Die drei magischen Worte
Als Katze des Dalai Lama, die mit Seiner Heiligkeit unter einem Dach lebt, trifft man nicht nur ständig auf faszinierende Persönlichkeiten, sondern hört auch viele spannende Geschichten. Aus dieser Fülle eine passende Auswahl für ein Buch zu treffen, fällt der „kleinen Schneelöwin“ nicht leicht und doch hat sie es geschafft … Lassen wir uns also von ihr entführen zu der Juweleninsel, wo erstaunliche Abenteuer auf uns warten, zu den vier Damen eines Buchclubs, die auf wundersame Weise etwas über ihre früheren Leben erfahren oder zu Yonten, dem zahnlosen alten Bauern, der doch noch die Erleuchtung erlangt.
Eine wunderbare Sammlung von Erzählungen, die die Lebensweisheit des Buddhismus auf ebenso inspirierende wie vergnügliche Weise vermittelt und wertvolle Impulse für das eigene Leben schenkt.
David Michie
Die drei magischen Worte
Buddhistische Weisheitsgeschichten, die das Leben wandeln können
Mit einem Vor- und Nachwort von der Katze des Dalai Lama
Aus dem Englischen übersetzt
von Kurt Lang
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Astral Traveler’s Handbook and other Tales« im Verlag Conch Books, an imprint of Mosaic Reputation Management, Ltd.
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Lotos Verlag
Lotos ist ein Verlag der Verlagsgruppe Random House GmbH.
ISBN 978-3-641-24377-7
V001
Copyright © 2018 by Mosaic Reputation Management (Pty) Ltd
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Lotos Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Annegret Scholz
Alle Rechte sind vorbehalten. Printed in Germany.
Einbandgestaltung: Guter Punkt, München, unter Verwendung eines Motivs von © MariyaL /Shutterstock
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
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Inhalt
Vorwort von der Katze des Dalai Lama
Die Geschichte vom zahnlosen alten Bauern
Der Sera-Street-Lesekreis
Das Handbuch für den Astralreisenden
Wenn sie doch nur sprechen könnten
Erwachen in der Leichenhalle
Eine Herzensangelegenheit
Genau so
Die Juweleninsel
Die vier Unermesslichen
Nachwort von der Katze des Dalai Lama
Vorwort
von der Katze des Dalai Lama
An einem wunderschönen Morgen im Himalaja kam mir eine großartige Idee. Ich lag gerade auf meinem Lieblingsplatz – der Fensterbank im Empfangszimmer des Dalai Lama. Hier verbringe ich viel Zeit damit, die Sonne zu genießen und dem Treiben im Innenhof einen Stock tiefer zuzusehen. Und natürlich den hochinteressanten Gesprächen zu lauschen, die in diesem Raum geführt werden.
An besagtem Morgen also bekam Seine Heiligkeit Besuch von einem der einflussreichsten Regisseure Hollywoods. Da ich als Katze Seiner Heiligkeit höchsten Wert auf Diskretion lege, werde ich euch selbstverständlich nicht verraten, um wen es sich dabei handelte. Einige kleine Hinweise müssen genügen.
Wenn ihr jemals Mitleid mit einem kleinen Außerirdischen hattet, einen vor Dinosauriern wimmelnden Vergnügungspark bestaunt oder an der Jagd nach verlorenen Schätzen teilgenommen habt, könnt ihr euch womöglich denken, um wen es sich bei diesem Besucher handelte. Ihr wisst schon, der Mann mit dem Bart und der Brille. Genau der!
Ich verbrachte geraume Zeit in angenehmem Halbschlaf, träumte vor mich hin, schnurrte leise und hörte den beiden Männern nur mit halbem Ohr zu. Sie unterhielten sich darüber, dass die Sprache die Macht hat, uns an Orte zu bringen, die wir auf anderem Wege niemals erreichen können. Bestimmte Phrasen und Redewendungen seien diesbezüglich besonders wirkungsvoll, behauptete unser Gast. »Denken wir nur an die magischsten Worte überhaupt …«, sagte er.
