Buch
Als in einem ehemaligen Frauenhaus in New York zwei skelettierte Leichen in Plastik eingewickelt gefunden werden, ist es an Eve Dallas herauszufinden, was damals geschah. Es stellt sich heraus, dass es zehn weitere Opfer gab, alles junge Mädchen, die vom richtigen Weg abgekommen sind. Jede hat ihre ganz eigene Geschichte, und jede hat nun keine Chance mehr auf ein besseres Leben … Mit Hilfe ihres geliebten Ehemannes und ihres fantastischen Teams beim New York Police Department, muss sich Eve einer dunklen Geschichte stellen.
Autorin
J. D. Robb ist das Pseudonym der international höchst erfolgreichen Autorin Nora Roberts, einer der meistgelesenen Autorinnen der Welt. Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht sie seit Jahren erfolgreich Kriminalromane.
Liste lieferbarer Titel
Rendezvous mit einem Mörder · Tödliche Küsse · Eine mörderische Hochzeit · Bis in den Tod · Der Kuss des Killers · Mord ist ihre Leidenschaft · Liebesnacht mit einem Mörder · Der Tod ist mein · Ein feuriger Verehrer · Spiel mit dem Mörder · Sündige Rache · Symphonie des Todes · Das Lächeln des Killers · Einladung zum Mord · Tödliche Unschuld · Der Hauch des Bösen · Das Herz des Mörders · Im Tod vereint · Tanz mit dem Tod · In den Armen der Nacht · Stich ins Herz · Stirb, Schätzchen, stirb · In Liebe und Tod · Sanft kommt der Tod · Mörderische Sehnsucht · Ein sündiges Alibi · Im Namen des Todes · Tödliche Verehrung · Süßer Ruf des Todes · Sündiges Spiel · Mörderische Hingabe · Verrat aus Leidenschaft · In Rache entflammt · Tödlicher Ruhm · Verführerische Täuschung · Aus süßer Berechnung · Zum Tod verführt
Mörderspiele. Drei Fälle für Eve Dallas · Mörderstunde. Drei Fälle für Eve Dallas
Nora Roberts ist J. D. Robb
Ein gefährliches Geschenk
J. D. Robb
Das Böse
im Herzen
Roman
Deutsch von Uta Hege
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
»Concealed in Death« bei G. P. Putnam’s Sons,
a member of Penguin Group (USA) Inc., New York.
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Copyright © der Originalausgabe 2014 by Nora Roberts
Published by Arrangement with Eleanor Wilder
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by Blanvalet Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, München
Redaktion: Regine Kirtschig
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: sankai/iStock.com
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
LH ∙ Herstellung: sam
ISBN: 978-3-641-24625-9
V003
www.blanvalet.de
Du bist mein Schirm,
du wirst mich vor Angst behüten,
dass ich errettet gar fröhlich rühmen kann.
PSALM 32,7
Ein schlichtes Kind,
dem leicht der Atem geht,
das munter sich bewegt, wer weiß,
wie es den Tod versteht.
WILLIAM WORDSWORTH, WIR SIND SIEBEN
1
Gebäude starben, wenn man sie verfallen ließ. Anders als durch Erdbeben und Stürme, die sie voller Leidenschaft und Zorn zum Einsturz brachten, wurden sie durch die Missachtung ihrer Eigentümer unauffällig und langsam umgebracht.
Wobei seine Betrachtungsweise eines Hauses, das seit über einem Dutzend Jahren nur noch Ratten oder Junkies Zuflucht bot, vielleicht ein bisschen zu romantisch war.
Aber mit einer Vision und einem Haufen Geld könnte man dafür sorgen, dass das alte Haus, das in dem früher als Hells’s Kitchen verrufenen Stadtteil traurig seine Schultern hängen ließ, bald wieder aufrecht stünde und eine neue Bestimmung fand.
Roarke war ein Mann mit zahlreichen Visionen und jeder Menge Geld, er setzte beides gern für Dinge ein, die ihm Freude machten.
Er hatte es bereits seit über einem Jahr auf diese ganz besondere Immobilie abgesehen und wie eine Katze vor dem Mauseloch geduldig ausgeharrt, bis es mit dem Mischkonzern, dem das Haus gehörte, wirtschaftlich bergab gegangen war. Er hatte über Monate hinweg sein Ohr gegen das Mauseloch gepresst, weshalb ihm weder die Gerüchte von einer Sanierung oder einem Abriss der Immobilie noch vom endgültigen Konkurs der Firma entgangen waren. Wie erwartet, hatten sich die Eigentümer am Ende von der Immobilie trennen wollen. Trotzdem hatte er gewartet, bis der seiner Meinung nach zu hohe Preis auf ein vernünftigeres Maß gesunken war.
Auch danach hatte er noch etwas länger abgewartet und die Eigentümer ein wenig schwitzen lassen, weil er wusste, dass die finanziellen Schwierigkeiten, die sie hatten, sie am Ende zwingen würden, sich mit einer erheblich niedrigeren Summe zu begnügen, um das Haus, das sie nicht länger unterhalten konnten, loszuwerden.
Der Kauf und der Verkauf von Immobilien wie von allen anderen Dingen war natürlich ein Geschäft. Aber zugleich war es für ihn ein Spiel, das er mit Freuden spielte, weil er es mit schöner Regelmäßigkeit gewann. Die Rolle des Geschäftsmanns war im Grunde beinah so befriedigend und amüsant wie die des Diebs.
