wirken.

»Einige der Spinnenweibchen heben die Beute für ihre Nachkommen auf, um ihr Überleben zu sichern. So viel zum Thema Hingabe. Ganz was anderes als die Tante auf ViaTerra«, fügte er – für sie unverständlich – hinzu und lachte.

Als er ihr dann den Plan unterbreitete, fingen ihre Beine unter der hässlichen Tischplatte unkontrolliert zu zittern an.

Es war Jahre her, dass sie ihre Energie in die Beziehung zu einem Mann investiert hatte. Männer in gut sitzenden Anzügen waren meistens Loser, pathetische Idioten, die ihn kaum hochbekamen. Aber Franz Oswald war wirklich anders. Er war ein Mann, der einen Plan hatte.

Einen teuflischen Plan.

KAPITEL 2

Franz Oswald saß bereits neben seiner Anwältin im Gerichtssaal, als Sofia hereinkam. Der Augenblick, vor dem sie so große Angst gehabt hatte, war gekommen. Sie verlor den Boden unter ihren Füßen. Ihr drehte sich der Magen um, aber dann gelang es ihr, die Übelkeit hinunterzuschlucken.

Nimm einen tiefen Atemzug.

In letzter Zeit kam die Angst immer seltener, aber wenn sie kam, war es wie ein Schlag in die Magengrube. Sie hob den Kopf, ihre Blicke trafen sich. Die Erinnerungen überwältigten sie mit einer solchen Kraft, dass sie es kaum aushalten konnte. Sie verabscheute ihn tatsächlich so sehr, wie sie es sich schon gedacht hatte, andererseits hatte die vollkommene Abwesenheit von Hass in seinen Augen etwas Entwaffnendes. Er wandte den Blick als Erster ab. Und gab ihr dadurch wieder Raum zum Atmen, den sie auch dringend benötigte, um sich mit bleischweren Beinen zum Stuhl zu schleppen und hinzusetzen.

Zuerst überkam sie die Erleichterung in Wellen und dann die Wut. Er soll verrotten. Jetzt bin ich es, die das Sagen hat.

Elvira und Sofia waren die Klägerinnen in dem Prozess. Ein ausgesprochen ungleiches Paar. Elvira verbrachte die Vorbereitungen der Verhandlung mit einem nie versiegenden Strom aus Tränen. Sofia hingegen verdrängte alle Gefühle. Stur biss sie die Zähne aufeinander. Sehnte sich nach dem Augenblick, wenn alles endlich überstanden war.

Der Gerichtssaal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Medien rieben sich die Hände bei dieser Sache, die alle anderen Nachrichten in den Hintergrund drängte, Politik, Kriege und Katastrophen. Alle Artikel waren mit Fotos von Oswalds nüchternem und besonnenem Gesichtsausdruck und seinem durchdringenden Blick versehen. Es gab Blogs, Forumsdiskussionen und Internetseiten, die sich für oder gegen ihn aussprachen. Kein Tag verging, an dem der Fall nicht in den Nachrichten erwähnt wurde. Wie Hyänen hatte eine Gruppe von Reportern anfangs das Haus ihrer Eltern belagert, in der Hoffnung, ein schmuddeliges Detail über Oswald aufdecken zu können. Obwohl sie einen weiten Bogen um die Reporter gemacht hatte, waren ihr Attribute angedichtet worden wie »religiöse Fanatikerin« oder »Oswalds Schneckchen«. An die hundert Male wurde sie als »mutig« beschrieben, ein Adjektiv, das die Medien liebten. Aber sie hatte konsequent alle Interviewanfragen abgelehnt. Es war noch zu früh, um so über dieses Thema zu sprechen.

Sie warf einen Blick zu Oswald, der seiner Anwältin Anna-Maria Callini gerade etwas zuflüsterte. Sie war nicht schön im klassischen Sinn, dazu waren ihre Gesichtszüge zu scharf, die Nase zu groß. Aber ihre Kleidung und ihr Make-up betonten die schlanke Figur und die großen, dunklen Augen. Sexy und herablassend wie sonst was. Wenn sie nicht das Wort hatte, ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen und starrte wahllos Leute an. Wie ein Raubvogel. Die Stimme dieses zarten Wesens war tief und heiser, und wenn sie das Wort erteilt bekam, gab es kein Halten. Es gab überhaupt nichts, das ihre durchdringende Stimme hätte ausschalten können.