Sofort fingen meine Schnurrhaare vor Neugierde an zu zittern. Wir Anhänger des tibetischen Buddhismus haben ja ein Faible für magische Worte. Offenbar wollte uns der Regisseur ein ganz besonderes Mantra verraten, das das Schicksal eines jeden, der es hörte, zum Positiven veränderte.
Dabei glaubte ich schon erraten zu haben, wie diese Worte lauteten. Eigentlich war es kinderleicht, weil ich sie Tag und Nacht von den Mönchen und unseren Besuchern aus dem Westen mit großer Inbrunst vorgetragen hörte: Om mani padme hum.
Es war ein Mantra der Liebe und des Mitgefühls. Wenn man es mit wachsendem Verständnis und zunehmender Überzeugung wiederholt, haben diese Worte so gut wie immer eine magische Wirkung – selbst wenn man diese nicht sofort bemerkt.
Eine frische Brise von den eisbedeckten Gipfeln trug den Duft der Himalaja-Kiefer in meine Nase. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass ich derlei Dinge wusste. Ich war wirklich eine mit enormer Weisheit gesegnete Katze.
Die Kunstpause, die der Regisseur nach seinen letzten Worten gemacht hatte, zog sich scheinbar endlos in die Länge. Er war kurz davor, die magischen Worte zu äußern, doch er machte es spannend. Obwohl ich mir ja schon sicher war, um welche Worte es sich handelte, wollte ich sie trotzdem aus seinem Munde hören!
Doch dann kam etwas völlig Unerwartetes. Etwas, womit ich offen gestanden nicht gerechnet hatte.
»Es war einmal«, sagte er.
Ich hob den Kopf und sah ihn an. War der Mann von Sinnen?
»Es war einmal?«, wiederholte Seine Heiligkeit mit seiner sanften, melodischen Stimme.
»Diese Wendung gibt es auch in vielen anderen Sprachen«, fuhr unser Gast zu meiner wachsenden Unzufriedenheit fort. »Bei den Franzosen heißt es beispielsweise ›Il ètait une fois‹ und bei den Spaniern ›Érase una vez‹. Im Lauf der Zeit findet man sie in vielen Sprachen und Kulturen, auch im Chinesischen und im Sanskrit.«
Ach, wirklich? Das war mir neu.
»Und wieso sind diese drei Worte so magisch?«, fragte Seine Heiligkeit.
Ja, warum? Genau diese Frage stellte ich mir auch.
»Weil wir schon als Kinder lernen, dass sie am Anfang einer zauberhaften Geschichte stehen. Wenn wir sie hören, öffnet sich unsere Vorstellungskraft den unendlichen Möglichkeiten des Märchens. Und uns Erwachsenen erlauben diese Worte, den gesunden Menschenverstand und alle Konventionen eine Weile lang zu vergessen und wieder Kind zu sein.«
Seine Heiligkeit setzte sich auf, und auch ich, liebe Leser, erhob mich vom Fensterbrett und drehte mich um, so gebannt war ich von dem, was der Regisseur zu sagen hatte.
»Und wenn wir wie die Kinder sind«, bemerkte der Dalai Lama, »sind wir viel empfänglicher für alles.«
Sein Gast nickte.
»Wir lernen auf eine ganz andere Art und Weise.«
»Mit der rechten Gehirnhälfte«, sagte sein Gegenüber. »Wo Kreativität und Intuition zu Hause sind.«
Seine Heiligkeit beugte sich vor. »Beides ist im tibetischen Buddhismus von höchster Wichtigkeit.«
»Und deshalb«, fuhr sein Gast fort, »frage ich mich: Wieso hört es irgendwann auf?«
»Was hört auf?«, fragte der Dalai Lama.