Als Kind hatte er gestohlen, um zu überleben, diese Tätigkeit hatte er als Erwachsener fortgesetzt, weil er verdammt geschickt darin gewesen war und sie auf Dauer ebenfalls ein Spiel für ihn geworden war.
Aber diese Zeiten waren längst vorbei, und er bereute es nur selten, dass er aus der Dunkelheit ins Licht gewechselt hatte. Okay, den Grundstein seines jetzigen Vermögens hatte er noch in besagter Dunkelheit gelegt, inzwischen aber vermehrte er sein Geld und nutzte seine Macht legal und für jeden sichtbar.
Wenn er daran dachte, welches Leben er aufgegeben hatte, und welches er infolgedessen gewonnen hatte, wusste er, in seinem ganzen Leben hatte er nie einen besseren Deal gemacht.
Jetzt stand der hochgewachsene, schlanke, durchtrainierte Mann in dunkelgrauem Maßanzug und sorgfältig gestärktem torfrauchfarbenen Hemd, in seinem jüngst gekauften Haus zusammen mit Pete Staski, seinem hemdsärmeligen Vorarbeiter, und der gut gebauten Architektin Nina Whitt inmitten eines Haufens Schutt. Arbeiter schwirrten um sie herum, schleppten Werkzeuge herein und riefen sich über den Lärm hinweg, den Roarke bereits von unzähligen anderen Baustellen auf und außerhalb der Erde kannte, lautstark Anweisungen und Beleidigungen zu.
»Die Bausubstanz ist wirklich gut«, erklärte Pete und kaute nachdenklich auf seinem Brombeerkaugummi herum. »Und auch die Arbeit schreckt mich nicht, aber ich sage trotzdem noch einmal, es wäre deutlich günstiger, den Kasten einfach abzureißen und ein neues Haus zu bauen.«
»Kann sein«, pflichtete Roarke ihm bei, wobei ihm sein heimatlicher irischer Dialekt deutlich anzuhören war. »Trotzdem hat das Haus es nicht verdient, einfach abgerissen zu werden. Wir werden es entkernen und dann das draus machen, was mir Nina vorgeschlagen hat.«
»Sie sind der Boss.«
»Genau.«
»Es wird sich auf alle Fälle lohnen«, versicherte die Architektin Roarke. »Ich finde immer, dass die Abrissarbeiten der aufregendste Teil eines Projektes sind. Die Dinge, die sich überlebt haben, kommen weg, damit man etwas völlig Neues aus einem Gebäude machen kann.«
»Und man weiß nie, worauf man dabei vielleicht stößt«, erklärte Pete und bückte sich nach einem Vorschlaghammer, der zu seinen Füßen lag. »Einmal haben wir ein ganzes Treppenhaus entdeckt, das hinter Spanplatten verborgen war. Auf den Stufen lag ein Stapel Zeitschriften von 2015, wie meine Großmutter sie gelesen hat.«
Kopfschüttelnd hielt er Roarke den Hammer hin. »Am besten machen Sie den Anfang. Es bringt Glück, wenn der Besitzer selbst die ersten Schläge macht.«
»Wenn’s Glück bringt, will ich nicht so sein.« Amüsiert zog Roarke die Anzugjacke aus, drückte sie Nina in die Hand, warf einen Blick auf die vernarbte, feuchte Wand und lächelte, als er das orthografisch fehlerhafte Graffiti in Höhe seiner Schulter sah.
Fik die verfikte Welt!
»Dann fange ich in dieser Ecke an, okay?« Er wog den Vorschlaghammer in der Hand, holte aus und rammte ihn so kraftvoll in den Gipskarton, dass Pete ein zustimmendes Knurren entfuhr.
Das Billigmaterial zerbarst und spuckte grauen Staub und undefinierbare Brocken aus.
»Eine ordentliche Wand sieht anders aus«, bemerkte Pete. »Wahrscheinlich ist es reines Glück, dass dieses dünne Ding nicht längst von selbst zusammengefallen ist.« Er schüttelte erbost den Kopf. »Wenn Sie wollen, holen Sie noch zweimal aus, dann gibt sie vollends nach.«
Wahrscheinlich war es menschlich, dachte Roarke, dass er einen derart idiotischen Gefallen daran fand, mutwillig etwas zu zerstören. Er schlug noch einmal zu, und während weitere graue Brocken durch die Gegend flogen, holte er zum dritten Mal mit seinem Vorschlaghammer aus. Tatsächlich gab die Gipswand jetzt nach, wie von seinem Vorarbeiter prophezeit, und er entdeckte einen schmalen Raum und eine zweite Wand.
»Was ist das denn für ein Scheiß?« Pete trat neben seinen Boss und blickte durch die Öffnung in der ersten Wand.
»Warten Sie.« Roarke legte seinen Vorschlaghammer fort, zog Pete am Arm zurück und schob sich selber durch das Loch.
In dem knapp einen Meter breiten Raum zwischen der ersten und der zweiten Wand lagen zwei Bündel, die in dickes Plastik eingewickelt waren.
Trotzdem konnte er erkennen, was es war.