Sie saßen eng nebeneinander, sie und Oswald. Seine Hand lag auf ihrer Stuhllehne. Er lehnte sich zu ihr rüber, flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie ein falsches, gekünsteltes Lächeln aufsetzte.

Als Sofia mit ihrer Aussage an der Reihe war, konzentrierte sie sich auf das Gesicht der Staatsanwältin, Gunhild Strömberg. Zwang sich, alles andere auszublenden. Es funktionierte auch. Ihre Stimme blieb fest, sogar während des unerbittlichen Kreuzverhörs von Anna-Maria Callini.

Am schlimmsten wurde es, als Elvira mit ihrer Aussage dran war. Denn um sie ging es in dem Gerichtsverfahren hauptsächlich. Sie war die Vierzehnjährige, die Oswald auf dem Dachboden eingesperrt und zu Strangulationssex gezwungen hatte. Sofias Aussage darüber, wie Oswald mit dem Personal umgegangen war, wurde in den Hintergrund gedrängt, als Elvira mit bebender Stimme zu reden begann. In ihrem geblümten Sommerkleid sah sie wie ein kleines Mädchen aus. Bekam kaum ein Wort über die Lippen. Als Callini sie angriff und ihr unterstellte, dass sie Oswald zu sich auf den Dachboden gelockt und zu den Spielen überredet hätte, fing sie an, so verzweifelt zu schluchzen, dass man sie nur in den Arm nehmen und trösten wollte. Der Richter hatte die Zuschauer während dieser Befragung aus dem Saal geschickt, aber Sofia sah die Träne, die einem der Schöffen über die Wange lief. Der Rechtsbeistand der Klägerin, eine sanftmütige Frau in den Sechzigern, hatte die meiste Zeit ihren Arm um Elviras Schulter gelegt und strich ihr immer wieder über den Rücken. Aber die Tränen liefen ungehindert weiter, wie ein Wasserfall.

Als Gunhild Strömberg an der Reihe war und Oswald ins Kreuzverhör nahm, kam sie ohne Umschweife zur Sache.

»Ich werde den Hintergrund des Angeklagten kurz beleuchten, da ich der Überzeugung bin, dass er einen unmittelbaren Einfluss auf diesen Fall hat«, sagte sie und wandte sich an Oswald. »Erzählen Sie uns doch bitte von dem Geständnis, das Sie auf Band aufgenommen haben und das von Ihrem Leben vor ViaTerra handelt.«

Alle wussten, worauf sie hinauswollte. Oswald hatte eine Tonaufnahme gemacht, auf der er die scheußlichsten Verbrechen gestanden hatte. Wie er als Teenager ein junges Mädchen erdrosselt hatte. Dass er danach von Dimö geflohen war, um seine gesamte Familie in Frankreich zu ermorden und alleiniger Erbe zu sein. Und wie er dann auf den Herrensitz auf der Insel zurückgekehrt war und die Sekte ViaTerra gegründet hatte. Er war klug genug gewesen, die Aufnahme Romanentwurf zu nennen. Nichts konnte bewiesen werden.

Callini protestierte bei Strömbergs Frage. Irrelevant. Das habe nichts mit dem Fall zu tun. Aber Oswald bremste sie mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete, also ließ ihn der Richter auf die Frage antworten.

»Es ist wie gesagt ein Romanentwurf, kein Geständnis. Meine Lebensphilosophie. Die Grundlage von ViaTerra basiert auf meiner Überzeugung, Energie aus der Vergangenheit zu ziehen. Das ist ein langwieriger Prozess und erfordert echte Anstrengung, bis man sich der schädlichen Energie entledigen kann. Niemand ist auf diesem Gebiet so weit gekommen wie ich …«

Sofia sah zu Elvira hinüber und verdrehte die Augen, was dieser ein kleines Lächeln in einem Meer aus Tränen aufs Gesicht zauberte. Gunhild Strömberg unterbrach Oswald ungeduldig.

»Aber ist es wahr, dass Sie Ihre Familie in Frankreich umgebracht haben?«

Callini explodierte, doch Oswald bremste sie ein zweites Mal mit seinem Blick. Er hatte die volle Aufmerksamkeit. Und war in seinem Element.