»Wenn wir erwachsen werden, haben wir keine Märchen mehr, keine ›Es war einmal‹-Geschichten. Obwohl wir diese als Erwachsene doch am dringendsten brauchen!«
Was unser Gast da von sich gab, fand ich so interessant, dass ich vom Fensterbrett sprang, über den kunstvoll gewebten, reich verzierten indischen Teppich schlich und mich ihm vorsichtig näherte.
Dem Dalai Lama schien dieser Vortrag ebenfalls zu gefallen, denn er lächelte zustimmend und sagte: »In allen Traditionen haben spirituelle Lehrmeister ihre Einsichten und tieferen Weisheiten in Form von Geschichten verbreitet. Eine Geschichte ist nicht an die Grenzen von Vernunft und Logik gebunden. Sie berührt den Geist und« – er hob die rechte Hand an die Brust – »das Herz.«
»Die Macht der Parabel«, pflichtete ihm unser Gast bei.
»Auch die Tageszeit, zu der wir unsere Geschichten erzählen, ist wichtig«, sagte Seine Heiligkeit. »Insbesondere vor dem Schlafengehen kann es sehr segensreich sein, wenn wir uns auf positive Dinge konzentrieren. So verwandeln wir den Schlaf, eine an sich neutrale Aktivität, in etwas sehr Nützliches.«
»Wir machen also aus der Not eine Tugend«, stellte der Regisseur fest.
»Genau!« Seine Heiligkeit strahlte.
Dem Dalai Lama gelingt es oft, mit wenigen Worten Bedeutung auf vielen verschiedenen Ebenen zu transportieren. Aus vergangenen Unterhaltungen wusste ich, dass dieses »Nützliche«, in das man den Schlaf verwandeln konnte, ein sehr wichtiges und faszinierendes Thema war.
Dann änderte sich der Gesichtsausdruck Seiner Heiligkeit, und er legte die Stirn in Falten. »Heutzutage machen die Menschen vor dem Schlafengehen viel zu viel davon.« Er stellte pantomimisch die Bedienung eines Smartphones dar. »Große Unruhe. Deshalb kann ich nur zustimmen: Wir brauchen mehr Gutenachtgeschichten. Ganz besonders die Erwachsenen!«
Die beiden lachten.
Das hielt ich für den richtigen Zeitpunkt, um auf den Schoß unseres Gastes zu springen.
»Wie hübsch!«, rief er angesichts meines kohlschwarzen Gesichts, meiner großen blauen Augen und des üppigen cremefarbenen Fells überrascht aus. Nun, was sollte ich sagen? Diese anmutige Gestalt ist uns Himalaja-Katzen nun mal zu eigen.
»Ich wusste gar nicht, dass Ihr eine Katze habt!« Der Regisseur war nicht der Erste, der sich über diese Tatsache wunderte. Doch wie ich schon an anderer Stelle bemerkt habe: Wieso sollte der Dalai Lama keine Katze haben? Wobei der Ausdruck »eine Katze haben« unser Verhältnis nur unzureichend wiedergibt.
Ich drehte mich so lange auf seinem Schoß um die eigene Achse, bis ich die optimale Liegeposition gefunden hatte.
»Und wie Sie sehen, ist sie sehr real«, sagte Seine Heiligkeit.
Unser Gast blickte in die Richtung, aus der ich gekommen war, und anscheinend bemerkte er erst jetzt, dass ich die ganze Zeit über hier gewesen war. »Dort auf dem Fensterbrett hat sie sicher schon viele interessante Geschichten gehört«, sagte der Regisseur, während ich es mir auf seinen Knien bequem machte.
»In der Tat«, sagte der Dalai Lama. »Sie hätte wirklich viel zu erzählen.«
In den folgenden Tagen – ganz gleich, ob ich auf der Fensterbank döste oder mich in der Palastküche von unserer Chefköchin Mrs. Trinci verwöhnen ließ – musste ich immer wieder an dieses Gespräch denken: Es war einmal. Verwandle den Schlaf in etwas Nützliches.