»Tja nun, wie lautete noch mal das Graffiti? Fick die verfickte Welt.«
»Ist das … heiliges Kanonenrohr.«
»Was ist?« Mit Roarkes Jacke in der Hand lugte auch Nina durch das Loch. »Oh! Oh mein Gott! Das sind … das sind …«
»Leichen«, beendete Roarke den Satz. »Oder das, was davon übrig ist. Sie müssen Ihren Leuten sagen, dass sie die Arbeit einstellen sollen, Pete. Am besten kontaktiere ich erst einmal meine Frau.«
Roarke zog sein Jackett aus Ninas schlaffen Fingern, nahm ein Handy aus der Tasche, und als Eves Gesicht auf dem Display erschien, erklärte er: »Ich brauche einen Cop.«
Lieutenant Eve Dallas stand vor einem dreigeschossigen, mit Rußflecken und Schmierereien übersäten Backsteinbau mit Brettern vor den Fenstern und rostigen Riegeln an den Türen. Was zum Teufel fand Roarke an dieser Bruchbude?
Okay, sie kannte ihn und wusste, wenn die Immobilie keinen finanziellen oder anderen Wert besäße, hätte er sie sicher nicht gekauft.
Doch deswegen war sie nicht hier.
»Vielleicht sind es ja gar keine Leichen.«
Eve warf einen Blick auf ihre Partnerin. Wie’s aussah, würde das Jahr 2060 mit diversen Frostbeulen an den Füßen von der Bühne gehen, um sich vor dem eisigen Dezemberwind zu schützen, hatte Peabody sich fest in einen violetten Flauschmantel gehüllt, in dem sie aussah wie ein Eskimo. Wobei wahrscheinlich nicht einmal ein Eskimo jemals so weit gegangen wäre, etwas anzuziehen, in dem man aussah wie ein lilafarbener Teddybär.
»Wenn er gesagt hat, dass dort Leichen liegen, liegen dort auch Leichen«, brummte sie.
»Ja, wahrscheinlich«, stimmte Peabody ihr widerstrebend zu. »Wir sind schließlich beim Morddezernat, das heißt, für uns beginnt der Tag, wenn er für andere endgültig geendet hat.«
»Vielleicht sollten Sie sich dieses Motto auf ein Kissen sticken.«
»Ich finde eher, dass es ein netter Aufdruck für ein T-Shirt ist.«
Eve nahm die beiden aufgesprungenen Betonstufen bis zu der Flügeltür, die weniger aus Eisen als aus zentimeterdickem Rost bestand. In ihrem Job fingen tatsächlich ständig neue Tage damit an, dass die von anderen endgültig vorüber waren.
Sie war eine hochgewachsene, schlanke Frau in einem langen Ledermantel und robusten Stiefeln, ihr kurz geschnittenes Haar flatterte im selben warmen Whiskeyton wie ihre Augen im kalten Wind. Sie zerrte an der Tür, die kreischend wie ein Klageweib mit einem entzündeten Kehlkopf aufging.
Ihr schmales Gesicht, in dessen Kinn ein flaches Grübchen war, spiegelte die Überraschung wider, als sie all den Schmutz, den Schutt und den katastrophalen Zustand der wahrscheinlich einst durchaus pompösen Eingangshalle sah.
Dann aber wurde ihre Miene kalt, und sie sah sich mit den ausdruckslosen Augen einer Polizistin um.
Peabody, die hinter ihr hereingekommen war, entfuhr ein leises: »Iiiih.«
Obwohl sie diese Meinung durchaus teilte, enthielt Eve sich eines Kommentars und blickte auf die Gruppe, die vor der teilweise eingestürzten Mauer stand.
Roarke drehte den Kopf, und als er sie entdeckte, kam er mit schnellen Schritten auf sie zu.
Statt in seinem teuren Kaiser-der-Geschäftswelt-Anzug, mit der Mähne seidig weichen, schwarzen Haars, das ihm beinah bis auf die Schultern fiel, und dem von irgendeiner großzügigen Gottheit feingemeißelten Gesicht in all dem Dreck und Unrat deplatziert zu wirken, fügte er sich wie fast immer problemlos und vor allem souverän in die Umgebung ein.
»Lieutenant«, grüßte er und blickte sie aus seinen wilden, blauen Augen an. »Peabody. Tut mir leid, wenn ich euch Umstände bereite.«
»Ihr habt hier irgendwelche Leichen?«
»So sieht’s aus.«
»Dann machst du uns keine Umstände, denn schließlich ist das unser Job. Da drüben, in dem Raum hinter der Wand?«
»Genau. Soweit ich bisher sehen konnte, sind es zwei. Und nein, nachdem ich durch die Wand gebrochen bin und sie gefunden habe, hat dort niemand etwas angerührt. Ich weiß inzwischen schließlich, wie das läuft.«
Tatsächlich kannte er sich sogar ziemlich gut mit ihrer Arbeit aus, und andersherum wusste sie, dass er zwar beherrscht und kontrolliert wie immer, aber gleichzeitig auch spinnewütend war.
Denn schließlich hatte irgendjemand hier in seinem Haus zwei Menschen umgebracht.