»Was ist los mit diesem Land? Darf man nicht mehr über das schreiben, was man möchte? Meine Familiengeschichte ist tragisch. Ich hatte große Schwierigkeiten, über den Verlust hinwegzukommen. Habe durchgespielt, wie es wäre, wenn ich die Schuld dafür auf mich nehme. Sie glauben doch nicht wirklich, dass ich jemandem etwas antun könnte? Mein Handwerk ist es, Menschen Leben zu schenken, aber doch nicht, sie zu vernichten. Ich würde keiner Fliege etwas zuleide tun.«

Sofia schielte zu den Schöffen hinüber, einer von ihnen nickte unbewusst mit dem Kopf. Im Saal war es mucksmäuschenstill. Alle Blicke waren auf Oswald gerichtet. Seine Stimme wirkte klar und ruhig und verbreitete eine fast hypnotische Stille im Raum.

Gunhild Strömberg räusperte sich und starrte Oswald an.

»Gehört etwa auch erzwungener Strangulationssex mit einer Minderjährigen zum Konzept Leben schenken? Wir anderen, wir normalen Menschen nennen das Vergewaltigung.«

»Ich bin kein Vergewaltiger. Ich führe heilende Rituale durch. Elvira hatte mir gesagt, dass sie schon sechzehn ist. Sie war bis über beide Ohren in mich verliebt, also kann man das wohl kaum Vergewaltigung nennen. Aber jetzt möchte ich gerne auf Ihre Frage antworten, Gunhild, denn so heißen Sie doch, oder?«

Er sprach ihren Namen so aus, dass er sonderbar und altmodisch klang.

»Soweit ich weiß, ist es in Schweden legal, Sexspiele zu praktizieren, solange beide Partner einvernehmlich ihre Zustimmung geben. Sex mit Würgen kann einem ein fantastisches und befreiendes Gefühl geben. Vielleicht würden Sie das auch gerne mal ausprobieren, Gunhild?«

Unter den Zuschauern brach Gelächter aus, und Gunhild Strömbergs Wangen überzog eine sanfte Röte. Im Saal entstand Chaos, bis der Richter alle zur Ruhe rief.

Dann kamen die Zeugen. Nur Benjamin, Sofias Freund, und Simon, der Chefgärtner in ViaTerra, hatten gewagt, gegen Oswald auszusagen. Die anderen vom Personal hatten sich nicht getraut, vielleicht hatte ihnen einer der Blogger mit der Hölle auf Erden gedroht, wenn sie sich gegen Oswald stellten. Es hatte keine Bedeutung, wie viel Negatives über Oswald in den Medien stand, er verfügte über eine Gruppe von ergebenen Anhängern, die ständig wuchs. Außerdem gab es viele Prominente, die ihn verehrten.

Viele vom Personal sagten allerdings explizit für ihn aus. Einige davon hatte Sofia als ihre Freunde bezeichnet. Madeleine, Oswalds Sekretärin, und Bosse, seine rechte Hand. Benny und Sten, zwei abgestumpfte, aber energische Wachen. Doch am schlimmsten war die Aussage von Mona und Anders, Elviras Eltern. Sofia warf ihnen hasserfüllte Blicke zu, aber ihre leeren Augen sahen durch sie hindurch.

Einer nach dem anderen kam in den Saal und gab seine Aussage zu Protokoll. Sie beteuerten alle, dass Oswald der sympathischste Sektenführer auf der ganzen Welt sei. Er habe sich um sie gekümmert. Ihnen dabei geholfen, einen Job zu finden. Er habe Tag und Nacht gearbeitet, damit die Geschäfte gut liefen, und das immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie hätten alle mitbekommen, dass Elvira in eine pubertäre Krise geraten war und sich in ihre Begeisterung für Oswald hineingesteigert hatte.

Sofia presste ihre Fingernägel tief in die Handfläche, hätte sie am liebsten angeschrien, dass sie Schweine seien und nur Lügen verbreiteten. Da sah sie Simon und Benjamin, die sich in den Zuschauerraum gesetzt hatten. Sie konzentrierte sich auf Simons ausdrucksloses Gesicht. Das spürte er, drehte sich zu ihr um und schüttelte ganz langsam den Kopf. Dann lächelte er, vollkommen gelöst, als existiert die Heuchelei im Gerichtssaal gar nicht. Typisch Simon. Aber es half ihr dabei, sich wenigstens ein kleines bisschen zu entspannen.

An dem Tag, als die Polizei Oswald abgeholt hatte, war alles noch so schlüssig und selbstverständlich gewesen. Als würde sie in einem Actionfilm mitspielen und hätte gerade den letzten, tödlichen Schuss abgefeuert. Oswald war verhaftet worden. Sie war nach Hause zurückgekehrt. Bis obenhin voll mit Adrenalin. Ganz schwindlig von dem berauschenden Gefühl von Freiheit, das mehrere Wochen lang anhielt.