Da hatte Seine Heiligkeit schon recht, dachte ich – ich hatte tatsächlich viele faszinierende Geschichten gehört. Von geheimnisvollen Yogis und Mönchen in den Bergen des Himalaja, aber auch von Frauen mittleren Alters oder wissbegierigen jungen Männern aus dem Westen. Die wertvollsten Geschichten enthielten genau wie traditionelle Fabeln ein Körnchen Weisheit, eine lebensverändernde Einsicht, die nicht nur den Verstand, sondern auch das Herz berührte.
Aber wo anfangen?
Wenn mich das Zusammenleben mit Seiner Heiligkeit eines gelehrt hatte, dann die einfache Tatsache, dass man, wenn man Hilfe egal welcher Art benötigt, einfach nur fragen muss. Sei es Mrs. Trinci, die mir so gerne ihre köstliche gehackte Hühnerleber serviert, oder die Buddhas, die uns inspirieren, wenn wir ein neues kreatives Projekt in Angriff nehmen, wir sind von Wesen umgeben, die uns Glück und Erfüllung wünschen und – was noch wichtiger ist – dabei unterstützen, anderen zu Glück und Erfüllung zu verhelfen. Manchmal können wir diese Wesen deutlich sehen, manchmal sind sie unsichtbar. Ich zum Beispiel muss mich nur in demselben Raum wie der Dalai Lama aufhalten, und schon erfüllen mich seine Güte und Inspiration.
Auch Wochen nach dem Besuch des Hollywoodregisseurs dachte ich noch über die segensreiche Wirkung der Gutenachtgeschichten nach, als etwas Bemerkenswertes geschah. Ich lag im Bett Seiner Heiligkeit, während er vor dem Schlafengehen noch eine Weile las, wobei er mir gelegentlich einen Blick zuwarf und mich streichelte. Da erinnerte ich mich plötzlich wie aus heiterem Himmel an einen Besucher, der eine fesselnde Geschichte vorgetragen hatte. Mit dieser Geschichte im Kopf schlief ich ein. War sie nicht ideal, um sie in eine Sammlung von Gutenachtgeschichten für Erwachsene aufzunehmen?
So ging es mir mit einer Geschichte nach der anderen – weshalb ich mich jeweils gerade zu diesem Zeitpunkt an sie erinnerte, war mir ein Rätsel. War gar die Inspiration der Buddhas die Ursache, liebe Leser? Das sollt ihr selbst entscheiden, denn bald werdet ihr so vertraut mit diesen Menschen und ihren Geschichten sein wie ich – denn sie sind alle in dem Buch versammelt, das ihr gerade in den Händen haltet.
Mit eurer Erlaubnis will ich euch folgenden Vorschlag machen: Geht heute Abend nicht mit eurem Handy ins Bett. Lasst diesen Quell der Unruhe im Nebenzimmer und nehmt stattdessen das Buch mit – und vielleicht noch eine schöne wärmende Tasse Kakao oder Zitronentee? Schart eure pelzigen Freunde um euch, damit sie euch Gesellschaft leisten, und nehmt euch genügend Zeit – irgendwie habe ich so eine Vorahnung, dass ihr, wenn ihr einmal eine der Geschichten auf den folgenden Seiten angefangen habt, sie auch bis zum Ende lesen wollt.
Und das hoffentlich, ohne die Welt dieser Geschichte anschließend völlig zu vergessen. Sagt euren Lieben nach der Lektüre Gute Nacht, schaltet das Licht aus, und gestattet es eurer Vorstellungskraft, am Ort und in der Zeit der Geschichte zu verweilen.
Liebe Leser, mir bleibt nur noch, euch den folgenden tibetischen Segen mit auf den Weg zu geben: Ich wünsche euch eine gute Nacht, glückliche Träume und einen Blick auf die wahre Natur der Wirklichkeit.
Om mani padme hum!