Sie passte ihren Ton an seine kalte Stimme an. »Wir wissen erst, was wir hier haben, wenn wir’s gesehen haben.«
»Ich weiß es jetzt schon, denn ich habe es bereits gesehen.« Er berührte flüchtig ihren Arm. »Eve, ich denke …«
»Sag am besten erst mal nichts. Es ist besser, wenn ich diese Dinge angehe, ohne dass bereits ein Bild in meinem Kopf entstanden ist.«
»Natürlich hast du recht.« Er führte sie zu der zerstörten Wand. »Lieutenant Dallas und Detective Peabody, Pete Staski«, stellte er die drei einander vor. »Er leitet meinen Bautrupp.«
»Hi.« Der Vorarbeiter tippte sich mit einem Finger an den Schirm der schmuddeligen Baseballkappe, die er trug. »Bei Abrissarbeiten erwartet man zwar jede Menge Scheiß, aber so etwas ganz sicher nicht.«
»Mit so etwas rechnet man nie. Und wer ist das?«, erkundigte sich Eve und zeigte auf die junge Frau, die mit hängendem Kopf auf einem umgedrehten Eimer saß.
»Meine Architektin Nina Whitt. Sie ist noch ein bisschen zittrig.«
»Okay. Am besten tretet ihr jetzt erst mal alle einen Schritt zurück.«
Eve sprühte sich die Hände und die Stiefel ein und trat entschlossen vor das Loch. Die Ränder waren ungleichmäßig, aber es erstreckte sich vom Boden bis zur Decke und war gute sechzig Zentimeter breit.
Wie zuvor schon Roarke sah sie sofort die beiden Plastiksäcke, die in einer Ecke aufeinanderlagen, und erkannte, dass sie eindeutig nicht grundlos von ihm angerufen worden war.
Sie zog ihre Taschenlampe aus dem Untersuchungsbeutel, schaltete sie ein und schob sich durch das Loch.
»Vorsicht, Lady – Lieutenant«, warnte Pete. »Die Träger in der Wand sind ziemlich instabil. Ich hole Ihnen besser einen Helm.«
»Schon gut.« Sie ging in die Hocke und sah sich die Fundstücke im Strahl der Taschenlampe an.
Wahrscheinlich waren in den Säcken nur noch Knochen, überlegte sie. Nirgends lagen irgendwelche Kleider oder Stofffetzen herum, aber die Stellen, wo die Ratten erst das Plastik und danach die toten Körper angeknabbert hatten, waren nicht zu übersehen.
»Wissen wir, wann diese Mauer hochgezogen worden ist?«
»Nicht sicher, nein«, erklärte Roarke. »Ich habe etwas recherchiert, als wir auf dich gewartet haben, um zu sehen, ob der Einzug dieser Wand von offiziellen Stellen genehmigt worden ist, aber anscheinend ist das nicht der Fall. Auch die Vertreterin der bisherigen Eigentümer habe ich schon kontaktiert, sie behauptet, dass die Wand beim Kauf des Hauses vor vier Jahren schon gestanden hat. Also habe ich auch noch den Vorvoreigentümer angerufen, der aber bisher noch nicht zurückgerufen hat.«
Sie hätte sagen können, dass er ihr diese Recherchen überlassen sollte, doch die Mühe und die Spucke konnte sie sich sparen.
»Peabody, bestellen Sie die Spurensicherung und einen forensischen Anthropologen ein. Sagen Sie der SpuSi, dass sie sich hinter den Wänden und unter den Böden noch nach weiteren Kadavern umsehen soll.«
»Okay.«
»Du denkst, dass es hier vielleicht noch mehr Leichen gibt«, bemerkte Roarke.
»Nachsehen müssen wir auf jeden Fall.«
Sie schob sich wieder durch das Loch und sah ihn an. »Ihr müsst die Arbeiten hier erst mal einstellen.«
»Das habe ich mir schon gedacht.«
»Bevor ihr geht, nimmt Peabody noch eure Aussagen und die Kontaktdaten deiner Leute auf.«
»Und du?«, erkundigte sich Roarke.
»Ich mache mich jetzt an die Arbeit.« Sie zog den Mantel aus, trat wieder durch das Loch und nahm die sorgfältig verpackten Leichname aus allen Winkeln auf.
»Die skelettierten Überreste beider Opfer sind in zwei dicke Plastiksäcke eingepackt, in denen jede Menge Löcher sind. Sieht aus, als hätte irgendwelches Ungeziefer die Säcke angenagt. Deshalb waren die Leichen Luft, Hitze und Kälte ausgesetzt und haben sich wahrscheinlich schneller als geplant zersetzt. Bisher ist nicht bekannt, wann diese zweite Wand errichtet worden ist, und hier vor Ort ist es unmöglich, auch nur einen ungefähren Todeszeitpunkt festzustellen.«
Sie ließ die Säcke erst mal zu, maß nach, wie lang sie waren, und runzelte die Stirn, als sie die Zahlen auf dem kleinen Bildschirm sah.
»Das Opfer Nummer zwei, das oben liegt, war 1,52 Meter, und das Opfer Nummer eins, das unten liegt, war 1,49 Meter groß.«
»Kinder«, hörte sie Roarkes Stimme direkt hinter sich. »Es waren noch Kinder.«
Statt sich zu ihr in den schmalen Zwischenraum zu schieben, stand er in dem Loch, das in die erste Wand gebrochen worden war.
»Das genaue Alter kann nur der Forensiker ermitteln«, meinte sie, schüttelte dann aber den Kopf, denn schließlich sprach sie hier nicht nur mit einem Zeugen, sondern auch mit ihrem Ehemann. Dieser Ehemann hatte ihr schon so oft bei den Ermittlungen geholfen, dass er zwischenzeitlich selbst ein halber Bulle war.