Aber dann begannen die Erinnerungen, die unter der Oberfläche geschlummert und gebrütet hatten, nach draußen zu drängen. Die Nächte waren am schlimmsten. In der Dunkelheit waren die Bilder am stärksten und am klarsten in den Stunden vor der bleichen Morgendämmerung. Wenn sie nicht im Bett lag und grübelte, war ihr Schlaf unruhig und voller Alpträume. Verschiedene Versionen des immer gleichen Alptraums. Oswald, der sie im Büro belästigte. Manchmal schreckte sie von einem lauten Schrei auf, der wie der einer Hyäne klang. Ihr Herz pochte, und sie fragte sich, ob sie geschrien hatte. Sie ertrug es nicht, an ihn zu denken. Dann wieder blieb ihr Herz fast stehen. Manchmal bildete sie sich ein, dass er hinter der Tür in ihrem Zimmer stand. Sie sah seine Gesichtszüge im Dunkeln. Zwei schwarze Löcher waren dort, wo die Augen saßen. So wie er auch an dem besagten Abend im Büro auf sie gewartet hatte, um sich an ihr zu vergreifen.

Der Traum war so deutlich und real, dass sie aufstehen musste. Manchmal lief sie auf und ab, bis sich ihr Puls wieder beruhigt hatte. Sie versuchte, sich tröstende Gedanken einzureden: Er ist ja nicht den ganzen Weg gegangen, anderen ist es viel schlimmer als dir ergangen, stell dich nicht so an. Und doch blieb immer dieses düstere, Unheil verkündende Gefühl zurück. Dass sie sich wieder auf dem Weg dorthin befand, zurück in dieses Büro und an diese Wand.

Sie hatte es auch mit Schlaftabletten probiert, aber die hatten keinen Einfluss auf den immer wiederkehrenden Traum gehabt, der ihre Nächte zerstörte.

Gleichzeitig hatte sich das Gerichtswesen mit lautem Ächzen und Stöhnen in Gang gesetzt, und plötzlich spürte sie wieder Oswalds Schnaufen im Nacken. Sofia fand, dass diese Gerichtsverhandlung der Gerechtigkeit richtiggehend ins Gesicht spuckte. Oswald durfte ungehindert seine Lügen verbreiten. Callini durfte ungehindert Elvira drangsalieren – so lange, bis die fast zusammenbrach. Im Schlussplädoyer aber warf die Staatsanwältin frustriert die Arme in die Luft und rief:

»Sie war erst vierzehn, verdammt noch mal. Dieses Schwein hat sie auf dem Dachboden eingesperrt und vergewaltigt!«

Und trotz der Proteste sowohl vonseiten der Anwältin als auch des Richters hinterließ das einen starken Eindruck.

Vier Stunden mussten sie warten, bis der Richter und die Schöffen sich beraten hatten. Die Sonne war längst hinter regenschweren Wolken vor den Fenstern des Rathauses untergegangen. Sie warteten, gespannt zwar, aber auch voller Angst.

Als sie zurück in den Gerichtssaal gerufen wurden, war Elvira im Begriff, auch ihren letzten Fingernagel abzukauen. Sofia hatte sich in Benjamins Arme geschmiegt und hatte mit den schrecklichsten Gedanken zu kämpfen, wie das Leben wohl weitergehen würde, falls Oswald freigesprochen werden sollte.

Am Ende gab es aber doch eine Freiheitsstrafe. Allerdings nur zwei lächerliche Jahre. Jedoch nur für das, was er dem Personal auf der Insel angetan hatte. Die Liste war lang, beweisen aber konnten sie nur »Vergewaltigung einer Minderjährigen«, was in »sexuelle Nötigung« abgemildert wurde.

Nachdem das Urteil verkündet worden und alles endlich vorbei war, sah Sofia ein letztes Mal zur Bank des Angeklagten hinüber. Oswald war aufgestanden, nickte Callini zufrieden zu. Da drehte sich auf einmal alles in Sofias Kopf. War das hier ein gutes Ergebnis? Immerhin hatte er eine Gefängnisstrafe bekommen. Da begriff sie, dass er auch das geplant hatte. Er hatte gewusst, dass er bestraft werden würde, also nahm er die zwei Jahre in Kauf, die er vermutlich in einer Einzelzelle verbringen durfte. Dort konnte er sich ausruhen. Seinen idiotischen Roman schreiben. Und ziemlich sicher die Überreste von ViaTerra im Auge behalten.

Aber das interessiert mich nicht mehr, dachte sie. Nie wieder. Nie wieder in meinem Leben werde ich mich in deiner Nähe aufhalten müssen. Den Geruch deines widerlichen Rasierwassers ertragen müssen. Dein Gefasel abtippen müssen oder deine nörgelige Stimme aushalten müssen. Nie wieder wirst du mich anfassen. Ich hoffe, dass du im Gefängnis bekommst, was du verdienst. Allein mit drei Typen und einem Besenstiel in der Dusche, und … Aber wahrscheinlich gab es das sowieso nur im Fernsehen oder in amerikanischen Gefängnissen.

Da drehte er sich um, und ihre Blicke begegneten sich. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, sie schnappte nach Luft. Sah diesen Glanz in seinen Augen. Bemerkte das Lächeln dort, während seine Lippen unbeweglich blieben.

Dieser Gesichtsausdruck, den sie so gut kannte, machte sie nachdenklich.

Wie konnte das alles so schiefgehen?

Wie war er zu dem geworden, der er war?

Und wo kam das Böse eigentlich her?

KAPITEL 3

Simon sah Sofia an, die mit dem Profil zu ihm gewandt saß. Sie war angespannt, ihr Kiefer arbeitete, erzeugte ein schleifendes Geräusch, weil sie unbewusst mit den Zähnen knirschte. Er fand, dass sie blass und müde aussah. Viel müder als damals auf ViaTerra, als sie zur Sklavenarbeit verdammt waren und nur fünf, sechs Stunden pro Nacht schlafen durften.

Simon war zwiegespalten. Einerseits interessierten ihn die Ereignisse im Gerichtssaal kaum. Oswald hatte so viel auf seinem Gewissen, was ihn endlich eingeholt hatte, das konnte doch nur mit einer Gefängnisstrafe enden. Auf der anderen Seite hatte ihn so ein unangenehmes, undefinierbares Gefühl beschlichen, was ganz untypisch für ihn war. Es hatte mit Oswalds Verhalten zu tun. Wenn man nicht wusste, dass er der Angeklagte war, konnte man den Eindruck bekommen, dass er hier das eigentliche Sagen hatte. Er wirkte unberührt und fast träge, manchmal sogar amüsiert. Simon konnte nicht einschätzen, ob seine Befürchtungen berechtigt waren oder ob sie mit seinen immer wiederkehrenden Panikattacken zu tun hatten.

Sein größter Wunsch war es, so schnell wie möglich auf die Insel zurückzukehren, zurück zu seinem Job in der Pension. Er hoffte sehr, dass sie sich in der Zwischenzeit gut um das Gewächshaus gekümmert hatten. Ihm gefiel seine neue Arbeit. Der Herbst stand vor der Tür, und es gab viel zu tun. Aber er hatte alle Zeit der Welt, sein Leben würde nie wieder so aussehen wie bei ViaTerra. In der Pension wurde er nicht angebrüllt, dass er schneller arbeiten sollte, es gab keine Katastrophen, und er wurde auch nicht an andere Projekte ausgeliehen wie eine beliebige Spielfigur. Nein, ihm gefiel seine neue Arbeit sehr. Es würde wunderbar werden, zurück auf der Insel zu sein.

Aber Simon gefiel Sofias ernster Gesichtsausdruck nicht. Blass, mit schwarzen Ringen unter den Augen. Man sah ihr an, dass es ihr nicht gut ging, obwohl sie sich so hübsch angezogen hatte. Sofia hatte etwas an sich, das die Blicke anzog. Nicht alle Männer hatten einen Sinn für die Schönheit, die unter ihrer Oberfläche strahlte. Sie schminkte sich nicht und trug ihre langen welligen Haare meistens in einem langen, geflochtenen Zopf. Aber jeder, der ihrem Reiz einmal erlegen war, kam nicht mehr von ihr los. Simon war froh, dass er sie nicht auf diese Weise anziehend fand. Er wollte einfach nur, dass sie wieder so ausgelassen war wie damals, als sie gemeinsam für die Sekte gearbeitet hatten. Sie hatten die Schweine gefüttert und sich über Bücher unterhalten. Waren durch den Schnee gestapft und hatten hinter dem Rücken ihrer Wache Benny Grimassen geschnitten. Sie hatten über alles und jeden gelacht, die harte Arbeit hatte sie nicht brechen können. Sie wussten, dass Oswald den Verstand verloren hatte, aber sie hatten weitergekämpft. So sollte Sofia wieder sein.