»Ja, wahrscheinlich waren es Kinder«, stimmte sie ihm widerstrebend zu. »Aber offiziell bestätigen kann ich das erst mal nicht. Am besten gehst du jetzt los und gibst deine Aussage zu Protokoll.«
Er drehte seinen Kopf und sah, dass Peabody in mitfühlendem Ton mit der noch immer fassungslosen Architektin sprach. »Gerade ist Nina dran, und es sieht aus, als ob’s bei ihr ein bisschen länger dauern wird. Ich könnte dir also zur Hand gehen, wenn du willst.«
»Das ist keine gute Idee.« Vorsichtig zog sie den Plastiksack des zweiten Opfers auf. »Die Schädeldecke wirkt intakt – ein sichtbares Schädeltrauma liegt nicht vor. Genauso wenig kann ich irgendwelche Schäden, Kratzer oder Bruchverletzungen an Hals und Oberkörper sehen.« Sie setzte eine Mikrobrille auf. »Der Riss im linken Arm, oberhalb des Ellenbogens weist auf eine mögliche Verletzung hin. Und dieser Fingerknochen hier ist ziemlich krumm. Natürlich weiß ich nicht, ob das was zu bedeuten hat, aber er sieht eindeutig anders als die anderen Fingerknochen aus. Tödliche Verletzungen sind bisher nicht zu sehen. Für die Identifizierung der skelettierten Überreste sind ein Pathologe und dazu noch ein Forensiker erforderlich. Von Kleidern, Schuhen, Schmuck oder persönlichen Gegenständen ist hier nichts zu sehen.«
Sie setzte sich auf ihre Fersen und sah wieder auf zu Roarke. »Ich habe nur die blanken Knochen, doch im Allgemeinen ist der Kiefer eines Jungen oder Mannes eher kantig, während dieser hier eher rundlich auf mich wirkt. Da auch die Beckengegend eines Jungen oder Mannes für gewöhnlich etwas ausgeprägter ist, sehen diese Überreste für mich eher weiblich aus.«
»Wie die eines jungen Mädchens«, stellte Roarke mit ausdrucksloser Stimme fest.
»Wobei ich das nicht sicher weiß. Auch der Todeszeitpunkt und die Todesursache stehen noch nicht fest. Vielleicht bringt es uns ja weiter, wenn wir wissen, wann die Wand hier hochgezogen wurde, denn die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie extra errichtet wurde, weil jemand die Leichen verstecken wollte. Wenn wir wissen, seit wann diese Mauer hier steht, finden wir zusammen mit der Forensik ja vielleicht den ungefähren Todeszeitpunkt raus.«
Entschlossen stand sie wieder auf. »Außerdem brauche ich die Forensik, um herauszufinden, wer die beiden sind. Sobald wir ihre Namen kennen, können wir versuchen zu ermitteln, wie und wann sie in das Haus gekommen sind.«
Da sie am Fundort der Leichen nichts mehr unternehmen konnte, stieg sie wieder durch das Loch, bis sie direkt vor ihrem Gatten stand.
»Sie waren ungefähr gleich groß«, bemerkte Roarke.
»Ja. Eventuell waren sie auch der gleiche Opfertyp – hatten ungefähr dasselbe Alter und dieselbe Hautfarbe und wurden hier zusammen umgebracht. Vielleicht aber auch nicht. Ich sehe keine Spuren von Gewalteinwirkung, vielleicht ergeben die genaueren Untersuchungen ja was. Moment.«
Sie ging zu Peabody, die noch immer mit der Architektin sprach.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht besser helfen kann. Das Ganze macht mich wirklich fertig. Ich habe noch nie …« Nina blickte zu der offenen Wand und wandte sich dann eilig wieder ab. »Im Grunde konnte ich sie gar nicht richtig sehen, aber …«
»Haben Sie die Wände und die Böden untersucht, nachdem Sie den Job bekommen hatten?«, fragte Eve.
»Natürlich waren wir mehrmals hier im Haus, haben uns alles angesehen und Maß genommen. Roarke hat uns die Anweisung erteilt, das Gebäude zu entkernen und neue Räume zu entwerfen. Wir haben alle Unterlagen und Zeichnungen hier – architektonisch, ingenieurstechnisch und statisch. Die Eingeweide …« Sie erbleichte und brach ab. »Ich meine, die Hülle, die Struktur des Hauses ist sehr gut, auch wenn das Innere total marode ist. Hier wurde jede Menge Billigmaterial verbaut, das Design ist einfach schlecht, und im Verlauf von mehreren Jahrzehnten wurden immer wieder einmal auf die Schnelle irgendwelche Reparaturen durchgeführt, wobei man dieses Haus dann irgendwann einfach verfallen lassen hat.«
»Wissen Sie, wann der Verfall begonnen hat?«
»Unsere Recherche hat ergeben, dass das Haus seit circa fünfzehn Jahren nicht mehr offiziell für Wohnzwecke verwendet worden ist. Ich habe mich etwas mit der Geschichte dieser Immobilie befasst, weil der Hintergrund mir bei meinen Entwürfen für die neuen Räumlichkeiten hilft.«
»Schicken Sie mir alles, was Sie haben. Jetzt können Sie erst einmal gehen. Haben Sie einen Wagen hier?«
»Ich kann einfach ein Taxi nehmen. Kein Problem. Normalerweise bin ich nicht so … zartbesaitet. Könnte ich noch kurz mit Roarke sprechen, bevor ich gehe?«
»Sicher«, meinte Eve und wandte sich an Peabody. »Ich denke, dass es Kinder sind.«
»Ah, verdammt.«
»Natürlich weiß ich es noch nicht genau, aber ich gehe erst mal davon aus. Am besten nehmen Sie auch die Aussage von Roarke entgegen, damit niemand sagen kann, dass hier gemauschelt worden ist. Ich knöpfe mir solange seinen Vorarbeiter vor«, erklärte sie, und als der erste Spurensicherer durch die breite Eiseneingangstür des Hauses trat, erklärte sie dem Mann, worum es ging, nahm danach Petes zwar knappe, aber farbenfrohe Aussage entgegen und ging dann zurück zu Roarke.