Aber auch nach der Urteilsverkündung, draußen auf dem Flur, sah sie nicht zufrieden aus.

Simon nahm ihren Arm.

»Ich lade euch zum Essen ein. Wer kommt alles mit?«

Sofia, Benjamin und Elvira kamen mit.

»Komm, hör auf zu schmollen«, sagte Benjamin zu Sofia, als sie im Restaurant saßen. »Er geht ins Gefängnis, das wollten wir doch, oder?«

»Für zwei lächerliche Jahre«, sagte Sofia. »Für das, was er den Leuten angetan hat. Das wird ihn kein bisschen verändern. Für ihn wird das wie Urlaub sein. Er kann sich ausruhen und wiederauferstehen, noch böser als je zuvor. Und er wird unendlich viele Liebesbriefe bekommen. So einem wie ihm kann nichts etwas anhaben.«

»Aber wenigstens ist ViaTerra aufgelöst worden«, sagte Elvira.

Simon raufte sich die Haare. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, etwas zu sagen, aber er war auch nicht besonders gut darin, Dinge für sich zu behalten. Also erzählte er alles, was seit dem Tag auf der Insel passiert war. Von dem Tag an, als die Polizei die Razzia durchgeführt und Oswald festgenommen hatte, bis zu dem Tag, an dem das ganze Personal mit der Fähre zurück ans Festland übergesetzt war.

Simon war gerade dabei gewesen, ein Spalier für Weinreben aufzustellen, als die Polizei aufgetaucht war. Ein sonniger Tag. Die Luft im Gewächshaus war so warm und feucht gewesen, dass man kaum Luft holen konnte. Wie in einer Sauna. Die Pflanzen kämpften um den Sauerstoff. Er hatte wahnsinnig geschwitzt. Plötzlich ging die Tür auf, und wie eine Armee stürmten die Polizisten mit gezogenen Waffen herein. Übernahmen die Gewalt über das Herrenhaus. Drehten jeden Stein um. Am Anfang stand Simon mit offenem Mund daneben, starrte umher und versuchte alles zu verstehen. Er sah Elvira, die in eine Decke gewickelt und in Begleitung einer Polizeibeamtin aus dem Haus geführt wurde. Erst da begriff er. Sein Herz machte einen Satz. Das war ernst. Die Mauern waren eingestürzt. Reglos blieb er vor dem Gebäude stehen, bis eine Polizistin auf ihn zukam.

»Sie müssen mitkommen«, sagte sie, ihr Blick klebte an seinem schmutzigen Overall. »Vielleicht sollten Sie sich sauber machen und etwas anderes anziehen. Wir wollen das gesamte Personal befragen.«

Die Vernehmung dauerte drei Tage lang an, Simon erzählte ihnen alles. Von den Strafen, der erzwungenen Schlaflosigkeit und dass sie wie Gefangene gehalten wurden. Die Worte flossen nur so aus ihm heraus, wie ein rauschender Bach. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er so viel geredet.

Nach den drei Tagen wurden sie alle nach Hause geschickt, auch jene, die kein anderes Zuhause mehr hatten als ViaTerra. Aber der Landsitz war ein Tatort, wurde abgesperrt, der Zutritt war verboten.

So kam es, dass sie alle zusammen auf der Fünfuhrfähre über den Sund zum Festland saßen. Achtundvierzig Menschen, ohne Oswald, der so viele Jahre lang ihr leuchtender Anführer gewesen war. Sie waren ohne Job, ohne Zukunftspläne. Verraten und verkauft. Einige von ihnen waren verwirrt und traurig. Andere insgeheim froh und erleichtert.

Madeleine ergriff als Erste das Wort. Die mit den farblosen Augen, die Simon Angst machten.

»Das hier ist ein ganz großer Irrtum, ich werde Franz niemals im Stich lassen«, sagte sie. »Sofia ist nicht mehr ganz bei Trost.«

Anna, die von Anfang an in Oswald verliebt gewesen war, stimmte ihr zu.

»Habt ihr Elvira gesehen? Sie hat wie ein Baby geweint. So eine falsche Schlange.«

»Die werden Franz bald wieder freilassen«, sagte Madeleine. »Er wird zurückkommen, versteht ihr? Wir müssen zusammenhalten, bis alles wieder so ist wie vorher.«

Nur Mira, die in ihrer Zeit bei der Sekte hauptsächlich Strafarbeiten hatte ausführen müssen, sah unentschlossen aus.

»Ich werde nach Hause fahren und über all das hier nachdenken«, murmelte sie.

»Was gibt es da nachzudenken?«, erwiderte Bosse, Oswalds rechte Hand. »ViaTerra ist die einzige Wahrheit, natürlich versuchen die nur, Franz zum Schweigen zu bringen. Wir müssen zusammenhalten.«

Und so ging das weiter. Entweder machte man mit oder man war raus.

Simon nahm an dieser sonderbaren Unterhaltung nicht teil, er war zerstreut. Er hatte die Insel seit drei Jahren nicht mehr verlassen. Als sie alle auf die Fähre gegangen waren, hatte es sich richtig angefühlt. Er würde auf den Hof seiner Eltern in Småland fahren und dort auch mit seinen Händen arbeiten, denn auf Dimö gab es für ihn nichts mehr zu tun. Zum Glück wusste niemand, was er dachte und fühlte und dass er Sofia zur Flucht verholfen hatte. Und so sollte es auch bleiben. Als das Festland aber immer näher kam wie ein schmaler Streifen am Horizont, wuchs der Zweifel in ihm. Die grelle Stimme seiner Mutter hallte in seinem Kopf. Er sah Daniels traurige Augen an diesem verhängnisvollen Abend. Er hatte sich geschworen, nie wieder zurückzukehren. Seiner Mutter niemals zu verzeihen. Seine Erinnerung an die Zeit auf dem Bauernhof ganz tief unter seinen anderen Gedanken zu vergraben. Und da saß er nun, war auf dem Weg von dem einen Übel weg in die Klauen des anderen Übels geraten. Er wusste keinen Ausweg. Konnte keinen Entschluss fassen.

Mit Gewalt beendete er sein Grübeln und betrachtete die Gruppe, die sich in zwei Lager gespalten hatte. Die einen waren dabei, die anderen waren raus. Das Lager mit den treuen Anhängern war bedeutend größer. Anders und Mona, Elviras Eltern, saßen schweigend an der Reling der Fähre. Auch Madeleine hatte bemerkt, dass die beiden noch kein Wort gesagt hatten.

»Was ist mit euch? Was werdet ihr tun?«

Mona presste die Lippen aufeinander und wandte den Kopf ab. Aber Anders stand auf und legte beim Sprechen eine Hand auf die Schulter seiner Frau.

»Wir bleiben bei dir, Madeleine. Was passiert ist, hat Elvira selbst zu verantworten. Sie hat von Anfang an für Franz geschwärmt. Ihretwegen werden wir ViaTerra nicht im Stich lassen. Stimmt’s, Mona? Wir verstoßen Elvira.«

Madeleine quietschte vor Freude.

»Genau, so will ich es hören!«

In Simon aber stieg langsam die Wut hoch. Auch er stand auf, ging auf Anders zu. Ihn überkam der Impuls, Anders zu schlagen und dann über Bord zu werfen. Aber in dieser Sekunde rief ihn der Kapitän Edwin Björk aus dem Ruderhaus.

»Da will dich jemand sprechen, hat auf meinem Handy angerufen. Kommst du mal eben?«

Simon zögerte und nahm das Handy, das Björk ihm hinstreckte.

Eine ihm unbekannte Frauenstimme stellte sich als Inga Hermansson vor, sie leitete die Pension auf der Insel. Nach einem kleinen Sermon aus Entschuldigungen und Beteuerungen, wie schrecklich das alles mit der Sekte gewesen sei, sagte sie schließlich, dass sie von Simons Pflanzen- und Gemüsezucht gehört habe. Sie würde ihm gerne eine Stelle bei sich in der Pension anbieten, weil sie in Zukunft nur noch Lebensmittel aus lokalem und ökologischem Anbau verwenden wolle. Sie gab ein bisschen an, erzählte von den begeisterten Gästen von ViaTerra, die Simon in den höchsten Tönen gelobt hätten. Sein Herz schwoll vor Stolz an. Unwillkürlich dachte er an die Gewächshäuser und Felder von ViaTerra. Er dachte an die Weinreben und Tomaten, die jetzt alle verdorren würden. Die Felder, die zuwuchsen und verödeten. Vor seinem inneren Auge sah er, wie alles, was er in den letzten Jahren erschaffen hatte, vergehen würde. Plötzlich tauchte die Stimme seiner Mutter auf, aber sie verstummte schnell wieder und wurde von dem Glucksen des Wassers ersetzt, das gegen den Rumpf der Fähre schlug. Er wurde ganz ruhig.