»Am besten findest du so viel wie möglich über diese Immobilie in den letzten fünfzehn Jahren für mich raus. Wer, was, wo und wann …«
»Du denkst, dass sie in diesem Zeitraum hier gelandet sind.«
»Wenn wir davon ausgehen, dass das Gebäude zu dem Zeitpunkt entweder vollkommen leer stand oder nur gelegentlich jemand zum Übernachten herkam, ja, dann denke ich, dass sie in diesem Zeitraum hier gelandet sind. Wobei es eine ganze Weile dauert, bis ein Leichnam vollkommen verwest. Wenn du mir also die gewünschten Daten und vor allem detaillierte Infos über alles, was bis vor fünf Jahren hier passiert ist, geben könntest, hätten wir schon einmal etwas in der Hand.«
»Dann wirst du diese Infos kriegen«, sagte er ihr zu.
»Was ist das da drüben? Wo ein Teil der Wand verschwunden ist?«
»Die Wand haben offenbar die Vorbesitzer eingerissen, um sich all die alten Kabel anzusehen. Ein ganz ähnliches Loch gibt’s auch im ersten Stock, wobei es dort nicht um Kabel, sondern um Rohre ging.«
»Bedauerlich, dass diese Wand ihnen entgangen ist. Sonst hätten wir die Überreste deutlich eher entdeckt, und du hättest für das Haus noch weniger bezahlt.«
»Es war auch so günstig genug. Die Inspektion der Kabel und der Rohre hat ihnen bereits gereicht. Sie hätten dringend einen weiteren Kredit gebraucht und haben händeringend zusätzliche Investoren für das Haus gesucht, was ihnen aber beides nicht gelungen ist.«
»Dann kamst du und hast ihnen die Bude abgekauft.«
»Genau. Mit allem, was darin enthalten ist.«
Sie verstand, wie er sich fühlte. »Ich kann dir garantieren, dass dir das Haus noch nicht gehört hat, als sie dort gelandet sind. Sie mussten irgendwann gefunden werden, und genau das hast du jetzt erledigt. Du kannst hier nichts mehr tun, deshalb solltest du jetzt gehen und dich um die zehntausend Meetings kümmern, die heute wahrscheinlich wieder einmal in deinem Terminkalender stehen.«
»Heute sind es nur zweitausend, also denke ich, ich bleibe noch ein wenig hier.« Er verfolgte, wie zwei Spurensicherer in weißen Overalls und blauen Überschuhen mit Scannern überprüften, ob auch hinter einer anderen Wand ein Hohlraum war.
»Okay, aber ich muss …«
Noch ehe Eve den Satz beenden konnte, ging die Tür erneut mit einem lauten Kreischen auf, eine Frau, die aussah wie ein Filmstar, blieb im Eingang stehen und sah sich um. Sie trug einen langen, leuchtend roten Mantel, einen weich fließenden Schal, in dem sich dieses Rot mit einem eleganten Silbergrau verband, graue Stiefel mit stecknadeldünnen, meterhohen Absätzen und hatte eine kesse, rote Schirmmütze auf ihrem kurzen, glatten, schwarzen Haar.
Lässig nahm sie ihre rot gerahmte Sonnenbrille ab, die eisblauen Augen bildeten einen exotischen Kontrast zu ihrer seidig weichen, karamellfarbenen Haut. Sie verstaute die Brille in einer grauen Tasche in der Größe des Planeten Pluto, zog ein Handy in einer mit Strass besetzten Schutzhülle hervor und nahm die Eingangshalle damit auf.
»Wer zum Teufel ist das?« Eve durchquerte schnellen Schritts das staubige Foyer. Wahrscheinlich eine Journalistin, dachte sie, die auf der Suche nach dem nächsten Knüller war.
»Das hier ist ein Tatort«, herrschte sie die Fremde an.
»Genau. Und ich finde es immer hilfreich, wenn es eine Aufnahme des Umfelds gibt. Dr. Garnet DeWinter.« Sie ergriff Eves Hand und schüttelte sie zweimal kräftig durch. »Forensische Anthropologin.«
»Ich habe Sie noch nie gesehen. Wo ist Frank Beesum?«
»Frank ist letzten Monat in Pension gegangen und nach Boca umgezogen. Seinen Job mache ich jetzt.« Sie unterzog die Polizistin einer langen, eingehenden Musterung. »Ich habe Sie ebenfalls noch nie gesehen.«
»Lieutenant Dallas«, stellte Eve sich vor und klopfte leicht auf ihre Dienstmarke, die sie am Gürtel trug. »Und wo ist Ihr Ausweis, Dr. DeWinter?«
»Hier.« Wieder griff sie in die Tasche, die wahrscheinlich sogar einem kleinen Pony Platz geboten hätte, und zog ihren Dienstausweis daraus hervor. »Man sagte mir, Sie hätten hier zwei skelettierte Leichen.«
»Stimmt.« Eve hielt ihr den Ausweis wieder hin. »In Plastik eingewickelt, das von Ratten angefressen wurde. Sie wurden zu Beginn der Abrissarbeiten entdeckt. Hinter dieser Wand.«
Sie zeigte auf das Loch und ging voraus.
»Sie kenne ich.« Als DeWinter Roarke entdeckte, erhellte ein breites Lächeln ihr Gesicht. »Erinnern Sie sich noch an mich?«
»Garnet DeWinter.« Zu Eves Überraschung beugte er sich vor, küsste sie auf beide Wangen und fragte sie: »Wie lange ist das her? Fünf oder sechs Jahre?«
»Sechs. Aber wie ich gelesen habe, haben Sie in der Zwischenzeit geheiratet.« DeWinter sah erst ihn und danach Eve mit ihrem breiten Filmstarlächeln an. »Ich gratuliere Ihnen beiden. Dass ich Sie hier treffen würde, hätte ich ganz sicher nicht erwartet, Roarke.«
»Ihm gehört das Haus«, erklärte Eve.
»Das ist natürlich Pech.« Noch einmal schaute sie sich gründlich in der Eingangshalle um. »Eine echte Bruchbude, nicht wahr? Aber schließlich sind Sie ein Genie darin, die Dinge zu verändern.«
»Und Sie sind ein Genie, wenn es um Knochen geht. Wir haben wirklich Glück, sie hier zu haben, Eve, sie gehört eindeutig zu den Besten ihres Fachs.«
»Wollen Sie damit etwa sagen, dass es auch noch andere mit meinen Fähigkeiten gibt?«, hakte die Anthropologin lachend nach. »In den Laboratorien der Regierung in East Washington wurde mir langsam langweilig, und als sich mir die Chance bot, im Rahmen dieses Jobs mein Wissen endlich wieder einmal praktisch anzuwenden, habe ich begeistert zugesagt. Außerdem dachte ich, der Ortswechsel wäre auch für Miranda – meine Tochter – gut«, fügte sie an Eve gewandt hinzu.
»Super. Toll. Wir können ja später über einem Drink und Erdnüssen noch weiter quatschen, aber vielleicht hätten Sie vorher noch Lust, sich erst mal unsere Leichen anzusehen. Sonst langweilen Sie sich nachher noch.«
»Sarkasmus. Autsch.« Unbekümmert zog DeWinter ihren eleganten Mantel aus und überreichte ihn mit einem »Wären Sie wohl so freundlich?« Roarke.
»Da hinten?«, fragte sie, und auf Eves Nicken trat sie vor die Öffnung in der Wand und nahm auch diesen Raum mit ihrem Handy auf.
»Ich habe bereits alles aufgenommen«, begann Eve.
»Ich habe lieber meine eigenen Bilder. Den oberen Plastiksack haben Sie aufgemacht.«
»Nachdem ich alles aufgenommen hatte.«
»Trotzdem.«
»Dafür haben Sie Ihre Hände und die Stiefel nicht versiegelt«, sagte Eve, als Garnet durch die Öffnung trat.
»Da haben Sie natürlich recht. An die vorgeschriebenen Verfahrensweisen habe ich mich noch nicht ganz gewöhnt.« Sie nahm einen weißen Overall aus ihrer Tasche, stieg aus ihren Stiefeln, zog den Overall über das schmal geschnittene, schwarze Kleid und sprühte sich die Hände ein.
Die Tasche schleppte sie mit in den Zwischenraum.
»Eine Freundin?«, raunte Eve so leise, dass nur Roarke sie hörte.
»Eher eine Bekannte, aber eine recht beeindruckende Frau.«
»Da hast du recht«, pflichtete Eve ihm bei und schob sich hinter Garnet durch das Loch.
»Die Überreste in der Tüte oben …«
»Opfer Nummer zwei.«
»Meinetwegen, Opfer Nummer zwei war circa 1,50 Meter groß.«
»Ich habe bereits selbst gemessen, deshalb weiß ich, dass es etwas größer war. Opfer Nummer eins war fast genauso groß.«
»Ich möchte Ihnen sicher nicht zu nahe treten, messe aber trotzdem gerne selber noch einmal nach.« Als die Vermessung abgeschlossen war, stellte sie nickend fest: »Der Form des Schädels und der Schamgegend zufolge dürfte Opfer Nummer zwei ein Mädchen zwischen zwölf und fünfzehn Jahren gewesen sein. Wahrscheinlich weiß. Sie weist keine sichtbaren Spuren eines Traumas auf. Der Riss in ihrem rechten Humerus direkt über dem Ellenbogen deutet darauf hin, dass dieser Arm einmal gebrochen war. Wahrscheinlich, als sie noch ein Kleinkind war. Der Bruch ist schlecht verheilt, genauso wie der Bruch des rechten Zeigefingers.«
»Für mich sieht es so aus, als wäre dieser Finger nicht gebrochen, sondern eher verdreht gewesen.«
»Stimmt. Sie haben ein gutes Auge. So, als hätte jemand diesen Finger festgehalten und ihn so lange gedreht, bis er am Schluss gebrochen ist.«
DeWinter setzte eine Mikrobrille auf und schaltete durch sachtes Klopfen gegen einen Bügel eine kleine Lampe an. »Sie hatte ein paar Löcher in den Zähnen, und die Zwölfjahrmolaren waren schon da. Einer ihrer Zähne fehlt, und die linke Augenhöhle ist geschädigt, wobei die Verletzung ebenfalls schon älter war.«
Systematisch ging DeWinter alle Knochen dieses Opfers durch. »Die Rotatorenmanschette war einmal verletzt. Sieht ebenfalls so aus, als hätte irgendwer zu fest daran gezerrt – als hätte jemand sie am Arm gepackt und ihn gewaltsam umgedreht. Und hier am linken Knöchel hatte sie mal einen Haarriss.«
»Missbrauch. All das sieht für mich nach körperlichem Missbrauch aus.«
»Wahrscheinlich haben Sie recht, aber am besten sehe ich mir die Verletzungen trotzdem im Labor noch mal genauer an.«
Mit durch die Brille riesengroßen Augen sah sie zu Eve auf. »Ich kann Ihnen mehr erzählen, sobald sie auf meinem Tisch liegt«, sagte sie ihr zu. »Jetzt muss ich sie vorsichtig bewegen, damit ich mir auch die Überreste des ersten Opfers ansehen kann.«
»Peabody!«, rief Eve, und eilig streckte der Detective ihrem Kopf zu ihr herein.
»Helfen Sie mir, den oberen der beiden Plastiksäcke hochzuheben.«
»Vorsicht«, bat DeWinter. »Vielleicht könnten Sie sie ja nach draußen bringen und Dawson sagen, dass er sie für den Transport verpacken soll. Sie kennen Dawson?«
»Ja«, erklärte Eve und wandte sich erneut an ihre Partnerin. »Wir heben sie jetzt hoch und schaffen sie hier raus.«
»Arme Kleine«, murmelte Peabody, packte dann aber den Plastiksack, und gemeinsam hoben sie ihn hoch, bis er wie eine Hängematte zwischen ihnen hing.
»Wer ist die Modepuppe?«, fragte sie im Flüsterton, als sie mit ihrer Last wieder im Foyer standen.
»Die neue forensische Anthropologin. Dawson!«
Als der Chef der Spurensicherer in ihre Richtung sah, winkte sie ihn zu sich heran. »Sagen Sie ihm, dass er das Skelett verpacken und den Abtransport organisieren soll«, befahl Eve Peabody und kehrte in den Raum hinter der Wand zurück.
»Sie war in derselben Altersklasse wie das Opfer Nummer zwei. Den Schädelmerkmalen zufolge müsste sie halb Asiatin und halb schwarz gewesen sein. Was auch Teile meines eigenen Erbes sind. Auch sie weist keine äußeren Zeichen eines Traumas auf. Sie hatte ein gebrochenes Schienbein, aber das ist gut verheilt.«
Langsam und behutsam bahnte sie sich den Weg vom Kopf bis zu den Füßen des verbliebenen Skeletts. »Andere Verletzungen oder Brüche sind bei ihr nicht feststellbar. Sämtliche Verletzungen von beiden Opfern waren bereits wieder verheilt, das heißt, mit ihrem Tod haben sie nichts zu tun.«
Im Licht der Lampe, die sie an der Mikrobrille trug, fiel Eve mit einem Mal ein Glitzern auf.
»Moment. Ich habe was gesehen.« Sie ging neben dem Schädel in die Hocke, lugte durch die Augenhöhle, nahm eine Pinzette aus dem Untersuchungsbeutel, schob sie in das Loch und zog einen kleinen Gegenstand daraus hervor.
»Sie haben wirklich scharfe Augen«, stellte DeWinter anerkennend fest. »Das Ding habe ich übersehen.«
»Ein Ohrring«, meinte Eve.
»Ich tippe eher auf ein Nasen- oder Brauenpiercing. Es ist ein sehr kleiner Stecker, also schätze ich, dass sie ihn in der Nase hatte und dass er infolge der Verwesung einfach abgefallen ist.«
Eve tütete den Stecker ein.
»Wir fangen mit der DNA und der Rekonstruktion der Gesichter an. Ich nehme an, Sie wollen so schnell wie möglich wissen, wer die beiden waren.«
»Auf jeden Fall.«
»Todesursache und -zeitpunkt könnten etwas länger dauern, wobei die Geschichte des Gebäudes und der Zeitpunkt und der Zweck des Einbaus dieser zweiten Wand wahrscheinlich hilfreich wären.«
»Darauf habe ich bereits jemanden angesetzt.«
»Hervorragend. Dann kann Dawson jetzt auch dieses Skelett hier übernehmen. Ich fange sofort mit den beiden an und melde mich, sobald ich etwas weiß. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, Lieutenant.«
Eve ergriff die angebotene Hand und ließ sie wieder los, als jemand rief: »Wir haben noch ein Skelett!«
Sie sah DeWinter an. »Sieht aus, als hätten Sie hier doch noch was zu tun.«
»Genau wie Sie.«
Tatsächlich fanden sie ein Dutzend Skelette, bis sie mit der Arbeit im Gebäude fertig waren.