»Wann soll es losgehen?«, fragte er.

»So schnell Sie können.«

»Ich nehme die nächste Fähre zurück auf die Insel«, sagte er und beendete das Telefonat, ohne auf eine Antwort von Inga Hermansson zu warten.

Noch am selben Tag kehrte er auf die Insel zurück und fing sofort mit seiner Arbeit in der Pension an. Die Erinnerungen an die Zeit in der Sekte lösten sich auf, sobald er wieder mit seinen Händen in der Erde arbeiten konnte. Aber der Gedanke, dass ViaTerra auferstanden war – wie etwas Lebendiges, ein Wesen, das sich bewegte und atmete –, ließ ihn nicht mehr los.

Die anderen saßen schweigend beisammen, nachdem er seine Geschichte beendet hatte.

»Aber glaubst du, dass sie auf die Insel zurückkommen werden?«, fragte Elvira ängstlich.

»Wer weiß das schon«, antwortete Simon. »Ich finde, es fühlt sich an, als wäre da was im Gange.«

»Ach komm, wenn Madde den Laden schmeißen würde, wäre es das totale Chaos«, sagte Benjamin. »Und was interessiert es uns denn? Sie können uns doch nichts anhaben.«

»Ich will da gar nicht drüber nachdenken«, sagte Sofia. »Aber du kannst für uns doch die Augen offen halten, Simon, oder?«

Simon nickte. Noch war er sich nicht sicher, deswegen war es wohl besser, den Mund zu halten, bis er etwas Konkretes hatte.

»Was machst du jetzt?«, fragte Sofia Elvira. »Hast du jemanden, der sich um dich kümmert?«

»Ich wohne bei meiner Tante in Lund. Werde wieder zur Schule gehen. Dann werden wir weitersehen.«

Ein Schatten fiel über Elviras Gesicht. Zwischen ihren hellen Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte. Etwas beschäftigte sie, und Simon war sich nicht sicher, ob es mit dem Gerichtsverfahren zu tun hatte.

Die schwarzen Augenringe hatte sie schon lange, die roten Augen erst seit dem Morgen. Elvira ging es nicht gut.

»Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst? Und bist du traurig darüber, wie sich Anders und Mona dir gegenüber verhalten?«, fragte er sie.

»Nein, alles in Ordnung. Wir haben uns nie wirklich nahgestanden. Ich mochte sie schon und alles, aber wir haben immer in religiösen Gruppen gelebt, und ich habe einfach die Nase voll davon. Mein Vater hat nie aufgegeben. Er wollte immer, dass wir alle auf das Materielle verzichten. Versteht ihr? Dann spielt es nämlich auch keine Rolle, wo man wohnt und wo man zur Schule geht.«

»Oder ob ein sadistisches Schwein die eigene Tochter vergewaltigt«, brach es aus Sofia hervor. Unwillkürlich sog sie die Luft wieder ein, um die Worte zurückzunehmen.

Elvira schien es jedoch nichts auszumachen. Sie nickte und rollte mit den Augen, wobei ihre langen Wimpern gegen ihre Augenlider tippten.

»Aber eine Sache habe ich noch nicht verstanden«, sagte Benjamin. »Wie kann es sein, dass Anders und Mona zugelassen haben, dass du gegen Oswald aussagst? Du bist doch noch gar nicht volljährig?«

»Sie haben gesagt, ich soll machen, was ich will. Sie haben mich verstoßen. Für sie existiere ich nicht mehr.«

»Das ist alles so krank!«, sagte Sofia.

»Aber es ist besser so. Ich möchte einfach nur ein normales Leben führen und kein Kind einer Sekte mehr sein. Ich möchte normale Freunde finden und nach der Zehnten von der Schule gehen.«

Simon saß Sofia gegenüber. Sie hatte ein bisschen Farbe im Gesicht bekommen. Und ihre Augen leuchteten wieder. Sie würde schon zurechtkommen, jetzt nachdem das Urteil gefällt war.

»Und was machst du?«, fragte er sie. »Hast du einen neuen Job?«

»Ich suche noch«, sagte sie und senkte den Blick, wirkte plötzlich wieder verschlossen.

Simon wusste sofort, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte.